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Nach dem Abitur beginnt für Bille ein aufregender Sommer: Mit Ihrem Pony Zottel wird sie der Star in einem Pferde-Musical, und anschließend beginnt eine traumhafte Reise. Gemeinsam mit ihrer Mutter macht sie Urlaub in deren Heimat Polen - natürlich auf einem Reiterhof! Doch bald merkt Bille, dass auf dem Hof irgendetwas nicht stimmt. Als sie hinter das Geheimnis kommt, überschlagen sich plötzlich die Ereignisse ...
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Seitenzahl: 191
TINACASPARI
Ein ganzbesonderer Sommer
Volltreffer für Carl-Anton
„Schöner kann’s doch gar nicht sein!“ Mini seufzte glücklich. „Ein strahlend blauer Himmel, ein schneeweißes Schloss, ein leichter Wind, der in den Parkbäumen rauscht, überall blühende Rosen und Jasmin und der überwältigende Duft von … von …“
„Pferdemist“, vollendete Nico die romantische Anwandlung des zierlichen Mädchens lachend. „Nun komm, du stehst mit Zottel am Anfang des Spaliers. Lena gegenüber, ihr sollt den Triumphbogen halten. Florian bringt ihn euch.“
„Aufstellen, Leute, es geht gleich los!“ Caroline hatte sichtbar Lampenfieber. „Christine, komm hier rüber, dein Platz ist links neben mir!“
Nach und nach formierte sich das Ehrenspalier aus jungen Reitern vor der breiten Treppe zum Portal des Schlosses Groß-Willmsdorf. Jeder hielt einen lustig flatternden Wimpel an einer langen Stange in der Hand, leuchtend rote, gelbe, grüne und blaue Fähnchen wechselten sich ab. Das Zaumzeug der Pferde war mit Sommerblumen besteckt. Zu Ehren der erfolgreichen Abiturienten hatten die Schüler trotz der Sommerhitze sogar ihre Turnierkleidung angelegt. Die Reithosen strahlten in tadellosem Weiß, und der Glanz der Reitstiefel verriet doppelt gründliches Polieren für diesen Festtag.
Allmählich kehrte Ruhe ein. Nico und Florian, die Regisseure dieses Aufmarschs, stiegen als Letzte in den Sattel. Sie stellten sich mit ihren Pferden einander gegenüber ans Ende der Reihe. Jeden Augenblick musste sich die schwere Tür öffnen und Direktor Hütter, gefolgt von den Lehrern und den Prüflingen, auf der Treppe erscheinen.
„Alles in Ordnung, Lena?“, rief Mini zu ihrer gehbehinderten Freundin hinüber, die ihre schwarz-weiß gefleckte Ponystute Panja ritt und mit beiden Händen das untere Ende des Blumenbogens umklammerte. „Das Ding ist ja nicht gerade leicht. Es schwankt, als hätten sie die Blumen mit dem Sekt für die Abiturienten begossen“, fügte sie kichernd hinzu.
„Schon okay.“ Lena nickte ihr tapfer lächelnd zu. Panja stand genauso vorbildlich still wie gegenüber Zottel, Billes rot-weiß geschecktes Pony. Gerade so, als wüssten die beiden, worum es hier ging.
In weitem Halbkreis um das Ehrenspalier hatten die übrigen Schüler des Reiter-Internats Aufstellung genommen, um Bille und ihre Klassenkameraden mit Applaus und Hochrufen zu empfangen. Und wenige Meter entfernt hinter der Taxushecke, die die Auffahrt zum Hof hin abschirmte, bereitete sich Carl-Anton auf seine besondere Überraschung vor.
„Achtung! Sie kommen!“, ging ein Wispern durch die Reihen.
