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Das Kirchenjahr richtet sich nach dem Rhythmus der Natur. Immer mehr Menschen sehnen sich danach, auch in diesem Rhythmus zu leben. Doch viele Menschen können mit kirchlichen Feiertagen nichts mehr anfangen. Was ist eigentlich Ostern, was ist die Bedeutung von Christi Himmelfahrt? Anselm Grün erklärt die Feste des Jahreskreises mit ihren Bildern und Symbolen und macht Mut wieder verstärkt im Takt des Kirchenjahres und der Natur zu leben. Mit Impulsen für eigene Rituale werden unsere Feiertage schließlich wieder ganz neu erlebbar.
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Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie. Detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Printausgabe
© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2016
ISBN 978-3-7365-0004-4
E-Book-Ausgabe
© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2024
ISBN 978-3-7365-0587-2
Alle Rechte vorbehalten
E-Book-Erstellung: Sarah Östreicher
Covergestaltung: wunderlichundweigand, Stefan Weigand
Covermotiv: Kotkoa/shutterstock.com
www.vier-tuerme-verlag.de
Anselm Grün
Bilder der Seele
Die heilende Kraft des Jahreskreises
Vier-Türme-Verlag
Einleitung
Das Thema der Jahreszeiten ist in der jüngeren Vergangenheit neu in den Blickpunkt vieler Menschen geraten. Auf der einen Seite erleben die Bewohner der Städte die Zeit oft ohne klare Strukturierung. Da gibt es nur Arbeitszeiten und Urlaubszeiten. Durchbrochen wird der Jahreskreis, indem man etwa im Winter in wärmere Gegenden in Urlaub fährt. Doch auf der anderen Seite nehmen viele Menschen den Jahreskreis mit seinen verschiedenen Stimmungen in der Natur und in der menschlichen Seele bewusster wahr.
Im Jahr 1931 hat Hermann Hesse einen Privatdruck mit Aquarellen und Gedichten unter dem Titel »Jahreszeiten« herausgegeben. Hermann Hesse hat sehr bewusst mit den Jahreszeiten gelebt, hat die Qualität einer jeden von ihnen wahrgenommen und seine Stimmungen beschrieben, die sie jeweils in ihm auslösten. Im Jahre 1977 hat der Schweizer Therapeut Paul Tournier das Buch veröffentlicht: »Die Jahreszeiten unseres Lebens – Entfaltung und Erfüllung«. Darin vergleicht er die Jahreszeiten mit dem Lebenslauf des Menschen. Der Frühling steht für die Kindheit und Jugend, der Sommer für das Erwachsensein, Inblütesein, der Herbst für das Älterwerden und der Winter für das Greisenalter und den Tod. Seit jeher haben Philosophen diese Deutung vertreten. Doch da der Jahreskreis sich regelmäßig wiederholt, ist es sinnvoll, ihn mehr im Geiste von Hermann Hesse als vier verschiedene Qualitäten menschlicher Selbsterfahrung zu verstehen. Wenn wir jedes Jahr die vier verschiedenen Jahreszeiten erleben und innerhalb dieser Jahreszeiten jeweils unterschiedliche Phasen, dann spiegelt sich das auch in unserer Selbstwahrnehmung wider. Wir fühlen uns im Winter, im Frühling, im Sommer und im Herbst jeweils anders.
Seit jeher war die Natur die Lehrmeisterin des Menschen; die Beziehung zur Natur war die Quelle seiner Religiosität. Der Mensch hat in der Natur immer etwas Göttliches erfahren, etwas, das größer ist als er selbst. Aber er hat in der Natur zugleich auch durchgehend ein Bild für sich selbst gesehen. Das gilt einmal für die verschiedenen Tiere und Pflanzen. Der Baum ist etwa ein Bild für den Menschen: er ist tief verwurzelt in seiner Vergangenheit, er strebt nach oben, entfaltet sich in einem kräftigen Stamm mit vielen Ästen und er trägt eine Krone. Er ist ein königlicher und aufrechter Mensch. Seine Krone öffnet ihn für den Himmel. Der Mensch ist Mensch der Erde und zugleich Mensch des Himmels.
