Froschnacht - Markus Werner - E-Book

Froschnacht E-Book

Markus Werner

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Beschreibung

Der Frosch kommt einmal monatlich, bleibt für drei Tage und geht. Der, dem er im Hals sitzt, heißt Franz Thalmann: einst Pfarrer und verheiratet, nun aber und seit Jahren schon Lebensberater und geschieden. Zum Glück, denn beides ist ihm recht. Wenn da nicht eben jener Frosch wäre, und der heißt Thalmann Klemens und war sein Vater. Vor einem halben Jahr haben sie ihn begraben, was sie aber nicht begraben konnten, das ist das Ungeklärte, Unerlöste, das Unbesprochene zwischen Sohn und Vater. Da hilft dem Sohn nur, ihn zum Reden zu bringen, ihn, den Vater-Frosch, der sich nun von der Seele redet, was er dachte von der Welt. Und weil er sich verteidigen zu müssen glaubt, tut Franz, der Sohn, ein gleiches. In schöner Wechselrede sinnieren die beiden vor sich hin, mit Trauer und Wut, mit Scharfsinn und einem überrumpelnden Witz, der die Anfeindungen des Lebens entwaffnet.

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Markus Werner

Froschnacht

Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

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1

Einmal im Monat kommt er, nistet sich ein, bleibt drei Tage. Im Hals, wo sonst. Gurgle! raten Ahnungslose. Längst versucht, längst alles versucht. Er bleibt drei Tage.

Dreckfrosch.

Arg die dritte Nacht. Der weiß, daß es bald aus ist. Dehnt sich, schmarotzt mir Luft und Schlaf weg. Man muß zur Flasche greifen, sitzt, trinkt und würgt und brütet: Ich hab die schönsten Frauen aus brennenden Trümmern gerettet, schon manchem Lump ins Bein geschossen, zuweilen lieg ich im Spital, so weiß, so tapfer, vorbildlich ist mein Sterben, ein Fräulein war ich auch schon, alle elf Männer gar bald durchschaut und abgewehrt, ein Pack.

 

Ich kritzle und sinniere vor mich hin, wie ich’s gelernt hab in vielen Kursen zu Zürich, zu Köln und zu Boston. Keine Kontrolle, wenig Kontrolle, laßt laufen, verströmt euch. Und in mir das Fröschchen, neben und mit mir der rote Genosse, vor mir Papier, wehe.

 

Thalmann mein Name, Franz Thalmann, geschieden im zehnten Jahr. Salü Franz, hast auch eine Vorgeschichte? Hab eine lange Vorgeschichte, geht weit zurück, doch davon vielleicht später. Bin jetzt wahrhaftig neunundvierzig, und aus dem Gleis gebracht hat mich ein Wohlgeruch, doch davon später.

Neunundvierzig. Spannkraft läßt nach, stülpst dich kaum noch um, hin die Seligkeit. Thalmann. Saufbruder, abverreckter Pfaff, Lebensberater seither, verflucht erfolgreich. An Froschtagen geschlossen, sonst aber quillt die Praxis über.

Beiläufig hier mein Ansatz. Kalte Füße sind sehr widerwärtig, und Fußschweiß ist es auch. Fast traue ich mir zu, damit ein Existenzproblem wenn nicht gelöst, so doch skizziert zu haben.

Vater ist tot, hat mich verdammt und hat mich ausgelöscht in sich. Mit seinen Kühen sprach er über alles, nicht über Franz, nicht über Franzens große Sünde. Sein Stolz war ich und später seine Schande. Ein Pfarrer, handkehrum ein geiler Weiberschnüffler, der blindlings Frau und Kind verläßt. Zuviel, zuviel für Klemens Thalmann selig.

 

Zum Leib: Einseinundachtzig, hager. Rotblond einst, nun galoppierend gräulich, Antlitz zum Seufzen und volloval, Brille freilich, darunter schlammgrüne Augen. Ohren klein und scharf. Nase? Knollig.

 

Wer anders sein will, als er ist, der tut mir leid. Sein Wunsch ist ehrenwert, doch abgedroschen. Ich formuliere tastend eine These: Die Menschenseele mit allem Drum und Dran ist serieller Kitsch. Das Innerste erwirbt sich jeder von der Stange. Nichts von Mysterium, nur Schmalz.

