Bis bald - Markus Werner - E-Book

Bis bald E-Book

Markus Werner

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Am hellen Himmel des Denkmalpflegers Lorenz Hatt geht plötzlich ein Unstern auf. Der zwingt ihn, als Gefesselter zu leben. Hatt sitzt und hofft und wartet auf die Rettung. Und säße nicht an manchen Tagen ein stiller Gast bei ihm, so wäre seine Zeit noch trüber. Ihm nämlich erstattet Hatt Bericht und macht dabei aus seinem Herzen keine Mördergrube. Wer zuhört, spürt, dass hier von uns die Rede ist, von unserem Warten, unserem Hinken, von Weltsucht, Lebensdrang und Atemnot. So begleiten wir ihn bis zu einem Ende, das wir nicht ahnen wollten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 239

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Markus Werner

Bis bald

Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

12345678910111213141516171819202122232425

1

Mir wurde schwindlig, kaum daß ich eingestiegen war. Es roch nach Haarlack, es roch nach allem, wonach solche Menschen riechen. Ich hielt mich an der Lehne des Beifahrersitzes fest, während der Reiseleiter den Teilnehmerschein, den ich am Vortag im Büro der IDEAL VOYAGES gekauft hatte, prüfte. Er prüfte so lange, bis alle – der Bus war fast voll – nach vorne schauten. Nachdem er ein paar arabische Worte mit dem Fahrer gewechselt hatte, fragte er auf deutsch, den Mund nahe am Mikrophon: Eine Person? Diese Frage, die mir auch in den meisten Restaurants gestellt wird und deren schon fast demütigende Bejahung immer zur Folge hat, daß mich der Kellner zum windigsten Tisch des Lokals führt, diese von mir nie als sehr sinnvoll empfundene Frage hörte ich jetzt aus vier Lautsprechern. Ich war verwirrt. Ich konnte nicht nein sagen, wollte nicht ja sagen und nickte schwach. Der Reiseleiter machte eine Bemerkung, die ich nicht verstand, ich hörte Gelächter und sah, als ich mich durch den Gang nach hinten bewegte, verfratzte Gesichter links und rechts. Eine Sitzbank war noch frei, allerdings über dem Rad, dessen gewölbte Verschalung meine Beinfreiheit einschränkte. Ich nahm mir vor, auf Karthago zu verzichten. Ich nahm mir vor, beim nächsten Hotelhalt auszusteigen, zu meiner Pension zurückzueilen, das Frühstück nachzuholen und dann nochmals ins Bett zu gehn. Es war mir unerklärlich, wie ich auf die Idee hatte kommen können, einen geführten Tagesausflug zu buchen und mich freiwillig in einen Touristenbus zu setzen, wo ich doch hätte wissen müssen, was für Leute und Ausdünstungen mich in einem Touristenbus erwarteten. Als ich mich umschaute, schwand die Hoffnung auf einen weiteren Halt, alle Plätze waren belegt, und daß der einzige freie Sitz neben mir noch besetzt werden würde, schien unwahrscheinlich. Ich überlegte, ob ich, Brechreiz vortäuschend, nach vorne gehen und den Fahrer bitten sollte, anzuhalten und mich aussteigen zu lassen. Der Widerwille, erneut ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken, hielt mich zurück. Nach wenigen Minuten bemerkte ich, daß der Bus, statt direkt in die Hauptstraße nach Tunis einzubiegen, eine Zusatzschlaufe machte, langsam durch eine Palmenallee rollte und vor einem Torbogen anhielt. Ich wollte aufstehen, da wurde mein Raum zur flimmernden Wand, ein Riese drückte mich ins Polster.

 

Hätte ich die Zähne zusammengebissen, ich wäre entkommen, was meinst du? Hätte ich mich damals, geschwächt durch Jahre des Wohlbefindens, nicht vom Schwindel bezwingen lassen, dann wäre mir das andere vielleicht erspart geblieben. Nur taumelnd hätte ich die Flucht geschafft, aber draußen, draußen hätte ich mich gestrafft, hätte den Regen umarmt und mich, Meerwind im Haar, federnd entfernt, und wir säßen vielleicht nicht hier, ich leicht geschrumpft und in zu weiten Kleidern, du mit dem Schreibblock auf dem Knie, was meinst du? Ist dir der Stuhl bequem? Er ist dir nicht bequem, ich kenne alle meine Stühle, und dieser sogenannte Zig-Zag-Stuhl aus Ulmenholz ist für das Auge konstruiert, nicht für die anderen Körperteile, lehnst du dich an, so scheuert die Oberkante des massiven Rückenbretts am Dornfortsatz des vierten oder fünften Lendenwirbels, trotzdem zu Recht ein weltbekannter Stuhl, ein Wurf, stark und genau und eine Zumutung wie alle Kunst, ich schweife ab.

