Festland - Markus Werner - E-Book

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Markus Werner

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Beschreibung

»Das Dokument einer Irritation. Ein kleines Juwel von kaum 150 Seiten Länge, eine Lebensmelodie ohne einen falschen Ton.« (Lutz Hagestedt im "Rheinischen Merkur") »Uns trennten Welten und doch nur fünfzehn Tramminuten.« Sie leben in Zürich, doch Vater und Tochter haben keinen Kontakt. Erst als sich beide an einem Wendepunkt befinden, gehen sie aufeinander zu: der »Bürobiedermann« Kaspar Steinbach und die nichtehelich geborene Julia. Was sie mit ihrem fremden Vater erlebt und von ihm zu hören bekommt - unter anderem die Geschichte ihrer Entstehung -, ist für die junge Frau so abenteuerlich und verwirrend, dass sie es aufschreiben muss ...

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Markus Werner

Festland

Roman

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Inhalt

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1

Fort, aber wohin. Hierhin natürlich, in die Arme eines entschiedenen Frühlings. Durchwärmt, wie ich bin, schaue ich staunend zurück, und je höher die Sonne steigt, desto ungläubiger werden die Augen – so wie jene des Wanderers, der über dem Nebel steht, in dem er eben ging. Ich atme, ich atme aus.

 

Mitte März, nach einem übertrieben zahmen Winter, wurde es eisig. Man fror. Man bedauerte sich und die Knospen und hatte ein Thema. Oder hätte eines gehabt, wäre man unter die Menschen gegangen und nicht versiegelt gewesen. Wenn es schon schwerfiel, morgens die Vorhänge zu öffnen, wie undenkbar war dann ein Händedruck, gar ein Gespräch. Meistens lag ich. Und während ich sonst, um zum Telefon zu eilen, sogar das Bad verließ, gelang es mir jetzt wegzuhören, und das Geräusch des von der Stuhllehne gleitenden und auf den Teppich fallenden Pullovers erschreckte mich mehr. Aber daß Josef seit Wochen aufsässig war und für meinen Wunsch nach Absonderung kein Verständnis hatte, nur einen Fachbegriff – dies überschwemmte mich mit Unmut. Ich mußte fort. Ich mußte aktiv werden, um passiv sein zu können. Falls Josef meinte, mein reduzierter Biotonus – so seine Diagnose – verwandle mich in eine Puppe, die er bequem umhalsen konnte, dann irrte er. Ich habe immer, von meiner Schwäche für weiße Schokolade abgesehen, einen starken Willen gehabt, in der Sprache der Männer einen Kopf aus Granit, und so erschöpft, daß ich mein Verlangen nach Ruhe und Rückzug nicht hätte durchsetzen können, wenn nötig durch Flucht, war ich nun auch wieder nicht. Allerdings, gleich nach der Prüfungsfeier in der Aula hatten mich alle Kräfte verlassen, ich war auf Josef angewiesen und auf den Handlauf des Treppengeländers, um meine Wohnung zu erreichen, wo ich zusammenfiel und mich als zuckendes Nervenbündel durch Nächte und Tage heulte. – Aber seither war fast ein Monat vergangen, ein dumpfer, schlafreicher Monat; der Körper folgte mir jetzt wieder, wenn auch bedächtig, da er nur zögernde Befehle hörte. Es ging besser, und wäre es gelungen, mich zu entriegeln und meine Menschenfurcht zu überwinden, ich hätte mich als fast schon wiederhergestellt empfinden dürfen.

Ich stand am offenen Fenster. Eisluft, gelassen fallender Schnee. Fort, aber wohin, sagte ich laut. Es dunkelte. Erfolgreich hatte ich mein Studium beendet, jetzt beugte ich mich aus dem Fenster und begriff jeden Freitod. Ich füllte die Bettflasche, drückte sie an die Brust und ging mit wiegenden Schrittchen umher.

