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Die Schulglocke klingelt, das Hoftor fällt hinter mir zu. Meine Tage als Aushilfspauker sind vorbei. Und jetzt? "Bin ich froh, diese Freak-Show endlich hinter mir zu haben", sage ich so lässig wie möglich. Mein Kollege Geierchen runzelt die Stirn: "Pass ma uff: Schule is 'ne Miniaturlandschaft unserer Jesellschaft. Und wenn de denkst, Möller, die Minifreaks war'n schon crazy - denn schau dir erstma die ausgewachsenen Exemplare an". Leben wir tatsächlich in einer Nation der Übertreiber, Spinner und Durchgeknallten? Philipp Möller trifft trinkfreudige Burschenschaftler, kampflustige Veganer und erleuchtete Weltenlehrer und stellt sich immer häufiger die Frage: Wer sind eigentlich die wahren Freaks in unserem Land?
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Seitenzahl: 415
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Philipp Möller, Jahrgang 1980, unterrichtete nach dem Studium der Erwachsenenbildung zwei Jahre lang an Berliner Grundschulen. Über die Erfahrungen, die er dort machte, schrieb er den Bestseller ISCHGEHSCHULHOF. Als Pressereferent der Giordano-Bruno-Stiftung engagiert er sich für Humanismus und Aufklärung. Philipp Möller lebt mit seiner Familie in seiner Heimatstadt Berlin, wo er besonders gut für sein neues Buch recherchieren konnte.
Philipp Möller
Bin ischFreak,oda was?!
Geschichten aus einerdurchgeknallten Republik
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Das vorliegende Buch beruht auf Tatsachen. Zum Schutz der Persönlichkeitsrechte wurden Namen und Details verändert.An einigen Stellen wurden zudem aus dramaturgischen Gründenreale Erlebnisse des Autors mit fiktiven Schilderungen verwoben. Zusammentreffen mit Personendes öffentlichen Lebens haben sich aber stets wie geschildert zugetragen.
Copyright © 2014/2015 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Lisa Bitzer, Landau
Titelbild: © missbehavior.de
Umschlaggestaltung: Pauline SchimmelpenninckBüro für Gestaltung, Berlin
Datenkonvertierung E-Book:
hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-8387-4502-2
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Für meinen Sohn
»Was wir brauchen, sind ein paar verrückte Leute; seht euch an, wohin uns die Normalen gebracht haben.«
George Bernard Shaw
»Freak [fri:k], der; -s, -s ‹amerik.› (jmd., der sich nicht in das bürgerliche Leben einfügt; jmd., der sich für etwas begeistert)«
Duden
1 SCHOOL’S OUT – UND NUN?
2 DER COUNTDOWN LÄUFT
3 OH, WIE SCHÖN IST FREAKISTAN
4 RUHIGE KÜGELCHEN
5 GEILE NUMMER
6 DER WAHRSCHEINLICH BESTE CLUB DER WELT
7 MISSION: SATELLITENTATORT
8 AUF DEM RADWEG ZUR HÖLLE
9 FREAK SEI DANK
10 IN DER FLEISCHBALL-BUNDESLIGA
11 LEISE KRISELT DER SCHNEE
12 FÜHR MICH HINTERS LICHTWESEN
13 BURSCHENSAFT, DER BURSCHEN SCHAFFT
14 FIT INS NEUE JAHR
15 NACH DEM JOB IST VOR DEM JOB
16 KÖNNEN DIESE BUSSE LÜGEN?
17 DIE GROSSE SCHLACHT VON WORTEN
18 FREAK GEHT SCHULHOF
NACHWORT
DANKE
Eine sanfte Sommerbrise weht mir um die Nase, als ich das Schultor durchschreite und im doppelten Sinne auf der Straße stehe. Das war’s dann also. Meine Zeit als Vertretungslehrer ist ein für alle Mal vorbei.
Vom Schulhof dringen die Stimmen meiner Kollegen zu mir herüber, mit denen ich im Anschluss an das jährliche Sommerfest gerade noch auf die großen Ferien angestoßen habe – und auf meinen Abschied. Wenn das kein Grund zu feiern ist: nie wieder Grundschule. Nie wieder Ersatzlehrer. Nie wieder Sechstklässler unterrichten, die auf dem Leistungsniveau von Viertklässlern sind. Keine ausgebrannten Kollegen mehr, die eigentlich nur noch auf die Pensionierung warten. Nie wieder versiffte Toiletten, gegen die ein altes Bahnhofsklo wie ein Sanitärpalast wirkt. Und nie wieder Elfjährige beruhigen, die blind vor Wut auf ihre Mitschüler einprügeln wollen. Oder auf mich.