In diesem Sinn war auch immer der Jahreskreis ein wichtiger Ort der Selbsterfahrung. In seinem Verlauf entdeckt der Mensch die verschiedenen Emotionen und Stimmungen seiner Seele, ja, er erkennt, was in ihm für Möglichkeiten stecken. Indem sich der Mensch auf die Jahreszeiten einlässt, entfaltet er den Reichtum seiner Seele. Dafür bietet ihm der Jahreskreis einen wunderbaren Rhythmus an. Wenn der Mensch sich auf diesen Rhythmus einlässt, dann lebt er gesund. Auch der Schweizer Psychologe Carl Gustav Jung meinte einmal, dass der, der im Rhythmus lebt und arbeitet, effektiver und nachhaltiger arbeitet; er wird nicht so leicht erschöpft. So ist es für den Menschen heilsam, sich auf den Rhythmus des Jahreskreises einzulassen und das Potenzial seiner Seele in dessen Verlauf zu entdecken und zu entfalten.
In allen Religionen hat man Feste gefeiert, die auf den Jahreskreis Bezug nehmen. Für Israel lassen sich Frühlings- und Herbstfeste, Aussaat- und Erntefeste ausmachen. Aber zugleich hat man diese Feste mit Geschehnissen der Heilsgeschichte verbunden. Das Frühlingsfest – Pascha – wurde Gedächtnis des Auszugs aus Ägypten, das Laubhüttenfest wurde zur Erinnerung an das Leben in der Wüste, wo man in entsprechenden Behausungen gewohnt hat. Solche »Naturfeste« Israels wie auch solche der Völker und Kulturen, in die es vorgedrungen ist, hat das Christentum übernommen, dann aber in seinem Sinne gedeutet, indem es sie mit den Geschehnissen aus dem Leben Jesu verbunden hat.
Die Feste, die sich auf den Jahreskreis und auf das Schicksal Jesu beziehen, stellen Bilder der Seele dar. Diese Bilder nennt C. G. Jung archetypische Bilder. Sie sprechen die Seele des Einzelnen an, berühren in jeder Seele innere Strukturen. In sich haben sie die Kraft, den Menschen in seine innere Mitte zu führen und ihn in Berührung zu bringen mit den Möglichkeiten, die in seiner Seele bereitliegen. Archetypische Bilder sind immer auch heilende Bilder. Nach C. G. Jung verwandeln sie die »libido«, die Lebensenergie des Menschen, und führen sie auf eine höhere Ebene, so ass auch das geistige Leben davon genährt wird.
Das Leben Jesu ist nicht nur historisch zu verstehen, sondern auch als Darstellung der wichtigsten archetypischen Bilder, die den Menschen zu seinem wahren Selbst führen können. C. G. Jung fasst das so: Jesus hat natürlich sein eigenes persönliches Leben gelebt, aber zugleich hat sein Leben archetypischen Charakter. Es stellt all das dar, was auch in jedem menschlichen Leben auf ähnliche Weise geschehen kann. Indem wir das Leben Jesu feiern, üben wir uns ein in das Gelingen des eigenen Lebens. Wir entdecken in den Festen, die sich auf sein Schicksal beziehen, immer auch eigene Möglichkeiten und Gefährdungen. Indem wir diese Feste feiern, wächst in uns die Hoffnung, dass wir die Gefährdungen überwinden und dass wir mehr und mehr das Potenzial entfalten, das in unserer Seele bereitliegt. In den Festen üben wir uns ein in unsere eigene Selbstwerdung.