Kurz nach elf, ich lag noch wach, lärmte das Telefon wieder. Wirklich, ich hatte einen schmerzhaft unsensiblen Freund. Sekundenschnell wuchsen mir Stacheln, ich sprang auf, nahm ab und schrie: Ich kann nicht mehr! – Am anderen Ende ein Räuspern. Josef? Josef hätte gelacht oder Hoppla gerufen. – Ich auch nicht, sagte eine sanfte Stimme, bist du es, Julia? – Wann hatte ich die Stimme das letzte Mal gehört, vor wieviel Jahren? Ja, sagte ich, entschuldige, was ist passiert? – Ich weiß es nicht, sagte mein Vater, ich möchte dich sehen, es wäre wertvoll. – Ich schwieg. Nie war mir uneinheitlicher zumute, und trotzdem hörte ich mich schließlich sagen, zu schroff vielleicht: Ich bin am Verreisen. – So, sagte der Vater, ich eigentlich auch, und wohin geht die Reise? – Wahrscheinlich südwärts, sagte ich, und deine? – Mein Vater hustete und sagte dann: Wahrscheinlich weg vom Festland. – Das tönt nach Kreuzfahrt, sagte ich. – Wirklich? fragte mein Vater. Wir schwiegen, ich war ratlos. Endlich sagte der Vater: Ach Julia. – Sofort erkaltete ich. Hinter Gefühligkeit, vor allem der männlichen, konnte ich immer nur Alkohol wittern, Selbstmitleid und letztlich Erpressung. Hast du ein wenig getrunken? fragte ich, und da ich mir Mühe gab, die Frage in einem belustigten und gleichsam großmütigen Ton zu stellen, kam ich mir heuchlerisch vor. – Es steht dir frei, mich zu verachten, sagte mein Vater, es steht dir vielleicht zu, außerdem trinke ich Tee. – Wann soll ich kommen? fragte ich. Der Vater, als befürchte er, daß ich mich umbesinnen könnte, wenn er sich für die Antwort auch nur zwei Augenblicke Zeit ließ, sagte rasch: Am liebsten bald, morgen, morgen mittag? – Übrigens sei er umgezogen, vor einem Jahr, und wohne jetzt auch in der Stadt. Er nannte die Adresse. Uns trennten Welten und doch nur fünfzehn Tramminuten. Daß jedes Haus eine Hausnummer habe, sagte der Vater noch, finde er irgendwie rührend. Mir war sehr bang.

2

Der Ort heißt wunderlicherweise Orta. Einer mit Augen habe ihn einst, sagt mein Vater, ein Aquarell Gottes genannt. Aber, hat Vater gesagt und mir den Schlüssel förmlich aufgedrängt, ich fahre nicht mehr hin, ich möchte mich nicht mehr bewegen, und hätte ich Jünger – hier ist die leise Stimme des Vaters lauter geworden – , sie schwärmten nicht aus, sie säßen und ruhten beispielhaft. Trotzdem, so weiter mein Vater, Orta wird dir gemäß sein, lüfte und belebe die Wohnung, und wenn du sie von meinen Spuren säubern willst, tu es, sie ist dein Eigen, du schaust als Erbin aus dem Fenster, hinab auf die Piazza oder hinaus auf den See und die ovale Insel. Den Sacro Monte siehst du nicht, aber du darfst ihn im Rücken wissen, und suchst du ihn auf – der Weg zweigt bei der Kirche ab – , kannst du, wie ich es immer getan habe, an irgendeiner Stelle des Weges stehenbleiben, verschnaufen und jenes Menschen gedenken, der von sich sagte, er sei kein Mensch, er sei Dynamit, und der, zu einer Zeit, als er noch Mensch war, auf eben diesem Weg um die Liebe einer blutjungen Frau warb, vergeblich allerdings trotz seiner unerhörten Geistesgaben und trotz des artigen Satzes: »Monte Sacro – den entzückendsten Traum meines Lebens danke ich Ihnen.«

Vorgestern angekommen, heute den Weg gegangen, Fuß vor Fuß auf die eingemörtelten, rundlichen, kinderfaust- bis männerfaustgroßen Natursteine setzend, die in der Morgensonne nicht speckig, sondern seidig glänzten, ja, wie auf Perlen bin ich gegangen, auf weißen, hellbraunen, dunkelgrauen, und über die hangseitige Umfassungsmauer züngelt manchmal ein Feuerbusch, und in die seeseitige Umfassungsmauer ist manchmal ein Gittertor eingelassen, durch dessen rostige Stäbe man den See und die Hügelzüge des Westufers sehen könnte, wenn sich der Blick nicht verfinge im fülligen Blust der Magnolienbäume und in den Riesenhochzeitssträußen der Kamelien. Und daheim, daheim? vor kurzem noch Schnee. Und jetzt das, und jetzt, auf dem letzten und schnurgerade ansteigenden Wegstück zwischen Friedhof und Eingangstor zum Heiligen Berg: die Allee der unzaghaft grünenden Hagebuchen. Und im Kopf nicht die Geistesgröße, sondern der Vater und die Stunden mit ihm und alles Vernommene.