 

Mit violetten Fingernägeln kommen sie zu mir, mit originellen Kaiser-Wilhelm-Schnäuzen, abgrenzungswütig schwänzeln sie herum und fühlen sich weiß Gott wie einzigartig. Dann öffnen sie den Mund und husten Abziehbildchen aus. Und was sie spüren, wünschen, träumen, das macht sie grausam gleich und hundsgewöhnlich.

Das Unverwechselbare an dir ist deine Nase, die Kapriolen deines Herzens aber sind ein Gassenhauer. Belege später.

Was meine Arbeit obendrein erleichtert: Die strukturelle Schlichtheit dessen, was nun einmal »Beziehungsstörung« heißt. Auf wirklich leckerbissige Disharmonien werfe ich mich mit hundertzwanzig Puls.

Freilich Sternstunden!

Und freilich findet der Berater, sofern er nicht ein Simpel ist, auch ordinäre Konstellationen sehr komplex. Negierte er den Anspruch des Klienten auf anspruchsvolles Leiden, dann bliebe seine Praxis leer.

Ich war ein Bauernbub. Kein Baum wächst in den Himmel. Pompöse Bäuche, Köpfe, Seelen sind mir ewig fremd. Wenig ist hoch und heilig. Die Birne fällt und fault, kein Grund, sie zu verachten. Der Mensch tut mehr als scheißen, ohne Zweifel, doch scheißen tut er auch und in der Regel sogar lieber als zum Beispiel denken, und gleichwohl definiert er sich als Geisteswesen.

Man überschätzt sich selbst und alles. Und es ist klar, daß unter anderm diese Platitüde mich erst zum Theologen und später auch zum Anti-Theologen machte.

 

Empfangen in Sünden wie jedes Adamskind und geboren im vogelpfeifwarmen Februar des Jahres fünfunddreißig als zweiter Sohn des Landwirts Klemens Thalmann und seiner Gattin Gret, geborene Habisreutinger. Getauft auf den mäßigen Namen Franz und die Wanderbahn angetreten unter dem Motto: Ein Hauch nur ist alles, was Mensch heißt.

Psalm soundso.

Geschwister. Bruder Paul, farbig, gut und krumm. Anna, Lieblingsschwester, gestorben anno neunundfünfzig an Leukämie. Myrta, verheiratet, zu ihren schusseligen Kindern sündhaft mild.

Vater Klemens tot seit einem halben Jahr. Friedlich vom Melkstuhl gekippt, und wenn’s euch lieber ist: gesunken.

Testament: »Daß mir der Franz nicht an den Sarg kommt.«

Zehn Jahre Groll für einen Hundesohn. Natürlich war ich am Begräbnis, Holunderblütenduft auf einem Dorffriedhof.

Mutter so lang schon tot wie John F. Kennedy. Weit weg ist sie, und ihre Sommersprossen verschmelzen mit denen meiner Ex-Frau Helen.

 

Und jetzt. Seit wann hat Thalmann junior den Frosch?

Seit seines Vaters Abgang.

Ich sage deutsch und deutlich und blitzdirekt: Der alte Rächer sucht mich heim von Zeit zu Zeit und kriecht in meinen Hals. Ich hab ein scharfes Ohr, ich höre, was er quakt: »Zwar bin ich tot, du aber bleibst ein Tropf.«

 

Man weiß, daß Pfarrer in den schönsten Häusern wohnen. Der liebe Gott will’s so. Meins stand im Zürcher Unterland. Ein Riegelbau, darin der Franz mit Geige, die Helen am Spinett und bald ein Töchterlein, strohblond, mit Namen Salome. Nach der Geburt ein langes Jahr lang vorwiegend Geige und Spinett, dann Costa Brava, neun Monde drauf ein zweites Töchterlein, strohblond, mit Namen Eva.

Alles in allem eine reiche Zeit, viel Frohes, zwanglos Frommes, viel Zuneigung trotz Gummischutz, seelsorgerisch enorm auf Trab, sprühend vor evangelischer Dynamik.

 

Bin ich ein Trinker? Kaum. Ich wär es gern. Ich trinke, wie ich lebe: ungierig und konstanzlos.

Und ich weiß nichts. Meine Haut ist mir unklar. Was ist Feuer. Wein macht man aus Trauben, woraus sind die. Nichts wird durchschaut. Plötzlich weiß der Kühlschrank, daß er brummen muß. Gelacht ist rasch, doch Hirn und Rückenmark tun auch das Ihre, aber was. Immer schwatzen, herumseckeln, rasieren, lauter Zeug, dabei weiß keiner, was Salat ist oder Strom oder Muskelkater. »Der Tempolimite zum Durchbruch verhelfen.« Was heißt das. Ich begreife jeden, der gläubig wird, und jeden Verrückten und jede Art Demut und Flucht. Verständnisvoll haß ich das alles.

