Big Ideas. Das Religionen-Buch - Will Buckingham - E-Book

Big Ideas. Das Religionen-Buch E-Book

Will Buckingham

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Beschreibung

Gewaltlosigkeit ist die Waffe der Starken, heißt es im Hinduismus. Im Buddhismus sagt man: Erleuchtung hat viele Gesichter. Aber wie genau sind diese Glaubenssätze zu verstehen? Der Titel "Das Religionen-Buch. Große Ideen einfach erklärt" ist Programm! Über 100 Glaubenssätze, Rituale und Mythologien werden so erklärt, dass Sie sie so leicht wie nie zuvor verstehen. Dank der innovativen Grafiken, Diagramme und Fotografien werden Zusammenhänge auf einen Blick klar. Durch die anschauliche Gestaltung macht es Spaß, das Buch einfach nur durchzublättern. Auch Quelle und Entstehungszeit einer Idee werden thematisiert. Die Spannweite reicht von Stammesreligionen der Vorzeit über antike Religionen bis zu den Weltreligionen und modernen Glaubensrichtungen. Außerdem gibt es Biografien zu den bedeutendsten religiösen Denkern, Kurzporträts der verschiedenen Richtungen innerhalb der Weltreligionen sowie ein Glossar wichtiger Begriffe. "Das Religionen-Buch" vereint sehr viel Wissen kompakt zwischen zahlreichen Buchseiten und bleibt dabei für jeden verständlich!

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Seitenzahl: 541

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INHALT

EINLEITUNG

STAMMESRELIGIONEN

SEIT DER VORGESCHICHTE

Verborgene Kräfte sind am Werk

Der Welt Sinn verleihen

Alle Dinge sind beseelt

Animismus in frühen Kulturen

Besondere Menschen können in andere Welten reisen

Die Macht der Schamanen

Warum sind wir hier?

Erschaffen für einen Zweck

Warum sterben wir?

Der Ursprung des Todes

Die Ewigkeit ist jetzt

Die Traumzeit

Unsere Ahnen führen uns

Die Geister der Toten leben weiter

Wir sollen gut sein

In Harmonie leben

Alles hängt zusammen

Ein lebenslanges Bündnis mit den Göttern

Die Götter verlangen Blut

Blut- und Menschenopfer

Die Hütte als heiliger Ort

Symbolische Bauwerke

Im Rhythmus des Universums

Der Mensch und der Kosmos

Arbeit der Götter

Der Ritus als Handel

Rituale erhalten die Welt

Das Leben stets erneuern

FRÜHE UND ANTIKE RELIGIONEN

SEIT 3000 V. D. Z.

Eine Hierarchie von Göttern und Menschen

Religionen für neue Gesellschaften

Im Königreich des Osiris leben die Guten ewig

Vorbereitungen auf das Leben nach dem Tod

Der Sieg des Guten hängt von der Menschheit ab

Kampf zwischen Gut und Böse

Spüre den Lauf der Welt

Das Selbst im Einklang mit dem Dao

Die fünf großen Gelübde

Entsagung führt zu spiritueller Befreiung

Tugend kommt nicht vom Himmel

Weisheit liegt beim Edlen

Ein göttliches Kind ist geboren

Die Übernahme eines Mythos

Das Orakel offenbart den Willen der Götter

Die Zukunft vorhersagen

Die Götter sind wie wir

Der Glaube spiegelt die Gesellschaft

Rituale verbinden uns mit unserer Vergangenheit

Leben wie die Götter

Die Götter werden sterben

Unsere Welt geht zu Ende

HINDUISMUS

SEIT 1700 V. D. Z.

Durch Opfer erhalten wir die Ordnung des Universums aufrecht

Eine rationale Welt

Das Göttliche hat eine weibliche Seite

Die Macht der großen Göttin

Sitz nah bei deinem Guru

Höhere Ebenen des Lehrens

Brahman ist mein Selbst in meinem Herzen

Die absolute Wirklichkeit

Wir lernen, wir leben, wir ziehen uns zurück, wir lösen uns

Die vier Stadien des Lebens

Es kann deine Pflicht sein zu töten

Selbstloses Handeln

Yoga führt zu spiritueller Befreiung

Körperliche und geistige Disziplin

Durch Rituale sprechen wir zu den Göttern

Andacht durch Puja

Die Welt ist eine Illusion

Mit reinem Bewusstsein sehen

Viele Glaubensvorstellungen, viele Wege

Gottesbewusstsein

Gewaltlosigkeit ist die Waffe der Starken

Hinduismus in der Politik

BUDDHISMUS

SEIT DEM 6. JH. V. D. Z.

Den mittleren Pfad finden

Buddhas Erleuchtung

Das Leiden kann beendet werden

Befreiung aus dem ewigen Kreislauf

Prüfe Buddhas Worte wie die Qualität von Gold

Die persönliche Suche nach Wahrheit

Religiöse Disziplin ist notwendig

Der Sinn des Klostergelübdes

Entsage dem Töten und Gutes wird folgen

Lass Freundlichkeit und Mitgefühl walten

Wir können nicht sagen, was eine Person ist

Das Selbst ist ständig im Wandel

Erleuchtung hat viele Gesichter

Buddhas und Bodhisattvas

Lebe deinen Glauben aus

Ritual und Wiederholung

Entdecke deine Buddha-Natur

Erkenntnisse des Zen, die über Worte hinausgehen

JUDENTUM

SEIT 2000 V. D. Z.

Ihr werdet mein Volk und ich werde Euer Gott sein

Gottes Bund mit Israel

Es gibt keine anderen Götter neben mir

Von der Monolatrie zum Monotheismus

Der Messias wird das Volk Israel erlösen

Verheißung einer neuen Zeit

Das religiöse Gesetz kann im Alltag angewendet werden

Das mündliche Gesetz wird festgeschrieben

Gott ist unkörperlich, unteilbar und einzig

Das Undefinierbare definieren

Gott und die Menschheit sind im kosmischen Exil

Jüdische Mystik und Kabbala

Der heilige Funke ist in jedem von uns

Der Mensch als Manifestation Gottes

Judentum ist eine Religion, keine Nationalität

Glaube und Staat

Schöpfe aus der Vergangenheit, lebe im Heute, arbeite für die Zukunft

Das Reformjudentum

Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen

Die Ursprünge des modernen politischen Zionismus

Wo war Gott während des Holocaust?

Eine Prüfung für den Bund

Erste Rabbinerinnen

Die Frau im Bund mit Gott

CHRISTENTUM

SEIT DEM 1. JH.

Jesus ist der Anfang des Endes

Jesus’ Botschaft an die Welt

Gott hat uns seinen Sohn gesandt

Jesus’ Göttlichkeit

Das Blut der Märtyrer ist die Saat der Kirche

Für den Glauben sterben

Der Körper stirbt, aber die Seele lebt weiter

Unsterblichkeit im Christentum

Vater, Sohn und Heiliger Geist

Die göttliche Dreieinigkeit

Gottes Gnade irrt nicht

Augustinus und der freie Wille

In der Welt, aber nicht von der Welt

Gott dienen durch Dienst am Nächsten

Außerhalb der Kirche ist kein Heil

Dem Glauben beitreten

Dies ist mein Leib, dies ist mein Blut

Das Mysterium der Eucharistie

Gottes Wort braucht keine Mittler

Die protestantische Reformation

Gott verbirgt sich im Herzen

Mystische Erfahrung im Christentum

Rettung für Körper und Seele

Fürsorge und Seelsorge

Wissenschaft widerlegt die Bibel nicht

Moderne Herausforderungen

Wir können Einfluss nehmen auf Gott

Warum Beten wirkt

ISLAM

SEIT 610

Gottes letzter Prophet

Mohammed und die Ursprünge des Islam

Der Koran wurde vom Himmel gesandt

Gott offenbart sein Wort und seinen Willen

Die Fünf Säulen des Islam

Die zentralen Glaubensbekenntnisse

Der Imam ist ein Auserwählter Gottes

Das Aufkommen des schiitischen Islam

Gottes Gesetz: die Scharia

Der Weg zu harmonischer Lebensführung

Wir können über Gott nachdenken, aber wir können ihn nicht verstehen

Theologische Spekulation im Islam

Der Dschihad ist Glaubenspflicht

Kämpfen für den Weg Gottes

Die Welt ist eine Stufe auf der Reise zu Gott

Die höchste Belohnung für die Gerechten

Gott ist unvergleichlich

Die Einheit Gottes ist höchstes Prinzip

Askese und Ekstase

Der Sufismus und die mystische Tradition

Ein neuer Prophet erneuert den Glauben

Die Entstehung der Ahmadiyya

Der Islam muss westliche Einflüsse ablegen

Die islamische Erweckungsbewegung

Der Islam kann eine moderne Religion sein

Islam und westliche Welt

MODERNE GLAUBENSRICHTUNGEN

AB DEM 15. JAHRHUNDERT

Wir sind Soldaten des Glaubens

Der Verhaltenskodex der Sikhs

Alle können durch Gottes Tor eintreten

Kastenwesen und Glaube

Botschaften der Geister

Die afrikanischen Wurzeln der Santería

Frage dich: »Was würde Jesus tun?«

Dem Vorbild Christi folgen

Wir erkennen Gott durch seine Botschafter

Die Offenbarung der Baha’i

Fege den Staub der Sünde weg

Tenrikyō- und das Frohe Leben

Diese Gaben sind für uns bestimmt

Cargo-Kulte der Pazifikinseln

Alle Religionen sind gleich

Cao Ɖài vereint alle Konfessionen

Wahrheit ist, was für mich wahr ist

Ein Glaube für alle Bekenntnisse

AUF EINEN BLICK

Die großen Weltreligionen

Zweige des Hinduismus

Zweige des Buddhismus

Zweige des Judentums

Zweige des Christentums

Zweige des Islam

Andere Glaubensrichtungen

GLOSSAR

DANK

EINLEITUNG

Eine einfache Definition von Religion, die alle Dimensionen des Begriffs umfasst, gibt es nicht. Religion beinhaltet spirituelle, persönliche und soziale Elemente und ist in allen Kulturen anzutreffen, von der Vorgeschichte der Menschheit bis in unsere Zeit. Das bezeugen die Höhlenmalereien und die komplexen Bestattungsbräuche unserer Vorfahren ebenso wie die Suche nach spirituellen Lebenszielen der Menschen heute.