 

Blind war ich nur sekundenlang, der Vorhang hat sich rasch gehoben: Der Bus fuhr bereits, vorne beim Reiseleiter stand ein junger Mann in Shorts, der Reiseleiter schwenkte sein Ticket und sprach – über Mikrophon – auf ihn ein, entschlossen, sich vor der Busladung erneut zu profilieren. Ich bekam mit, daß der Mann Amerikaner war, weder Deutsch noch Französisch verstand und also in Kauf nehmen mußte, den Erläuterungen des Fremdenführers nicht folgen zu können. Den Amerikaner schien dieser Sachverhalt, falls er ihn faßte, nicht zu quälen, jedenfalls sagte er zweimal okay und zweimal no problem, kam nach hinten und setzte sich neben mich. Er gab mir die Hand und stellte sich vor, Grünberg, Ohio. Ich hatte noch nie einen Amerikaner stottern gehört, Grünberg stotterte und gefiel mir, aber ich war zu wenig konzentriert, um ein Gespräch zu führen, ich fühlte mich ungut und mußte oft gähnen, auch begann der Reiseleiter, sobald wir auf der Hauptstraße waren, mit seinen zweisprachigen Ausführungen. Er stellte zuerst sich selber vor, wahrscheinlich als Ali, Mohamed oder Farouk, dann die tunesische Geschichte im Abriß, und Grünberg, die Hände über dem Geschlecht gefaltet, schlief ein, zuckte, pendelte und kam an meiner Schulter zur Ruhe. Es störte mich kaum, mich störte einzig das Geschwätz des Reiseleiters, der zwar vorzüglich Deutsch und Französisch sprach, aber alles so mechanisch hersagte, wie man nur tausendmal Gesagtes sagen kann. Auch die Späße waren erprobt, man lachte zuverlässig, meine Verstimmung wuchs. Ich sah überall abstoßende Hinterköpfe auf dürren Hälsen oder auf verspeckten Hälsen, überall sah ich die schauderhaftesten Ohren, das fleischigste gehörte meinem Vordermann, sein Ohrläppchen war ein Ohrlappen, unten angewachsen, während die monströse Muschel so weit abstand, daß ich nicht um den Leberfleck auf ihrer Hinterwand herumkam: eine ovale, schwarzviolette Spinne, behaart, bereit zum Sprung. Um mich abzulenken, betrachtete ich eine Weile lang Grünbergs Armbanduhr, aber auch sie war häßlich, klobig wie jede Uhr, die mehr als Uhr sein will. Die in Zeitzonen eingeteilte Weltkarte auf dem Zifferblatt empfand ich als Hochstapelei, und daß der schlummernde Grünberg jetzt noch den Mund öffnete, was den geistreichsten Schläfer zum Trottel macht, verdroß mich vollends.