Die Bilder, die an den Festen des Kirchenjahres dargestellt werden, haben für Jung eine heilende Kraft. Sie bewirken, dass unser persönliches Leid nicht mehr allein unser Leid bleibt, sondern gewissermaßen zum Leid der Welt wird. Der Schmerz, der einen isoliert, wird zu einem Schmerz ohne Bitterkeit, der uns mit allen Menschen verbindet. »Dass dies heilen kann, dafür brauchen wir wohl keine Beweise zu suchen.« (Jacobi, Gedanken, 45) An anderer Stelle meint Jung, dass die ewigen Bilder, die uns an den Festen vor Augen geführt werden, unserem Leben Würde verleihen. Sie ermöglichen es uns, bei uns selbst zu bleiben, und bewahren uns vor der Flucht vor der eigenen Wahrheit. (Vgl. Jacobi, 242f) Heute begegnen wir öfter Menschen, die voller Unruhe eine nach der anderen Methode suchen, um heil zu werden, dabei jedoch nicht zu sich selbst finden. Um Letzteres zu erlangen, zeigen sich die heilenden Bilder, die ewigen Bilder, wie sie uns die Weisheit der Bibel und die Weisheit des Kirchenjahres vor Augen stellen, als hilfreich.
Jung hat es am eigenen Leib erfahren, dass derartige Bilder für ihn heilsam sind. Als er gerade fertig war mit seiner psychologischen Ausbildung, wurde er von heftigen Emotionen erschüttert. Er geriet in eine tiefe Krise. Da half es ihm, diese Emotionen in Bildern auszudrücken und sie dadurch zu verwandeln. Er schreibt: »In dem Maße, wie es mir gelang, die Emotionen in Bilder zu übersetzen, das heißt diejenigen Bilder zu finden, die sich in ihnen verbargen, trat innere Beruhigung ein. Wenn ich es bei der Emotion belassen hätte, wäre ich womöglich von den Inhalten des Unbewussten zerrissen worden. Vielleicht hätte ich sie abspalten können, wäre dann aber unweigerlich in eine Neurose geraten, und schließlich hätten mich die Inhalte doch zerstört.« (Erinnerungen, 181) Daher ist es wichtig, dass wir bei den Emotionen, die uns oft aus heiterem Himmel überfallen, die dahintersteckenden Bilder entdecken. Die Bilder, die uns das Kirchenjahr anbietet, entsprechen den Emotionen, die im Laufe des Jahres in uns auftauchen, und verwandeln sie in eine gute Energie, die uns zum Leben antreibt, anstatt uns innerlich zu zerreißen.
Das Kirchenjahr stellt die wichtigsten Stationen im Leben und Schicksal Jesu dar und damit auch die wichtigsten Stationen auf dem Weg menschlicher Selbstwerdung. Für C. G. Jung ist das Kirchenjahr ein therapeutisches System. Es enthält ihm gemäß die wichtigsten Symbole und Rituale, die den Bildern im Unbewussten des Menschen entsprechen. Indem diese Symbole dargestellt und diese Rituale gefeiert werden, kommt der Mensch mit dem Potenzial in Berührung, das in seiner Seele verborgen liegt. Viele jedoch können diese heilende Wirkung der Rituale und Symbole nicht mehr wahrnehmen. Daher ist es mir ein Anliegen, im Sinne C. G. Jungs die Feste des Jahreskreises so darzustellen, dass die Menschen sich selbst auf ihrem Weg der Menschwerdung erkennen. Ihre Bedeutung als Feste der menschlichen Selbstwerdung kommt in der Geschichte Jesu am deutlichsten zum Ausdruck, aber zugleich soll ihre Bedeutung als Naturfeste hier Berücksichtigung finden. Rituale, so sagt Jung, lenken die seelische Energie des Menschen in die richtige Richtung, sie machen die unbewussten Energien bewusst. Das ist heilsam, denn sie integrieren die Energie, die im Unbewussten schlummert, in das Bewusstsein. Wo das nicht geschieht – so meint Jung –, äußert sich das bei vielen in scheinbar grundlosen Ängsten und Zwängen, in überspannten Ideen und in falschen Bildern ihrer selbst. Die Bilder des Kirchenjahres machen die im Unbewussten befindlichen Bilder der menschlichen Seele bewusst. Jung aber weiß: »Die Integration des Unbewussten ins Bewusstsein hat Heilwirkung.« (Gesammelte Werke 5,547)