Den Menschen des Paläolithikums – und der meisten anderen Epochen der Geschichte – bot die Religion eine Möglichkeit, mächtige Naturphänomene zu verstehen und zu beeinflussen. Wetter und Jahreszeiten, Erschaffung, Leben und Tod, das Jenseits und der Kosmos – all das war Gegenstand religiöser Erklärungen, die sich auf herrschende Götter oder ein von Gottheiten und mythischen Geschöpfen bevölkertes Reich jenseits der sichtbaren Welt beriefen. Religiöse Praktiken boten Wege, mit diesen Göttern in Form von Ritualen und Gebeten zu kommunizieren; zugleich festigten sie soziale Gemeinschaften, stärkten Hierarchien und schufen ein starkes Gefühl kollektiver Identität.

Mit zunehmender Komplexität der Gesellschaften wurden auch die Glaubenssysteme vielschichtiger. Religion wurde immer mehr zu einem politischen Instrument. Auf militärische Eroberungen folgte häufig die Einverleibung des Pantheons der eroberten Völker, und Könige und Kaiser ließen ihre Macht durch Götter und Priester legitimieren.

Ein personaler Gott

Religion erfüllte viele Bedürfnisse der frühen Völker und stellte Vorgaben in Form von Riten, Ritualen und Tabus zur Organisation des Lebens bereit. Und sie gab dem Menschen ein Mittel an die Hand, seinen Platz im Universum zu verstehen. Doch Religion ist für viele weit mehr als ein soziales Konstrukt. Daher haben Menschen im Laufe der Jahrhunderte ihren Glauben oft verteidigt, haben Verfolgung und den Tod in Kauf genommen für das Recht, ihren Gott, ihre Götter anzubeten. Selbst in unserer heutigen materialistischen Welt bezeichnen sich mehr als drei Viertel der Menschheit in der einen oder anderen Weise als gläubig. Demzufolge erscheint Religion als eine notwendige Facette menschlicher Existenz. Ob als intensive persönliche Erfahrung, als inneres Gewahrsein des Göttlichen oder als Weg, dem Leben einen Sinn zu geben: Religion scheint – auf persönlicher und sozialer Ebene – fundamental zu sein.

Anfänge

Von kulturellen Relikten und aus Erzählungen späterer Zivilisationen wissen wir etwas über die Religionen der frühesten Gesellschaften. An entlegenen Orten wie in den Wäldern des Amazonas, auf den Inseln Indonesiens oder im Innern Afrikas praktizieren Stämme bis heute Religionen nach Riten, die vermutlich seit Jahrtausenden mehr oder minder unverändert geblieben sind. Diese ältesten Religionen weisen eine Einheit von Natur und Geist auf und verbinden so die Menschen untrennbar mit ihrer Umwelt.

Mit der Entwicklung der ersten Religionen ging die Entfaltung ihrer Zeremonien und Kosmologien einher. Die frühesten Glaubenspraktiken der vorgeschichtlichen Nomaden und Halbnomaden wichen denen der antiken Zivilisationen. Deren Vorstellungen werden heute oft als »Mythologie« abgetan; doch viele Elemente antiker Erzähltraditionen finden sich in aktuellen Glaubensströmungen wieder. Religionen haben sich immer wieder gewandelt – alte Glaubenssysteme wurden in diejenigen nachfolgender Gesellschaften integriert, woraus veränderte Religionen mit neuen Ritualen entstanden.

»[…] denn es bedürfen ja alle Menschen der Götter.«

Homer

Von der Antike bis zur Moderne

Die Anfänge zahlreicher Religionen lassen sich nur schwer ausmachen – nicht zuletzt, weil ihre Wurzeln in der Vorgeschichte des Menschen liegen und die Quellen, die über ihre Entstehung berichten, weitaus jünger sind. Man nimmt an, dass die älteste heute praktizierte Religion der Hinduismus ist; seine Wurzeln liegen in den Volksreligionen des indischen Subkontinents, die bereits seit dem 13. Jahrhundert v. d. Z. in den Veden gesammelt wurden. Aus diesen vedischen Traditionen entwickelten sich neben der pluralistischen Religion des Hinduismus auch der Jainismus, der Buddhismus und später, im 15. Jahrhundert, der Sikhismus.

Unterdessen entstanden im Osten weitere Glaubenssysteme. Chinesische Dynastien schufen seit dem 17. Jahrhundert v. d. Z. Nationen und Reiche. Ihre traditionellen Volksreligionen und Ahnenkulte fanden Eingang in die philosophischen Systeme des Daoismus und Konfuzianismus.

Als sich die Mythologien der jungen griechischen und römischen Stadtstaaten entwickelten, waren in den östlichen Mittelmeerregionen noch die Religionen des Alten Ägyptens sowie Babyloniens lebendig. Weiter östlich, in Persien, war mit dem Zoroastrismus bereits der erste bekannte Monotheismus entstanden – und als erste der drei abrahamitischen (auf den Stammvater Abraham zurückgehenden) Religionen entwickelte sich das Judentum, gefolgt von Christentum und Islam.

In vielen Religionen wurden einzelne Individuen als Glaubensstifter anerkannt – ob als Verkörperung Gottes, wie Jesus und Krishna, oder als Empfänger göttlicher Offenbarung wie Moses und Mohammed.

Die Religionen der modernen Welt entwickelten sich parallel zu den gesellschaftlichen Fortschritten weiter – zuweilen gegen Widerstände und oft durch Abspaltung von bestehenden. Im 19. und 20. Jahrhundert bildeten sich scheinbar neue Religionen heraus, die jedoch ausnahmslos Grundzüge bereits bestehender Glaubenssysteme aufwiesen.

Elemente von Religion

Die Geschichte kennt den Aufstieg und Fall zahlloser Religionen – samt ihrer Glaubenssätze, Rituale und Mythologien. Manche davon weisen untereinander Ähnlichkeiten auf und können als Zweige größerer Traditionen betrachtet werden, doch insgesamt gibt es viele unterschiedliche, ja einander widersprechende Glaubenssysteme.

So kennen manche Religionen zahlreiche Götter, während andere, insbesondere die modernen Großreligionen, monotheistisch sind. Dennoch lassen sich in fast allen Religionen Elemente finden, an denen sich ihre Unterschiede und Ähnlichkeiten ermessen lassen. Diese Aspekte – die Art und Weise, wie sich die Glaubensgrundsätze und Praktiken einer Religion manifestieren – nannte der britische Religionshistoriker Ninian Smart die »Dimensionen von Religion«.

»Es nützt nichts, die Tatsache zu leugnen, dass unsere tiefsten Bedürfnisse religiöse sind. Solange sie nicht befriedigt sind, gibt es keinen Frieden.«

Isaac Hecker, römisch-katholischer Paulist

Zu den offensichtlichsten dieser Dimensionen, anhand derer sich Religionen identifizieren und vergleichen lassen, gehören die religiöse Praxis – Aktivitäten wie Gebete, Wallfahrten, Meditation, Feste und Fasten, Zeremonien, Rituale sowie die Kleidung. Gleichermaßen evident sind die physischen Objekte einer Religion, also Artefakte, Reliquien, Kultstätten und heilige Orte. Weniger sichtbar indes sind die subjektiven Elemente: mystische und emotionale Aspekte und die religiöse Erfahrung eines Gläubigen, etwa Ekstase, Erleuchtung, innerer Frieden oder eine persönliche Beziehung zum Göttlichen.

Ein weiteres Merkmal der meisten Religionen ist die sie begleitende Mythologie. Sie enthält oftmals eine Schöpfungserzählung und Geschichten von Göttern, Heiligen oder Propheten. Jede Religion fußt auf einer solchen Sammlung heiliger Schriften, in der zentrale Ideen und die Geschichte ihrer Tradition festgehalten sind. Diese – vielfach als göttliche Offenbarung verstandenen – Texte sind Gegenstand der Unterweisung und Anbetung. In vielen Religionen werden diese Schilderungen durch eine systematischere Darstellung der Philosophie und religiösen Doktrin ergänzt, die die jeweilige Theologie kennzeichnen. Einige dieser ergänzenden Texte haben selbst kanonischen Status erlangt. Häufig findet sich in ihnen auch ein ethisches Element – Verhaltensregeln und Tabus – sowie ein soziales Element, das religiöse wie gesellschaftliche Institutionen definiert. Diese Regeln sind typischerweise prägnant formuliert, so etwa die Zehn Gebote in Judentum und Christentum oder der Edle Achtfache Pfad des Buddhismus.

»Welche Religion ein Mensch hat, ist ein historischer Zufall – genauso wie die Sprache, die er spricht.«

George Santayana, spanischer Philosoph

Religion und Moral

Ebenso fundamental ist in vielen Religionen die Idee von Gut und Böse. Religion bietet einer Gesellschaft oft moralische Orientierung. Doch die großen Religionen unterscheiden sich darin, was ein »gutes Leben« ausmacht – und in Glaubenssystemen wie Konfuzianismus und Buddhismus ist die Grenze zwischen Moralphilosophie und Religion alles andere als eindeutig. Gleichwohl haben sich einige nahezu universelle Moralkodizes herausgebildet. Religiöse Tabus, Ge- und Verbote sorgen nicht nur dafür, dass der Wille eines oder mehrerer Götter befolgt wird; sie liefern auch den Rahmen für eine Gesellschaft und ihre Gesetze, damit Menschen friedlich miteinander leben können. In vielen Religionen nahmen göttlich geleitete Propheten die spirituelle Führungsrolle ein und gaben sie an eine Priesterschaft weiter. Das wurde ein wichtiges Element zahlreicher Gemeinden und führte nicht selten zu beträchtlicher politischer Macht.