Ich schloß die Augen, ich versuchte nach Reginas Anweisung positiv zu denken, erfolglos, ich merkte, daß ich negativ über Regina zu denken begann. Man kann eine Stimmung nicht abschütteln. Man kann sich nur fragen, woher sie kommt, ich sah den Vortag vor mir, Regen wie heute, Wind wie heute, Aufhellung gegen Mittag und Spaziergang am Strand, Halsweh, Sand in Sandalen und Ohren, Verfolgung durch halbwüchsige Händler: warum in Hammamet, wenn weder Holzkamel noch Stoffkamel? Flucht in die Stadt, Gang durch die klägliche Medina, alles verdorben, alles verwüstet, nichts als Folklore und nordische Bäuche, Tourismus muß strafbar werden. Am Handgelenk gepackt, in ein Geschäft gezerrt, mit Lederkamelen aus Kamelleder bedroht, Flucht auf die Kasbah, Rentnerinnenschenkel, von Böen entblößt, Flucht an den Stadtrand, dort dann das Unverfälschte: ein Souk für Hiesige, bunt und betäubend, Schrauben, Gewürze, Hühner, alles, dabei die Scham, hier einzudringen, verschleierte Frauen zu streifen, und plötzlich Gemurmel und finstere Blicke, ein Weib, ein blondes T-Shirt-Weib in schwarzen Stiefelchen und schändlichen Hotpants wedelt sich durchs Gewimmel, bauchnabelfrei, bauchnabelfrei! Und die verhöhnten Araber? Packen sie nicht. Werfen sie nicht zwischen die Safran-Säcke. Tun ihr das Fällige nicht an. Ich ging. Abends Couscous mit Paprikaschoten, Verbrennung des Mundes und Schweißausbruch. Schräg gegenüber ein Paar, er um die Dreißig, Tunesier, Anzug, sie ziemlich älter, Deutsche, mit Sorgfalt verjüngt, der Mann tut feurig: die Bekanntschaft ist frisch. Dem Einzelgänger husten die Flöhe, logisch, ich trinke Feigenschnaps, staunend über das zügige Vorspiel schräg gegenüber. Er lobt ihren Leib, faßt ihre Hände, und – ob du es glaubst oder nicht – er sichert ihr Manneskraft zu. Ich trinke Feigenschnaps. Fällt sie? Sie bleibt recht blaß, nur Hals und Ausschnitt verkupfern sich. Ein Junge kommt und bietet Jasminsträußchen an, ich kaufe eines, rieche daran und suche ein anderes Wort für himmlisch. Die Frau schaut rasch zu mir herüber, ich bin abwesend, ich rieche. Sie sagt sehr leise: »Ich habe meine Tage.« Der Kellner bringt den dritten Feigenschnaps, dazu ein Teiggebäck, gefüllt mit Dattelpaste. Ich esse, und während ich esse, schlägt sich – ob du es glaubst oder nicht –, schlägt sich der Mann schräg gegenüber an die Stirn und spricht von einem wichtigen Termin, zahlt hastig, krault sie am Kinn und geht. Die Welt ist unhaltbar. Ich klammere mich ans Jasminsträußchen, sauge den Duft ein, will mich blindriechen, will mich taubriechen. Und gebe dir den Rat: Riech nie zu lang an einem Jasminstrauß, nach drei Minuten ist dir plötzlich, als stecktest du die Nase in ein Nachtgeschirr. Ich zahle. Dann ins Hotel, Flucht ins oktoberklamme Bett, Unzucht im Nebenzimmer, die Welt ist unhaltbar.

Als Grünberg, geweckt vom Brüllen der Passagiere – der Reiseführer hatte gerade über Flora und Fauna referiert und dabei das Vordringen der Wüste bedauert, was ihm Gelegenheit zu einem seiner eingeplanten Scherze gab, nämlich lieber Sex in der Wüste als Sand im Bett, schwach, schwach, aber insassengerecht –, als Grünberg erwachte, befanden wir uns bereits auf dem Damm, der über den See von Tunis nach La Goulette führt. Grünberg fragte, ob er geschlafen habe, ich sagte yes. Er fragte, warum ich Englisch könne und was ich von Beruf sei, er selbst sei Elektroniker. Ich hätte, angesichts des nahen Karthago, ein wenig schwindeln sollen, statt dessen sagte ich die Wahrheit, von da an blieb er bei mir. Mehrmals betonte er, daß es für ihn ein großes Glück sei, Karthago zusammen mit einem Archäologen besichtigen zu können. Ich wehrte ab, ich präzisierte nochmals, daß ich kein Archäologe, sondern Denkmalpfleger sei, ausbildungsmäßig ein Historiker mit Schwerpunkt Bau- und Kunstgeschichte, und ich erklärte, mich mit Karthago nie befaßt zu haben, nie mehr als flüchtig jedenfalls, zum letzten Mal im Studium, vor vielleicht zwanzig Jahren, mit den Ergebnissen rezenter Bodenforschung sei ich nicht vertraut. What a lucky chance, sagte Grünberg, der entweder nicht zugehört hatte oder mir nicht glaubte, aber sein Stammeln stimmte mich weich. Es paßte nicht zu seiner bunten Hose, wohl aber, wie mir schien, zu seinen Augen. Die flehten irgendwie und zögerten. Ich bat ihn abermals, mich nicht und auch Karthago nicht zu überschätzen, Karthago sei, was die phönizische beziehungsweise punische, kurz die ursprüngliche Gestalt betreffe, aufs gründlichste versunken, archäologisch – soviel ich wisse, mein Wissen sei wie angetönt sehr lückenhaft –, archäologisch nicht sonderlich sensationell, ja unergiebig. Don’t worry, sagte Grünberg.

 

Ich brauche Sauerstoff, Moment, bleib nur, laß dich nicht stören, nur zehn Züge, siehst du, hier gabelt sich der Kunststoffschlauch, geht doppelläufig weiter, ein Endstück kommt ins linke und eins ins rechte Nasenloch, das ist schon alles, Augenblick.

