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Heute ist Klassenausflug. Bowlen - damit die Kinder sich endlich mal so richtig austoben können. Als ich den Klassenraum betrete, stürmen die ersten schon auf mich zu. "Herr Mülla, iebergeil!", ruft Ümit. "Isch mache Strike, ja? Schwöre, schmache eine Strike!" Mit wilden Bowling-Trockenübungen steht er vor mir. Wenn er nachher tatsächlich so bowlt, nehme ich mir besser einen Helm mit. Aushilfslehrer? Ein lockerer Job, denkt Philipp Möller - bis zur ersten Stunde in seiner neuen Klasse: Musikstunden erinnern an DSDS, hyperaktive Kids flippen ohne ihre Tabletten aus und zum Frühstück gibt es Fastfood vom Vortag. Möllers Geschichten aus dem deutschen Bildungschaos sind brisant und berührend, und dabei immer wieder urkomisch.
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Seitenzahl: 375
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Philipp Möller
ISCH GEHSCHULHOF
Unerhörtes aus dem Alltageines Grundschullehrers
Lübbe Digital
Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe GmbH & Co. KG erschienenen Werkes
Lübbe Digital in der Bastei Lübbe GmbH & Co. KG
Das vorliegende Buch beruht auf Tatsachen.
Zum Schutz der Persönlichkeitsrechte wurden
Namen und Details verändert.
Copyright © 2012 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
Textredaktion: Lisa Bitzer, Landau
Titelbild: © missbehavior.de
Umschlaggestaltung: Pauline Schimmelpenninck
Büro für Gestaltung, Berlin
Datenkonvertierung E-Book:
hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-8387-1616-9
Sie finden uns im Internet unter www.luebbe.deBitte beachten Sie auch: www.lesejury.de
Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlichder gesetzlichen Mehrwertsteuer
Für meine Tochter
1 Isch geh mit U-Bahn
2 Schmerzlich Willkommen
3 Geierchen
4 Kontrastprogramm
5 Das Tafellineal
6 Alles wird gut, oder?
7 Pirschelbär
8 Ein Sommer in Hartz iv
9 Neustart
10 Ein Käfig voller Narren
11 Sportlehrer in drei Minuten
12 Sonne, Mond und Sterne
13 Germany’s next Schulchor
14 Isch hab mit Flugzeug gegeht
15 Einzelkampf, Einzelkampf!
16 Neue Perspektiven
17 Esel reloaded
18 Sch’weiß keine Englisch
19 Geier, übernehmen Sie!
20 Schwule Dinosaurier
21 Voll Porno, Alta!
22 Miss November und der Dilettantismus
23 Aua, meine Röbelsäule!
24 Nicht anders, schlimmer
25 Irgendwann ist immer das erste Mal
26 Lebenslänglich Lehrer?
27 Geschichten aus der Parallelwelt
28 Der Mordsimulator
29 Danke, dass du uns Deutsch lernst!
30 Mach dir ’n Bier auf
31 Gehst du jetzt Hartz iv?
32 Lieber ein Ende mit Schrecken …
Nachwort
Danke
Der öffentliche Nahverkehr in Berlin ist immer eine Reise wert. Mit ein bisschen Glück kann man bei einer Fahrt mit den Verkehrsmitteln der Hauptstadt filmreife Szenen erleben. Als ich die U-Bahn betrete, bin ich mit meinen Gedanken jedoch bereits woanders – und zwar in der Schule. Denn heute trete ich meinen neuen Job als Grundschullehrer an.
Zwischen Musikanten, Verkäufern von Straßenmagazinen und Fahrgästen verschiedensten Umfangs, Alters und Milieus suche ich mir einen Sitzplatz und blicke erst wieder auf, als der Hauptdarsteller der nächsten Szene die Leinwand betritt – selbstverständlich mit einem Handy am Ohr.
»Hamoudi, was los? Was machst du?«, ruft er beim Betreten des Waggons lauthals in sein Mobiltelefon. Als er eine aufgebrezelte Blondine entdeckt, glotzt er ihr unverschämt ins Dekolleté und zwinkert ihr dann grinsend zu. Ihr demonstratives Desinteresse kommentiert er mit einem sehr unfeinen Wort und nimmt dann mir gegenüber Platz.
Na prima, denke ich, wieder einmal werde ich unfreiwilliger Zuschauer der endlosen Daily Soap Willkommen auf dem Planeten Hartz IV. Drehbuch und Regie: das Leben. Produzenten: die politische Sabotage an der deutschen Bildung, die noch immer andauernde Abwesenheit einer funktionierenden Integrationspolitik und der stetige Abbau unseres Sozialsystems.