Tod und das Jenseits

Die meisten Religionen antworten auf die zentrale Frage des Menschen nach dem Tod mit dem Versprechen einer Art fortgesetzter Existenz im Jenseits. In östlichen Traditionen wie dem Hinduismus glaubt man, die Seele werde nach dem Tod in neuer physischer Gestalt wiedergeboren; anderen Glaubensrichtungen zufolge kommt sie vor ein Gericht und danach entweder in den (nicht-physischen) Himmel oder in die Hölle. Das Ziel, sich aus dem Kreislauf von Tod und Wiedergeburt zu befreien, lässt Gläubige die Regeln ihres Glaubens befolgen.

Konflikt und Geschichte

Im selben Maße, wie Religionen den Zusammenhalt von Gesellschaften stifteten, waren sie der Ursprung von Konflikten untereinander. Zwar gilt allen großen Traditionen der Friede als wesentlicher Wert, doch unter bestimmten Umständen sehen sie die Anwendung von Gewalt als gerechtfertigt an – etwa um den Glauben zu verteidigen oder dessen Einfluss auszuweiten. Und obgleich auch Toleranz als grundlegender Wert gilt, wurden Häretiker und Ungläubige wegen ihrer Anschauungen verfolgt. Nicht zuletzt bot die Religion nicht selten einen Vorwand für Völkermord.

»Alle Religionen, Künste und Wissenschaften sind Zweige desselben Baumes.«

Albert Einstein

Herausforderungen

Angesichts der negativen Aspekte religiösen Glaubens, ausgerüstet mit Erkenntnissen der humanistischen Philosophie und Wissenschaft, haben Philosophen den Wert von Religion infrage gestellt. Es gebe, so argumentierten sie, logische und konsistente Kosmologien auf der Basis von Vernunft (statt des Glaubens). In der modernen Welt seien Religionen irrelevant geworden. Philosophien wie der Marxismus-Leninismus bewerteten den Einfluss von Religion auf die menschliche Entwicklung als negativ; als Resultat entwickelten sich kommunistische Staaten, die explizit atheistisch und antireligiös waren.

Neue Richtungen

Als Reaktion auf die Veränderung der Gesellschaft und den wissenschaftlichen Fortschritt haben sich einige der älteren Religionen gewandelt und neue Zweige entwickelt. Andere wehren standhaft ab, was sie als irrgläubigen Fortschritt in einer zunehmend rationalistischen, materialistischen und gottlosen Welt betrachten. Fundamentalistische Bewegungen in Christentum, Islam und Judentum haben zahlreiche Anhänger gefunden; sie alle lehnen die liberalen Werte der modernen Welt ab.

Zur gleichen Zeit verspüren viele Menschen in den modernen Gesellschaften einen Mangel an Spiritualität – und wenden sich charismatischen Glaubensgemeinschaften innerhalb der großen Religionen zu oder schließen sich neuen, erst im Laufe der letzten 200 Jahre entstandenen religiösen Bewegungen an.

Andere wiederum haben unter dem Einfluss der New-Age-Bewegung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts alte Glaubensrichtungen neu entdeckt oder sich der Exotik traditioneller Religionen fernab der modernen Welt zugewandt. Nichtsdestotrotz wachsen die Glaubensgemeinschaften der großen Religionen weiter, sodass selbst heute weltweit kaum eine Gesellschaft als wahrhaft säkular gelten kann.

STAMMES-RELIGIONEN

SEIT DER VORGES CHICHTE

Stammesreligionen – auch Urreligionen oder frühe Kulte genannt – entstanden in allen Erdteilen. Sie bildeten die Basis für die Entwicklung aller modernen Religionen. Einige von ihnen werden noch heute praktiziert.

Unsere frühen Vorfahren, die Jäger und Sammler, schrieben der Natur überirdische Eigenschaften zu. Manche glaubten, Tiere, Pflanzen, Dinge und Naturgewalten seien, in derselben Weise wie die Menschen, von Geistern beseelt. In dieser animistischen Weltsicht sind die Menschen Teil der Natur und nicht von ihr getrennt. Um in Harmonie mit der Natur zu leben, müssen die Menschen den Geistern Achtung bezeugen.

Viele frühe Völker erklärten sich die Welt, indem sie Naturphänomene mit Gottheiten in Verbindung brachten. So deutete man mancherorts den täglichen Aufgang der Sonne als Erlösung aus dem Dunkel der Nacht, gelenkt von einer Sonnengottheit. Auch den Kreisläufen der Natur, die für die Menschen essentielle Bedeutung hatten, wie den Mondphasen oder Jahreszeiten, wurden eigene Gottheiten zugewiesen. Die meisten Kulturen besaßen eine Form von Schöpfungsmythos und eine Lehre vom Ursprung der Welt, um sich die Abläufe im Universum zu erklären. Oft wiesen diese Geschichten Analogien zur Fortpflanzung des Menschen auf: Eine Muttergottheit gebiert die Welt, die in manchen Fällen von einer Vatergottheit gezeugt wurde. Bisweilen wurden diese Gottheiten als Tiere oder Naturgewalten bzw. -formationen personifiziert, etwa als Fluss, Meer, Mutter Erde oder Vater Himmel.

Riten und Rituale

Die meisten Stammesreligionen kennen eine Form von Leben nach dem Tod. Man postulierte eine Sphäre, die von der physischen Welt getrennt war: einen Ort der Götter und mythischen Gestalten, an den die Geister der Toten reisten. Man hielt es für möglich, mit dieser Sphäre Kontakt aufzunehmen, mit den Geistern der Vorfahren zu sprechen und sie um Rat und Führung zu bitten. Auserwählte Personen – Schamanen oder »Medizinmänner« – konnten dorthin reisen und mystische Heilkräfte erlangen, indem sie mit den Geistern in Kontakt traten und gelegentlich von ihnen besessen waren.

Aus Übergangsriten der frühen Völker sowie aus Feiern anlässlich von Jahreszeitenwechseln entstanden Rituale zu Ehren der Geister und Götter. Man begann, die Götter anzubeten, um Jagdglück und eine gute Ernte zu bekommen. Mancherorts entwickelte sich eine Opferkultur: Man gab den Göttern Leben als Gegenleistung für das Leben, das sie den Menschen geschenkt hatten.

Eine wichtige Rolle bei religiösen Zeremonien spielten Symbole: Masken, Talismane, Kultfiguren und Amulette, die, so glaubte man, von Geistern beseelt waren. Auch Orten wurde religiöse Bedeutung zuerkannt. Manche Gemeinschaften hatten heilige Stätten und Begräbnisplätze, andere legten Gebäude oder Dörfer nach dem Bildnis des Kosmos an.

Einige Stammesreligionen haben bis heute überdauert. Doch die Zahl der von der modernen Zivilisation noch unberührten Völker schwindet. Manche Volksgruppen bemühen sich heute, ihre aussterbenden Kulte wiederzubeleben. Dem modernen Menschen erscheinen die traditionellen Vorstellungen oft primitiv, doch Spuren davon überdauern in den großen Weltreligionen ebenso wie in der modernen »New-Age« Bewegung.

VERBORGENE KRÄFTE SIND AM WERK

DER WELT SINN VERLEIHEN

IM KONTEXT

ANHÄNGER

San-Buschleute

WANN UND WO

Vorgeschichte, im subsaharischen Afrika

SPÄTER

44000 v. d. Z. In einer Höhle in KwaZulu-Natal werden Werkzeuge zurückgelassen, die denen der heutigen San ähneln.

19. Jh. Der deutsche Sprachwissenschaftler Wilhelm Bleek zeichnet viele Geschichten über die Ahnen der San auf.

20. Jh. Regierungsprogramme sollen die San dazu bewegen, ihr Leben als Jäger und Sammler aufzugeben und sich als Bauern niederzulassen.

1994 Dawid Kruiper, Anführer und Heiler, bringt die Kampagne für die Rechte und Landansprüche der San vor die UN.

Die Antwort auf die Frage, warum die Menschen die Vorstellung von einer Welt jenseits der sichtbaren entwickelten, ist komplex. Die Menschen wollten ihre Existenz mit all ihren Gefahren und Widrigkeiten verstehen und wissen, woher das für sie Lebensnotwendige kam. Erklärungen dafür fanden sie in einer Sphäre, die für sie unsichtbar war, ihr Leben aber entscheidend beeinflusste.

Ihre Vorstellung von einer Welt der Geister steht in Zusammenhang mit dem Schlaf und dem Tod. Denn man sah eine Analogie zwischen dem Wechsel Wachsein und Schlaf bzw. Tod und dem natürlichen Phänomen von Tag und Nacht. In dieser Zone zwischen Wachen und Schlaf, Leben und Tod, Licht und Dunkel existieren Träume, Halluzinationen und veränderte Bewusstseinszustände, die nahelegen, dass die sichtbare, greifbare Welt nicht die einzige ist, sondern dass noch eine andere, übernatürliche Welt existiert – die mit unserer in Verbindung steht. Die Menschen glaubten, dass die Bewohner jener anderen Welt nicht nur ihre Gedanken und Handlungen beeinflussten, sondern auch in den Körpern von Tieren wohnten, leblose Dinge beseelten und die Naturphänomene verursachten, die sich auf das Leben der Menschen auswirkten.

Die Welten begegnen sich

Menschen, Tiere und Mischwesen der prähistorischen Höhlenmalereien sind oft mit Mustern geschmückt. Man erklärt diese heute als sogenannte entoptische Phänomene, von der Netzhaut erzeugte Muster wie Punkte, Raster, Zickzack- und Wellenlinien, die in einem Zustand zwischen Wachen und Schlafen oder auch bei Visionen oder Halluzinationen wahrgenommen werden. Die Malereien stellen einen durchlässigen Schleier zwischen der sichtbaren Welt und der Welt der Geister dar.

»Der Sturmvogel bläst Wind in die Brust von Mensch und Tier, und ohne diesen Wind könnten wir nicht atmen.«

Sage aus Afrika

Wir können die Jäger und Sammler des prähistorischen Europa nicht mehr fragen, von welchen Ideen und Ritualen ihre Höhlenmalereien Zeugnis ablegen, doch im 19. Jahrhundert konnte man noch die kulturellen und religiösen Vorstellungen der |Xam San im südlichen Afrika aufzeichnen. Dieser mittlerweile ausgestorbene Stamm hatte sehr ähnliche Höhlenmalereien geschaffen, und die Glaubensvorstellungen dieser Menschen waren eine Verlebendigung der religiösen Vorstellungen, die Archäologen den frühen Menschen zuschreiben. Man vermutet, dass sogar die »Klicklaute« der San-Sprache, dargestellt durch »|«, noch von der frühesten Sprache der Menschheit stammen.