 

Kindergarten und Primarschule im Kaff. Lehrer Knüsel: Nehmt euch ein Beispiel am fleißigen Franz. – Unmäßig faul bin ich gewesen mein Leben lang, und ich bereu es nicht. Hingegen hab ich es verstanden, wach und geschäftig zu erscheinen, auch wenn ich schlief.

Fast jeder Mensch ist faul bis in die Knochen. Ein großes Tabu. Der Fleißige, so jedenfalls mein Eindruck, ist von Natur ein ganz besonders lahmer Hund, der sich aus purer Scham darüber fast unablässig in den Schwanz beißt. Fortschritt als Kind von Schuldgefühlen, Leistung als ein verdrossenes Produkt der Trägheit.

Sekundarschule im Nachbarkaff. Zeit der Pickel und des Grams darüber. Und lieber Gott vertilge meinen Dauerhandschweiß. Mädchen sind unerreichbar und sollten es sein. Konfirmandenunterricht, Pollutions-Panik. Hemmungen, Ängste, Blockaden, der ganze Dreck halt, der im Rückblick schöne Jugend heißt.

 

Hier ist kein Urteil scharf, kein Fluch vulgär genug. Die Art, wie Pubertät in unsern Breitengraden erlitten werden muß, ist schändlich, ein ganz und gar trostloses Zeugnis brutalsten Christenstumpfsinns. Von Generation zu Generation vererbt sich die verheerende Verklemmtheit kaputter Samstagabendvögler und spielt sich dummdreist auf als Leitstern der Erziehung. Kurzum, der Sünder braucht den Herrgott und dieser ihn, ich wurde fromm. Daneben Leichtathletik.

 

Ein Wort des Predigers, des Sohnes Davids, des Königs zu Jerusalem. »Freue dich, Jüngling, in deiner Jugend, sei guter Dinge in der Blüte des Lebens! Wandle, wie es dein Herz gelüstet, und genieße, was deine Augen erschauen!« – Welch eine Botschaft, liebe Brüder, liebe Schwestern, vor allem liebe Brüder! Was sagt uns dieses Wort, was will es uns bedeuten? Es meint, in neuer Sprache ausgedrückt: Seid aufgestellt! Schöpfungsgenuß statt Anschiß! – Ich fahre fort im Text des Predigers, des Sohnes Davids, des Königs zu Jerusalem: »Doch wisse, Jüngling, daß um all dieser Dinge willen Gott dich vor Gericht ziehen wird.«

 

Gymnasium. Der kleine Thalmann kommt aufs Gymnasium. Sogar Latein hat er, potz Donner. Dorflehrer Knüsel sitzt im Löwen und sagt jaja, ein heller Bursche, wach und fleißig, und Einmaleins und ABC hat er von mir, und seine Schwester Anna ist noch heller. – Was ist mit diesen Kindern? fragt Titus Feusi. Der Klemens hat doch weiß der Treu kein Gramm mehr Grütz als unsereins! – Der Klemens braucht, so ruft die Wirtin, der Klemens braucht im Gegensatz zu euch nicht sieben Schnäpse, bis er will und kann, entsprechend anders ist das Resultat.

Ich rutsche wider Willen in diesen Schüleraufsatztrott: Und dann und dann und dann. Weg mit der klebrigen Gewesenheit. Ein nächstes Glas und Themawechsel.

Frosch, ich erzähl dir was. Aus meiner Praxis, Fallstudie.

 

Die Frau: Super muß ich sein, sonst verlier ich seine Liebe. Der Mann: Ich muß super sein, sonst verlier ich ihre Liebe. Und beide waren ziemlich super und hatten Angst, entlarvt zu werden. Und eines Tages sprach die Frau zum Mann: Ich halte das nicht länger aus, ich bin unsuper, ich bin nicht, wie du meinst, und das zerreißt mich. Und Gleiches sprach darauf der Mann. Sie gingen auseinander, und zwar – laut Stenogramm – »damit ein jedes von uns beiden wieder zu sich finde«.