Wenn wir die nicht jedem vertraute Sprache C. G. Jungs in unsere Sprache übertragen, so können wir sagen: Die Feste des Kirchenjahres sprechen Bilder der Seele an, die in jedem Menschen vorhanden sind. Wenn diese Bilder nicht angesprochen werden, so kann die im Unbewussten schlummernde Energie nicht verwandelt und ins Bewusstsein integriert werden. Das aber führt dann zu neurotischen Symptomen. Es geschieht eine innere Spaltung. Der Mensch weiß nicht, wie er mit seinen unbewussten Energien umgehen soll. Jung meint, dass das archetypische Christusleben das Drama unserer eigenen Selbstwerdung darstellt. Die einzelnen Szenen im Leben Jesu beschreiben die Stationen unserer eigenen Menschwerdung. Wer den Weg seiner Selbstwerdung geht, den sprechen die Bilder an, die ihm das Kirchenjahr an den einzelnen Festen vor Augen führt. Insofern ist das ganze Kirchenjahr für Jung ein Heilssystem, ein System von Riten, die den Menschen heilen. Er nennt die Riten des Kirchenjahres »Methoden geistiger Hygiene« (Gesammelte Werke 11,47) und spricht ihnen auch heute noch nach wie vor eine heilende Wirkung zu. Die Rituale, mit denen wir die Feste des Kirchenjahres feiern, verbinden in uns also das Bewusste und das Unbewusste, leiten unbewusste Inhalte ins Bewusstsein und integrieren sie. Das bewahrt uns vor einer inneren Spaltung, die letztlich die Grundlage aller Neurosen ist.
Die Feste des Kirchenjahres haben nach Jung aber noch eine andere Wirkung. Sie bringen uns in Berührung mit unserer Vergangenheit, sie integrieren das, was damals in Jesus Christus geschehen ist, in unser Leben. Jung weiß, dass der Mensch Wurzeln braucht. Wenn er von seiner Vergangenheit abgeschnitten wird, wird er wurzellos. Das Kirchenjahr lässt die Vergangenheit heute für uns zu einer Wirklichkeit werden, aus der wir Kraft schöpfen können. So sind die Feste des Jahreskreises eine Chance für den Menschen, mit seinen eigenen Wurzeln in Berührung zu kommen. Wurzellosigkeit hingegen macht immer krank, die Wurzeln aber kräftigen und nähren uns.
Ein anderer Ansatz, die heilende Wirkung der Bilder zu verstehen, die uns die Feste des Kirchenjahres anbieten, ist die religionswissenschaftliche Herangehensweise, wie sie etwa der rumänische Vertreter dieser Disziplin Mircea Eliade in seinem Buch »Ewige Bilder und Sinnbilder« entwickelt. Er spricht von Urbildern, die in der menschlichen Seele seit Urzeiten bereitliegen. Diese Bilder haben nach Eliade vor allem zwei Wirkungen. Einmal eine heilsame, sie dienen der Gesundheit des Menschen, weil sie ein gesundes Gleichgewicht in seinem Innenleben herstellen. Sie bringen ihn in Berührung mit »der in die Tiefe reichenden Realität des Lebens und der seiner eigenen Seele«. (Ewige Bilder und Sinnbilder, 23) Die andere Wirkung der Bilder bezieht sich auf das Miteinander der Menschen, zwischen denen durch sie eine tiefere Solidarität geschaffen wird, als es Worte vermögen. (Vgl. Ewige Bilder und Sinnbilder, 19) Das Christentum hat aus einer entsprechenden Perspektive die Bilder, die es in anderen Religionen entdeckt hat, nicht abgeschafft, sondern gleichsam getauft; es hat die heilende und einende Kraft, die in diesen Bildern liegt, aufgegriffen und in Christus gleichsam zur Vollendung geführt. So wurde die Ursymbolik der ewigen Bilder mit der konkreten Geschichte Jesu Christi verbunden und dadurch für uns mit geschichtlicher Erfahrung angereichert. Für uns Christen sind die Bilder an die Geschichte gebunden. Das heißt aber auch, dass unsere eigene Lebensgeschichte durch die Geschichte Jesu geheilt wird.