 

Der Bus hielt ein erstes Mal in unmittelbarer Nähe des Amphitheaters. Leichter Regen. Mohamed gab bekannt, daß für die Besichtigung fünfzehn Minuten zur Verfügung stünden. Wer sich ihm anschließen wolle, solle sich anschließen, die Teilnahme sei freiwillig, so freiwillig wie das Leben selbst. Ich hatte keine Lust, mich verregnen zu lassen, aber Harndrang. Grünberg anerbot sich, mich unter seinen Knirps zu nehmen. Wir stiegen aus, und nach wenigen Schritten hangaufwärts überblickten wir das Theater, dessen gewaltige Ausmaße mich erstaunten, dessen spärliche Überreste – Fundamente und Bruchstücke der Arena – den Laien aber enttäuschen mußten. In der Tat merkte ich, daß Grünberg, der wahrscheinlich ein anständiges Kolosseum erwartet hatte, trübselig unter dem Regenschirm stand, ratlos auf die Trümmer starrte und mich mit seinem Schweigen um Sinngebung und Aufschluß bat. Ich mußte mir in der Nacht eine Blasenerkältung zugezogen haben und hielt Umschau nach einem günstigen Platz. Grünberg sagte plötzlich, er habe von der Schule her in Erinnerung, daß Hannibal etwas mit Karthago zu tun gehabt habe, ob das richtig sei. Ich bejahte. Ob es vorstellbar sei, fragte er und zeigte hinunter zur Arena, wo jetzt unsere Reisegruppe im Halbkreis um Ali herumstand, ob es vorstellbar sei, daß Hannibal dort unten von Zeit zu Zeit seine berühmten Elefanten vorgeführt habe. Ich sagte, es sei vorstellbar, aber unmöglich, denn es handle sich bei diesem Amphitheater um ein römisches Bauwerk aus dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert, während Hannibal und seine Elefanten im dritten vorchristlichen Jahrhundert gewirkt hätten. Grünberg war nicht befriedigt. Er sagte, er habe gelernt, daß Hannibal die Römer vernichtend geschlagen habe, und zwar bei irgendeinem See in Italien, wie es denn komme, daß hier, in Hannibals Stadt, trotzdem ein römisches Theater habe gebaut werden dürfen, er, Grünberg, vermisse die Logik. Ich bat ihn, mich einen Augenblick zu entschuldigen, ich sei gleich zurück. Er wollte mir seinen Knirps mitgeben, ich lehnte ab, ich brauchte freie Hände, nach kurzem Suchen fand ich ein gutes Plätzchen hinter einer Korkeiche. Es kann auch eine Schirmakazie gewesen sein, vielleicht bloß eine Kiefer, das weiß ich nicht mehr so genau, acht Monate sind eine lange Zeit, sonst weiß ich ja noch vieles, denn wem ein Unstern aufgeht – in dieses Wort bin ich vernarrt –, dem bleiben die Begleitumstände im Gedächtnis. Ich löste Wasser, Hannibal im Kopf, sah ihn am Hang des Byrsa-Hügels stehen, schwarzgekleidet, einäugig, im Herzen verstört, in Schwermut auf den Golf von Tunis schauend, der war einmal so blau gewesen, so blau, so willig, mich weltwärts, ruhmwärts wegzutragen, mein Baal, mein Baal. – Ich rechnete aus, daß der geschlagene Karthager im Unglücksjahr 202 genau mein Alter hatte: vierundvierzig. Nur, er konnte damit rechnen, in allen Schulen Stoff zu werden, wenn auch, wie in Ohio, ein eher flüchtiger, ich aber hatte nichts zu hoffen, nichts vorzuweisen, nicht einmal einen transalpinen Fußgang. Schauen Sie, sagte ich zu Grünberg, der mich, als ich zurückkam, noch einmal schüchtern nach der Logik fragte, es ist ganz einfach: A schlägt den B zu Boden. B rappelt sich nach einer Weile auf und schlägt den A zu Boden. A bleibt liegen. Bisweilen zuckt er noch, so daß sich B genötigt sieht, ihn totzuschlagen und sein Haus zu schleifen. Auf Schutt und Trümmern baut B sein eigenes Haus. A ist Karthago, B ist Rom. I see, sagt Grünberg. Weil aber, sage ich, das Faustrecht ausgenommen, alles vergänglich ist, kommt C vorbei, wirft B zu Boden und zum Haus hinaus, später kommt D, wirft C hinaus, C sind Vandalen, D die Byzantiner. I see, sagt Grünberg, and what next? E, sage ich, E rüttelt schon am Tor, bricht ein, schlägt tot und schleift das Haus. E sind die Araber, und seither blüht Gestrüpp aus den Ruinen. Thank God, sagt Grünberg, und ich nicke.