Vor ihnen wurden die schweren Flügel des Portals nach beiden Seiten feierlich aufgeschoben. Als Erster trat Direktor Hütter heraus. Er blieb einen Augenblick von der Sonne geblendet stehen, blickte blinzelnd in die Runde und strahlte, als hätte er selbst gerade das Abitur bestanden. Dann nickte er den versammelten Schülern noch einmal zu und trat zur Seite.
Gleich hinter ihm folgte der Klassenlehrer der Prüflinge. Ignaz der Schreckliche, wie sich der riesenhafte Mann selber gern nannte, vermutlich, um sein eher sanftes Gemüt zu verstecken, füllte mit seinem mächtigen Leibesumfang fast die ganze Tür aus. Er breitete freundlich lächelnd die Arme aus wie ein Herrscher, der sich seinem jubelnden Volk zeigt, grüßte fröhlich nach allen Seiten und machte dann den übrigen Lehrern und den Abiturienten Platz.
Und da kamen sie: Bille, Bettina, Peter, Beppo und die anderen. Ihre Gesichter wirkten im Gegensatz zu dem ihres Lehrers ungewöhnlich ernst, in einer Mischung aus Erleichterung, Erschöpfung, Freude, aber auch Abschiedsschmerz und heimlicher Sorge um das, was die Zukunft ihnen bescheren mochte. Die Rede, die Direktor Hütter ihnen vor wenigen Minuten gehalten hatte, wirkte offensichtlich noch nach. Doch angesichts der anwesenden Reiter begannen auch sie zu strahlen und winkten fröhlich mit ihren Abschlusszeugnissen.
„Hurraahhh!“, stimmte Florian den Begrüßungsjubel an. „Huurraaahhh!“, fielen die anderen im Chor ein und applaudierten heftig. Die Pferde zuckten zusammen, beruhigten sich aber schnell und standen in vollendeter Haltung in der Reihe. Man hatte sie in mehreren Proben auf das Gebrüll vorbereitet. Während die Hochrufe und der Applaus nicht enden wollten, nahmen die Abiturienten neben ihren Lehrern und Direktor Hütter auf den Treppenstufen Aufstellung, um den Fotografen Gelegenheit für ihre Aufnahmen zu geben.
Zottel war sanft wie ein Teddybär an seinem Platz geblieben, ohne sich zu rühren. Obwohl seine Zirkusvergangenheit nun schon lange zurücklag, wusste er jubelndes Publikum immer noch zu schätzen. Und Panja tat, was ihr Freund Zottel tat, sie hob nur einmal beunruhigt schnaubend den Kopf.
Doch jetzt geschah etwas, das weder Panja noch die anderen je erlebt hatten und das ihnen augenblicklich die Fassung raubte. Nachdem die Gefeierten auf der Treppe den Applaus dankend entgegengenommen hatten und sich nun, wiederum angeführt von Direktor Hütter, anschickten, durch das Spalier der Reiter zu schreiten, schien Carl-Anton der richtige Augenblick für seinen Ehrensalut gekommen zu sein.
Eine Serie von Böllerschüssen erschütterte die Luft mit solcher Gewalt, dass Panja vor Entsetzen kerzengerade stieg. Lena hing an ihrem Hals und klammerte sich an die Girlande, die damit auch Mini aus dem Sattel riss. Zottel erschrak. Augenblicklich drängte es ihn zu seiner Freundin Panja, um in der Gefahr mit ihr vereint zu sein. Ohne Rücksicht auf ihre Reiter strebten die beiden zueinander hin. Mini sprang ab, um Lena aufzufangen und zog sie aus der Gefahrenzone, ungeachtet des Blumengebindes, das irgendwo im Zaumzeug der Ponys hängen blieb. Das war ein unangenehmes Gefühl und förderte deren Verwirrung noch. In der Hast klemmten Zottel und Panja Direktor Hütter und Ignaz den Schrecklichen zwischen sich ein. Dabei drehten sie sich, einen Ausweg suchend, so wild umeinander, dass die beiden Männer von der Girlande wie von einem Lasso gefesselt zu Boden gingen und – den zwei Hälften eines Big Macs mit Salat nicht unähnlich – aufeinanderlagen. Die anderen Pferde mit ihren um ihr Gleichgewicht ringenden Reitern bildeten ein unentwirrbares Durcheinander von wankenden Fähnchen, Halt suchenden Armen und Beinen, roten oder blassen Gesichtern, kreiselnden, hüpfenden Pferdeleibern und stampfenden Hufen.