Während der Protagonist in voller Lautstärke mit seinem Kumpel quatscht, beobachte ich ihn unauffällig. Auf seinem mit reichlich Haarwachs eingefetteten, glänzenden Haupthaar sitzt ein viel zu eng geschnalltes Basecap, am rechten Handgelenk blitzt eine überdimensionale Proleten-Uhr hervor, und auch die schneeweißen Markenturnschuhe sind für jedermann sichtbar. Eine wenig dezente Goldkette und das passende Armband komplettieren sein Outfit – man muss schließlich zeigen, was man hat!
Das gilt offensichtlich auch für seine Kronjuwelen. Die richtige Körperhaltung ist deshalb von großer Bedeutung für seine Rolle. Um rivalisierenden Männchen und paarungsbereiten Weibchen die eigenen Vorzüge zu präsentieren, spreizt er die Beine beim Sitzen weit auseinander. Den Ellenbogen des Telefonarms stützt er auf dem Oberschenkel ab, mit der freien Hand untermalt unser Held die Konversation mit entschlossen wirkenden Gesten.
»Ja, Mann«, ruft er ins Handy und fuchtelt mit der linken Hand wild in der Luft herum. »Hau ma rein! Sch’ruf sie an jetzt …«
Er legt auf, dann bemerkt er meinen Blick.
»Was guckst du?«, pöbelt er mich an, doch ich schaue schnell weg. Er lässt seine Kieferknochen bedrohlich mahlen, dann widmet er sich wieder seinen eigenen Angelegenheiten.
Weil seine Oberarme wahrscheinlich zu muskulös sind, um das Handy für längere Zeit ans Ohr zu halten, und die Benutzung von Headsets vermutlich als schwul gilt, entscheidet er sich, das folgende Telefonat über den Lautsprecher zu führen. So kommt es also dazu, dass ich und das gesamte Zugabteil den Dialog zwischen Mr. Was-guckst-du und der Frau, die er vorübergehend zu seinem Eigentum erklärt hat, in voller Länge mitverfolgen dürfen. Ein solches Glück wird einem nicht oft zuteil.
»S’los?«, begrüßt sie ihn liebevoll, woraufhin er unvermittelt ins Gespräch einsteigt.
»S’machst du?«
Während die männlichen Vertreter seiner Stilrichtung mindestens eine Silbe ihrer kurzen Satzfragmente stark überbetonen, signalisieren die weiblichen durch Einsilbigkeit und Monotonie gern Desinteresse.
»Sch’bin Solarion«, antwortet sie brav.
»Mit wen bist du?«
»Alleine.«
»Warum gehst du?«
»Vallah, sch’seh aus wie Kartoffel, ieberhässlisch!«
Das scheint ihm zu gefallen. Lächelnd schiebt er den Inhalt seiner Unterhose zurecht.
»S’machst du später?«, will er dann wissen.
»Sch’geh Disco.«
»Was?!«
Diese Nachricht lässt seinen Adrenalinspiegel sichtbar nach oben schnellen. Wie kann sie die Frechheit besitzen, ihn davon erst jetzt in Kenntnis zu setzen?
»Mit wen gehst du?«, fragt er sie eindringlich.
»Züsch, sch’geh nur mit Mehtschin!«
»Seit wann weißt du, dass du gehst?«
Diese Frage scheint sie grammatikalisch zu überfordern, sie gerät ins Schleudern.
»Dings, so halt«, antwortet sie nach einem Moment der Stille.
»Was ziehst du an, wenn du gehst?«
Es rauscht und klickt, die Verbindung ist beendet. Aufgeregt verliert der Held die Nerven und brüllt sein Handy an.
»Hallo? Hallo? Schon wieder keine Netz, vallah, irgendwann isch ficke diesem E-Plus!«
Dann flucht er laut, springt auf und drängelt sich zur Tür. Als der Zug quietschend zum Halten kommt, tritt er auf den Bahnsteig und bleibt dort erst einmal stehen, sodass sich alle anderen Fahrgäste umständlich an ihm vorbeischieben müssen. Mit den Händen in den Hosentaschen sieht er sich auf dem Bahnhof um. Die Bewegungen seiner Kaumuskeln demonstrieren Stärke und Entschlossenheit. Die Luft scheint rein, also setzt er sich in Bewegung und verlässt die Bühne.
Was für ein Auftritt.