 

Der große Unbekannte war er nie für mich, immer der kleine Unbekannte, der Typ, wie ihn meine Großmutter nannte, der Bürobub, wie ihn mein Großvater nannte – wenn sie überhaupt über ihn sprachen und meine Fragen nicht einfach überhörten oder mit wirrem Nuscheln quittierten. So wurden die Fragen seltener, das Vaterbild formte sich nach dem Bild, das mir die Zieheltern malten, und da ich den Vater seit meinem fünften Lebensjahr fast nie mehr sah, ließ es sich kaum revidieren. Es blieb beim Bürobiedermann, mit dem man Worte wie ›blutleer‹ und ›schäbig‹ und ›viertelsgebildet‹ verband. – Zu meiner Konfirmation war er nicht eingeladen, stand aber nach der Feier vor der Kirche, kam rasch auf mich zu, umarmte mich rasch und verschwand. Die Verwandtschaft gab sich, wie es in nobleren Kreisen Brauch ist, wortarm pikiert, mir aber schwindelte vor Not. Seither sah ich ihn nicht mehr. Er gratulierte mir schriftlich zu meiner Matura und legte tausend Franken bei; mit einem spröden Satz auf einer Karte dankte ich. Manchmal noch, in der Anfangszeit des Studiums – ich hatte jetzt eine eigene Wohnung – rief er mich an, er nahm beflissen Anteil, es waren stockende, verkrampfte Dialoge, die es mir unmöglich machten, endlich nach meiner Entstehung zu fragen, die mich mit zunehmendem Alter mehr interessierte und über die meine Großeltern immer geschwiegen hatten, sei es, weil sie tatsächlich nichts Näheres wußten, sei es, weil das, was sie wußten, in ihren Augen weder mir noch der Ehre des Hauses förderlich war. Dann blieben die seltenen Anrufe aus, und ich vermißte sie eigentlich nicht, sie hatten mich immer verdunkelt.

Bis dann, anfangs der letzten Woche, die Stimme wieder da war. Daß ich dem Ruf trotz meiner verminderten Zugänglichkeit folgte, grundlos, wie unter Zwang – Liebe, Fürsorge, Mitleid kamen als Gründe nicht in Betracht – , verwunderte mich selbst. Und gegen vier Uhr mittags stand ich vor seiner Wohnungstür, das Zittern ließ sich auf die Kälte zurückführen, die weichen Knie weniger, ich läutete. Er öffnete. Ich hatte ihn kleiner in Erinnerung. Er trug einen Bademantel, Frottee, schwarz. Ich gab ihm die Hand mit gestrecktem Arm. – Gott, sagte er, wie gleichst du der Mutter. Er nahm mir den Mantel ab. – Bist du krank? fragte ich. – Gewesen, sagte er. Ich schaute auf seine Pantoffeln. Fehlt noch die Schlafmütze, dachte ich. Doch seine Haltung war aufrecht, sein Gang, er ging vor mir her in die Stube, keineswegs schlurfend und kraftlos, aber auch nicht dynamisch, eher gemessen, und zwar auf stimmige Art, so daß ich die Schlafmütze sofort zurücknahm. Er wirkte auch nicht kränklich oder krank, nur irgendwie verlangsamt.

Die Stube karg. Ein Tisch, vier Stühle, Sofa, Tannenschrank, alles erfreulich unscheinbar. Weder Polstergruppe noch Kuckucksuhr, dafür, zu meinem Erstaunen, ein volles Bücherregal. Was mir zuerst ins Auge sprang: auf dem Boden neben dem Sofa das zerknüllte Papiertaschentuch, auf dem etwas lag, das mich erstarren ließ, das aber auf den dritten Blick als vertrockneter Teebeutel kenntlich wurde.