Fassungslos vor Staunen tauchte zwischen den Büschen das Gesicht von Carl-Anton auf. Er brauchte eine Weile, ehe ihm klar wurde, dass er die Ursache für dieses Schauspiel geliefert hatte. Dann griff er beherzt zu und half Lehrern und Schülern, wieder Ordnung in dieses Chaos zu bringen.
Freiwillig oder unfreiwillig war die Ehrengarde aus dem Sattel gestiegen, wobei von Absitzen bei vielen nur im weitesten Sinne des Wortes gesprochen werden konnte. Um diese Blamage schnell vergessen zu machen, fiel man nun mit Gratulationen und guten Wünschen den Gefeierten um den Hals.
Verletzt hatte sich zum Glück niemand, und als Ignaz der Schreckliche, sich den Sand von den Hosen klopfend, in dröhnendes Lachen ausbrach und rief: „Na, die Show macht euch so leicht keiner nach! Filmreif! Hoffentlich hat das einer fotografiert!“, stimmten alle erleichtert in das Gelächter ein.
Einer hatte in dem Tumult tatsächlich eisern die Nerven behalten: Erik, der seine Videokamera nicht eine Sekunde abgesetzt und die gesamte Szene aufgenommen hatte. Sie würde sicher den Höhepunkt seines Films über die Abiturfeier bilden.
„Nur gut, dass wir zu unserem Auftritt keine auswärtigen Gäste eingeladen haben“, murmelte Florian und schielte zu Nico hinüber.
„Das kannst du laut sagen. Bei denen wäre das Schauspiel sicher nicht gerade die ideale Werbung für das Reiter-Internat Groß-Willmsdorf gewesen. So eine Blamage! Dass ihr aber auch gleich so verrückt spielen musstet!“, schalt sie ihren Wallach Sylvester.
Bille, die ihren Arm beruhigend um Zottels Hals gelegt hatte, tröstete die beiden. „Das finde ich überhaupt nicht, ehrlich! Keiner ist durchgegangen, fast alle von euch haben ihre Pferde ganz schnell wieder unter Kontrolle gehabt. Carl-Anton hat es zwar gut gemeint, aber trotzdem war dieser Knall für unsere Rösser eine echte Zumutung. Schuss-Sicherheit wird heute schließlich von keinem Pferd mehr verlangt und eingeübt.“
„Ich habe ja daran gedacht, das vorher auszuprobieren.“ Carl-Anton war zu ihnen getreten, er sah ziemlich mitgenommen aus. „Aber das hätte man doch meilenweit gehört. Es wäre keine Überraschung mehr gewesen.“
Florian lachte. „Na, die Überraschung hat vermutlich deine kühnsten Erwartungen übertroffen! Damit wirst du in die Geschichte des Internats Groß-Willmsdorf eingehen, mein Lieber. Und nun kommt, ich hab Hunger. Und unsere Pferde haben sich nach diesem Schreck ein bisschen entspannten Koppelgang verdient.“
„Genau.“ Nico übergab ihrem Freund die Zügel ihres Wallachs. „Du versorgst die beiden, ich hab jetzt Tischdienst.“ Damit lief sie eilig davon.
