Die kalte Schulter - Markus Werner - E-Book

Die kalte Schulter E-Book

Markus Werner

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Beschreibung

»Werner hat für sein Thema einen Stil gefunden, der in der deutschsprachigen Literatur seinesgleichen sucht.« Peter Urban-Halle, Der Tagesspiegel Es ist eine Geschichte von Liebe und Tod. Von späten, aber fetten Sommertagen und von der Ahnungslosigkeit des Malers Moritz Wank, der nicht mehr malt und nur noch zögernd lebt, weil alles sich entzieht. Die eigene Bangigkeit ist ihm so unverständlich wie die Welt, und seine Zehennägel sind ihm fremd. Nur Judith, die Gefährtin, gibt immer wieder Halt, und im Zusammensein mit ihr entsteht – Momente lang – Gewissheit, entsteht Beruhigung, ja Zukunftslust: Auf diese Liebe ist Verlass. Aber worauf verlässt sich die Liebe? Markus Werner berichtet vom Lachhaften unserer Existenz in einer Weise, dass wir tatsächlich lachen müssen. Und mit genauem Gefühl, behutsam und klug, erzählt er auch dort, wo uns das Lachen vergeht.

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Markus Werner

Kalte Schulter

Roman

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Inhalt

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1

Während Wank feststellte, wie lang und fremdartig seine Zehennägel waren, blähten manche Frauen im Freibad die Brüste. Laut Judith war das nicht möglich, aber wenn es möglich wäre, sagte Wank, so würden sie es tun.

Überall schrien Katzen. Abends, kaum hatte Wank Licht gemacht, umkreisten ihn Falter. Wie kann ein Rasen plötzlich das selige Grün junger Reisfelder annehmen? Ich stutze, sagte Wank und schaute auf das Gewölk, das steif im Westhimmel lag.

Später nahm er Judiths Kopf und drehte ihn wie ein Teleskop, bis sie den Mond vor Augen hatte. Sie verstand falsch, sie schmiegte ihr Gesäß an Wank. Da er den Druck nicht erwiderte, setzte sie sich und blätterte weiter in einer Broschüre mit dem Titel »Leckeres vom Grill«. Der Mond sah zwar aus wie ein Mumienschädel, aber der Grillrausch schlug alle mit Blindheit.

Nächtelang lärmte dieselbe Nachbarschaft, die sonst mit Besenstielen klopfte, wenn Wank nach zehn Uhr noch Musik hörte. Nun sangen die Herrschaften selbst, und wer so singt, der hängt mich auf, sobald er darf. Statt dessen war Wank – mit Fräulein – zu einer solchen Party eingeladen worden, vielleicht hatte man doch ein schlechtes Gewissen und wollte ihn auf bequeme Art gewinnen. Wank hatte zugesagt, hatte Judith, die sich sträubte, überredet; der Anlaß fand statt. Von der ersten Minute an hatte Wank so getrunken, daß er für Verbrüderungen nicht nur empfänglich wurde, sondern sie nach kurzer Zeit selbst anregte und vollzog. Nichts war am Morgen ungeschehen zu machen, am wenigsten die Gegeneinladung, die Wank, wie Judith gern bezeugte, beim Abschied mehrfach ausgesprochen hatte.

Ich hab’s, Lammkotelett auf Burgfrauenart, hörst du? – Ja, sagte Wank, sehr knusprig. – Manchmal gefällt es mir, wenn du so bist, jetzt stört es mich, du schwebst, ich plane. – Ich kann auch selber planen, sagte Wank und gähnte taktlos. – Und Müllers und Schnorfs: wie fütterst du die nächsten Samstag? – Mit vergifteten Mandarinen, sagte er. Auf Burgfrauenart? fragte Judith. Er küßte sie dankbar.