Wir setzten uns, wir saßen uns gegenüber am Tisch. Daß dieser angegraute Fünfziger im Morgenrock mein Vater war, daß ich dem Samen dieses Fremdlings die Existenz verdankte – es überstieg meine Vorstellungskraft, es verband sich mit keinem Gefühl. Wir schwiegen. Anderthalb Jahre lang hatte ich mich mit linguistischer Gesprächsforschung befaßt und eine Lizentiatsarbeit über Dialogstrukturen der Alltagssprache geschrieben. Nun schwiegen wir, und diese Null-Äußerung dauerte an, bis endlich der Vater das Eröffnungssignal gab, indem er fragte, ob mich sein Schlafrock störe. Nicht übermäßig, sagte ich. – Er paßt zu meinem Gnadenstand, sagte der Vater. – Wie bitte? fragte ich. – Er paßt zu meinem Gnadenstand, sagte der Vater. Ich fragte ihn, ob er mit diesem Wort seinen krankheitsbedingten Urlaub meine. Er sei weder krank, noch habe er Urlaub, sagte der Vater. – Du bist nicht etwa arbeitslos? fragte ich. – Behüt mich, sagte er, ich war für die Firma noch gestern in Wien. – Für die Firma? Ich dachte, du seiest Staatsangestellter? – Schon lange nicht mehr, sagte er, ich bin ein bißchen aufgestiegen, in die Privatwirtschaft, ich unterstütze als Sekretär oder Sachbearbeiter den Rechtskonsulenten einer namhaften Firma. – Tönt gut, sagte ich, obwohl es mir nicht imponierte. – Ja, sagte er, so war das. – Ich stutzte. Ich versuchte ihm in die Augen zu schauen, sie wichen aus, nein, sie wichen nicht aus, sie schauten nur anderswohin, und ihr Ausdruck war schwer zu lesen. Du, sagte ich – die Anrede Vater hätte mir Mühe gemacht – , du, fragte ich, was ist geschehen? – Eigentlich wenig, sagte er, schien aber doch auf die Frage gewartet zu haben.

3

Nach Abschluß der Gespräche in Wien, die ich in Stellvertretung des Rechtskonsulenten führte und in denen es um die Bereinigung einer Vertragsarbeit ging, blieben mir noch zwei Stunden bis zur Abfahrt des Zuges. Ich gab den Aktenkoffer in die Obhut der Hotelrezeption und flanierte, die Hände in den Wintermanteltaschen, durch die Kärntner Straße. Da sah ich auf der anderen Straßenseite einen merkwürdig hinkenden Hund sich nähern, er war klein und grau. Als wir auf gleicher Höhe waren, blieb ich einen Augenblick stehen. Dem Hund fehlte das linke Hinterbein, und er blieb ebenfalls einen Augenblick stehen, bevor er die Straße überquerte und mich, als hätte er das Verlorene wiedergefunden, wedelnd beschnupperte. Einerseits war ich beinahe gerührt, andrerseits wollte ich nicht als Herr dieses struppigen Krüppels gelten, auch störten wir den Fluß der Passanten. Ich ging also weiter, ohne ihm ein Zeichen der Zuneigung gegeben zu haben, allein, er hinkte mir nach. Durch schnelleres Gehen, Nichtbeachtung und mehrmaliges Wechseln der Straßenseite versuchte ich ihn abzuschütteln. Schließlich trat ich in ein Uhrengeschäft, nicht wegen des Hundes, sondern weil ich in der Auslage die Uhr gesehen hatte, die mir, seit sie auf dem Markt war, als Wunschuhr erschien, denn in ihrem Lederarmband befindet sich eine Antenne, die von der Technischen Bundesanstalt in Braunschweig regelmäßig einen Zeitimpuls empfängt, so daß die Abweichung von der gültigen Zeit maximal eine Sekunde in einer Million Jahren beträgt. Obwohl mich diese Uhr, wie gesagt, schon seit längerem fesselte, war ihr Kauf doch eher ein Spontankauf, und ich verließ das Geschäft mit dem mehr zweifelnden als seligen Gefühl, das einem Spontankauf zu folgen pflegt. Winselnd hieß mich das Hündlein willkommen. Jetzt versuchte ich es mit Hilfe der Sprache zu verjagen, indem ich Hau ab zu ihm sagte, was ebenso unwirksam war wie das in Wien vielleicht verständlichere Schleichdich. Das Tier begleitete mich zum Hotel zurück, machte indessen keine Anstalten, in die Empfangshalle einzudringen, es setzte sich vor die gläserne Eingangstür. Ich behändigte den Aktenkoffer und bat den Portier, ein Taxi zu rufen. Als ich es vorfahren sah, ging ich hinaus. Der Hund erhob sich. Der Fahrer lehnte sich aus dem Fenster und kämmte sich vor dem Rückspiegel. Ich öffnete die Beifahrertür und merkte gleichzeitig, daß der Hund nach dem Saum meines Mantels schnappte. Aber ich konnte einsteigen, die Tür zuschlagen und herrischer als nötig sagen: Zum Westbahnhof.