„Aber … Na ja, typisch“, maulte Florian. „Immer ich. Bis ich fertig bin, ist das Büffet dann leer.“
„Armer Flori! Mir kommen die Tränen.“ Bille sah ihn mit tief betrübtem Gesicht an und hängte sich bei ihm ein. „Vielleicht kannst du die Prozedur bei deiner heiß geliebten Florentine ausnahmsweise etwas abkürzen und aufs Waschen und Föhnen verzichten? Jedes Kind freut sich, wenn es mal mit ungekämmten Haaren zum Essen gehen darf“, schlug sie ihm grinsend vor. „Na komm, ich teile dein hartes Schicksal, ich muss mich um Zottel und Panja kümmern. Lena soll sich nach diesem Schock erst mal ausruhen. Und ich versprech dir, ich sorge dafür, dass wir zwei nicht zu kurz kommen beim Essen!“
„Okay.“ Florian lachte gutmütig. Er war es gewohnt, wegen der übertriebenen Fürsorge für seine Fuchsstute verspottet zu werden. Aber so war es nun mal: Er hing an Florentine wie an einem leiblichen Kind. Oder doch mindestens so sehr wie an seiner Freundin Nico. Und er bezweifelte, dass es auf der Welt irgendjemanden gab, der sein Pferd ebenso liebte wie er seine schöne Fuchsstute. „Wo steckt eigentlich Simon?“, lenkte er vom Thema ab. „Wieso ist er nicht hier?“
„Er kann nicht vor heute Abend kommen. Hat ’ne Extraschicht angenommen, die doppelt bezahlt wird.“ Bille nahm Panja am Zügel. Dass Zottel nicht von ihrer Seite wich, war ohnehin klar.
„Stimmt ja, er sagte was von Praxis-Dienst.“
„Eine von den beiden Assistentinnen Dörflers kam plötzlich ins Krankenhaus, die vertritt er bis auf Weiteres. Außerdem hilft er im Außendienst. Das ist ein Full-Time-Job. Gleich am ersten Tag gab’s Überstunden bis in die Nacht.“
„Kann ich mir vorstellen. Unser Doc brauchte längst mehr Unterstützung. Aber für so ein Ereignis wie heute hätte Dörfler ihm doch wirklich freigeben können!“ Florian hatte den Sattelgurt seiner Stute gelöst und ihr eine leichte Fliegendecke übergeworfen. Liebevoll strich er ihr über Hals und Bauch und prüfte, ob sie durch die Aufregung vorhin geschwitzt hatte.
Bille machte sich mit den beiden Ponys auf den Weg zur Koppel. Florian folgte ihr mit Florentine. Am Schulstall machten sie kurz halt und sattelten ab, die Sättel konnten während der Mittagspause über den Stangen eines leeren Paddocks hängen bleiben und lüften. Dann wurden die Ponys mit einem zärtlichen Klaps auf die Weide entlassen und trabten Schulter an Schulter davon. Florentine marschierte mit hocherhobenem Kopf in die andere Richtung, sah sich suchend nach der besten Stelle um und begann sofort zu grasen.
„Okay – Mahlzeit, die Herrschaften! Komm, Flori, die fangen sicher gerade erst an, das Büffet aufzubauen, du kannst immer noch als Erster an der Futterkrippe sein.“
Florian nickte zufrieden. „Du sagst es.“
Bille behielt recht. Im Park waren ein halbes Dutzend Helfer noch damit beschäftigt, auf einer langen Tafel ein rustikales Mittagsmahl für die Abiturienten und ihre Lehrer, Eltern und Freunde herzurichten. Ein Kessel mit dampfender Suppe bildete den Anfang, daneben gab es Wärmebehälter mit gebratenen Würstchen und Schnitzeln, andere mit Kartoffelgurkensalat, Brot, Käse und am Ende eine große Auswahl frischer Obstkuchen.