Leicht beschwipst und ein bisschen wehmütig spaziere ich an den Gitterstäben entlang, die den verrückten Schulhof von der normalen Welt trennen, und sehe meiner wiedergewonnenen Freiheit nicht ganz ohne Sorge entgegen. Denn sosehr mich der Job als Lehrer an meine emotionalen Belastungsgrenzen gebracht haben mag – immerhin hatte ich ein Job! Immerhin durfte ich eine tägliche Aufgabe erfüllen, mit der ich nicht nur meine Familie ernähren, sondern auch das Bedürfnis stillen konnte, etwas gesellschaftlich Relevantes zu tun. Außerdem war bei all der Anstrengung nicht zu leugnen, dass ich immer wieder einen Heidenspaß mit den Kids hatte. Aber all das ist nun vorbei, und bislang bin ich ziemlich ratlos, welche neue Beschäftigung das Loch in meinem Alltag und in meinem Lebenslauf füllen soll.
»Züüüüsch, Herr Mülla!«, werde ich plötzlich von hinten angesprochen. »Warum hängst du noch hier rum?«
Als ich mich umdrehe, steht mein ehemaliger Schüler Khalim mit einem Skateboard unterm Arm vor mir. Seitdem klar ist, dass er die sechste Klasse wiederholen muss, ist seine Laune ziemlich im Eimer.
»Wir haben bloß noch auf die Sommerferien angestoßen«, erkläre ich, »und auf meinen letzten Tag als Lehrer.«
»Vallah, du hast’s gut, ja? Musst nisch mehr Schule gehen …«
»Dafür muss ich jetzt zum Amt, mir einen neuen Job suchen.«
»Is doch voll cool!«, meint er und schaut sich dann zum Schulgebäude um. »Sch’würde viel lieber Job suchen, als noch ein Jahr hier bleiben. Bei diesen ganzen Opfern!« Er zuckt mit den Schultern, lässt sein Skateboard auf den Boden fallen und gibt mir zum Abschied die Hand. »Viel Glück, Herr Mülla!«
»Danke, dir auch, Khalim.«
Glück kann ich gut gebrauchen, denke ich, als er davonrollert. Doch bevor ich in Selbstmitleid versinken kann, tritt der Mann aus dem Schultor, der mich in den letzten zwei Jahren am häufigsten zum Lachen gebracht hat: Geierchen. Ein sportlicher Mittfünfziger mit schulterlangen blonden Haaren, strahlend blauen Augen und einer kleinen Wohlstandswampe. Geierchen, der eigentlich Rolf Geier heißt, unterrichtet Sport und Naturwissenschaften an der Schule, in der ich die letzten vierundzwanzig Monate gebuckelt habe. Gemeinsam mit ihm habe ich im letzten Jahr eine sechste Klasse geleitet, die wir mit dem heutigen Tag, dem letzten des Schuljahrs, in die Oberschule entlassen. In dieser Zeit lernte ich seine etwas ungewöhnlichen, aber stets unterhaltsamen Unterrichtsmethoden kennen und lieben – und es verging kaum ein Tag, an dem er mir nicht in aller Deutlichkeit sagte, dass ich mich beruflich auf dem Holzweg befände.
Nachdem sich Geierchen eine Kippe angesteckt hat, schaut er sich kurz nach rechts und links um und setzt dann ein breites Grinsen auf, als er mich erblickt. »Kiek ma eena an«, ruft er mir zu, »der jescheiterte Aushilfspauker!«
Wie gewohnt beendet er seinen Satz mit einer kratzigen Lache, die so ansteckend ist, dass ich das ängstliche Grummeln in meinem Bauch für einen Moment vergesse und lächelnd in seine Richtung schlendere. Breitbeinig stiefelt er auf mich zu und haut mir dann so kameradschaftlich auf die Schulter, dass ich fast im nächsten Gebüsch lande.