Ob er bedrückt sei? Einerseits, antwortete Wank, lähme ihn der fette Sommer, andrerseits sei er so wachsam wie noch nie, er traue keinem Grashalm mehr, und die Tatsache, daß er seit Wochen nicht mehr male, habe nicht das geringste mit dem Schweißdrüsenabszeß in seiner Achselhöhle zu tun, auf den er sich immer berufen habe. Eigentlich bedrückt bin ich nicht, das Gefühl ist tierischer, aber du denkst sicher, daß ich mich aufspiele, vielleicht hast du recht. – Was ich denke, sagte Judith, ist selten das, was du glaubst. – Was denkst du denn? – Daß du halt leidest. – So, ich leide! rief Wank höhnisch. Judith stand sofort auf, und sofort versuchte er zu erklären, daß sein Hohn sich nicht auf ihre Aussage bezogen habe, sondern.

Sondern? – Judith ging. Wank hustete lange.

Streitereien, die nach Stunden einen erkünstelten Ausklang im Bett fanden und dann in flackrigen Träumen sich doch als nicht beigelegt erwiesen, waren selten. Besser, man ging rasch auseinander und versöhnte sich telefonisch. Aber heute erschien ihm dieser Brauch plötzlich schal. Obwohl er sich gerade heute besonders schämte und die Schroffheit, mit der er auf Judiths Einfühlungsversuch reagiert hatte, unvertretbar fand, stand er jetzt störrisch vor dem Telefonapparat. Wie um den Automatismus in Gang zu bringen und ihn gleichzeitig zu durchkreuzen, hob er den Hörer ab und wählte Mayas Nummer.

Sie sei nun, sagte Maya, als sie eine halbe Stunde später auf Wanks Sofa saß, bei Schutzfaktor zwei angelangt und an die Hautkrebsgeschichten glaube sie nicht so recht, ob Wank nicht auch finde, daß neuerdings alles für schädlich erklärt werde, sogar der Randensalat? – Fest steht, sagte Wank, daß Sonnenbaden scharf macht. – Maya gab ihm ein Böxlein auf den Oberschenkel, er zündete eine Kerze an und schenkte nach. Sie hielt das Glas mit abgespreiztem kleinem Finger. War das Vorschrift? Stand es in einem Buch über Körpersprache? Wank fragte nach ihren Musikwünschen. Hast du den Bolero? – Logisch, sagte Wank vergnügt. Aber beim Finale erst, obwohl sie ihre Brille schon vorher abgelegt hatte, berührte er Maya. Sie sagte nein, und Wank war gekränkt und erleichtert. Er hatte doch nur einer sommernächtlichen Mechanik gehorcht, deren Ticktack er haßte. Daß Maya tick gemacht hatte, hätte er schwören können, umso verwirrender war ihr Verzicht auf sein Tack. Aber deswegen war er noch lange nicht trostbedürftig, wurde es erst, als sie sagte: Du, ich finde dich interessant. – Wirklich? sagte er und betonte das Wort so falsch, daß Maya, in der Annahme, er fühle sich geschmeichelt, den Satz wiederholte, den Wank, seit er gegen die Vierzig ging, häufiger zu hören bekam und immer als Todesurteil empfand. Ja wirklich, sagte sie, aber weißt du, bei mir ist das nicht gekoppelt mit Bett und so, eigentlich eher im Gegenteil. – Wank schaute sie an. Er hatte sie vor Jahren einmal gezeichnet und seither, obwohl er sie ab und zu traf, nicht mehr wahrgenommen. Ein Huhn mit bösen roten Augen möchte ich jetzt sehen, dachte er, aber Mayas Gesicht war gut. Was hast du? fragte sie. Nichts, sagte Wank, ich verstehe nichts. – Sie streichelte seinen Arm. Verstehst du das? – Nein, sagte er. Und das? fragte sie und drückte seine Hände an ihre Seidenbluse. Das noch weniger, sagte er und stand auf. Spinner, sagte sie weich. Katzenzeug! rief Wank.