Ein Alltagsmärchen, hausbacken, wahr und mickrig. Das ist mein täglich Brot. Im Augenblick fehlt mir die Lust zur ausgedehnten Exegese. Nur provisorisch soviel: Vermischt mit süßer Muttermilch hat man dir eingeflößt den Ur-Verdacht: Liebe ist Lohn. Wer blöd herumkräht und trotzig seinen Stink zurückhält, verdient kein warmes Lächeln. Gratis ist nichts. Sei anders, als du bist: Der Schmerz der Differenz erstirbt in seliger Liebkosung. (So wird der Wunsch zum Anderssein ein obligates Seelenrequisit. Gelingt dir die Verwandlung, so spürst du manchmal, daß ein Affe aus dem Spiegel schaut. Gelingt sie nicht, so fühlst du dich als Ödling. Bedrücken tut dich beides.)

 

Wie reagiert der Mensch, wenn ihm ins Ohr geflüstert wird: »Ich liebe dich!«? Ungläubig. Das muß, denkt er, ein großes Mißverständnis sein. Mich liebt man nicht. – Ein Paar besteht demnach normalerweise aus zwei sich gegenseitig von Liebesbeteuerung zu Liebesbeteuerung hetzenden Angsthasen, und die Beziehung endet in der Regel dann, wenn einer nicht mehr länger schlottern will und sich ganz plötzlich provozierend heftig zu seinem fettigen Haar bekennt. (Der ganze Vorgang heißt bekanntlich »Selbstfindung« und darf – ich resümiere – verstanden werden als späte Antwort auf erkauftes Mutterlächeln.)

P. S. Ganz klar, daß eine Liebe, die erschrocken die Augen niederschlägt vor unserer Mangelhaftigkeit, uns letzten Endes dazu führt, aus purem Trotz zu rülpsen und zu winden, ein heute recht verbreiteter Selbstfindungs-Übereifer, den ich – als Mensch und Therapeut – nicht unbedingt begrüße.

 

Ich lüfte.

 

Seit der Scheidung wird wieder geraucht. Das hatte ich mir abgewöhnt gleich anfangs Ehe. Falsch, die Helen hat’s mir abgewöhnt. Schätzli, hat sie gesagt, hat sie mehrmals gesagt, dein Rauch, der stinkt ein bißchen und schadet dir, bitte, verzichte, mir zuliebe. – Hoppla, hab ich gerufen, das fehlte noch, daß deine keuschen Scheißgardinen zentraler sind als meine drei vier Zigarettchen. Und deine permanente Bodenwichserei stinkt zehnmal teuflischer.

Das habe ich natürlich nicht gesagt und – damals – nicht einmal gedacht. Ich habe selbstverständlich ihr zuliebe verzichtet, ich habe ihr zuliebe auch dem Wein entsagt und meinen Konfirmanden das abgeschmackte Sprüchlein eingebleut: Man kann auch ohne Alkohol fidel sein.

Verzichte, mir zuliebe!

Herrgott im Himmel, und Franz verzichtet, und Franz ist stolz, daß Helen stolz ist auf seinen starken Willen, und Franz ahnt nicht, wie hinterhältig kriminell, wie katastrophenschwanger das Sätzchen ist: Verzichte, mir zuliebe.

Ich seh in meiner Sprechstunde nicht selten Menschen, vor allem Frauen, die vom Verzicht gezeichnet sind. Meist sind sie schmal und transparent, die Augen – gewöhnlich blau – wirken ganz leicht verschleiert, anziehend schüchtern und eine kleine Spur zu seelenvoll. Niemals sind ihre Lippen üppig, und ihre Neigung, mir recht zu geben, ist ausgeprägt. Fast nur Frauen, wie gesagt, Frauen mit Mann und Kind. Jahrelang betont zufrieden, und plötzlich harzt es. Migräne jede Woche, Ekel, Trübsinn, die üblichen Symptome des Verzichts.

 

»Wenn jemand mit mir gehen will, verleugne er sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach!

Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und mir nachfolgt, ist meiner nicht wert. Wer sein Leben findet, der wird es verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es finden.«

Fragt sich, wann.

Wahrlich, ein Jesuswort mit Pfiff. Ein Ur-Rezept der Menschenführung. Man mische ein paar Messerspitzen voller Drohgebärden mit einem Teelöffel Verheißung, fertig, narrensicher. Das Menü ist gut beißen und springt – richtig gedünstet und gedämpft – auch nicht vom Teller. Auf diese Weise wird so ziemlich alles präpariert, was bockig tut und gegen ausgekochte Köche sich widerborstig sperren könnte. Kinder, Dackel, Völker. Wer nur Angst hat, steht gelähmt. Wer nur Hoffnung hat, trabt allzu spritzig. Wer aber beides hat, der kriecht.