Seit prähistorischen Zeiten erneuern die San ihre Felsmalereien immer wieder und geben so ihre Geschichten und mythischen Vorstellungen weiter.

Ebenen des Kosmos

Die Mythologie der San-Völker ist geprägt von ihrer Umwelt und von der Vorstellung, dass die natürliche und die übernatürliche Sphäre ineinander verflochten sind. In ihrer dreistufigen Welt liegen die Bereiche der Geister über und unter der Welt der Menschen. Es ist möglich, von einer Sphäre in eine andere zu wechseln, und was in einer geschieht, hat direkte Auswirkungen auf das Geschehen in den anderen. Menschen mit besonderen Kräften können die obere Sphäre des Himmels ebenso besuchen wie die untere Sphäre der Geister.

Die |Xam San glaubten, dass in der oberen Welt der Schöpfergott und Trickster |Kaggen mit seiner Familie lebte, zusammen mit vielen Wildtieren und den Geistern der Toten, einschließlich der Geister des Frühen Volkes. Das waren Mischwesen, teils Mensch, teils Tier, die die Macht besaßen zu formen, zu verwandeln und zu erschaffen. Im Glauben der |Xam bevölkerten diese Wesen als Erste die Erde.

Naturkräfte

Die Mythen der |Xam schrieben Elementen der natürlichen Umgebung übernatürliche Bedeutung zu oder personifizierten sie als Geister. Übernatürliche Wesen konnten die Gestalt der Tiere annehmen, mit denen die |Xam das Land teilten, z. B. der Elen-Antilope, des Erdmännchens oder der Gottesanbeterin. Der Schöpfergott |Kaggen, der die Welt ins Dasein geträumt hatte, war zumeist ein Mensch, konnte sich aber in fast alles verwandeln. Er war der Beschützer des Wilds, verwandelte sich manchmal in ein Tier und ließ sich töten, um die Menschen zu ernähren.

Das Frühe Volk brachte seinen Ahnengeistern Ehrfurcht und Respekt entgegen, betete aber nicht zu ihnen; nicht einmal zu |Kaggen betete man, obwohl die Schamanen der San, zum Beispiel ||Kabbo (siehe Kasten gegenüber), hofften, sich bei |Kaggen für eine erfolgreiche Jagd einsetzen zu können. Weil |Kaggen ein Trickster ist, ein Schelm und Verwandlungskünstler, sind viele der Mythen, die sich um ihn und seine Familie ranken, eher lustig als ehrfürchtig; sogar der Hauptmythos von der Erschaffung der ersten Elen-Antilope enthält eine Szene, in der ein unfähiger |Kaggen von erbosten Erdmännchen verprügelt wird.

»Meine Mutter erzählte mir, ein Mädchen [des Frühen Volkes] habe Asche in die Luft geworfen. So entstand die Milchstraße.«

Sage aus Afrika

Eine Sonnenfinsternis hatten wohl nur wenige San je selbst gesehen, doch das Naturphänomen wurde in Mythen erklärt und durch die reiche mündliche Tradition überliefert.

Auch die Existenz von Naturkräften, Himmelskörpern und die Entstehung der Welt wurde in Mythen erklärt. So erzählte man sich, dass die Kinder des Frühen Volkes den schlafenden Sonnenmann in den Himmel hinauf warfen, sodass das Licht, das aus seiner Achsel schien, die Welt erleuchtete. Ein Mädchen des Frühen Volkes, hieß es, schuf die Sterne, indem es die Asche eines Feuers in den Himmel warf – so entstand die Milchstraße. Den Regen hielt man für ein großes Tier; ein heftiges Gewitter war ein Regen-Bulle, ein sanfter Regen eine Regen-Kuh. Besondere Menschen wie ||Kabbo hatten die Macht, Regen heraufzubeschwören. Er unternahm dazu eine übernatürliche Reise zu einer gefüllten Wasserstelle, lockte eine Regen-Kuh an und brachte sie durch den Himmel dorthin, wo man das Wasser brauchte. Dort »tötete« er sie, und ihr Blut und ihre Milch fielen als Regen zur Erde.

»Vor langer Zeit waren die Paviane kleine Menschen so wie wir, aber sie waren boshafter und streitlustiger.«

Sage aus Afrika

Denn Regen war in der trockenen Wüstenlandschaft der |Xam lebensnotwendig. Die weit auseinanderliegenden Wasserstellen, zwischen denen die Menschen hin und her zogen, mussten stets neu gefüllt werden. Ein komplexes Gewebe von Geschichten und Mythen, kukummi genannt, das der Traumzeit der australischen Aborigines ähnelt, verknüpfte sie miteinander (siehe S. 34–35).

Andere Welten betreten

Die Geschichten der |Xam beschreiben die Interaktionen von übernatürlichen Wesen mit Menschen. Die San glauben, dass ein mit entsprechenden Kräften begabter Mensch in einem veränderten Bewusstseinszustand die Sphäre der Geister betreten kann. Diese Fähigkeit, !gi genannt, wird Menschen und Tieren von der Schöpfergottheit verliehen. Das wichtigste religiöse Ritual, um Zugang zur Welt der Geister zu erhalten, ist der Trancetanz. Dabei verlässt der wesentliche Teil des Selbst den Körper und steigt durch den Scheitel in die Welt der Geister auf. Dort kann der Mensch um das Leben eines Kranken bitten und mit Heilkräften ausgestattet zurückkehren, um die Pfeile der Krankheit, die die Toten aus der anderen Welt abgeschossen haben, aus dem Kranken auszutreiben.

Die |Xam beteten zum Mond und zu den Sternen, um von ihnen Zugang zu spirituellen Kräften und Jagdglück zu erhalten. Trat ein Mensch in einen anderen Bewusstseinszustand, glaubte man, er sei zeitweilig tot und sein Herz sei ein Stern geworden. Menschen und Sterne waren so eng miteinander verbunden, dass es beim Tod eines Menschen hieß, »der Stern spürt, dass unser Herz stürzt und deswegen fällt er vom Himmel, denn die Sterne wissen, wann wir sterben.«

Nach dem Tod werden im Glauben der |Xam die Verbindungen zwischen Menschenwelt, Geisterwelt und Natur noch deutlicher. Man glaubte, dass sich das Haar eines Verstorbenen in Wolken verwandelte, die die Menschen vor der Hitze der Sonne bewahrten. Der Tod wurde in elementaren Bildern beschrieben: Der »Wind«, der in jedem Menschen steckte, blase die Fußspuren des Toten fort und mache so den Übergang von der Welt der Lebenden in die der Toten endgültig. Wenn die Fußspuren blieben, »schien es, als lebten wir noch«.

Tieren menschliche Eigenschaften zuzuschreiben – Erdmännchen z. B. Neugier – ist ein Hauptmerkmal früher Mythen, die zu erklären versuchen, wie die Welt so wurde, wie sie ist.

||Kabbos Traum-Leben

Vieles, was wir über den Glauben der |Xam San wissen, stammt von einem Mann namens ||Kabbo. Er gehörte in den 1870er-Jahren zu mehreren |Xam San, die nach einem Gefängnisaufenthalt in die Obhut von Dr. Wilhelm Bleek kamen, der ihre Sprache und Kultur studierte. Die Männer waren verurteilt worden, weil sie unter anderem ein Schaf gestohlen hatten, um ihre hungernden Familien zu ernähren. ||Kabbo sprach von »seinen« Wasserstellen, zwischen denen seine Familie in der Wüste der Kapkolonie hin und her wanderte. Man lagerte etwas vom Wasser entfernt, um die Tiere nicht zu verscheuchen, die zum Trinken kamen. Wilhelm Bleek sagte über ||Kabbo: »Diese sanfte alte Seele schien in einem eigenen Traum-Leben verloren.« Tatsächlich bedeutet ||Kabbo »Traum«. Der Schöpfergott |Kaggen hatte die Welt ins Dasein geträumt, und ||Kabbo hatte eine besondere Beziehung zu ihm: als ein |Kaggen-ka !kwi, »Mann der Gottesanbeterin«, konnte er sich in einen Traumzustand versetzen, um besondere Kräfte auszuüben, wie Regenmachen, Heilen und Jagdzauber.

ALLE DINGE SIND BESEELT

ANIMISMUS IN FRÜHEN KULTUREN

IM KONTEXT

ANHÄNGER

Ainu

WANN UND WO

Hokkaido, Japan

FRÜHER

10 000–300 v. d. Z. Das vorgeschichtliche Volk der Jomon lebt auf Hokkaido und verehrt wahrscheinlich seine Ahnen.

600–1000 n. d. Z. Ochotsken, Jäger und Sammler, besetzen die Küsten Hokkaidos. Praktiken wie die Bärenverehrung finden sich später bei den Ainu.

700–1200 n. d. Z. Die Kultur der Ochotsken verschmilzt mit der der Satsumon zur Kultur der Ainu.

SPÄTER

1899–1997 Die Ainu müssen sich der japanischen Kultur anpassen; viele ihrer religiösen Zeremonien werden verboten.

2008 Die Ainu werden offiziell als Ur-Volk mit einer eigenen Kultur anerkannt.

Die Ainu (»Mensch«) sind die Urbevölkerung Japans. Heute leben sie hauptsächlich auf der Insel Hokkaido. Sie sind kulturell eng verwandt mit anderen Völkern des nördlichen pazifischen Raums wie den sibirischen Tschuktschen, Korjaken und Yupik sowie den Inuit in Kanada und Alaska. All diese Völker haben eine animistische Sicht auf die Welt, in der jedes Lebewesen und jeder Gegenstand einen Geist hat, der handeln, sprechen und sich fortbewegen kann. Sie glauben, dass die spirituelle und die physische Welt nur durch eine dünne, durchlässige Schicht voneinander getrennt sind.