„Na denn!“ Florian schritt die Tafel prüfend ab wie ein Hauptmann seine angetretenen Soldaten. „Für den Anfang schon mal sehr ordentlich. Und was gibt’s heute Abend?“
„Heute Abend wird’s erst richtig feierlich. Lass dich überraschen“, sagte Bille. „Soll ich uns schon mal einen Platz suchen?“
„Geht nicht.“ Florian zuckte bedauernd mit den Schultern. „Ihr sitzt heute bei den Honoratioren. Und wir am Kindertisch, stimmt’s, Nico?“
„Wir sitzen erst mal gar nicht.“ Nico stellte ächzend einen Korb mit Flaschen auf dem Tisch ab. „Du musst mir bei den Getränken helfen.“
„Aber ich …“ Florian warf Bille einen Hilfe suchenden Blick zu.
Doch bevor die etwas sagen konnte, wurde sie von ihm weggezogen.
„Bille! Wo bleibst du denn bloß! Ich hab dich überall gesucht. Kaum sitzt du nicht mehr in der Klasse neben mir, hast du mich schon vergessen.“ Bettina hängte sich übermütig bei der Freundin ein. „Deine Eltern sind gerade gekommen, und Tante Gerda, Daniel und Joy sind auch schon da.“
„Entschuldige. Ich hab mit deinem kleinen Bruder die Ponys auf die Koppel gebracht. Und …“
„… seine Florentine. Klar, das dauert immer etwas länger.“ Bettina zog die Freundin in Richtung Ehrentisch, an dem Direktor Hütter dabei war, an die bereits anwesenden Gäste Gläser mit Sekt zu verteilen.
„Da kommt Tom, ich bin gleich wieder da!“ Schon stürmte Bettina wieder davon, um ihrem Freund um den Hals zu fallen.
„Völlig überdreht! Und mager ist sie geworden in den letzten Monaten!“ Billes Mutter sah dem Mädchen besorgt nach. Dann wandte sie sich Bille zu. „Du aber auch! Das wird ja nun hoffentlich wieder anders. Herzlichen Glückwunsch, mein Kind!“ In der ihr eigenen, etwas scheuen, zurückhaltenden Art nahm sie Bille in die Arme. „Dass du es nun geschafft hast – und mit so guten Noten! Wir sind mächtig stolz auf dich.“
„Danke, Mutsch!“ Bille drückte ihre Mutter fest an sich. Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, dass sie Mutsch inzwischen über den Kopf gewachsen war. Wie ein zarter, zerbrechlicher Vogel kam sie ihr vor. Sie würde in Zukunft darauf achten, dass sie sich nicht mehr so oft überarbeitete oder mit unnötigen Sorgen quälte.
„So, nun bin ich aber auch mal dran!“, polterte Onkel Paul, Billes Stiefvater. „Komm her, meine Lütte! Gut hast du das gemacht! Ganz großartig!“ Er schloss sie so fest in die Arme, dass sie einen Augenblick glaubte, er hätte ihr mindestens ein bis zwei Rippen gebrochen. Doch so war er nun mal: Wenn er gerührt war, musste er es hinter einer dicken Portion Rauheit verbergen.
„Schön, dass ihr da seid!“, sagte Bille und nahm drei gefüllte Gläser vom Tisch, um mit den beiden anzustoßen.
„Die meisten Eltern können erst heute Abend kommen. Auch Daddy Tiedjen, er hat noch einen wichtigen Termin in Neukirchen. Und was Simon betrifft, da hoffe ich nur, dass er nicht wieder die ganze Nacht bei einer kalbenden Kuh im Stall hockt. Kommt, setzt euch, ich hol euch was zu Essen.“
Bille eilte davon und stellte sich in die Schlange, die sich am Büffet gebildet hatte. Plötzlich umarmte sie jemand von hinten und hielt ihr gleich darauf die Augen zu.
„Simon!“
„Pscht! Mach sie nicht eher auf, bis ich es dir erlaube!“ Simon griff ihren rechten Arm und zog ihn leicht nach hinten. Bille fühlte kühles Metall, dann hörte sie ein leises Klicken. „Jetzt darfst du sie öffnen. Herzlichen Glückwunsch zum bestandenen Super-Abitur!“, flüsterte er ihr ins Ohr.