 

Frau Guhl? Ja? Nein, Sie stören nicht, oh, danke, Lindenblütentee. Für dich auch Lindenblütentee? Vielleicht ein Gläschen Zwetschgenwasser? Wirklich nicht? Herrgott, freiwillig trinkt er Tee, und ich verzehre mich nach etwas Rechtem, danke, Frau Guhl, bis übermorgen, danke.

 

Man fuhr zum zentralen Parkplatz. Es regnete nicht mehr. Trotzdem erwog ich, da mir wieder ein wenig schwindlig war und ich mich plötzlich sehr matt fühlte, im Bus zu bleiben und die siebzig Minuten, die für die Besichtigung der weiteren Sehenswürdigkeiten eingeplant waren, zu meiner Erholung zu benutzen. Aber die Aussicht, draußen vielleicht etwas Eß- oder Trinkbares zu finden – mir fehlte wohl einfach das Frühstück –, ließ mich aussteigen. Grünberg schlug vor, die Gruppe wieder zu verlassen und das Gelände auf eigene Faust zu erkunden, was ich begrüßte, weil mir alles Kollektive Migräne macht. Andererseits befürchtete ich, Grünbergs Wissensdurst kräftemäßig nicht gewachsen zu sein, und wäre gern allein gewesen. Egal, ich mochte Grünberg, und vor den Thermen des Antoninus stand er befriedigt, hier sah man Vertikales, zum Beispiel eine Säule mit tonnenschwerem Marmorkapitell. Alles sehr eindrucksvoll, sehr ausgedehnt, nur, wozu diente es, bevor es zur Ruine wurde? Als Tempel? Nein, sagte ich, als Badeanstalt, als Badeanstalt samt Warmwasserbecken, daher der Name ›Thermen‹. Und wenn Grünberg jetzt fragt, ob es denkbar sei, daß Hannibal hier gebadet habe, dann breche ich zusammen. Grünberg aber fragte, als sei ich auch dafür noch zuständig, ob es hier irgendwo eine Toilette gebe. Ein Araberjunge, der uns schon seit längerem umkreist hatte, hörte und verstand die Frage und anerbot sich sofort, Grünberg den Weg zu zeigen. Grünberg bat mich um Geduld und um drei bis vier Papiertaschentücher. Ich sagte, daß ich mich ein wenig im angrenzenden archäologischen Park umsehen wolle, dort könnten wir uns, wenn er nachkomme, kaum verfehlen. Er fragte ängstlich, wo sich dieser Park befinde. Ich zeigte auf die Treppe, die zum Vorplatz der Thermen hinabführt, und sagte, der Park oder das Freilichtmuseum beginne gleich oberhalb der Treppe und erstrecke sich hangaufwärts. Der Junge hatte, während wir redeten, aufmerksam vom einen zum anderen geschaut, und da er offenbar einen Sinneswandel befürchtete und die erhoffte Belohnung gefährdet sah, faßte er Grünberg bei der Hand und zog ihn weg. Die Sonne brach durch, der Wind verwehte ihre Strahlen, ich fror.

 

Siehst du, mein Täßchen wird zum Bleikelch, genug für heute, wenn sie so brüchig zu zwitschern beginnt, empört mich meine Stimme.