»Hab ick’s dir nich jesacht?«, beginnt er und zieht erneut an seiner Fluppe. »Reißt dir hier zwee Jahre den Hintern uff – und am Ende treten se dir noch rinn …«
Ach, Geierchen, denke ich, wenn ich doch nur auf dich gehört hätte … Dann wäre ich um so viele Sorgenfalten ärmer – aber auch um tonnenweise wertvolle Lebenserfahrung und um die Bekanntschaft mit dem wohl außergewöhnlichsten Lehrer der Welt.
»Du findest schon wat«, muntert er mich auf unserem Fußweg zur U-Bahn auf, »hast ja zwölf Monate Zeit.«
»Bis?«
»Na, bis die Hartz-IV-Falle zuschnappt«, erklärt Geierchen und schaut mich prüfend über die Ränder seiner rosafarbenen Lesebrille an. Dann nimmt er das 2-Euro-99Gestell ab und lässt es an der Goldkette um den Hals baumeln. »Aber hier warste eh uff ’n falschen Dampfer, hab ick dir ja von Anfang an jesacht. Also lass dir diesmal nich wieder so ’ne Notlösung andrehen. Haste jehört?«
»Ja ja, du hast wahrscheinlich recht«, seufze ich und zucke mit den Schultern. »Aber irgendwie vermisse ich die Chaos-Kids jetzt schon. Zumindest ein bisschen. Zwischendurch haben wir doch echt viel gelacht …«
»Stimmt schon, aber fast jedet Mal isset uns anschließend im Halse stecken jeblieben«, beendet er meinen Satz und grinst dann. »Kannste dich an Jack inne Werkstatt erinnern?«
Oh ja, das kann ich! Im vergangenen Frühling plante Geierchen mit unserer Klasse den Bau eines Vogelhäuschen. Deshalb fanden wir uns jeden Dienstag für eine Doppelstunde in der Schulwerkstatt ein, in der die siebenundzwanzig Schüler über Hammer und Nägel, Säge und Feile frei verfügen konnten. Immer, wenn sich der ohnehin schon ohrenbetäubende Geräuschpegel in der Klasse zu einem Höllenlärm hochschaukelte, schnappte sich Geierchen einen Besenstiel und schlug ihn der Länge nach auf eine der Werkbänke. Das knallte noch lauter als das Lineal, das ich zu Beginn meiner kurzen Paukerkarriere auf dem Lehrerpult zerschmettert hatte. »Wenn hier eena brüllt, bin ick dit!«, donnerte Geierchen jeden Dienstag pädagogisch wertvoll nach dem Schlag mit dem Besenstiel. Und dann wandte er sich wieder denen zu, die als Sechstklässler anscheinend zum ersten Mal ein Werkzeug in der Hand hielten, und zeigte ihnen geduldig, wie man den Nagel auf den Kopf trifft.
Zu genau diesen Schülern gehörte Jack. Als Rolf und ich uns eines Tages seiner Werkbank näherten, stand er in gebeugter Haltung davor und schlug lustlos mit dem Hammer auf ein Stück Holz.
»Wat machst du denn da?«, wollte Geierchen von Jack wissen, der ganz überrascht hochschaute, als er uns neben sich stehen sah.
»Schau’n Nagel rein.« Mit offenem Mund starrte Jack zuerst die beiden Lehrkörper vor sich und dann das Holz an und schien dabei erstmalig zu bemerken, dass er bei seiner Aktion einen nicht unerheblichen Gegenstand, den Nagel, vergessen hatte. Schließlich trug Rolf mir auf, mich des Jungen anzunehmen, und so unterstützte ich Jack, so gut es eben ging, bei seiner Aufgabe, zwei Holzplatten zu einem Spitzdach zu formen und mit ein paar Nägeln auf einer weiteren Holzplatte zu befestigen.
Als Geierchen eines Tages vorbeikam, um das Ergebnis zu inspizieren, fehlten ihm für einen Augenblick die Worte. Von allen Seiten betrachtete er das windschiefe Gebilde, aus dem zahlreiche Nagelspitzen herausragten. Dann schüttelte er langsam den Kopf.