Triebhaft aß er, als sie gegangen war, eine Büchse Sardinen. Er drehte das Radio auf, drehte es ab und rief Judith an. Ich habe ein paar Sardinen verzehrt, hast du mich lieb? – Traurig bin ich, sagte Judith. Warum denn? fragte er munter und schuldbewußt. Ich möchte nicht unbedingt eine allzeitbereite Frau sein, ich habe lange auf deinen Anruf gewartet und mich dafür geschämt. – Maya war da, sagte Wank. So? Einfach so? – Einfach so, aber sie ist mir zu braun. – Tröstlich, sagte Judith. – Und sie sieht immer mehr wie ein Huhn aus, ergänzte Wank. Gackert sie? fragte Judith. Nicht unbedingt, sagte er, aber sie hat ein ziemliches Überbein. – Moritz, ich höre durchs Telefon, daß du lügst, hast du mit ihr geschlafen? – Es wäre möglich gewesen. – Und jetzt bist du wahnsinnig stolz, weil du es nicht getan hast? – So also, dachte er, belohnt sie meine Treue. Ich habe gelogen, log Wank nach einer Pause, es ist leider passiert. – Ich hab es gespürt, sagte Judith.

Begrüßenswert schien ihm alles, was die Selbstverständlichkeit einer Zuneigung vorübergehend aufhob; andrerseits empfand er die Verrenkungen, die man von einem modernen Paar zwar nicht erwartete, aber gewohnt war, als närrisch. Schon das Wort »Beziehungsprobleme« bewog ihn dazu, keine zu haben, und wichtig war jetzt der Falter, der um die Glühbirne kreiste, trudelnd stürzte und vibrierend auf der Tischplatte liegen blieb. Gern hätte Wank gewußt, ob in diesem Wesen – es schimmerte – etwas vorging, etwas Nachvollziehbares, oder ob er sich abzufinden hatte mit einer sinnlos zuckenden Andersartigkeit. Nur sekundenlang dauerte Wanks Wunsch, den Falter zu malen: Was wäre der rotgoldene Seidenglanz auf der Leinwand mehr als die Verdoppelung des Unzugänglichen?

Das Leben sei ein Würfelspiel, summte der Balkon nebenan, und bevor Wank sich gestört fühlte, hatte er das Bedürfnis zu reklamieren. Er schloß nur das Fenster, nahm eine Zeitung und schlug zwei Fliegen tot. Ihre Aufgabe im Schöpfungsplan bestand so offenkundig darin, die Menschen zu belästigen, daß Wank eine Schonung immer nur für Augenblicke in Betracht zog. Ob die Pause zwischen Impuls und Tat durch eine Kindheitserinnerung erzwungen wurde oder diese erst ermöglichte, war ungewiß, jedenfalls hatte er sich als Kind oft mit der Hölle beschäftigt und dabei eine Zweigstelle für Fliegentöter nicht ausgeschlossen. Eine der Fliegen klebte an der Zeitung, und wo sich früher Schuldgefühle geregt hatten, war jetzt ein Ekel. Mit einem Zahnstocher schabte Wank die Fliege in den Aschenbecher, mit einem zweiten versuchte er, die Fleischfaser, die sich seit dem Mittagessen aufgedrängt hatte, aus dem Zwischenraum zweier Backenzähne zu entfernen. Die Spitze brach ab und blieb stecken. Am liebsten hätte er Judith unverzüglich über die wahre Qualität der sogenannten Medizinalzahnhölzer unterrichtet. Als Dentalhygienikerin mußte sie wissen, was sie ihren Patienten verkaufte. Aber erstens war Judith mit Sicherheit schon im Bett, zweitens bezog er die Hölzer gratis. Überhaupt war es im Moment nicht sinnvoll, die von Judith empfohlenen Zahnstocher zu beanstanden.

Er trank die Flasche leer, dann bereute er, Maya verjagt zu haben. Ob erst im Altersheim Ruhe einkehren würde? Wenn es nur Männer gäbe, überlegte Wank, hätten sie wahrscheinlich keinen Schwanz. Und was trügen sie? Hosen oder Röcke?

Im Bett legte er sich auf die Seite und zog die Knie so stark an, daß sie fast die Stirn berührten. Er war jetzt winzig. Seinen gekrümmten Körper empfand er als etwas Hasenhaftes. Daß er lebte, schien ihm belanglos und wunderbar.