Ja – das ist Berlin! Wer sich davon überzeugen möchte, dem seien der Erwerb einer Tageskarte und eine ausgedehnte Tour durch den westlichen Teil des Tarifbereichs B empfohlen. Der Besucher wird schnell feststellen, dass derlei Auftritte nicht nur denjenigen vorbehalten sind, denen Rechtspopulisten gern den Migrantenstempel aufdrücken, nein: Sie sind überall dort ein fester Bestandteil unserer Gesellschaft, wo die gefährliche Mischung aus Bildungsarmut und Perspektivlosigkeit für Frustration, Rücksichtslosigkeit und Gewaltbereitschaft sorgen. Die Schule, an der ich heute meinen neuen Job als Lehrer antrete, liegt in einer der größten Metropolen des geheimnisvollen Planeten Hartz IV – in einem der zahlreichen Berliner Kieze, die von dieser gefährlichen Mixtur betroffen sind.
Als ich die Bahn wenige Stationen später verlasse, beschleicht mich das Gefühl, die Geschichte mit Hamoudi und der Frau in Solarion könnte erst der Anfang gewesen sein. Noch habe ich nicht die leiseste Ahnung davon, wie es sein wird, Kinder zu unterrichten, deren Schicksale ich bisher hauptsächlich aus dem Fernsehen kenne. Von den vernichtenden Urteilen verschiedener Studien über deutsche Bildungseinrichtungen habe ich zwar gelesen, doch nun stehe ich kurz davor, die Gesichter hinten diesen trockenen Fakten live und in Farbe kennenzulernen.
Um halb neun verlasse ich den U-Bahnhof und trete ins grelle Tageslicht. Bühne frei, es ist so weit: Ich bin Lehrer!
Oder wie die Kids sagen würden: Isch geh Schule.
Als ich durch das Schultor gehe, beschleicht mich ein merkwürdiges Gefühl. Zum ersten Mal durchschreite ich diese Pforte nicht als Assistent der Schulleitung, sondern als Lehrer. Ab heute werde ich meine belegten Graubrote im Kreise meiner lieben Kollegen im Lehrerzimmer verspeisen, hinter dem Pult Prüfungen überwachen, die Tafel mit Zahlen und komplizierten Formeln vollkritzeln und als von allen Schülern geachtete Autoritätsperson in der Pause über den Hof flanieren.
Zumindest in meiner Vorstellung.
Bevor ich das Gebäude betrete, lasse ich meinen Blick noch einmal über die Betonwüste schweifen, die den Schülern hier als Schulhof zugemutet wird – die Achtziger lassen grüßen. Das Schulgebäude hingegen stammt aus einer Zeit, in der Schüler noch mit dem Rohrstock erzogen wurden. Ein frischer Märzwind weht mir ins Gesicht, und durch die nackten Äste der Bäume sehe ich ein Stück des grauen Himmels, der den Eindruck der gesamten Szenerie deprimierend vervollständigt.
Als ich die schwere Eingangstür der Grundschule öffne, schlägt mir der beißende Gestank von altem Urin entgegen. Daran werde ich mich wohl nie gewöhnen. Die Toilette befindet sich in der Eingangshalle, und so ist der Fäkalgeruch das Erste, was Schülern wie Lehrern jeden Morgen entgegenweht, wenn sie eine der wichtigsten Institutionen unserer Gesellschaft betreten. Zum Ambiente des Foyers passt dieser Morgengruß jedoch recht gut: Putz bröckelt von dringend renovierungsbedürftigen Wänden, und durch die verschmutzten Fenster fällt nur wenig Licht.
Der Klang meiner Schritte hallt durchs Treppenhaus. Weil die erste Stunde bereits begonnen hat, herrscht hier eine ungewöhnliche, fast unheimliche Stille. Auf der Hälfte der Treppe angekommen, empfängt mich das lebensgroße, von Kinderhand gemalte Bild eines Kampfhundes. Unweigerlich bleibe ich davor stehen und schaue dem Biest in die Augen. Auf dem Fußweg hierher habe ich wegen eines solchen Köters, der selbstverständlich ohne Leine und Maulkorb ausgeführt wurde, gerade noch die Straßenseite gewechselt.
Ein lauter Knall reißt mich aus den Gedanken, ich zucke zusammen. Die Glastür im ersten Stock wird aufgestoßen. Als ich mich umdrehe, sehe ich zwei Jungs die Treppe hinunterstürmen.
»Ey, du Opfer, wo gehst du?«, brüllt der hintere.
»Isch geh bei Klo, du Bastard«, antwortet der erste, ohne sich dabei umzudrehen.
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