Die Ainu betrachten den Körper einfach als Gefäß für den Geist. Nach dem Tod tritt der Geist aus Mund und Nasenlöchern aus und wird in der nächsten Welt als Kamuy wiedergeboren – was sowohl »Geist« als auch »Gott« bedeutet. Stirbt der Kamuy dann in der nächsten Welt, wird er erneut in diese Welt geboren. Dabei wird er stets in derselben Spezies und im selben Geschlecht reinkarniert.

Kamuy können Tiere sein, Pflanzen, Mineralien, Naturphänomene und sogar von Menschen hergestellte Werkzeuge. Weil alle Geister, auch die unbelebter Objekte, unsterblich sind, kann man das Haus eines Verstorbenen niederbrennen, damit sein Kamuy auch in der anderen Welt eine Heimstatt findet; seine Gebrauchsgegenstände können zerbrochen werden, um die Geister darin freizusetzen, und mit dem Leichnam begraben werden, damit sie in der nächsten Welt wieder benutzt werden können.

Die Macht der Worte

Manche Kamuy spielen in beiden Welten eine Rolle. Kotan-kor-kamuy z. B. ist die Schöpfergottheit, aber zugleich auch der Beschützer der Dörfer. Er nimmt auf der Erde oftmals die Gestalt einer Eule an.

Menschen und Kamuy stehen sich nahe – so sehr, dass man »mit den Göttern streiten kann«. Man kann die Kamuy anbeten, aber die Beziehung beruht eher auf gegenseitigem Respekt als auf Verehrung. Wer nachlässig war und dadurch einen Gott verärgert hat, hält eine Zeremonie ab und bringt sein Bedauern zum Ausdruck. Hat jemand jedoch einen Gott mit dem nötigen Respekt behandelt und alle Rituale vollzogen, und ihm widerfährt dennoch Unglück, können die Ainu die Göttin des Feuers, Fuchi, um Hilfe bitten. Fuchi zwingt den Gott, sich zu entschuldigen und Wiedergutmachung zu leisten.

Ein Ainu-Häuptling ehrt den Geist eines getöteten Bären, der in die Welt der Götter zurückkehrt; Foto von 1946.

»Ich werde stets über den Menschen schweben und stets über das Land der Menschen wachen.«

Gesang des Eulengottes

Im Glauben der Ainu sind sogar Wörter Geister, und ihr Gebrauch ist eine Gabe, die nur die Menschen besitzen. Mit Wörtern kann man einen Handel mit Göttern und Dingen abschließen und die Götter erfreuen, z. B. mit den Epen der Ainu, den Kamuy yukar oder »Liedern der Götter«. Sie werden in der ersten Person und aus der Perspektive der Kamuy gesungen, und diese haben Freude daran, wenn die Menschen tanzen und Lieder zu ihren Ehren singen.

Kompensations-Rituale

Für die Ainu waren Jagdrituale von zentraler Bedeutung. Die Götter, die als Tiere verkleidet die Erde besuchten, wurden damit beschwichtigt. Im Gegenzug für Opfergaben und Rituale ließen sie den Menschen ihren Tierleib als Geschenk zurück.

Wenn sie einen Bären getötet und gegessen hatten, führten die Ainu das Iyomante-Ritual durch: Der Geist des Bären wurde mit Essen, Wein, Tanz und Gesang unterhalten. Man schoss Pfeile in die Luft, um dem Bärengott Kimun-kamuy die Rückkehr in die Welt der Götter zu erleichtern. Er sollte die Gaben von Sake, Lachs und heiligen geschnitzten Weidenstöcken, die ihm dargebracht worden waren, mit anderen Göttern teilen.

Eine Iwakte-Zeremonie wurde für zerbrochenes Werkzeug und für Gegenstände, die nicht mehr benutzt wurden, abgehalten.

BESONDERE MENSCHEN KÖNNEN IN ANDERE WELTEN REISEN

DIE MACHT DER SCHAMANEN

IM KONTEXT

ANHÄNGER

Samen

WANN UND WO

Vorgeschichte, Sápmi (im Norden Fennoskandinaviens)

SPÄTER

10 000 v. d. Z. Vorfahren der Samen hinterlassen Felsbilder in der europäischen Arktis.

Um 98 n. d. Z. Der römische Geschichtsschreiber Tacitus erwähnt die Samen (»Fenni«).

13. Jh. n. d. Z. Katholische Missionare bringen das Christentum, der traditionelle Schamanismus bleibt bestehen.

Um 1720 n. d. Z. Thomas von Westen, »Apostel der Samen«, tauft gewaltsam und zerstört Schamanentrommeln und heilige Stätten.

21. Jh. Die meisten Samen sind Christen. Das Interesse am Schamanismus erwacht neu.

Der Schamanismus ist eine der ältesten und am weitesten verbreiteten religiösen Praktiken der Menschheit. Er beruht auf dem Glauben an Geister, die von Schamanen beeinflusst werden können. Dies sind »besondere Menschen«, Männer oder Frauen mit viel Macht und großem Wissen. Nachdem sich die Schamanen in einen anderen Bewusstseinszustand versetzt haben, reisen sie in andere Welten und treten mit den Geistern dort in Kontakt.

Eine wichtige Aufgabe der Schamanen ist, mit den mächtigen Geistern zu verhandeln. So kann ein Schamane die Geister bitten, Tiere für die Jagd von der Geisterwelt in die Welt der Menschen zu entsenden, einen Blick in die Zukunft werfen zu dürfen oder Heilmittel für Kranke zu erhalten. Im Gegenzug können die Geister die Menschen über den Schamanen, der als Mittler dient, bitten, ihnen Opfer darzubringen oder bestimmte Regeln und Verhaltensweisen einzuhalten.

Die Schamanen spielen eine wichtige Rolle als Heiler. Ihre Reisen in andere Welten sind keine persönliche Angelegenheit, sondern sollen in erster Linie Leid und Elend in ihrer Gemeinschaft lindern. Das erkennt man noch gut in einigen heutzutage nur noch selten verwendeten Bezeichnungen für Schamanen, z. B. »Hexendoktor« im subsaharischen Afrika oder »Medizinmann« in Nordamerika.

»Wir glauben an Träume, und wir glauben, dass die Menschen neben ihrem wirklichen Leben ein anderes Leben führen können – ein Leben, das sie im Traum erfahren.«

Nâlungiaq, eine Netsilik-Inuit

In Europa war der Schamanismus von 45 000 v. d. Z. bis in die Neuzeit ein vorherrschendes Merkmal vieler Kulturen. Die Wikinger praktizierten zwischen dem 8. und 11. Jahrhundert eine Form schamanischer Wahrsagerei, bekannt als Seiðr. Auch in mittelalterlichen Mythen erscheinen schamanische Elemente, z. B. beim nordischen Gott Odin, der sich in einem Initiationsritus an den Weltenbaum hängt, an die Achse des Universums.

Im 16. und 17. Jahrhundert finden sich Spuren von Schamanismus im italienischen Friaul bei den Benandanti, Traum-Kämpfern eines Fruchtbarkeitskults, in Schottland bei den feenähnlichen Naturgeistern Seely Wights sowie aus neuerer Zeit auf Korsika bei den Mazzeri, Wanderern zwischen den Welten.

Die Schamanen der Samen

Die ältesten Zeugnisse des Schamanismus in Europa stammen aus Nordskandinavien, der Gegend, die heute als Sápmi bezeichnet und früher Lappland genannt wurde. Hier haben sich die Samen, halbnomadische Rentierhirten und Küstenfischer, ihren schamanistischen Glauben bis ins frühe 18. Jahrhundert bewahrt und zum Teil in den letzten Jahrzehnten wiederbelebt. Ihre Religion lässt sich aus historischen Quellen und in Vergleich mit verwandten Kulturen in Nordasien und der amerikanischen Arktis rekonstruieren.

»Die Existenz des Menschen endet nicht, wenn eine Krankheit oder ein anderer Umstand seinen Tiergeist hier auf Erden tötet. Wir leben weiter.«

Nâlungiaq, eine Netsilik-Inuit

Mithilfe ihrer Trommel stellten die Schamanen der Samen Kontakt mit der Geisterwelt her; christliche Missionare verbrannten im frühen 18. Jh. viele dieser Trommeln.

Die Schamanen der Samen, die Noaidi, erbten ihre Berufung oder wurden von den Geistern berufen. In manchen anderen Kulturen durchlebten die zu Schamanen »Erwählten« häufig eine Zeit schwerer Krankheit und Prüfung und hatten Visionen, in denen sie getötet und ins Leben zurückgeholt wurden.

Die Schamanen der Samen hatten Helfergeister in Tiergestalt wie Wölfe, Bären, Rentiere und Fische. Diese imitierten sie, wenn sie in Trance fielen. Es heißt, Schamanen »werden« das Tier, das sie nachahmen; das geschieht durch einen Prozess innerer Transformation.

Drei Dinge halfen den Schamanen der Samen, in Trance zu fallen: erstens große körperliche Strapaze, oft indem sie im arktischen Klima nackt arbeiteten; zweitens der rhythmische Schlag der heiligen Runentrommel, bei vergleichbaren Völkern wie den Jakuten und Burjaten »Pferd des Schamanen« genannt. Bilder darauf zeigten die Welt der Götter oben, die Welt der Toten unten und die Welt der Menschen (der Erde) dazwischen – die drei Sphären, die der Weltenbaum miteinander verband. Das dritte Hilfsmittel zur Erlangung von Trance war der Verzehr psychotroper (bewusstseinsverändernder) Pilze, z. B. Fliegenpilze. Danach wurden die Schamanen steif und bewegungslos, wie tot. Währenddessen bewachten die Männer die Schamanen, während die Frauen Gesänge über die Aufgaben anstimmten, die in der oberen oder unteren Sphäre vollbracht werden mussten, und Lieder sangen, die den Schamanen helfen sollten, ihren Weg zurück nach Hause zu finden.

Es gibt Geschichten über Schamanen, die nie aus der anderen Welt zurückkehrten, weil jene, die sie wiedererwecken sollten, die magischen Worte vergessen hatten. Von einem Schamanen hieß es, er sei drei Jahre lang fortgewesen, bis seinem Wächter einfiel, dass er die Seele des Schamanen aus »den Darmwindungen des Hechtes in der dritten dunklen Ecke« zurückrufen musste. Bei diesen Worten zuckten die Beine des Schamanen, er erwachte und verfluchte seinen Wächter.