Gegen fünf spülte Schnorf. Die Spülung weckte Wank. Er suchte die Toilette auf, spülte und wußte: auch Egloff im unteren Stock würde nun erwachen und das Nötige tun. Man hält vieles aus, man erträgt auch das andere Rauschen: eines Tages hatte sich die Randlage der städtischen Liegenschaft, in den dreißiger Jahren auf der Kuppe eines mageren Hügels erbaut, als Nachteil erwiesen, eines Tages floß am Fuß der ostwärts abfallenden Böschung anstelle des Baches Verkehr. Und angesichts der Autobahn bekam die Inschrift, die über der Haustür des Sechsfamilienblocks eingemeißelt war – DER ZEIT ZUM TROTZ – für die Bewohner einen neuen Sinn. Die meisten blieben. Jahre später wurde ihre Standhaftigkeit mit der Dreifachverglasung aller Fenster belohnt. Wank öffnete eines. Es tagte. Die Vögel pfiffen stark und rein. Büsche funkelten. Der Himmel war kobaltblau, und er blendete Wank.

2

Beim Einkaufen sah er sich unter Schwangeren. Am liebsten hätte er zu jeder gesagt: Selber schuld. – Aber sie schoben den Bauch stolz vor sich her und schnippisch an Wank vorbei. Offenbar war es normal, daß die Folge eines Vorganges, der in tiefer Heimlichkeit stattfand, plötzlich ohne Bedenken vorgezeigt wurde. Wank kaufte ein paar Konservenbüchsen und einen Kopfsalat, der im Gemüsefach seines Kühlschranks verderben würde, wenn nicht Judith sich seiner annahm. War dieser Kauf ein Ausdruck seiner Sehnsucht? Fest stand, daß Wank es ablehnte, für sich allein Salat zu rüsten. Er empfand diesen Aufwand manchmal als wichtigtuerisch, manchmal als demütigend. Immerhin kaufte er jetzt erstmals ein halbes Kilo Nektarinen. So zum Anbeißen sahen sie aus, daß er auf offener Straße eine aus der Tüte nahm und anbiß. Sie war schockierend hart und fast ohne Aroma, und sie bestätigte Wanks Urteil über Obst. Zwei Knaben mit Spielzeugpistolen eröffneten das Feuer auf die Passanten. Wank schenkte beiden eine Nektarine. Das ist die Strafe, sagte er streng, empfand aber Reue, als er in die schutzlosen Gesichter sah. Schnell ging er weiter, und da er im Sinn hatte, Sandalen zu kaufen, schaute er allen Leuten auf die Füße, bis zwei glänzend weiße Herren-Slipper vor ihm stehen blieben. Laß uns ein Bier einpfeifen, sagte Rötzel. Schleich dich, dachte Wank und sagte: Einverstanden. – Fast ein Freund war Rötzel einmal gewesen, und jetzt trug er solche Schuhe. Rötzels Fall hatte sich, nach Ansicht Wanks, in Arkadien angebahnt, wo er, Rötzel, in Begleitung eines Esels, der unter anderem seine Malutensilien trug, ein halbes Jahr lang herumgezogen war, und zwar, wie er auf einer Ansichtskarte mitgeteilt hatte, »schauend, malend und in die sinkende Sonne hineinonanierend«. Die sinkende Sonne wurde zum Hauptmotiv seiner Griechenlandbilder, die pralle Natur schien dem vormals abstrakten Rötzel allen Spielraum zu rauben, und mehr und mehr malte er nur noch, was vor seinen Augen lag. Dem Gegenständlichsten verschworen, scheute er selbst vor Eselsbildern nicht zurück und wurde nach seiner Heimkehr dafür belohnt. Der neue Stil fand Zuspruch, bald hingen seine Bilder in den Amtsräumen von Politikern, in Unternehmerbüros sowie – vielleicht zur Beruhigung der Patienten – in den Wartezimmern zahlreicher Ärzte. Folgerichtig hatte Rötzel dann seine arkadische Periode ausgedehnt, und zwar bis in die jüngste Gegenwart hinein, und jetzt hob er das Glas und sagte sanft: Prost, du. – Prost, Boris, sagte Wank, was machen die Geschäfte? – Rötzel sah ihn mit Rehaugen an und zupfte an seinem Foulard. Du tust mir unrecht, sagte er, du tust dir selber unrecht, keiner deiner Freunde kann je ein Schwein werden. – Himmel, dachte Wank, gibt es darauf eine Antwort? – Schau, fuhr Rötzel fort, ich könnte es mir leichtmachen und dich als Neidhammel bezeichnen; das bist du nicht, aber weltfremd bist du, und weltfremd ist die Art, wie du malst. – Besser weltfremd als geschäftstüchtig, sagte Wank eine Spur zu impulsiv, als daß er mit sich hätte zufrieden sein dürfen. Lieber Moritz, ich rede nicht vom Geschäft, sagte Rötzel mit Gleichmut, ich rede davon, daß du, indem du mit spekulativen Figuren und Formen und Fetzen herumfuchtelst, dich aus dieser unserer Wirklichkeit davonstiehlst, und das verstehe ich unter ›weltfremd‹. – Wank zerfotzelte einen Bier-Untersatz und schwieg. Da er sich nur überlegte, ob Rötzel vielleicht etwas Richtiges gesagt hatte und ob er, Wank, vielleicht tatsächlich malend vor der Welt kapitulierte, vergaß er, Rötzel nach dem Wirklichkeitsbezug seiner Entenweihergemälde zu fragen. Und wenn die Leute, sagte Rötzel noch, wenn die Leute das kaufen, was ihnen gefällt, so ist das ihr Recht. – Sowieso, ich mag’s dir doch gönnen, sagte Wank, und fast hätte er die Vertraulichkeit übertrieben und angefügt: Du alter Wichser. – Na also, sagte Rötzel, kippen wir noch eins, du bist natürlich eingeladen. – Wank sagte, er sei nicht bedürftig und auf der Suche nach Sandalen.

