Bis ich dich finde - John Irving - E-Book

Bis ich dich finde E-Book

John Irving

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Beschreibung

Bis ich dich finde ist die Geschichte des Schauspielers Jack Burns. Seine Mutter ist Tätowiererin, sein Vater ein Organist, der verschwunden ist. Ein Roman über Obsessionen und Freundschaften; über fehlende Väter und (zu) starke Mütter; über Kirchenorgeln, Ringen und Tattoos; über gestohlene Kindheit, trügerische Erinnerungen und über die Suche nach der einen Person, die unserem Leben endlich einen Sinn gibt.

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Seitenzahl: 1457

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John Irving

Bis ich dich finde

Roman

Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren

Titel der 2005 bei Random House, New York, erschienenen Originalausgabe: ›Until I Find You‹ Copyright © 2005 by Garp Enterprises, Ltd. Die deutsche Erstausgabe erschien 2006 im Diogenes Verlag Nachweis zu den Zitaten am Schluß des Bandes Umschlagillustration von Edward Gorey Mit freundlicher Genehmigung des Edward Gorey Charitable Trust, New Yorky

Die Arbeit der Übersetzer am vorliegenden Roman wurde vom Deutschen Übersetzungsfonds gefördert Die Übersetzer danken Stephanie Groß und Jürgen Scheibe für deren Hilfe bei der Übersetzung der Fachbegriffe aus dem Bereich des Ringens

Alle deutschen Rechte vorbehalten Copyright © 2012

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5]

[6]Was wir, oder zumindest ich, überzeugt als Erinnerung ausgeben – womit wir einen Augenblick, eine Begebenheit, einen Sachverhalt meinen, die einem Fixierbad ausgesetzt und so vor dem Vergessen bewahrt wurden –, ist in Wirklichkeit eine Form des Geschichtenerzählens, die sich unaufhörlich in unserem Geist vollzieht und sich oft noch während des Erzählens verändert. Zu viele widerstreitende Gefühlsinteressen stehen auf dem Spiel, als daß das Leben jemals ganz und gar annehmbar sein könnte, und möglicherweise ist es das Werk des Geschichtenerzählers, die Dinge so umzuordnen, daß sie sich diesem Zweck fügen. Wie dem auch sei, wenn wir über die Vergangenheit reden, lügen wir mit jedem Atemzug.