Den Vorfall erheiternd zu finden, gelang mir nicht, das Geplauder des Taxifahrers war eine Pein, und für meine Empfindungen hatte ich kein Verständnis und eigentlich auch keinen Namen. Im Zug, ich hatte ein Abteil für mich allein, blätterte ich ohne Sammlung im Entwurf einer Dokumentation, der ich in den Stunden der Heimfahrt definitive Gestalt geben wollte. Die Wendung umweltrelevante Eckdaten, auf die ich bei der Abfassung so stolz gewesen war, wirkte jetzt eiszapfenhaft. Ich legte die Dokumentation weg und betrachtete eine Weile lang die Wege meiner Handlinien, dann meine neue Funk-Solar-Uhr. Du wirst es nicht glauben, aber die Uhr hat mich stürmisch beelendet. In Langen am Arlberg, um 17.59 Uhr, eilte FRANZ SCHUBERT, in dem ich saß, an der wartenden MARIA THERESIA vorbei, er fuhr dorthin, woher sie kam, sie fuhr dorthin, woher er kam, und das ewige Hin und Her schien mir auf einmal so irr, daß ich im Sitzen einnickte und nach flackrigen Träumen erst wieder vor der Grenze erwachte, geweckt vom Dröhnen des Paßbeamten. Von da an verließ mich die Müdigkeit nicht mehr. Aber es war eine fremdartige Müdigkeit, nicht jene, die ich als Folge strenger Arbeit kannte, nicht jene, die zum Gähnen nötigt und die Muskeln erschlaffen läßt. Es war, es ist eine Art Benommenheit oder Versonnenheit.

In Zürich, kaum war ich aus dem Zug gestiegen, hörte ich einen Vogel überlaut zwitschern. Ich ging dem Bahnsteig entlang, das Zwitschern blieb – gewiß gibt es Vögel in Bahnhöfen, aber nachts um halb elf? – , und in der Haupthalle blieb ich stehen und schaute hinauf zur Kuppel, das Zwitschern wurde noch lauter, niemand schien es zu hören, also war ich verrückt, da überholte mich eine Frau, eine Schwarze, sie zog ihren Koffer auf Rädern, und diese Räder, tatsächlich, und ich war also nicht verrückt. Und dann, so gegen elf, bin ich nach Hause gekommen und habe grundlos dich angerufen und nachher geduscht, weil ich in schweißigem Zustand war, dann ist mir eine wache und beseelte Nacht beschert gewesen, um acht Uhr morgens habe ich mich abgemeldet bei der Firma und bin ins Bett gegangen, das ist alles.

 

So ungefähr, doch sinngemäß der Vater, und leise und langsam. Und wie zu sich selbst: ohne Bewegung der Hände, ohne mich mit den Augen zu suchen, ich kam mir vor wie ein Diktiergerät. Und da er auch nach Ende seiner Äußerungen – sie wirkten kontrollierter und kompakter als die der folgenden Tage – nicht zu erkennen gab, ob er ein Echo oder einen Kommentar erwartete, war ich vollkommen ratlos. Und wäre es auch gewesen, wenn mich ein Blick ermuntert hätte. Vater saß da, aufrecht, abwesend, strich sich über sein dünn gewordenes Haar und schwieg. – Du hast dich also krank gemeldet? fragte ich. – Sozusagen, sagte der Vater. – Aber du fühlst dich gesund? – Ich bin gesund, sagte er, sehr sogar, verglichen mit der Brut. – Brut? fragte ich, meinst du die Leute in der Firma? – Ich meine die Betriebs-Brut, die allgemeine, sagte er. Ich fragte, ob er vielleicht und irgendwie das Gefühl habe, an einem toten Punkt zu sein. Im Gegenteil, sagte er, sah mir zum ersten