In diesem Buch möchte ich nun die Feste des Jahreskreises als Bilder der Seele beschreiben, als Bilder, die die wesentlichen Sehnsüchte der menschlichen Seele zum Ausdruck bringen und die all das ansprechen, was wir oft unbewusst in uns tragen, aber durch eine rein rationale Theologie oder Philosophie nicht aktivieren können. Die Bilder des Kirchenjahres wollen sich in uns einformen, damit sie innere Bilder werden, die uns mit dem ursprünglichen und einmaligen und unverfälschten Bild in Berührung bringen, das Gott sich von jedem von uns gemacht hat. Das Potenzial unserer Seele wird uns durch die Bilder gezeigt, und sie wecken in uns alles auf, was da an Möglichkeiten schlummert, was wir aber oft genug übersehen haben.
Winter
Wer den Jahreskreis lebensgeschichtlich versteht, der beginnt ihn mit dem Frühling. Bei uns fängt jedoch das Kalenderjahr mit dem Januar an. Januar und Februar sind die typischen Wintermonate, der Winter aber beginnt bereits am 21. Dezember. Daher möchte ich den Advent, mit dem das Kirchenjahr einsetzt, zu dieser Jahreszeit hinzunehmen, denn er bringt etwas Wesentliches zum Ausdruck, was für den Winter gilt.
Eine Heilpraktikerin erzählte mir: Wenn es keinen richtigen Winter gibt, dann werden mehr Menschen im Sommer krank. Sie konnte das in ihrer Praxis wahrnehmen. Was ist wohl der Grund dafür? Der Winter ist die Zeit des Rückzugs. Der Schnee bedeckt die Landschaft. Schnee macht die Welt still. Durch eine Schneelandschaft zu gehen, vermittelt uns eine intensive Stille. Die Schneedecke hüllt die Natur ein, damit sich in ihr neues Leben vorbereiten kann. Was für die Natur gilt, gilt auch für die Seele des Menschen. Im Winter hat der Mensch mehr Zeit, nachzudenken. Die wichtigsten Erfindungen der Menschheit wurden im Winter gemacht. Wenn alles nach außen hin still ist, kommen dem Menschen die besten Ideen. Früher war das ganz konkret an die Arbeit des Bauern gebunden. Von Frühjahr bis Herbst war er mit Aussaat und Ernte beschäftigt, im Winter hatte er Zeit, die Maschinen zu reparieren. Dabei kam er oft auf neue Gedanken, wie er effektiver wirtschaften könnte.
Unsere Reaktion auf den Winter ist verschieden. Da ist die Freude über den ersten Schnee. Er lädt uns nicht nur ein, Ski zu fahren, sondern auch zu wandern. Durch eine Schneelandschaft zu wandern, hat seinen eigenen Reiz. Alles ist zugedeckt. Manchmal zaubert uns der Schnee oder der Frost an den Ästen der Bäume wunderbare Bilder vor Augen. Aber es gibt nicht nur den schneereichen Winter. Manchmal ist es nur kalt und neblig. Dann drückt die winterliche Stimmung auf unser Gemüt. Irgendwann wird es uns aber auch zu viel mit dem Schnee. Er hindert uns nicht nur am Autofahren. Wenn einige Wochen lang Schnee die Landschaft bedeckt hat, sehnen wir uns doch wieder nach der Schneeschmelze und nach den ersten Boten des Frühlings.
Der Winter kann uns auch mit trübseligen Gefühlen in Berührung bringen. Das hat Franz Schubert in seiner Vertonung der »Winterreise« zum Ausdruck gebracht, und Friedrich Nietzsche knüpft eine Verbindung zwischen dem Winter und der Vereinsamung. Ich zitiere nur die letzte Strophe aus seinem Gedicht »Vereinsamt«:
Die Krähen schreinUnd ziehen schwirren Flugs zur Stadt:Bald wird es schnein, –Weh dem, der keine Heimat hat!