William Maxwell: ›Also dann bis morgen‹

[7] Inhalt

I  DIE NORD- UND OSTSEE

  1  In der Obhut von Kirchgängern und Ehemaligen   [11]

  2  Der kleinste Soldat von allen   [30]

  3  Der schwedische Buchhalter   [58]

  4  Kein Glück in Norwegen   [77]

  5  Rückschlag in Finnland   [100]

  6  Gottes heiliger Lärm   [120]

  7  Ebenfalls nicht auf ihrer Route   [138]

II  DAS MEER VON MÄDCHEN

  8  In Sicherheit   [175]

  9  Nicht alt genug   [199]

10  Sein Einmannpublikum   [216]

11  Sein Vater in ihm   [243]

12  Nicht irgendeine Rose von Jericho   [259]

13  Keine Braut auf Bestellung   [286]

14  Mrs. Machado   [313]

15  Freunde fürs Leben   [336]

III  GLÜCK

16  Frostschäden   [367]

17  Michele Maher und andere   [397]

18  Auftritt Claudia, Abgang Mrs. McQuat   [430]

19  Claudia, die ihn heimsuchen würde   [458]

20  Zwei Kanadier in der Stadt der Engel   [481]

21  Zwei brennende Kerzen   [527]

22  Reibachszenen   [546]

IV  IN DEN NADELN SCHLAFEN

23  Billy Rainbow   [581]

24  Der Knopftrick   [619]

25  Tochter Alice geht nach Hause   [655]

26  Ein kleingläubiger Junge   [689]

27  Die Tochter des Kommandanten; ihr kleiner Bruder   [719]

28  Die falsche Tätowierung   [746]

29  Die Wahrheit   [774]

30  Der Deal   [808]

V  DR. GARCÍA

31  Therapie   [849]

32  Den Kopf recken   [869]

33  Anzeichen von Ärger   [894]

34  Halifax   [910]

35  Leicht zu vergessen   [938]

36  Claudias Geist   [958]

37  Edinburgh   [1008]

38  Zürich   [1041]

39  Der Musiker   [1077]

[9] I

DIE NORD- UND OSTSEE

[11] 1

In der Obhut von Kirchgängern und Ehemaligen

Laut seiner Mutter war Jack Burns bereits ein Schauspieler, bevor er Schauspieler wurde, doch die lebhaftesten Erinnerungen an seine Kindheit waren die an jene Augenblicke, in denen er den Drang verspürte, sich an der Hand seiner Mutter festzuhalten. Das waren die Augenblicke, in denen er nicht spielte.

Natürlich erinnern wir uns kaum an die Zeit vor unserem vierten oder fünften Lebensjahr – und die wenigen Erinnerungen an diese ersten Jahre sind sehr selektiv, unvollständig oder regelrecht falsch. Was in Jacks Erinnerung das erste Mal war, daß er das Bedürfnis verspürte, sich an der Hand seiner Mutter festzuhalten, war in Wirklichkeit wahrscheinlich das hundertste oder zweihundertste Mal.

Vorschultests ergaben, daß Jack Burns über einen weit größeren Wortschatz verfügte als Gleichaltrige, was bei Einzelkindern, die gewohnt sind, Unterhaltungen zwischen Erwachsenen zuzuhören, nichts Ungewöhnliches ist – insbesondere bei Einzelkindern von alleinerziehenden Müttern oder Vätern. Signifikanter aber war, wie die Testergebnisse bewiesen, seine konsekutive Gedächtnisleistung, die im Alter von drei Jahren der eines Neunjährigen entsprach. Mit vier Jahren waren sein Erinnerungsvermögen für Einzelheiten (das auch unerhebliche Details wie Kleidungsstücke und Straßennamen umfaßte) und sein Verständnis von linearer Zeit vergleichbar denen eines Elfjährigen.

Diese Testergebnisse verblüfften seine Mutter Alice, die ihn für ein unkonzentriertes Kind hielt; in ihren Augen deutete Jacks [12] Neigung zu Tagträumen darauf hin, daß er für sein Alter eher unreif war.

Trotzdem ging sie mit Jack im Herbst 1969, als er vier Jahre alt war und noch nicht die Vorschule besuchte, zur Ecke Pickthall und Hutchins Hill Road in Forest Hill, einem wohlhabenden Viertel von Toronto. Dort warteten sie, wie sie Jack erklärte, auf den Schulschluß, damit er sich die Mädchen einmal ansehen könne.

St. Hilda war das, was man eine »konfessionelle Mädchenschule« nannte. Das Angebot reichte von der Vorschule bis zur dreizehnten Klasse – die gab es in Kanada damals noch –, und Jacks Mutter hatte beschlossen, daß er dort eingeschult werden sollte, obwohl er ein Junge war. Von dieser Entscheidung erzählte sie ihm erst, als sich, wie um sie beide zu begrüßen, die Haupttore der Schule öffneten und Mädchen in verschiedenen Stadien von Mißmutigkeit und Überschwang, von Adrettheit und Schlampigkeit herausströmten.

»Nächstes Jahr«, verkündete Alice, »werden in St. Hilda auch Jungen aufgenommen. Allerdings bloß sehr wenige und nur bis zur vierten Klasse.«

Jack konnte sich nicht bewegen, ja er konnte kaum atmen. Mädchen gingen rechts und links an ihm vorbei – manche waren groß und laut, und alle hatten Schuluniformen in den Farben an, von denen Jack Burns später dachte, sie würden ihn bis an sein Lebensende begleiten: Grau und Kastanienbraun. Die Mädchen trugen graue Pullover oder kastanienbraune Blazer über weißen Matrosenblusen.

»Dich werden sie jedenfalls aufnehmen«, sagte Jacks Mutter. »Dafür werde ich sorgen.«

»Wie?«

»Darüber denke ich noch nach«, antwortete Alice.