2

Der Sitzende geht mit der Schwerkraft diplomatisch um, ähnlich wie man vielleicht mit jeder Macht, die bis auf weiteres das Sagen hat, umgehen sollte: Ein Stück weit, um nicht sofort gefällt zu werden, anerkennt man sie, erweist ihr seine Reverenz mit dem Gesäß, negiert sie aber mit dem Oberteil und bleibt auf diese Weise zwar nicht restlos frei, doch freier. Ich sehe das Sitzen als Kompromiß zwischen Liegen und Stehen, ich befinde mich, wenn ich sitze, zwischen Anpassung und Widerstand. Soviel zu meiner Lage oder Stellung, du wirst die beiden Wörter nicht allzu wörtlich nehmen. Kommt noch hinzu: Das Sitzen ist die dem Wartenden gemäße Form. Wer wartet, sitzt, das heißt, er sollte sitzen, denn wenn er liegt, läuft er Gefahr, sich zu verliegen und das, worauf er wartet, zu verpassen. Steht er, so wird er erstens ungeduldig, zweitens überanstrengt, so daß er das Erwartete, sofern es eintritt, nur falsch empfangen kann. Selbst Hunde warten sitzend. Soviel zu meiner Lage und als Erläuterung zu dieser Stube. Sie schien mir plötzlich, von einer Stunde auf die andere, unangemessen heimelig und voll zu sein. Ich sah mich bedrängt, ich sah mich eingelullt, und meine Neffen räumten. Die gelbgerauchte Zimmerdecke ließ ich weißeln, um nicht bei jedem Blick nach oben an den verbotenen Genuß zu denken. Und dann die Ummöblierung, du siehst es, Stühle, Sessel, ein Taburettchen, das Sauerstoffgerät und fertig. Die Bilder noch, die sind geblieben, Bullaugen brauche ich. Sitz ich an dieser Wand, so blicke ich quer durch den leeren Raum auf eine Seelandschaft. Sitz ich im Empire-Armstuhl, in dem du heute sitzt – Nußbaum mit Birkenwurzelfurnier, Vierkantspitzbeine, Rückenlehne mit floraler Mittelzunge, schau es dir ruhig an, ich schätze jeden Gast, der weiß, worauf er sitzt –, dann blicke ich auf einen Frauenakt. Dies ist mein Reich. Ins Freie geh ich selten, du weißt, das Treppensteigen. Aber am Fenster stehe ich gern, verfolge mit besonderem Interesse die Motorradfahrer, habe, wenn mir bitter ist, Mühe mit den Rennradfahrern, die bunt vorüberzischen, halten sich, sag ich mir dann, für knackige Himmelskinder und sind doch nur bornierte Trampler. So macht mich der Juni, so kindisch neidisch, oft möchte ich die Hände zu einem Trichter formen und jedem Mann, der sich vergnügt und zielbewußt benimmt, und jeder Frau, die sich als Schwalbe fühlt, ein Wartenur zubrüllen, ein giftiges Wartenurbalde. Was soll’s. Anflüge, Anwandlungen, ich gönne allen ihren Frühling und ihren Herzensjubel, wirklich, ich warne mich. Es geht mir recht, ich kann noch vieles, und was ich kaum mehr kann, einkaufen, putzen und so fort, besorgt Frau Guhl, ich bin kein Pflegefall, ich liege nicht im Bett und sitze nicht im Rollstuhl, und wenn Kollege Dümperli, mein Assistent und Stellvertreter – Stellvertreter! So höflich drückt man sich im Amt für Denkmalpflege aus –, wenn Dümperli zu einer Kurzbesprechung kommt, denkt er wahrscheinlich wirklich, er sei nur Stellvertreter, und nimmt sich seine Aufstiegsphantasien übel. Der Mann ist dreißig und leider nicht sehr fähig, spricht, wie ich höre, mit den Architekten lieber über Eishockey als über Steinfraß, Riegelwerk und handgespaltene Lärchenschindeln, und ich muß immer lüften, wenn er hier war, er scheint nichts gegen Achselschweiß zu unternehmen, ich sähe ihn am ehesten als Sportberichterstatter beim Lokalblatt, ist ja egal, auf jeden Fall hat er kapiert, daß ich zum eisigen Chef werde, wenn er in Sachen Sport nicht auf dem Mund hockt, ist ja egal, und unter uns gesagt, ich habe abgeschlossen mit der Denkmalpflege, innerlich, zumindest mit dem Amt; was ich noch tue, tu ich pantomimisch.

3

Ob dein Besuch wie letztes Mal zur Stippvisite wird, diktieren Kraft und Atem. Glaub mir, zu spüren, daß der Wille, mit dem wir aufgewachsen sind, der uns besonders ichhaft vorkommt, weil er viel Schwere überwindet, Trägheit bezwingt, dem liederlichen Körper zeigt, wer dirigiert, kurz: weil er uns die Erfahrung machen läßt, daß wir die Kapitäne sind, zu spüren, sage ich, wie dieser Wille schrumpft, wie er entmachtet wird durch einen Körper, der plötzlich starre Grenzen setzt, Entscheide übernimmt und paradoxerweise durch pure Schwäche zum Diktator wird: dies kränkt, und dies erniedrigt, und gegen diesen Schmerz war der Karthago-Schmerz ein Nadelstich. Und doch, ich spüre manchmal so etwas wie Wollust in der Knechtschaft. Wenn mich mein Leib in Ketten legt, bin ich dann nicht entlastet? Wer hat das Recht, den übermannten Willen zu ermahnen? Ich kann die Peitsche nicht mehr schwingen, kann mir die Sporen nicht mehr geben, ich darf zum ersten Mal in meinem Leben schamfrei ein fauler Gaul sein. Die Pflicht zur Gegenwehr entfällt. Zieht es mich nieder, strample ich nicht, ich sinke, das ist süß.