In jedem Geschäft hatte er ein wenig Angst vor dem entscheidenden Satz, fast immer studierte er ihn vorher kurz ein, um nicht als Stammler zu erscheinen. Sandalen hätt ich gern, nahm er sich vor zu sagen, und drinnen im Schuhgeschäft kam er der Verkäuferin, die auf ihn zugetreten war und ihn nach seinen Wünschen fragen wollte, sogar zuvor. Gern, sagte sie, haben Sie sich etwas Bestimmtes vorgestellt? – Darauf war Wank nicht vorbereitet. Waren Sandalen nicht einfach Sandalen? Eigentlich nicht, sagte er. – Ich zeig Ihnen, was wir haben, die Sandalen sind oben, wenn Sie mir bitte folgen wollen. – Sie stieg vor ihm eine Wendeltreppe hoch. Mußte er wegschauen, nur weil Judith neulich gefragt hatte, was er fände, wenn die Frauen die Männer plötzlich so lüstern taxieren würden wie die Männer die Frauen? Das wäre ihm widerwärtig, hatte Wank geantwortet, andrerseits dürfe sie nicht vergessen, daß in Amerika mit speziellen Apparaten nachgewiesen worden sei, daß auch die Frauen schauten, und zwar nicht, wie man bislang geglaubt habe, zuerst in die Augen der Männer, sondern Sekundenbruchteile vorher anderswohin. Aber die Verkäuferin kniete jetzt bereits vor ihm, drei Paare hatte Wank schon probiert und verworfen, und er fragte sich, ob und wofür er überhaupt Sandalen brauche. Die da wären noch währschaft, sagte sie und stellte ein viertes Paar vor ihn hin. Erst jetzt sah Wank, daß das Fräulein angeschrieben war und E. Würmli hieß. Schade, sagte er, die sind mir irgendwie unbequem. – Das liegt am Fußbett, es sind Gesundheitssandalen. – Aha, sagte Wank. – Leder, Kork und Gummi, nur Naturstoffe. – So, sagte Wank und fühlte sich unter Druck gesetzt. – Darin schwitzen Sie auch weniger. – Wank schloß aus, daß sie ihm einen Wink geben wollte, er hatte am Morgen geduscht und frische Socken angezogen. Er sagte, er habe sich eigentlich etwas Schlichteres vorgestellt, etwas mit weniger Riemchen und Schnallen, ob es das gebe? Sie holte ein weiteres Paar und kniete sich wieder vor ihn hin, er bemerkte jetzt die leichte, kaum störende Schielstellung ihrer Augen. Auch zwei oder drei mit hautfarbener Salbe bedeckte Pickel am Kinn fielen ihm auf. Sie trug ein feinmaschig gehäkeltes Sommerpullöverchen, unter dem sich ein lebloser Busen abzeichnete. Kunstleder, sagte sie, die günstigsten, die wir führen.