 

Da kommt ein Mann in die Beratung und sagt: Potenzprobleme. Die Frau hat irgendwann, anläßlich eines Frühstücks, die ungeschickten Worte fallenlassen: Der Albert konnte viermal. Seither Potenzprobleme. Seither das Übliche. Mit Angst und Hoffnung kriecht er unters Leintuch, steht gleichsam mit der Peitsche hinter sich und denkt: Hü, Theodor! – Seither hat sich noch etwas anderes verändert. Unaufgefordert putzt Theodor die Treppe, bringt Blumen heim und liest der Karin alle Wünsche von den Lippen. Doch fühlt er sich, sagt er, bei alledem nicht fröhlich, sondern unterjocht. Ich habe den Verdacht, sagt er, daß Karin in irgendeinem Winkel ihrer Seele mein Versagen, das sie verursacht hat, genießt.

Wir wollen diese kecke Hypothese einfach stehenlassen.

 

Wir wollen einfach konstatieren: Wäre der Mensch so frei, wie ihn die Propaganda schildert, dann wär es aus. Geschichte, aufgefaßt als speckige Angst-Hoffnungs-Inszenierung, ist dann am Ende, wenn ihr Subjekt verschwindet. Und dieses Subjekt war, ist und wird auch bleiben die zerknirschte, doch hoffnungsvolle Niete.

 

Zurück zu unserm Jesuswort. Wie schade. Es fällt so gar nicht aus dem Rahmen irdischer Geschichte. Es riecht fast himmelschreiend weltlich. Wie schade.

(Der Heiland meiner Träume würde sagen: Wer mit mir gehen will, der soll. Doch daß sich keiner um meinetwillen verliere und verleugne. Und daß mir keiner meint, es sei verdienstvoll, ein Kreuz auf sich zu nehmen. Golgatha-Schwärmer mag ich nicht. Ich stelle nichts in Aussicht, nicht einmal Strafe. Adam und Eva sollen essen, was sie wollen. Kein Verbot. Und folglich keine Sünde. Seid ungeknickt, gönnt euch genügend Schlaf und warme Stille, das ist das radikalste Anti-Teufel-Mittel.)

 

Schluckbeschwerden.

 

Seltsamerweise hat Vater nie gefordert, die Söhne sollten Bauern werden. Mag sein, daß er sich vor der Abschiebung aufs Ofenbänklein fürchtete. Nie sagte er, wenn ich an freien Nachmittagen für die Schule lernte: Du würdest dich gescheiter auf dem Acker nützlich machen. – Im Gegenteil, er klopfte mir verlegen auf die Schultern: Schaff nur, uns rennen die Kartoffeln nicht davon.

Sonst war er streng und wortkarg. Oft finster. Die winzigste Verfehlung bestrafte er. Nicht tätlich, nicht mit Sätzen. Er brütete uns an.

Er war mir fremd.

Der spätere Verlauf der Dinge läßt mich ahnen, daß ich ihm noch viel fremder war.

Normaler-, wenn auch nicht unbedingt begrüßenswerterweise hat ja der Mensch zu seinen Ausscheidungen kaum Kontakt. Ein Faktum nebenbei, das unsre Philosophen übersehen, wenn sie, was dann und wann geschieht, spezifisch Menschliches zur Sprache bringen. Dabei ist dieses Faktum prägend und im Vergleich zum Tier durchaus markant.

Kurzum, ein bißchen Schleim, verstandlos-glücklich hineingeschleudert in ein ewig Dunkles, kehrt plötzlich wieder und ist ein Sohn.

O Wunder, o Fremdheit.

Der Schöpfer staunt gewöhnlich über sein Geschöpf und dieses über ihn, Staunen ist die Gebärde der Distanz. Man weiß von Künstlern aller Art, daß sie ein Werk, kaum abgeschlossen, als Exkrement empfinden, das sie anstinkt. Ein Teilchen ihrer selbst liegt da und tut vertraulich und ist doch abgetan.

 

Mein Vater sah nur eins: Sein Sohn, der Pfarrer, läßt sich von einem braunschwarzäugigen fatalen Weibsbild, ums Haar noch minderjährig, um den Finger wickeln und setzt sich schuftig ab von Frau und Amt und Kindern.

Nein, wirklich wahrgenommen hat mich mein Vater nicht, sowenig wie ich ihn.