Die Mädchen trugen außerdem graue Faltenröcke und graue Kniestrümpfe. Es war das erste Mal, daß Jack so viele nackte [13] Beine sah. Er verstand noch nicht, daß die Mädchen durch irgendeine innere Unruhe getrieben wurden, die Strümpfe bis zu den Knöcheln oder wenigstens über die Waden hinunterzuschieben – trotz der Schulregel, daß Kniestrümpfe bis zum Knie zu reichen hatten.

Jack Burns bemerkte, daß die Mädchen ihn gar nicht wahrnahmen oder einfach durch ihn hindurchsahen. Nur eine gab es – sie war eine von den älteren und hatte weiblich gerundete Hüften und Brüste, dazu Lippen, so voll wie die von Alice –, die Jack in die Augen schaute, als sei sie außerstande, den Blick abzuwenden.

Jack war vier, und er war sich keineswegs sicher, ob er derjenige war, der seine Augen nicht von ihr losreißen konnte, oder ob sie es war, die magisch von seinem Blick angezogen wurde. Wie auch immer es sich verhielt – aus ihrem Gesichtsausdruck sprach so viel Wissen, daß sie ihm angst machte. Vielleicht hatte sie eine Art Vision gehabt, wie Jack als älterer Junge oder als Erwachsener aussehen würde, und war gebannt von Sehnsucht und Verzweiflung. (Oder von Angst und Erniedrigung, würde Jack Burns eines Tages denken, denn das ältere Mädchen schlug plötzlich die Augen nieder.)

Jack und seine Mutter standen in diesem Meer aus Mädchen, bis alle Schulbusse und Autos vor- und wieder weggefahren waren und bis von denen, die zu Fuß nach Hause gingen, nicht einmal das Geräusch ihrer Schritte oder ihres einschüchternden, aber aufregenden Lachens geblieben war. Die frühherbstliche Luft war noch warm genug, um ihren Duft zu übertragen, den Jack zaghaft einatmete und für Parfüm hielt. Die meisten Mädchen in St. Hilda benutzten so etwas nicht, sondern waren eingehüllt in ihren eigenen Duft, an den Jack Burns sich nie gewöhnte, den er nie für etwas Selbstverständliches hielt. Nicht einmal am Ende der vierten Klasse.

»Aber warum soll ich hier zur Schule gehen?« fragte Jack seine [14] Mutter, als die Mädchen verschwunden waren. Ein paar welke Blätter waren alles, was sich an dieser ruhigen Straßenecke noch bewegte.

»Weil es eine gute Schule ist«, sagte Alice. »Und bei den Mädchen bist du sicher«, fügte sie hinzu.

Jack war offenbar anderer Ansicht, denn er griff sofort nach der Hand seiner Mutter.

In jenem Herbst vor Jacks Einschulung in St. Hilda war seine Mutter voller Überraschungen. Nachdem sie ihm die uniformierten Mädchen gezeigt hatte, die bald sein Leben beherrschen würden, verkündete sie, sie werde in Nordeuropa nach Jacks verschwundenem Vater suchen. Sie kenne die Hafenstädte an der Nordsee, in denen er sich höchstwahrscheinlich vor ihnen verstecke; gemeinsam würden sie ihn aufspüren und mit seiner Pflicht und Schuldigkeit konfrontieren. Jack hatte öfter gehört, daß seine Mutter sie beide als »Pflicht und Schuldigkeit« seines Vaters bezeichnet hatte. Aber selbst im Alter von vier Jahren war er überzeugt, daß sein Vater für immer fortgegangen war – und zwar schon vor seiner Geburt.

Und als seine Mutter sagte, sie werde unterwegs, in diesen fremden Städten, Geld verdienen, wußte Jack auch, womit. Ihr Vater war Tätowierer, und Alice war Tätowiererin; es war das einzige, was sie konnte.

In den Städten an der Nordsee, die sie aufsuchen wollte, würden andere Tätowierer ihr Arbeit geben. Man wußte, daß sie bei ihrem Vater in die Lehre gegangen war, einem wohlbekannten Vertreter seiner Zunft in Edinburgh – oder vielmehr im zu Edinburgh gehörenden Hafen Leith –, wo Jacks Mutter das Pech gehabt hatte, seinen Vater kennenzulernen. Dort hatte er sie geschwängert und umgehend sitzenlassen.