 

Froh, eine Weile lang nicht reden zu müssen, ging ich hangaufwärts, auf ehemaligen römischen Straßen, auf schmalen Pfaden, über Treppen, vorbei an mehr oder weniger bescheidenen Denkmälern, und die Wildheit und Ungepflegtheit der Anlage gefiel mir. Lange betrachtete ich eine punische Grabstele, die schief und beschattet hinter Strauchwerk stand, ein Sandstein mit ziemlich roh herausgearbeiteter Relieffigur, einen Menschen oder Gott mit erhobenen Armen und über dem Kopf verschränkten Händen darstellend, ziemlich derb, wie gesagt, und ohne plastische Kraft skulptiert, trotzdem ergreifend wie alles Unscheinbare und kindlich Ungelenke. Ich fror jetzt nicht mehr, und ich fühlte mich, außer daß ich ein wenig Hunger und Durst hatte, wieder wohl. Am oberen Ende des Parks stieß ich auf die Ruinen einer byzantinischen Basilika. Hier setzte ich mich auf einen Quaderstein, rauchte, genoß die Stille. Niemand anderer schien sich hierher verirrt zu haben. Grünberg noch nicht in Sicht. Ich hatte plötzlich das Gefühl, der einzige Überlebende zu sein, der Ruinenhüter, während alle anderen längst in der Tiefe der Zeit und des Bodens versunken waren. Ich dachte an Regina und unseren toten Sohn, und ich ließ die zwei Verlorenen durch die Steinwüste auf mich zukommen, Hand in Hand, aber ich sah sie verschwommen, sah nicht sie selbst, nur das verzitterte Foto, das ich stets bei mir trug, sei es aus Liebe, sei es aus Pflichtgefühl, sei es aus bloßer Gewohnheit. Da stand ich, um alles Ungewisse abzuschütteln, ruckartig auf, und jetzt mußt du mich einen Augenblick entschuldigen, die Nasensonde ist fällig, zwölf Atemzüge aus der Flasche sind geboten, Moment.

 

Wunderbar, ein Hochgenuß aus der Konserve, willst auch ein Häppchen? Nicht? Frau Guhl hat einmal davon genascht und nachher trällernd Staub gesaugt. Sagte ich schon, daß sie eine Perle ist? Eine sechzigjährige Perle, ich habe Anlaß zu vermuten, daß sie für mich betet, was mir recht ist. Sie hat mir neulich einen Nierenwärmer mitgebracht, und da ich keine große Freude zeigte, erzählte sie stockend, aber ohne zu weinen, daß ihr Mann vor drei Jahren gestorben sei, daß sie ihn, heimkehrend von einer Werbefahrt für Klimawäsche, unter dem Küchentisch gefunden habe, Hirnschlag, und daß dieser Nierenwärmer ihr Mitbringsel für ihn gewesen sei. Ich war gerührt, wirklich gerührt, so wie ich zeitlebens gerührt und verwundert gewesen bin, wenn mir jemand ohne Verdienste meinerseits und ohne Absichten seinerseits ein Zeichen der Zuneigung oder der Wertschätzung gegeben hat, und manchmal frage ich mich, warum es so viele Menschen gibt, die sich, ohne zu staunen oder an einen Irrtum zu denken, einfach gemocht wissen.

 

Ich stand also auf, ruckartig, wie gesagt, und in der gleichen Sekunde krümme ich mich, von einer Harpune durchbohrt, und knicke ein. Ein Schmerz, dumpf, aber rasend, füllt meinen ganzen Brustraum, kriecht langsam zum Hals, kriecht in die Schulter, zieht ätzend bauchwärts, ich schreie auf, knie vornübergebeugt, gestützt auf die Unterarme, vor Mund und Augen die Erde, gleich ist es aus, gleich ist es aus, so also geht das, Grasbüschel, verkrallte Finger, Schweiß, kein Mensch. Ich sterbe nicht: der Schmerz ist noch da; ich sterbe nicht: der Schmerz läßt ja nach, hinter dem Brustbein läßt er schon nach, aber der Magen, das Bohren im Magengebiet, natürlich, eine Kolik, vielleicht eine Couscous-Vergiftung, ein Gallenkrampf, wo ist die Gallenblase, links oder rechts, ich weiß nicht, wo die Gallenblase ist, der Blinddarm ist rechts, das Herz ist links, das Herz? Unmöglich, mein zuverlässigstes Organ, ich bin zu jung, kein Fett, kein Mangel an Bewegung, unmöglich.