»Dit soll ’n Vogelhaus sein?«, wollte er von Jack wissen, der daraufhin zu Boden blickte und auch ich kratzte mich verlegen am Oberarm. »Und wat soll da für ’n Vogel drin wohnen?«, hakte mein Kollege nach. »Der sojenannte Kackvogel, oder wat?«
Kopfschüttelnd pfefferte Geierchen das handgefertigte Trauerspiel auf den Altholzhaufen in der Ecke und ließ den Jungen von vorne anfangen.
»Drei Monate hamwa an den Häuschen jearbeitet«, sagt Geierchen jetzt, als wir uns von dem Lachanfall wieder einigermaßen erholt haben, und starrt in den sommerlich blauen Himmel. Dann verschwindet das Lächeln plötzlich. »Und am Ende hamse die Dinger uff’m Schulhof zertreten.« Sein Blick verliert sich in der Ferne. »Is doch allet für die Katz.«
Was für mich eine frustrierende Erinnerung ist, ist für Rolf nackte Realität – immerhin war er schon als Lehrer unterwegs, als mein Lebensinhalt noch maßgeblich von Schnullern und abwaschbaren Bilderbüchern bestimmt wurde. Nach Aussage vieler Kolleginnen hat die Bildungskatastrophe zwar erst in den letzten zehn, vielleicht fünfzehn Jahren solch dramatische Ausmaße angenommen, aber eine Besserung ist seitdem keineswegs in Sicht – ganz im Gegenteil: Die sträfliche Vernachlässigung des Bildungswesens durch Politik und Gesellschaft wird die ohnehin schon pikante Personalsituation in den kommenden Jahren noch verschärfen. Inklusion und Reformschule sind damit vermutlich genauso zum Scheitern verurteilt wie alle vorherigen Reformansätze auch.
»Lang mach ick dit nich mehr mit«, seufzt Geierchen, als wir am Eingang des U-Bahnhofes ankommen. Dann schüttelt er kurz den Kopf und grinst mich breit an: »Aber zu Ferienbeginn woll’n wa keen Trübsal blasen, wa?«
»Genau«, stimme ich ihm zu, »wahrscheinlich sollte ich einfach froh sein, diese Freak-Show hinter mir zu lassen und …«
»Hinter dir?« Geierchen legt den Kopf zur Seite, kneift die Augen zusammen und kommt mir ganz nahe. »Pass ma uff: Schule is ’ne Miniaturlandschaft der Jesellschaft. Und wenn de denkst, Möller, die Minifreaks war’n schon crazy – denn schau dir die Exemplare ma in Originalgröße an!«
»Wie meinst du das?«
Als Geierchen gerade Luft holt, hält in der Schlange, die sich nur wenige Meter von uns entfernt vor einer roten Ampel gebildet hat, ein Hundeschlitten auf Rädern zwischen den Autos an. Vor das Gefährt sind sechs waschechte Huskys gespannt. Ein großer Mann mit Vollbart, Regenjacke und Lederhandschuhen steht auf dem Aluminiumgestell des Schlittens und bemerkt unsere Blicke. »Was denn«, fragt er genervt, »noch nie ’n Tandemgespann gesehen?!«
Geierchen und ich schauen uns einen Moment verwundert an. »Doch, doch«, meint mein Kollege dann und steckt mich wieder mit seiner krächzenden Lache an. »Aber nur im Fernsehen. Reiseberichte über Grönland und so«, kichert er.
»Nun sein Se mal nicht so verbohrt!«, ruft der Mann zu uns rüber, der ohne Weiteres als Doppelgänger von Reinhold Messner durchgehen könnte. »Meine CO2-Bilanz ist unschlagbar«, schiebt er dann hinterher und unterstreicht dabei jede Silbe des letzten Wortes mit wilden Handbewegungen. Einen Moment später schaltet die Ampel auf Grün, und nach einem unverständlichen Befehl in einer fremden Sprache nimmt das Gespann hechelnd Fahrt auf.
»Äckt globill, sink lokill!«, ruft uns der Hundeführer mit einem harten deutschen Akzent noch zu, während Geierchen ihm lachend nachwinkt.
Sprachlos schüttele ich den Kopf.
»Ick sachet ja«, wiederholt Geierchen auf der Treppe zur U-Bahn. »Dit janze Land is voller Freaks – und weil in Berlin die meisten rumspringen, sinn wa och Hauptstadt jeworden.«
Da mein lieber Exkollege in die andere Richtung fahren muss, wird es Zeit für den vorläufigen Abschied. Als seine Bahn kommt, nimmt er mich so fest in den Arm, dass mir fast die Luft wegbleibt.