Laut Alice war Jacks Vater auf der New Scotland nach Halifax gefahren. Sobald er eine bezahlte Arbeit gefunden hatte, würde [15] er sie nachkommen lassen – das hatte er jedenfalls versprochen. Doch Alice sagte, sie habe nie wieder etwas von ihm gehört – nur über ihn. Bevor er aus der Stadt verschwunden war, hatte Jacks Vater eine breite Spur durch Halifax gezogen.

Jacks Vater hieß eigentlich Callum Burns, doch er hatte während des Studiums seinen Vornamen in William geändert. Sein Vater hieß Alasdair, was, wie William sagte, so schottisch war, daß es für die ganze Familie reichte. Zum Zeitpunkt seiner skandalösen Abreise nach Nova Scotia war William Burns Mitglied des Royal College of Organists in Edinburgh, was bedeutete, daß er nicht nur einen Abschluß in Musikwissenschaften besaß, sondern auch diplomierter Organist war. Als er Jacks Mutter kennenlernte, war er Organist an der Pfarrkirche von Süd-Leith; Alice sang dort im Chor.

Für einen jungen Mann, der so tat, als gehöre er zur gehobenen Gesellschaft, und der eine gute Ausbildung genossen hatte – William Burns war vor dem Studium der Musikwissenschaften an der Universität von Edinburgh in Heriot zur Schule gegangen –, hatte eine erste Anstellung als Organist in einer Arbeiterstadt wie Leith möglicherweise das Flair eines Ausflugs in die Unterschicht. Aber Jacks Vater pflegte scherzhaft zu sagen, die Church of Scotland zahle einfach besser als die Scottish Episcopal Church. William gehörte der letzteren an, und dennoch gefiel es ihm ganz gut in der Pfarrkirche von Süd-Leith, auf deren Friedhof angeblich elftausend Menschen lagen, obgleich dort nicht mehr als dreihundert Grabsteine standen.

Den Armen waren Grabsteine verboten, aber nachts, erklärte Jacks Mutter, kämen die Leute mit der Asche ihrer Lieben und streuten sie durch das Gitter auf den Friedhof. Die Vorstellung, daß so viele Seelen in der Finsternis umhergeweht wurden, bescherte dem Jungen Alpträume, doch die Kirche war – wenn auch womöglich nur wegen des Friedhofs – sehr gut besucht, und [16] Alice glaubte, sie sei gestorben und zum Himmel aufgefahren, als sie dort für William zu singen begann.

In der Pfarrkirche standen Chor und Orgel hinter der Gemeinde. Für den Chor gab es nur zwanzig Stühle – vorn die Frauen, hinten die Männer. William bat Alice, sich während der Predigt weit vorzubeugen, damit er sie gut sehen konnte. Sie trug eine blaue Robe – »blauhäherblau«, sagte sie zu Jack – und einen weißen Kragen. Im April 1964, als Jacks Vater zum ersten Mal in diese Kirche kam, um die Orgel zu spielen, verliebte sich seine Mutter in ihn.

Mit Alice’ Worten: »Wir sangen Auferstehungschoräle, und auf dem Friedhof blühten Krokusse und Osterglocken.« (Die heimlich verstreute Asche war zweifellos ein hervorragender Dünger für die Blumen.)

Alice stellte den jungen Organisten, der zugleich der Dirigent des Chors war, ihrem Vater vor. Dessen Studio hieß »Persevere«, was zugleich der Wappenspruch der Stadt Leith war und soviel wie »Durchhalten« bedeutete. Es war das erste Mal, daß William ein solches Studio betrat, und dieses befand sich entweder in der Mandelson oder in der Jane Street. Damals, erklärte Alice, führte eine Eisenbahnbrücke über den Leith Walk, der die Mandelson und die Jane Street verband, doch Jack konnte sich nie merken, in welcher der beiden Straßen das Studio gewesen war. Er wußte nur, daß sie dort gelebt hatten, im Studio, unter dem Gerumpel der Züge.