In manchen arktischen Kulturen glaubt man, dass Tiere Geisterwächter haben, die sie beschützen. Die Schamanen haben die Macht, mit diesen Wächtern zu verhandeln. Sie bitten die Wächter, die Tiere aus der Welt der Geister in die der Menschen zu entlassen, damit die Menschen jagen und fischen können.

Verständigung mit den Geistern

Die Samen glaubten, dass ihre Schamanen zu einem Berg im Zentrum der Welt, der kosmischen Achse, flogen und von dort aus in die Welt der Geister gelangten. Oft ritten sie auf einem Fischgeist, wurden von einem Vogelgeistgeleitet und von einem Rentiergeist beschützt. Eine Reise in die obere Welt, Saivo, unternahmen sie, wenn sie um Wild oder andere Dinge baten, eine Reise in die Unterwelt-Jabmeaymo, um die Seele eines kranken Menschen zurückzuholen. Das war nur möglich, wenn die Herrin der Unterwelt mit Opfern versöhnlich gestimmt worden war. Die Schamanen konnten mit den Geistern der oberen und unteren Welt kommunizieren, weil sie die geheime Sprache der Geister beherrschten.

Die Netsilingmiut (Netsilik-Inuit) – eine arktische Kultur im heutigen Kanada, westlich der Hudson Bay – hatten ähnliche religiöse Vorstellungen wie die Samen. Auch ihre Schamanen waren Heiler, sie vermittelten zwischen den Menschen und den Geistern der Erde, der Luft und des Meeres und bändigten Stürme. Eine schamanische Sitzung wurde bei gedämpftem Licht abgehalten, in einer Schneehütte oder einem Zelt. Der Schamane beschwor seine Helfer mit Gesängen herauf und sprach in Trance mit einer Stimme und in einer Tonlage, die nicht seine waren.

Während dieses Trancezustands konnte seine Seele dem Mondmann Tatqiq einen Besuch abstatten. Tatqiq schenkte den Männern Jagdglück und den Frauen Fruchtbarkeit. Wenn er mit den Opfergaben zufrieden war, die der Schamane ihm darbrachte, belohnte er den Stamm mit Tieren. War der Mond am Himmel nicht zu sehen, glaubten die Netsilik, dass er jagen gegangen war, um die Toten zu ernähren.

Hoch in den Lüften und tief unten im Meer

Nach einer Sage der Netsilik befand sich der große Schamane Kukiaq eines Tages an einem Eisloch auf der Seehundjagd. Er blickte nach oben und sah, dass der Mond sich langsam auf ihn zu bewegte, über seinem Kopf schwebte und sich in einen Schlitten aus Walknochen verwandelte. Der Lenker, Tatqiq, bedeutete Kukiaq, einzusteigen, und brachte ihn in sein Haus im Himmel. Der Eingang des Hauses bewegte sich wie ein kauender Mund, und in einem der Zimmer stillte die Sonne einen Säugling. Der Mond bat Kukiaq zu bleiben, doch dieser fürchtete, den Heimweg nicht mehr zu finden. Er rutschte auf einem Mondstrahl zur Erde zurück und landete sicher an seinem Eisloch.

»Alles stammt von Nuliayuk – Essen und Kleidung, Hunger und schlechte Jagd, Fülle und Mangel an Karibus, Seehunden, Fleisch und Tran.«

Nâlungiaq, eine Netsilik-Inuit

Manche Inuit in Nordkanada glauben noch heute, dass ihre Schamanen eine besondere Beziehung zur Natur und zu den Geistern haben, die über die Erde und die Menschen herrschen.

Manchmal reisten die Schamanen der Netsilik in die Tiefe, um am Meeresgrund Nuliayuk (auch Sedna genannt) zu besuchen, die Herrscherin über die Tiere des Meeres und des Landes. Nuliayuk hatte Macht über die Seehunde, von denen die Netsilik abhängig waren, da sie ihnen Nahrung und Kleidung lieferten. Wenn die Netsilik eines ihrer strengen Tabus gebrochen hatten, sperrte die Göttin die Seehunde als Strafe ein. Wagten sich dann die Schamanen in ihre Wasser-Unterwelt vor und kämmten ihr das Haar, ließ Nuliayuk sich in der Regel besänftigen und gab die Seehunde wieder frei.

Die schamanische Tradition der Netsilik überdauerte bis in die 1940er-Jahre. In den Gemeinschaften der Netsilik waren die Schamanen, die Angatkuk, die Einzigen, die keine Angst vor den gefährlichen und böswilligen Geistern in der Welt hatten, da sie von ihren geistigen Helfern beschützt wurden. Ein Schamane der Netsilik konnte mehrere Helfer haben: dem Schamanen Unarâluk beispielsweise standen seine toten Eltern, die Sonne, ein Hund sowie ein Meeresskorpion zur Seite. Diese Geister hielten Unarâluk stets darüber auf dem Laufenden, was sich auf und unter der Erde, im Meer und am Himmel ereignete.

Die schamanische Erleuchtung des Au

Den folgenden Bericht erhielt der dänische Forscher Knud Rasmussen von Au, einem Schamanen der Iglulik-Inuit. Au erinnerte sich an eine Zeit in seinem Leben, wo er die Einsamkeit suchte, tief melancholisch war und manchmal unkontrolliert weinen musste. Eines Tages spürte er, wie ihn plötzlich eine große, unerklärliche Freude überkam. Inmitten dieses Zustands reiner Freude sei er »ein Schamane geworden. Ich wusste selbst nicht wie, aber ich war ein Schamane.« Danach konnte Au völlig anders hören und sehen: »Ich hatte quamaneq, meine Erleuchtung, erfahren … ich konnte nicht nur durch die Dunkelheit des Lebens sehen, sondern dasselbe Licht schien auch aus mir heraus. Die Menschen konnten es nicht wahrnehmen, aber die Geister der Erde und des Himmels und des Meeres konnten es sehen, und nun kamen sie zu mir und wurden meine helfenden Geister.«

Knud Rasmussen (1879–1933) dokumentierte auf seinen Forschungsreisen viele Jahre lang die Kultur der Arktisvölker.

WARUM SIND WIR HIER?

ERSCHAFFEN FÜR EINEN ZWECK

IM KONTEXT

ANHÄNGER

Baiga

WANN UND WO

Seit 3000 v. d. Z., Mandla im Südosten von Madhya Pradesh, Zentralindien

FRÜHER

Seit der Vorgeschichte Die Baiga und die australischen Aborigines haben wahrscheinlich gemeinsame Vorfahren.

SPÄTER

Um 1850 Britische Förster schränken die heilige Agrikultur bewar ein. Es folgen Hungersnöte, für die Baiga bricht das Kali Yuga, das Zeitalter der Dunkelheit, an.

1890 In einem Gebiet um acht Baiga-Dörfer herum wird bewar wieder erlaubt.

1978 Eine Entwicklungsgesellschaft für die Baiga wird gegründet.

1990er-Jahre Über 300 000 Baiga leben in Zentralindien.

Die Baiga sind eines der eingeborenen Stammesvölker in Zentralindien, die kollektiv als Adivasi bekannt sind. Die Baiga, die sich selbst Söhne und Töchter von Dharti Mata, Mutter Erde nennen, glauben, sie wurden erschaffen, um als Wächter des Waldes zu dienen – eine Aufgabe, die sie seit Anbeginn der Zeit erfüllen.

Ihrem Glauben zufolge hatte Bhagawan, der Schöpfergott, die Welt wie einen riesigen Teppich flach ausgebreitet. Doch dieserflatterte herum und blieb nicht still liegen. Der erste Mensch, Nanga Baiga, und die erste Frau, Nanga Baigin, die von Mutter Erde im Wald geboren wurden, nahmen vier große Nägel und schlugen sie in die vier Ecken der Welt, um sie zu stabilisieren. Bhagawan befahl ihnen, sich um die Erde zu kümmern, damit die Nägel an ihrem Platz blieben, und versprach ihnen dafür ein einfaches, aber zufriedenstellendes Leben.

»Du bist aus Erde gemacht und Herr über die Erde, das sollst du nie vergessen. Du musst die Erde behüten.«

Bhagawan der Schöpfer

Die Baiga folgten dem Beispiel von Nanga Baiga, jagten in den Wäldern und betrachteten sich als Herren der Tiere. Da sie es für falsch hielten, den Körper von Mutter Erde mit einem Pflug aufzureißen, praktizierten sie eine Form der Brandrodung, Bewar genannt, ließen aber stets den Stumpf eines Saj-Baumes als Wohnort der Götter stehen. Alle drei Jahre zogen die Baigas weiter. Die britische Verwaltung zwang sie im 19. Jahrhundert, ihre traditionelle Abholzung aufzugeben und sich dem verhassten Pflug zuzuwenden. Nur im Reservat Baiga Chak in Mandla wurde ihnen Bewar gestattet.

WARUM STERBEN WIR?

DER URSPRUNG DES TODES

IM KONTEXT

ANHÄNGER

Maori

WANN UND WO

Vorgeschichte, Neuseeland

FRÜHER

2. und 3. Jt. v. d. Z. Vorfahren der polynesischen Völker kommen vermutlich aus Asien und siedeln auf den Inseln im Pazifischen Ozean. Ihre Rituale und Mythologien entwickeln sich unabhängig voneinander, doch Ähnlichkeiten erhalten sich in dieser riesigen Region.

Vor 1300 n. d. Z. Die Maori besiedeln Neuseeland.

SPÄTER

Frühes 19. Jh. Beginn der europäischen Besiedlung. Einige Maori werden Christen.

1840 Der Vertrag von Waitangi regelt das Verhältnis zwischen Weißen und Maori.

Heute Etwa 620 000 Maori leben in Neuseeland.

Nach dem Glauben der Maori kam der Tod erst durch einen Inzest in die Welt. In einer Version ihres Mythos wuchs Tane, der Gott des Waldes, zwischen seinen Eltern Rangi, dem Gott des Himmels, und Papa, der Göttin der Erde, auf. Weil Tane in Enge und Dunkelheit zwischen den beiden lebte, drängte er sie auseinander. Dann bat er seine Mutter, ihn zu heiraten. Doch als sie ihm erklärte, das ginge nicht, schuf Tane sich eine Frau aus Schlamm und vereinigte sich mit ihr.