„Danke!“ Bille schmiegte sich glücklich in seine Arme. „Was für ein fantastischer Tag! Und was ist das?“, unterbrach sie sich und sah auf ihren Arm. Oberhalb des Handgelenks umschloss ihn ein goldener Reif. In seiner Mitte leuchtete ein tiefroter Stein. Bille sah Simon fassungslos an.
„Ein Rubin. Als Zeichen dafür, wie sehr ich dich …“ Simon schaute sich um. Erst jetzt wurde er sich der vielen neugierigen Gesichter in nächster Nähe bewusst, offensichtlich genoss man die filmreife Szene und wartete auf die Fortsetzung. „Naja, damit du immer an mich erinnert wirst, und … den Rest kennst du schon“, sagte er hastig, fast ein wenig verlegen. „Er soll dir Glück bringen.“
„Du bist ja wahnsinnig!“, flüsterte Bille. „Danke! Simon! Ich dank dir! Ein wundervolles Geschenk.“ Damit fiel sie ihm noch einmal um den Hals.
„Und zu essen wollt ihr nichts?“, fragte Caroline, die die Suppe verteilte.
„Oh … oh ja, und ob!“, stotterte Bille,, „Ich brauche drei Portionen.“
„He! Bist du schwanger oder sind die zwei anderen für Zottel?“
Bille kicherte. „Für meine Eltern. Zottel hat Fasttag.“
„Ach so.“
„Und noch einen für mich.“ Simon nahm Bille den dritten Teller ab, ehe sie alles verschüttete. „Ist noch Platz an eurem Ehrentisch?“, fragte er sie.
„Klar doch. Zur Not kannst du auf meinem Schoß sitzen.“
Ein rauschendes Fest
Für den Abend hatten Hans Tiedjen, der Besitzer des Gutes und Gestüts Groß-Willmsdorf, zusammen mit Direktor Hütter die Abiturienten, ihre Familien und Freunde zu einem feierlichen Festessen mit Musik und anschließendem Tanz ins Schloss geladen. Der Speisesaal war kaum wiederzuerkennen, so üppig war er mit Blumen und einem Meer aus brennenden Kerzen geschmückt. Die Türen zur Terrasse standen an diesem milden Sommerabend weit offen und gaben den Blick auf den Park frei. Nach Einbruch der Dunkelheit sollte er mit Dutzenden von Fackeln beleuchtet werden.
Das Küchenpersonal hatte tagelang Überstunden machen müssen, um für diesen Abend ein exquisites Menü herzurichten, das auch den verwöhntesten Gast beeindrucken konnte. Carl-Antons Vater, dessen Bruder Weinhändler war, hatte ein paar Kisten mit besonders edlen Tropfen spendiert, und auch die anderen Eltern hatten ihren Teil zum Gelingen des Festes beigetragen, indem sie den Spendentopf des Internats kräftig aufgefüllt hatten. Schließlich gab es einige Stipendiaten unter den Schülern, die auf finanzielle Hilfe angewiesen waren.
Bei der Begrüßung der Gäste stand Bille neben Hans Tiedjen, um ihn bei der Vorstellung der ihm Unbekannten zu unterstützen.
„Da kommen die Eltern von Beppo“, flüsterte sie jetzt. „Die haben sich hier persönlich fast nie sehen lassen. Kommen angeblich nicht aus ihrem Geschäft weg …“ Sie trat einen Schritt auf die elegant gekleidete kleine Dame zu und streckte ihr die Hand hin. „Herzlich Willkommen, Signora! Daddy, darf ich dich mit Herrn und Frau …“
„Ah, Ihr Vater!“, unterbrach die Italienerin sie lebhaft. „Es freut mich, sie kennenzulernen!“ Stürmisch schüttelte sie Hans Tiedjen die Hand.