Ich rutschte unter Atemnot zu einem Mäuerchen, das mir als Rückenlehne diente, fand hier, am Boden sitzend, die Knie angezogen, die Arme auf den Knien, die Stirne auf den Armen, ein wenig Linderung. Die Todesangst wich, und eine Weile lang empfand ich so etwas wie freundliche Gelassenheit auch beim Gedanken an das Ende. Möglich, daß die totale Schwäche mich apathisch machte. Ich saß etwa eine Viertelstunde, vielleicht länger, dann klangen die Schmerzen ab, und das Abklingen der Schmerzen war so erlösend, daß ich nicht nur ein umfassendes Wohlgefühl spürte, sondern auch, wie soll ich sagen, einen tränenseligen Übermut. Aber ich blieb in der gleichen Stellung sitzen, traute mich nicht aufzustehen und hörte plötzlich Rufe: Mister Hatt, Mister Hatt! – Hello, sagte ich, ohne den Kopf zu heben, und wunderte mich, daß Grünberg sich meinen Namen hatte merken können. What’s wrong with you, are you okay? Einen Moment lang, als ich aufschaute, war ich geblendet, sah nur zwei Beine im Gegenlicht und sagte: Not very much. Grünberg, noch immer in Begleitung des Araberjungen, der sich sofort vor mir auf die Fersen setzte und mich groß und hilfsbereit anschaute, begann Fragen zu stellen, berührte mit dem Handrücken meine Stirn, was ihm der Junge sogleich nachmachte, und sprach, da ich offenbar fahl und hinfällig aussah, von Ambulanz. Ich winkte ab. Ich sagte, ich hätte eine Kolik gehabt, und bat ihn, mir beim Aufstehen behilflich zu sein. Der Junge verstand rascher als Grünberg, half aber eine Spur zu eifrig, so daß mir, als ich stand, ein wenig schwindelte. Nicht schlimm. Dann hakten sich beide bei mir ein, worüber ich zuerst froh war, was sich aber nach etwa fünfzig Schritten, als ich mit Freude merkte, daß ich gut auf den Beinen war, als überflüssig erwies. Grünberg gab mich frei, während sich der Junge noch hartnäckiger verklammerte, wahrscheinlich in der Überzeugung, daß die Gelegenheit zu einer derart beispiellosen Dienstleistung nicht zweimal kam. Grünberg erzählte, er und der Junge hätten mich überall gesucht, sogar in Zisternen und Grabkammern, richtig durchgekämmt hätten sie das Gelände, und er hoffe jetzt nur, da wir ein wenig verspätet seien, daß der Bus auf uns warte. Ich mochte nicht sprechen, ich mochte die Schritte nicht beschleunigen, es war mir alles gleichgültig, nur der Gedanke, Arm in Arm mit einem Araberjungen einzurücken, beunruhigte mich, und als der Bus in Sichtweite kam – wir hörten ihn hupen –, blieb ich stehen und verlangte mit freundlich bestimmten Worten die Freilassung. Der Junge ließ los, ich dankte ihm und wollte ihm zwei Dinare in die Hand drücken, aber er nahm sie nicht, er sagte in seinem erstaunlichen Französisch, daß er mich als seinen Freund betrachte und daß er an meinem Unglück – er brauchte das Wort ›désastre‹ – nicht verdienen wolle. Noch einmal dankte ich ihm herzlich, auch beschämt, und beim Weitergehen fragte ich mich, ob die sogenannte Lebenserfahrung nicht dazu führe, die menschlichen Motive fortwährend zu verkennen, und ob diese fortwährende Verkennung nicht allen Umgang irgendwie gespenstisch mache.

Ich erinnerte mich an meinen todkranken Vater, der das Gefühl gehabt hatte, er müsse meine Mutter auch als Sterbender noch beschützen, indem er Hoffnung heuchle und auf Wunder verweise, obwohl er wußte, wie es mit ihm stand, und obwohl er das Bedürfnis hatte, über sein Ende zu sprechen. Der Mutter, glaubte er, sei dies nicht zuzumuten, sie brauche Zuversicht. Die Mutter aber glaubte, bestärkt durch seine Berufung auf trügerische Hoffnungszeichen, daß sie, solange er sich nicht ergeben könne und vor dem Tod die Augen niederschlage, nicht über sein Ende mit ihm reden dürfe, obwohl sie das Bedürfnis hatte, es zu tun. Und hätte meine Schwester in den letzten Tagen nicht noch sanft vermittelt, was beide sehr erleichterte, was aber, wie mir scheint, auch einen stillen Argwohn auf die vergangene Empfindungswelt der Ehe hätte hauchen können, so wären sich die beiden bis in den Tod in Liebe fremd geblieben.