Daraus entstand ein wunderschönes Kind – Hine-titama. Sie ahnte nicht, dass sie Tanes Tochter war, und willigte ein, als er sie bat, seine Frau zu werden. Doch eines Tages entdeckte sie die schreckliche Wahrheit und stieg voller Scham in die Dunkelheit von Po, der Unterwelt, hinab. Damit begann es, dass die Menschen in das Reich des Todes hinabsteigen mussten.

Als Tane seine Frau besuchte, sagte sie: »Bleib du in der Welt des Lichts und zieh unsere Nachkommen groß. Mich hingegen lass hier unten in der Welt der Dunkelheit bleiben und sie hinabziehen.« Sie wurde zu Hine-nui-te-po, der Göttin der Dunkelheit und des Todes. Maui, ein Halbgott und Trickster, versuchte, die Unsterblichkeit für die Menschen wiederzugewinnen. Er vergewaltigte Hine-nui-te-po im Schlaf, weil er glaubte, sie werde dann sterben und der Tod mit ihr. Doch Hine-nui-te-po erwachte und zerquetschte Maui zwischen ihren Schenkeln, sodass die Sterblichkeit für immer in der Welt blieb.

Die Pflanzen und Geschöpfe des Waldes sind im Glauben der Maori Nachkommen von Tane, dem Gott des Waldes. Ehe sie einen Baum fällten, brachten die Maori daher ein Opfer dar.

DIE EWIGKEIT IST JETZT

DIE TRAUMZEIT

IM KONTEXT

ANHÄNGER

Australische Aborigines

WANN UND WO

Vorgeschichte, Australien

SPÄTER

8000 v. d. Z. Laut der mündlichen Überlieferung der Aborigines hat sich die Landschaft Australiens zu dieser Zeit verändert; geologische Untersuchungen belegen das.

4000–2000 v. d. Z. Felszeichnungen der Aborigines stellen die Ahnengeister der Traumzeit dar. Einige Experten datieren die frühesten Abbildungen sogar auf 8000 v. d. Z.

1872 Als erster Nicht-Aborigine sieht Ernest Giles den Uluru und nennt ihn den »bemerkenswerten Kiesel«. Europäische Siedler taufen ihn 1873 Ayers Rock.

1985 Der Uluru wird wieder Eigentum der Pitjantjatjara und Yankunytjatjara.

In der Tradition der australischen Aborigines wird die Zeit der Schöpfung Traumzeit genannt. Das wichtigste Element in ihrem Glauben besagt, dass die Schöpfung weiterhin anhält und Teil der wirklichen und ewigen Gegenwart ist, im Gegensatz zu einer fernen Vergangenheit. Die Aborigines glauben, dass man Zugang zur Traumzeit erlangen kann, durch Rituale, Gesang, Tanz und Geschichtenerzählen einerseits sowie durch heilige Objekte, Malereien auf Sand, Fels oder Rinde, auf dem menschlichen Körper und auf Leinwand andererseits.

Die Mythen der Traumzeit erzählen von den Ahnenwesen, die man auch als Erstes Volk oder »die Ewigen aus dem Traum« kennt; diese Ahnengeister spielten eine große Rolle bei der Schöpfung. Diese Wesen erwachten in einer Ur-Welt, die noch formbar und im Werden begriffen war. Sie reisten durch das Land und hinterließen heilige Pfade, die »Traumpfade«. Auf ihrem Weg formten sie Menschen, Tiere, Pflanzen und die Landschaft, führten Rituale ein und legten die Beziehungen zwischen allen Dingen fest. Dabei konnten sie ihr Aussehen verändern und zwischen Tier- und Menschengestalt hin und her wechseln. Schließlich verwandelten sie sich in Elemente der Landschaft, darunter die Sterne, Felsen, Wasserlöcher und Bäume.

Im Uluru liegt große spirituelle Kraft. Alle Traumpfade der Ahnengeister gehen von hier aus. Es heißt, man könne ihre Zeichen in der Gestalt und den Auffaltungen des Felsens sehen.

»Wir nennen es Djang… Jenen geheimen Ort… Die Traumzeit.«

Big Bill Neidjie, Stammesältester der Gagudju

Das lebende Land

Die Traumzeit ist daher eng mit natürlichen Formationen wie Bergen, Felsen und Flüssen sowie mit den Traumpfaden selbst verknüpft. Die Aborigines verehren die Landschaft Australiens als heilig, denn sie bezeugt die Wanderungen ihrer spirituellen Ahnen ebenso wie deren Körper. Für den Stamm der Gunwinggu ist das Land von Djang, der spirituellen Kraft der Ahnengeister, erfüllt und beseelt. Dadurch erhält die Landschaft ihr Leben und ihre heilige Kraft.

Das Zentrum dieser heiligen Topographie ist Uluru, eine Felsformation aus Sandstein. Von hier sollen alle Traumpfade ausgehen. Der Uluru wird als Schatzkammer von Djang und als Nabel des lebendigen Körpers von Australien verehrt.

Die Aborigines betrachten das Land als ihr Erbe und ihre Verantwortung. Sie selbst mögen zwar sterblich sein, doch das Djang ihrer Ahnengeister lebt ewig und ist ewig im Jetzt.

Der Ursprung des Uluru

Die Kunia, das Volk der Teppichschlange, lebte einst, wo heute der Uluru ist. Westlich davon lebten die Windulka, das Volk der Mulgasamen. Sie luden die Kunia zu einer Zeremonie ein. Die Kunia-Männer brachen auf, doch am Wasserloch des Uluru trafen sie einige Metalungana, schläfrige Echsenfrauen, und vergaßen die Einladung. Die Windulka sandten den Glockenvogel Panpanpalana, und die Kunia-Männer sagten ihm, sie könnten nicht kommen, weil sie gerade geheiratet hätten. Die Windulka waren gekränkt und baten die Liru, das Volk der Giftschlange, die Kunia anzugreifen. In einem blutigen Kampf besiegten sie die Kunia, die sich um ihren sterbenden Anführer Ungata versammelten und sich selbst in den Tod sangen. In dieser Schlacht entstand der Uluru. Drei Löcher oben im Fels bezeichnen den Platz, wo Ungata verblutete, und das aus ihnen fließende Wasser ist Ungatas Blut. Es füllt das Becken der Regenbogenschlange Wanambi.

UNSERE AHNEN FÜHREN UNS

DIE GEISTER DER TOTEN LEBEN WEITER

IM KONTEXT

ANHÄNGER

Quechua

WANN UND WO

Vorgeschichte, Zentrale Anden, Südamerika

SPÄTER

Ab 6000 v. d. Z. Ausgedehnte Siedlungen, die Ayllu, entstehen in den Anden.

3800 v. d. Z. Leichname werden mumifiziert und als heilig verehrt.

um 1200 n. d. Z. Das Reich der Inka entsteht.

1438 Das Reich der Inka in den zentralen Anden erreicht 1532 seine größte Ausdehnung.

1534 Die Spanier erobern und zerstören das Reich der Inka.

21. Jh. Der Katholizimus herrscht seit der Kolonialzeit vor, aber die meisten Quechua verschmelzen heute Elemente des Christentums mit ihren traditionellen Glaubensvorstellungen.

Die Religion des Anden-Hochlands war ursprünglich ein Totenkult. Dass man den Ahnen seine Reverenz erweist, stammt aus den Zeiten vor den Inka – jener Hochkultur, für die diese Region am bekanntesten ist, obwohl sie nur von kurzer Dauer war. Die Ahnenverehrung dauert bis heute an.

Die Inka waren nur eines von vielen Quechua sprechenden Völkern der Anden. Im 13. Jahrhundert stiegen sie auf und dehnten ihren Herrschaftsbereich bis ins heutige Peru, Ecuador, Chile sowie in Teile Boliviens und Argentiniens aus. Ihre Kultur ähnelte jener der Azteken in Mesoamerika (siehe S. 40–45), die Zeitgenossen waren. Die Inka verehrten ihre höchste Gottheit, den Sonnengott.

Abseits der Hauptstadt Cuzco mit ihren Priestern, Ritualen und goldenen Artefakten pflegte das einfache Volk, von den Inka Hatun Runa genannt, weiterhin seinen Kult der Ahnen und der Erde, der bis auf prähistorische Zeit zurückreichte. Dieser Kult überlebte das mächtige Inka-Reich, als es im 16. Jahrhundert von den spanischen Eroberern unter Francisco Pizarro vollkommen zerstört wurde.

Volk der Berge

Seit vorgeschichtlicher Zeit waren die Andenvölker in Ayllus organisiert, ausgedehnten Familienverbänden oder Clans mit eigenen Gebieten. In diesen Gruppen bearbeiteten sie das Land, teilten ihre Ressourcen und hielten Andacht an ihren Schreinen, den Huacas. Die Menschen beteten zur Erde, damit sie sie ernährte – was in einer kargen Bergregion, wo der Ackerbau hart und mühevoll war, lebensnotwendig erschien. Gleichzeitig wollten die Menschen sich die Fürsprache ihrer Verstorbenen sichern, damit das Land sie ebenso gut ernährte wie die Menschen der Vergangenheit.

Jeder Ayllu mumifizierte und verehrte seine Verstorbenen. Die Ahnengeister sollten den Bewohnern helfen, die kosmische Ordnung aufrechtzuerhalten und die Fruchtbarkeit von Land und Tieren sicherzustellen. Man wickelte die Toten in Stoffstreifen und legte sie in Mumienschreine aus Fels (Chullpa Machulas) – mit Blick zum Berggipfel. Nachdem die eisige, trockene Luft sie ausgetrocknet hatte, trug man die Mumien in einem Ritus über die Felder, damit die Ernte gedeihte. Gleichzeitig opferten Priester oder Wahrsager an den huacas und an Grabschreinen Kokablätter, Blut und Fett. Denn man glaubte, die Geister der Erde und der Ahnen würden das Volk ernähren, wenn die Menschen die Geister ernährten.