Unter Kastanienbäumen aß er einen Wurstsalat. Die Kellner schwitzten. Wank hörte, wie die Pommes frites, die am Nebentisch serviert wurden, knackten. Oder knisterten sie nur? Auf jeden Fall gab es Menschen, die im Hochsommer Pommes frites aßen. Wank schaute hinüber zu den zwei alten Ehepaaren. Sie machten sich nacheinander, kaum daß geschöpft war, über ihr Essen her, als fürchteten sie, daß jemand kommen und ihnen die Teller wieder absprechen könnte. Statt genügsam und gütig sind sie gierig und bös, dachte Wank. Sie werfen Blicke auf die Jungen, warten auf die nächste Mahlzeit, und ihre Ohren werden abstehend und durchsichtig, hoffentlich fällt mir rechtzeitig ein Ziegel auf den Kopf. Andrerseits würde ich gern steinalt, vielleicht sähe ich dann – trotz grünem oder grauem Star – alles einmal scharf, und Judith soll neben mir sitzen und meine Hände halten, falls sie zittern. Die Vorstellung, mit Judith zusammen alt zu werden, ängstigte Wank nicht, er empfand Zärtlichkeit dabei, und er glaubte auch, daß Judith schön bleiben würde, solange sie sich geliebt wußte und solange sie ihre langen Haare nicht abschnitt. Es war also höchste Zeit, sie anzurufen, sein Verhalten vom Vorabend zu erläutern, sich dafür zu entschuldigen und sie zu fragen, ob sie am Abend komme. Er stand auf und stellte die Einkaufstasche auf seinen Stuhl, weniger um zu verhindern, daß sich jemand an seinen Platz setzte, während er telefonierte, als um dem Kellner zu signalisieren, daß er noch zu bleiben beabsichtigte und sich nicht etwa ohne zu zahlen entfernen wollte oder gar schon entfernt hatte. Judith war nicht zu Hause. Vielleicht war sie trotz ihrer kurzen Mittagspause baden gegangen. Wank stand enttäuscht in der heißen Telefonzelle des Restaurants. Die Tür hatte er einen Spalt weit offengelassen, er hörte die Geräusche aus der Küche. Brutal und ungeduldig schnitt jemand Brot.

Auf dem Weg zum Parkplatz trat Wank in eine Drogerie, um einen Fettstift für seine spröden Lippen zu kaufen. Die Drogistin wirkte puppenhaft, ihr Gesicht sah aus wie retuschiert. Wank bemerkte, wie perfekt Lidschatten, Lidstrich und Wimpernschminke aufeinander abgestimmt waren, sah aber auch, daß das intensive Augen-Make-up in einem fragwürdigen Gleichgewicht mit den ebenfalls sehr stark betonten Lippen stand. Harmonie, das wußte er aus eigener Erfahrung, setzte Differenz voraus, und wo zwei Elemente gleich aufdringlich in Erscheinung traten, entstand statt Ausgleich Kampf. Klar, daß ein Gesicht, in dem Augenpartie und Mundpartie sich konkurrenzierten, ein wenig Unruhe und Schrillheit ausstrahlte, im übrigen bediente ihn die Frau so freundlich, daß er den Mut hatte, sie zu fragen, ob er sie etwas fragen dürfe. Naturröte schob sich neben das Rouge, das wie hingehaucht auf ihren Wangen lag. Sie sagte: Selbstverständlich. – Wank zeigte auf den gekauften Stift und sagte, er habe irgendwo gelesen, daß solche Lippenpomaden aus Tierkadavern hergestellt würden, ob das zutreffe? Die Drogistin errötete wieder. Das glaube ich nicht, sagte sie, das habe ich noch nie gehört, aber ich kann gern den Chef fragen. – Wank sagte, es sei nicht so wichtig, aber wenn es ihr nichts ausmache: gern. Sie verschwand hinter einem Türvorhang, er hörte Gemurmel, sie kam lächelnd zurück und sagte: Also, Hauptbestandteil dieser Lippenstifte ist Lanolin. – So, sagte er, Lanolin. – Ja, sagte sie. Wank zögerte, fragte dann aber doch: Ist das eine Natursubstanz? – Sie sagte: Im wesentlichen schon. – Was für eine denn? fragte er. Sie sagte: Soviel ich weiß, besteht es sogar aus mehreren Substanzen. – Hm, sagte er. Und eine davon, sagte sie, könnte Paraffin sein. – Paraffin? fragte er, also etwas Kerzenwachsähnliches? – Haargenau, sagte sie und atmete so abschließend aus, daß Wank verstummte.