Es gilt im Winter, die eigene Einsamkeit auszuhalten und sich den Gefühlen zu stellen, die in der Seele auftauchen. Wie Nietzsche sagt, braucht es dabei die Erfahrung von Heimat. So lädt uns der Winter ein, daheimzubleiben, es sich in der warmen Wohnung gemütlich zu machen, sich Zeit zum Lesen zu nehmen, zum Gespräch in der Familie, aber auch zum Nachdenken und Meditieren. Die Kirche hat diese verschiedenen Qualitäten des Winters in ihren Festen und Festzeiten aufgegriffen. Sie gibt eine Antwort auf die Erfahrungen von Einsamkeit und Traurigkeit, von Dunkelheit und Angst, indem sie Feste des Lichtes, des Vertrauens, der Sehnsucht, der Geborgenheit und der Gemeinschaft feiert. So möchte ich mit der Adventszeit beginnen, die auf die Stille des Winters anspricht.
Advent:
Sucht in Sehnsucht verwandeln
Die Adventszeit ist die Zeit der Stille. Auch wenn sie heute oft zu einer hektischen Einkaufszeit verfälscht wird, haben die Menschen doch die Sehnsucht, in dieser Zeit still zu werden und in der Stille sich zu erinnern, was diese Tage in ihrer Kindheit für sie bedeutet haben. Da hatte die Adventszeit immer den Zauber des Geheimnisses. Alle warteten auf Weihnachten, auf das Kommen des Christkinds. Heute sehen wir dieses Warten anders. Wir warten auf das Kommen Jesu. Das Kommen Jesu aber lädt uns ein, erst einmal zu uns selbst zu kommen, bei uns selbst anzukommen. Wenn wir bei uns ankommen, dann kommen wir auch in Berührung mit unserer Sehnsucht. Es ist die Sehnsucht nach mehr, die Sehnsucht nach dem Geheimnis, das größer ist als wir selbst, die Sehnsucht nach Heimat und Geborgenheit, die Sehnsucht nach einer Liebe, die uns erfüllt.
Die Sehnsucht ist ein Existenzial des Menschen. Jeder Mensch sehnt sich letztlich nach Liebe, nach Geborgenheit, nach gelingendem Leben, nach Glück. Doch zugleich weiß der Mensch, dass seine Sehnsucht über alles hinausgeht, was ihm diese Welt zu bieten hat. Jede Erfüllung der Sehnsucht weckt noch eine tiefere Sehnsucht. Die Sehnsucht hält uns lebendig, doch viele Menschen wollen sie nicht spüren. Sie wollen hier und jetzt schon die Erfüllung, wollen die Spannung nicht aushalten, in die uns das Leben gestellt hat: die Spannung eben zwischen Sehnsucht und Erfüllung. Letztlich existiert in der Sehnsucht in uns eine Ahnung von Gott, der allein unsere tiefste Sehnsucht zu erfüllen vermag. Die Sehnsucht ist die Spur, die Gott in unser Herz eingegraben hat.
Wer diese Sehnsucht nicht aushält, der verfällt der Sucht: Sucht ist immer verdrängte Sehnsucht. Psychologen sagen, dass Sucht oft Mutterersatz ist. Der Mensch sehnt sich nach der Mutter, sehnt sich zurück nach dem Zustand des Kindes im Mutterleib. Da war er ohne Verantwortung, da wurde für ihn gesorgt. Doch wenn er diesen Zustand eines frühen Stadiums festhalten will, verweigert er das Erwachsenwerden. Die Sehnsucht leitet diesen Wunsch nach mütterlicher Geborgenheit auf transzendente und jenseitige Ziele um: auf die Geborgenheit in Gott, in der Kirche, in einer betenden Gemeinschaft, und auf die Geborgenheit, die uns im Paradies erwartet. Dort wird unsere Sehnsucht vollständig erfüllt.