»Möller, wir bleiben in Kontakt, wa?«, sagt Geierchen, und es sieht ein bisschen so aus, als hätte jetzt auch ihn der Abschiedsschmerz gepackt.
Doch für Sentimentalitäten bleibt keine Zeit, denn als sich die Türen der U-Bahn öffnen, können es die Ersten am Bahnsteig kaum erwarten, den Waggon zu betreten. Ohne Rücksicht auf Verluste drängeln sich die Passagiere, die bislang friedlich neben uns standen, an einem kleinen Mann mit Karohut und Aktenkoffer vorbei, der offensichtlich aussteigen will. Mit hochrotem Kopf versucht er sich unter Einsatz seines überschaubaren Körpers durch die hereinströmende Menschenmasse nach draußen zu quetschen. »Erst aussteigen lassen!«, blafft er schließlich ein paar Unschuldige an, die brav gewartet haben. Dann schiebt er sich rabiat an meinem unbeteiligten Kollegen vorbei und verpasst ihm mit dem Aktenkoffer einen saftigen Pferdekuss.
»Aua!«, ruft Geierchen und hält sich den Oberschenkel. »Bisse bekloppt, oder wat?!«
»Selbst schuld, was stehen Sie auch hier herum?«, schnaubt der Herr mit Hut und mustert Geierchen dabei von oben bis unten. »Die ganze Stadt ist voller Spinner!«, schimpft er dann, zupft seinen senfgelben Blouson zurecht und eilt mit trippelnden Schritten davon.
»Dit sind mir die Liebsten«, sagt Geierchen, noch bevor sich die Türen der Bahn schließen und er vorerst aus meinem Leben entschwindet. »Die Spießer-Freaks!«
Als auch meine U-Bahn kommt, ergattere ich einen Sitzplatz und schotte mich dank der Kopfhörer zügig von der Umwelt ab. Dann zücke ich mein Smartphone, wähle einen Song aus meiner Playlist und öffne die blaue Zeitfresser-App mit dem weißen f. Hier erfahre ich, was meine sogenannten Freunde – Menschen, denen ich teilweise noch nie begegnet bin – der Welt mitteilen wollen: Tina hat einen Bagel mit Rucola zu Mittag gegessen, Konstantin war mit seinem Hund spazieren, Jessica ist langweilig, und Tunç möchte mit mir einen Bauernhof gründen. Nach mehreren Jahren Mitgliedschaft in diesem nicht immer nur sozialen Netzwerk überfliege ich die Meldungen meist nur noch aus Langeweile und wundere mich nicht selten über die unfassbare Irrelevanz der sogenannten Neuigkeiten. Dennoch haben es mir die kleinen roten Zahlen am oberen Rand der App irgendwie angetan, die mich über Freundschaftsanfragen, Likes und sonstige Mitteilungen informieren, und so erwische ich mich immer wieder dabei, vollkommen sinnfreie Minuten in diesem virtuellen Freundeskreis zu verbringen. Wahrscheinlich hat Geierchen also mal wieder recht: Das Land ist voller Freaks – und mitten unter ihnen muss ich nun einen Platz für mich finden.
Schöne Aussichten sehen irgendwie anders aus …
Im Hausflur kommt mir auf halber Treppe mein Vermieter Herr Graufuß entgegen, der seine mehrstöckige Altersvorsorge gemeinsam mit seiner Frau bewohnt, verwaltet und instand hält. Aus der Brusttasche seiner grünen Latzhose lugen ein Schraubenzieher, ein Bleistift und ein Kugelschreiber, die er der Länge nach sortiert hat. Die Ärmel seines Karohemds sind fein säuberlich bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt und die Schnürsenkel seiner Sicherheitsschuhe mit den großen Stahlkappen zu identischen Doppelschleifen gebunden. Zwei Stufen über mir hält er inne und spricht mich an. »Herr Möller«, beginnt er vorwurfsvoll und atmet dann einmal laut aus. »Meine Frau musste mal wieder feststellen, dass zwischen Ihren Papiermüll ooch Plastik dabei sein tut.«
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