„Nein, nein, nicht mein Vater!“, sagte Bille schnell, „eher mein Adoptivvater, obwohl auch das nicht wirklich stimmt, er hat mich nur als Reitschülerin und Nachwuchs … ach, das ist wirklich etwas kompliziert.“
„Ich bin der Sohn. Der echte“, kam Tom ihr lachend zu Hilfe und schüttelte Beppos Mutter die Hand. „Tiedjen junior.“
„Jedenfalls freuen wir uns ganz besonders, dass Sie kommen konnten“, beteuerte Hans Tiedjen und begrüßte nun auch Beppos Vater. „Holst du unseren Gästen etwas zu trinken, Bille?“
„Sofort.“ Bille war froh, ihrer Aufgabe für einen Augenblick zu entkommen. Von Weitem winkte sie Mutsch und Onkel Paul zu, die sich lebhaft mit dem Lehrer-Ehepaar Körber unterhielten. Simon versorgte am anderen Ende der Halle seine Eltern mit einem Drink. Sein älterer Bruder Daniel und Joy, seine Frau, fachsimpelten mit dem Vater von Sandra über Jungpferde-Aufzucht. Überall sah man fröhliche Gesichter, und der Lärmpegel hatte eine Stärke erreicht, dass die jungen Musiker, die in einer Ecke zur Einstimmung ein paar klassische Stücke spielten, kaum zu hören waren.
Als Bille mit zwei gefüllten Sektgläsern zu Beppos Eltern zurückkehrte, prostete Tierarzt Dörfler ihr aus dem Hintergrund zu. „Herzlichen Glückwunsch, Bille! Du siehst fabelhaft aus!“, rief er über die Köpfe hinweg. „Ich glaube, ich habe dich noch nie im Kleid gesehen. Wusste gar nicht, dass du so hübsche Beine hast!“
Bille lachte. Gab es das, dass man sich von einem Tag auf den anderen so viel erwachsener fühlte? Bei aller Verantwortung, die sie seit Jahren trug, hatte sie sich doch immer in erster Linie als Schülerin gesehen.
Hinter ihr erklang dröhnend der Gong. Augenblicklich trat Stille ein.
„Darf ich Sie jetzt alle zum Essen bitten!“, rief Direktor Hütter in den Raum. „Wie Sie sehen, haben wir nebenan im Speisesaal für Sie mehrere runde Tische gedeckt. Unsere Abiturienten werden Ihnen helfen, Ihre Plätze zu finden.“
Wie ein träger Fluss schob sich die Menge der Gäste durch die weit geöffnete Flügeltür und verteilte sich um die Tische. Bille war froh, dass sie mit ihrer Familie und Simon zusammensitzen konnte und nur auf ihrer rechten Seite einen ihr unbekannten Gast hatte, dem sie Rede und Antwort stehen musste. Wie sich herausstellte, war es ein Patenonkel von Peter. Klaus Amberg hieß er, von Beruf war er Theater- und Musikkritiker bei einer Tageszeitung. Er gestand ihr freimütig, dass er wenig Ahnung von Pferden und der Reiterei habe, obwohl er Peters Werdegang aus der Ferne mit Interesse verfolgt hatte.
„Bezaubernd sehen Sie aus, Bille! Ich darf Sie doch so nennen? Wenn ich so braun gebrannt wäre wie Sie, würde ich auch nur Weiß tragen. Prost!“ Er leerte sein Weinglas in einem Zug. Es war offensichtlich nicht sein erstes. „Sie wissen, was Ihnen steht!“
Bille nickte lächelnd. Der Meinung war sie auch gewesen, als sie sich zu Hause vor dem Spiegel gedreht hatte. Das schulterfreie Abendkleid aus schimmernd weißem Taft mit einem weiten Rock, der eine Handbreit über dem Knie endete, war wirklich super, sie kam sich darin vor wie ein Star. Statt eines Gürtels war eine leuchtend rote Schärpe eingearbeitet, die ihre schmale Taille noch betonte. Und Simons Armreif passte wunderbar dazu. Schön, einmal ein paar Stunden lang die Märchenprinzessin zu spielen, dachte sie. Ab morgen sind sowieso wieder wochenlang nur Arbeitsklamotten angesagt.