»Die Toten besuchen uns und helfen uns bei der Arbeit. Sie bringen Segen.«

Marcelino, Stammesältester der Kaata

Fortdauernde Macht

Im 17. Jahrhundert verbrannten christliche Missionare viele Mumien, doch einige blieben erhalten. Sie gelten den heutigen Quechua immer noch als die ersten Wesen dieser Welt. Die Chullpa Machulas, jetzt nur noch leere Felsnischen, sind nach wie vor heilige Schreine, wo Wahrsager Blut und Fett opfern, um die Orte mit Leben und Energie zu füllen. Gruppen wie die Qollahuayos-Indianer (siehe Kasten unten) verbrennen dort in Lamawolle eingewickelte Kokablätter. Man glaubt, dass auch die leeren Gräber ihre Macht bewahren. Das Fest der Toten am 2. November markiert das Ende der Trockenzeit und den Beginn der Regenfälle, wo mit dem Anpflanzen begonnen wird. Zu diesem wichtigen Ereignis des Anden-Jahres werden die Toten eingeladen, die Lebenden zu besuchen und sich einen Teil der Ernte zu holen.

Die Inka-Mumie eines Mädchens, das vor 500 Jahren starb, ist bis heute in der eisigen, trockenen Luft des Hochgebirges gut erhalten geblieben.

Ein Berg und ein Gott

Der Stamm der Kaata, der im heutigen Bolivien nordöstlich des Titicacasees lebt, bildet eine von neun Ayllus (Dorfgemeinschaften) der Qollahuaya-Indianer. Die Kaata waren schon immer ein Volk von Wahrsagern gewesen. Im 15. Jahrhundert trugen Kaata-Wahrsager den Thron des Inka-Herrschers, eine Aufgabe, die mit hohem Ansehen einherging. Man glaubte, die Qollahuaya-Indianer verdankten ihre Macht den Gräbern ihrer Vorfahren auf dem Berg Kaata. Dieser Berg wurde verehrt wie ein Mensch und auch als solcher beschrieben: Sein Hochland galt als der Kopf, das Gras als sein Haar, eine Höhle als Mund und Seen als Augen; die mittlere Region wurde als der Torso mit dem Herzen angesehen, und zwei Berggrate im unteren Bereich bildeten die Beine. Der Berg war für die Menschen ein lebendiges Geschöpf, das dem Stamm der Kaata Lebensunterhalt sowie spirituelle Führung bot.

WIR SOLLEN GUT SEIN

IN HARMONIE LEBEN

IM KONTEXT

ANHÄNGER

Chewong

WANN UND WO

Ab 3000 v. d. Z., Malaiische Halbinsel.

FRÜHER

Seit der Vorgeschichte

Die Chewong sind einer von 18 eingeborenen Stämmen auf der malaiischen Halbinsel, zusammen Orang Asli genannt, das »ursprüngliche Volk«. Jeder Stamm hat seine eigene Sprache und Kultur.

SPÄTER

1930er-Jahre Erste Begegnung der Chewong mit Europäern. Wegen ihres abgelegenen Lebensraums in den Wäldern ist ihr Kontakt auch mit Chinesen und anderen malaiischen Ethnien sehr gering.

Ab 1950 Die Chewong sollen sich der Gesellschaft anpassen und zum Islam übertreten. Viele bleiben aber ihrem traditionellen Glauben treu.

In den meisten Gesellschaften haben sich Moralsysteme entwickelt, die auf bestimmten Vorstellungen von Gut und Böse basieren und mit Sanktionen durch religiöse und soziale Autoritäten durchgesetzt werden. Es gibt kaum Kulturen, in denen Verbrechen und Krieg unbekannt sind. Bei den wenigen, die man entdeckt hat, handelt es sich um Stammesvölker, die sich als Jäger und Sammler im Regenwald durchschlagen. Dazu gehören die Chewong, die erst in den 1930er-Jahren mit Europäern in Kontakt kamen. Heute zählt der Stamm ungefähr 350 Menschen.

Die Chewong kennen weder Gewalt gegeneinander noch Konkurrenz. Worte für Krieg, Kampf, Verbrechen oder Bestrafung haben sie nicht. Sie glauben, dass die ersten Menschen die richtige Art zu leben von ihrem Kulturheros Yinlugen Bud gelernt haben – einem Waldgeist, der schon vor den Menschen auf der Erde weilte. Yinlugen Bud lehrte einst die Chewong ihre wichtigste Regel, Maro, die besagt, dass man sein Essen teilen muss. Alleine zu essen gilt als gefährlich und falsch. Der Stamm kann nur durch gemeinschaftliches Denken und Handeln, durch Teilen und Fairness, überleben. Wer diesen Moralkodex verletzt – sein Essen nicht teilt, bei Unglück Ärger zeigt, unbefriedigte Gelüste hegt oder Vorfreude auf Genuss zeigt –, wird vom Übernatürlichen gestraft, sei es durch Krankheit oder einen physischen oder psychischen Angriff, etwa von einem Tiger oder einer Schlange oder durch die Ruwai, die Seele des Tieres.

»Ein Mensch sollte niemals alleine essen. Man muss immer mit anderen teilen.«

Yinlugen Bud

ALLES HÄNGT ZUSAMMEN

EIN LEBENSLANGES BÜNDNIS MIT DEN GÖTTERN

IM KONTEXT

ANHÄNGER

Warao

WANN UND WO

Ab 6000 v. d. Z., Orinoko-Delta, Venezuela

FRÜHER

Seit der Vorgeschichte Die Warao sind eine der größten indigenen Gruppen im südamerikanischen Tiefland.

SPÄTER

16. Jh. Europäer begegnen erstmals den Warao und vergleichen ihre Siedlungen mit Venedig. So erhält Venezuela (auf Spanisch »Klein-Venedig«) seinen Namen.

Ab den 1960er-Jahren

Umweltprobleme beeinträchtigen die örtliche Fischerei und vertreiben Stammesmitglieder in die Städte. Einige treten zum Christentum über.

2001 Mehr als 36000 Warao werden in der Gegend des Orinoko-Deltas registriert.

Der Stamm der Warao lebt im Delta des Orinoko, wo das Land in unzählige Inseln zerteilt ist. Für die Warao ist die Erde flach, nur eine schmale Kruste zwischen Wasser und Himmel. Sie glauben, dass Hahuba, die Schlange des Seins, die Großmutter aller lebenden Dinge, um die Erde gewickelt ist und Ebbe und Flut ihr Atem sind. Die verschiedenen Götter der Warao leben auf heiligen Bergen an den vier Ecken der Welt, und die Warao leben genau in ihrer Mitte. In Dörfern, die unter dem Schutz eines der Götter stehen, befindet sich in einer Tempelhütte ein heiliger Gesteinsbrocken, in dem jener Gott anwesend ist.

Göttliche Abhängigkeit

Die Götter der Warao sind von den Menschen abhängig. Diese ernähren sie mit Opfergaben, insbesondere mit Tabakrauch. Das lebenslange Bündnis mit dem Göttern kommt mit der Geburt eines Menschen zustande. Der erste Schrei des Babys, so glauben die Warao, wird über die Welt zum Berg Ariawara getragen, dem Gott des Ursprungs im Osten. Dieser wiederum sendet einen Willkommensruf zurück. Wenig später schickt Hahuba, die Schlange des Seins, eine wohlige Brise in das Dorf, um den Neuankömmling zu begrüßen. Von da an ist das Baby Teil des komplexen Gleichgewichts zwischen Natur und übernatürlicher Welt, das das Lebensgewebe im Alltag der Warao bestimmt.

In den Mythen der Warao bietet der Vogel mit dem Schönen Federkleid Kindern übernatürlichen Schutz. Es heißt, dass die Geister der Unterwelt verstorbene Kinder als Nahrung verlangen.

DIE GÖTTER VERLANGEN BLUT

BLUT- UND MENSCHENOPFER

IM KONTEXT

ANHÄNGER

Azteken, Maya und andere Völker Mesoamerikas

WANN UND WO

3. bis 15. Jh. n. d. Z., Mexiko

FRÜHER

Ab 1000 n. d. Z. Die Hochkultur der Maya entsteht und erreicht ihre Blütezeit, die Klassik der Maya-Kultur, zwischen dem 3. und 10. Jh. n. d. Z.

Ab dem 12. Jh. n. d. Z. Das Reich der Azteken entsteht.

SPÄTER

1519 n. d. Z. Die Azteken (mit einer Bevölkerung von 20–25 Mio.) werden von den Spaniern unter der Führung des Konquistadors Hernán Cortés unterworfen.

1600 n. d. Z. Zwangskatholisierung und eingeschleppte Krankheiten zerstören die aztekische Kultur. Die Bevölkerung sinkt auf etwa eine Million.

Tier- und Menschenopfer waren seit jeher Bestandteil religiöser Traditionen weltweit, doch in den antiken Hochkulturen Mesoamerikas, vor allem bei den Mayas und Azteken, erlangten solche rituellen Opferungen eine besondere kultische Bedeutung.

Die Völker des antiken Mesoamerika bewohnten das Gebiet vom heutigen zentralen Mexiko bis nach Nicaragua. Die Maya-Kultur (Blütezeit um 250 n. d. Z.–900 n. d. Z.) ging jener der Azteken (Blütezeit um 1300–1400 n. d. Z.) voraus und fiel später mit ihr zusammen. Die Azteken übernahmen religiöse Traditionen und Gottheiten von den Maya; auch wenn sie ihnen andere Namen gaben, besaßen sie ähnliche Eigenschaften.

Gegenseitige Blutopfer

Die mesoamerikanischen Kulturen glaubten, die Blutopfer an die Götter seien notwendig, um das Überleben ihrer Welt sicherzustellen. Die Tradition des rituellen Aderlasses geht zurück auf die erste Hochkultur in Mexiko, die der Olmeken, die zwischen 1500 und 400 v. d. Z. ihre Blütezeit erlebte. Den alten Mythen zufolge hatten einst auch die Götter für die Welt gewaltige Opfer gebracht: Sie hatten ihr Blut vergossen, um die Menschheit zu erschaffen; nun erwarteten sie von den Menschen Blut als Gegenleistung.

Opfer und Schöpfung