Es muß sich ändern.

Und wenn der Frosch die Kaulquappe nicht kennen will, soll er sich wenigstens von ihr erkennen lassen.

Ich werde heller, wenn ich weiß, was mich beschattet. Und umgekehrt finden auch Wiedergänger nur im Erkanntsein Frieden.

2

Bist in letzter Zeit so brummig, sagt die Klär, schimpfst über alles, und früher hast immer gesagt: So eine trostlose Gurke wie der Sätteli Adam will ich meiner Lebtag nie sein, sieht nur noch das Schlechte auf Erden, wenn ich mal so bin wie der Sätteli, könnt ihr mich metzgen, hast du gesagt, sagt die Klär, und jetzt?

Hosianna singen mit Rheuma. Sollen neunundsiebzig werden, dann jubelt keiner mehr im Stall herum, was wetten wir. Das Junge klingt, das Alte klappert, so ist das eben, der Adam selig hat Bescheid gewußt.

Steh still, wenn ich dich melke, Saubock, nervöser, die größte Zappelgeiß hat mir der Waser angedreht, und dafür zahlt man heutzutage vierzighundert, für so ein windiges Gestell. Eine Staatskuh ist das, hat der Waser behauptet, eine Prachtskuh mit stattlicher Leistung. Was kommt? Knappe vier Liter, knappe vier Liter kommen, und kalbern tut sie erst im Januar. Und Waser denkt: Ich geb ihr ein paar Kapseln Vitamin, damit sie blühend wirkt, und such mir einen Dummen und stoß sie ab. – Und siehe da, ich Simpel steige ein und kauf das Vieh, und kaum steht’s da in meinem Stall, riecht’s faulig aus dem Maul, hat Durchfall und läßt laufen.

So ist’s mit allem, was du kaufst, wirst ständig übers Ohr gehauen, wirst heutzutage ständig nur beschissen. Du kaufst aus dem Ersparten einen sechzigpferdigen Traktor, zwei Tage später stottert er und schwimmt in einer Pfütze Öl. Zum Zähneputzen kaufst du eine neue Bürste, und schon am ersten Abend verliert sie ein paar Borsten, es ist ein Jammer. Die Kleider schrumpeln ein und fransen aus, die Sense rostet, kein Büchsenöffner funktioniert, und wer sich hinten putzt, hat sofort einen braunen Finger, so himmeltraurig ist das heutige Papier trotz aller aufgedruckten Blümchen. Man hatte früher Waren, und heute hat man Lumpenzeug, das ist der ganze Fortschritt, die Klär soll plappern, was sie will. Und je schäbiger das Zeug, umso besser wird’s verpackt. Paul kauft sich einen Kugelschreiber, Paul schreibt, sobald er aus der Anstalt kommt, an alle Leute Briefe, item, er kauft sich einen Kugelschreiber, der ist eingeschweißt, Paul holt die Schere, sie geht kaputt, ich übertreibe nicht, Paul braucht im ganzen sechs Minuten, bis er den Stift heraus hat aus dem Kunststoffscheißgehäuse, und wenn er draußen ist, der Schreiber, dann schreibt er nicht, und wenn er schreibt, schreibt er zwei Stunden lang, und dann ist Schluß, dann landet er im Kübel, so geht’s mit allem, und jedes Ding kommt kübelreif aus der Fabrik, wer etwas kauft, kauft Abfall, das ist doch meiner Seel die Wahrheit.

Ist’s wirklich lebenswichtig, daß du immer schiffst, wenn ich dich melk, Spritzkanne du. Ich geb sie ihm zurück, dem Waser, soll die Maschine wieder an ihr Euter hängen, von Hand ist da nichts mehr zu holen, alles verdorben, vermurkste kurze Zäpfchen, alles verknittert von der Melkmaschine, nur damit man Zeit spart, damit’s recht hygienisch her und zu geht, als wären ein paar Tropfen Kuhbrunz in der Milch schon kriminell. Fast jedermann ist heute krank, und früher war fast jedermann gesund, und das kommt alles von der Hygiene, das ist der ganze Fortschritt. Die Menschen kommen im Spital zur Welt und liegen hinter Glas, und der leibhaftige Vater lächelt durch die Scheibe auf den sterilen Knirps herab und denkt: Ich Schmutzfink. Und eines Tages holt man sie hervor, die Kinder, und dann geht’s los mit Keimen und Bakterien etcetera, und sie sind für den Rest des Lebens kränklich.