„Ja, ein schickes Kleid, nicht wahr?“, mischte sich Simon, der an ihrer linken Seite saß, ins Gespräch. „Das haben wir zusammen ausgesucht.“ Sollte der Kerl ja nicht auf die Idee kommen, mit Bille zu flirten! Bei jemandem, der so gut aussah, auch wenn man ihn schon zu den Oldies zählen konnte, musste man vorsichtig sein.
„Ah, Sie beide gehören zusammen!“ Klaus Amberg schmunzelte. „Das habe ich mir schon gedacht. Zwei solche Spitzen-Reiter … Sie werden lachen, Herr Henrich, ich habe zwar vom Reitsport keine Ahnung, aber Sie habe ich schon im Fernsehen gesehen. Wenn Peter mich in den Ferien besuchte, musste er nämlich immer sofort einschalten, um einen Turnierbericht in einer Sportsendung zu verfolgen. Ich fand Sie jedes Mal großartig.“
Simon war beruhigt. Der Mann begann ihm sympathisch zu werden. Zum Glück besaß er eine weitere gute Eigenschaft: Er genoss sein Essen, ohne es mit vielen Fragen zu unterbrechen. Nur in den Pausen zwischen den einzelnen Gängen ließ er sich Einzelheiten über ihr Leben erzählen. Und die lieferten Bille und Simon ihm gern.
„Wie sind Sie denn an dieses Internat gekommen? Das gibt es noch nicht sehr lange, nicht wahr?“
„Ein paar Jahre. Ich bin hier ganz in der Nähe geboren und aufgewachsen“, erzählte Bille. „Mein Vater starb früh, und meine Mutter war zunächst absolut dagegen, dass ich um jeden Preis reiten wollte. Durch einen glücklichen Zufall habe ich dann Hans Tiedjen kennengelernt. Er brauchte jemanden, der sich um ein herrenloses Zirkuspony kümmerte, das er aufgenommen hatte. Zottel, den ich dann später geschenkt bekam …“
„Und über den sie Ihnen einen ganzen Roman erzählen wird, wenn Sie nicht aufpassen!“, warf Simon ein. „Er ist ihr Freund, ihr Begleiter und Helfer in allen Lebenslagen, ihr Maskottchen, ihr absoluter Liebling, obwohl es kein Pony auf der Welt gibt, das in kürzester Zeit so viel Chaos anrichten kann. Seien Sie froh, dass er nicht neben Ihnen am Tisch sitzt. Bei Zottel ist alles möglich.“
„Keine Sorge, heute Abend ist er wirklich ausbruchsicher eingesperrt“, beteuerte Bille. „Also, jedenfalls wurde mit dem Auftauchen von Zottel auf dem Hof Hans Tiedjen mein Reitlehrer und Trainer. Und schließlich so eine Art Adoptivvater“, fuhr Bille fort.
„Und dabei lernten Sie auch Ihren Freund Simon Henrich kennen?“
Simon grinste breit. „Umgekehrt! Bille schleppte mich und meine beiden Brüder Daniel und Florian zu Hans Tiedjen und überredete ihn, auch uns zu unterrichten. Der hatte bis dahin nie Schüler angenommen, weil er damals ja noch aktiv im Turniersport war. Aber Bille hat ihn um den Finger gewickelt.“
„Na, hör mal!“, widersprach Bille streng. „Wenn du nicht so gut gewesen wärst, hätte er dich nie als Schüler angenommen!“
„Und Sie gingen beide hier zur Schule?“, erkundigte sich Klaus Amberg.