Er betätigte den Anlasser, gleichzeitig sah er unter dem Scheibenwischer eine Botschaft. Er stieg nochmals aus. Auf dem xerokopierten Blättchen stand: Biete Ihnen lukratives, äußerst interessantes Zweiteinkommen. Rufen Sie mich an! Otto A. Dürsteler. – Das war umso interessanter, als Wank ja nicht einmal ein Ersteinkommen hatte und – abgesehen von drei bis vier Bildverkäufen pro Jahr – von Nebenbeschäftigungen leben mußte. Im Augenblick war er auf Dürsteler allerdings nicht angewiesen, im Augenblick konnte er bei Krebs & Co. Schaufensterrequisiten bemalen, und das ist mir recht! schrie er das Lenkrad an, tausendmal lieber ist mir das als dieser Hurenbetrieb! Lieber verhungern als einer Galeristin unter den smaragdgrünen Lederrock kriechen! Ohne mich! rief er immer wieder, als erwarte er ein bedauerndes Echo der Welt.

Im Lexikon stand, Lanolin bestehe aus Wollfett und – tatsächlich – aus Paraffin. Ferner aus Wasser. Das Stichwort »Paraffin« kam gleich nach dem Stichwort »Paradoxon«, welches als »etwas augenscheinlich Widerspruchsvolles, das doch einen Sinn hat«, bestimmt wurde. Unter »Paraffin« aber stand: »Farbloses Gemisch von gesättigten, höheren aliphatischen Kohlenwasserstoffen«. Dies genügte. Wank vermutete, daß er sich den Grundbestandteilen der Materie genähert hatte und daß er, wenn er das Lexikon nicht zuklappte, in atomare Zonen eindringen würde. Mit einem hohen Piepston im Ohr, der seinen Ursprung in ihm selbst haben mußte, legte sich Wank aufs Sofa.

Zwölf Schwäne, je vier in drei Reihen, werden im Wüstensand eingegraben. Die Köpfe bleiben frei und schauen himmelwärts. Drei Männer, jeder zuständig für eine Reihe, stülpen über die Schwanenköpfe Kapuzen aus Fuchsfell. Der Meister gibt Erläuterungen zuhanden des lautlosen Publikums. Fast im Takt gehen die Männer von rechts nach links durch ihre Reihe und schlagen mit langstieligen Beilen die Köpfe der Tiere ab. Was sagst du dazu? – Nichts, sagte Kurt, ich hasse Träume, und in Romanen überhüpfe ich sie. Im übrigen habe ich Sorgen. – Wank war ein wenig verstimmt. Mehrmals hatte Kurt, da die Klingel nicht funktionierte, an die Wohnungstür gepocht, ja geschlagen, und ihn aus seinem allerdings unerquicklichen Mittagsschlummer gerissen, und jetzt war er nicht einmal bereit, auf seinen Traum einzugehen. Weißt du, was ich seit heute morgen weiß? fragte Kurt, wartete aber Wanks Nein nicht ab und rief: Mit dem Geld, das ich verdiene, bezahle ich den Kerl, mit dem sie schläft! – Wer? Silvia? – Ja, Silvia, und vor einer Woche, als ich sie spaßeshalber fragte, ob sie mit diesem Zander – so heißt ihr Joga-Lehrer – eigentlich etwas habe, sagte sie wörtlich: Mach dich nicht lächerlich, ich und der