Seine Mutter nannte das »in den Nadeln schlafen« – das war ein Ausdruck aus der Vorkriegszeit. »In den Nadeln schlafen« hieß, daß man im Studio schlief, weil die Zeiten hart waren und man keine andere Wohnung hatte. Aber gelegentlich sagte man es auch, wenn ein Tätowierer – wie Alice’ Vater – in seinem Studio gestorben war. Nach beiden Definitionen hatte er also nie irgendwo anders geschlafen als in den Nadeln.

Ihre Mutter war bei Alice’ Geburt gestorben, und ihr Vater – [17] den Jack nie kennengelernt hatte – zog sie in der Welt der Tätowierungen auf. In Jacks Augen war seine Mutter schon deswegen einzigartig unter den Tätowierern, weil sie selbst keine einzige Tätowierung hatte. Ihr Vater hatte ihr gesagt, sie solle sich erst tätowieren lassen, wenn sie so alt sei, daß sie ein paar grundlegende Dinge über sich selbst verstanden hätte; er meinte wohl die Dinge, die sich niemals ändern würden.

»Also mit Mitte Sechzig oder Siebzig«, sagte sie zu Jack, als sie Mitte Zwanzig war. »Du solltest dich erst tätowieren lassen, wenn ich tot bin«, fügte sie dann hinzu, und das war ihre Art, ihm mitzuteilen, er solle nicht einmal mit dem Gedanken spielen, sich eine Tätowierung machen zu lassen.

Alice’ Vater faßte auf Anhieb eine Abneigung gegen William Burns, der seine erste Tätowierung noch am selben Tag bekam. Sie zog sich über seinen rechten Oberschenkel, so daß William sie lesen konnte, wenn er auf der Toilette saß: die Einleitung zu einem Osterchoral, den er mit Alice geprobt hatte und der mit den Worten »Christ ist erstanden« begann. Man mußte Noten lesen können und sehr dicht bei Jacks Vater sitzen – vielleicht auf der benachbarten Toilette –, um das Lied zu erkennen.

Doch noch am selben Tag, an dem er dem talentierten jungen Organisten seine erste Tätowierung gemacht hatte, sagte Alice’ Vater, dieser William werde bestimmt ein »Tintensüchtiger«, ein »Sammler« werden – womit er meinte, er sei einer von denen, die sich weder mit einer noch mit zwanzig Tätowierungen begnügten. Er werde sich weiter tätowieren lassen, bis sein Körper ein einziges Notenblatt und jeder Quadratzentimeter beschrieben sei. Es war eine düstere Prophezeiung, doch Alice ließ sich nicht beirren. Der tintensüchtige Organist hatte ihr Herz bereits erobert.

Als Jack Burns vier Jahre alt war, kannte er den größten Teil dieser Geschichte. Überraschend aber war, was seine Mutter sagte, [18] nachdem sie verkündet hatte, sie würden demnächst nach Europa reisen: »Falls wir nächstes Jahr um diese Zeit – also wenn du in die Schule kommst – deinen Vater nicht gefunden haben, vergessen wir ihn einfach und leben ohne ihn weiter.«

Das war ein großer Schock, weil die Tatsache, daß sein Vater fort – nein, schlimmer: »geflüchtet« – war, tief in Jacks Bewußtsein verankert war und er und seine Mutter schon immer recht intensiv nach ihm gesucht hatten. Jack hatte angenommen, daß sich daran nichts ändern würde. Der Gedanke, sie könnten ihn tatsächlich »einfach vergessen«, erschien dem Jungen weit seltsamer als die geplante Reise nach Nordeuropa; außerdem hatte Jack nicht gewußt, daß seine Mutter dem Schulbeginn eine solche Bedeutung beimaß.

Sie selbst hatte die Schule nicht beendet. Alice hatte sich William wegen dessen Studium immer unterlegen gefühlt. Williams Eltern waren Grundschullehrer, die nebenbei Kindern Klavierunterricht gaben, jedoch eigentlich eine professionellere musische Unterweisung schätzten. In ihren Augen war es unter der Würde ihres Sohnes, in der Pfarrkirche von Süd-Leith zu spielen – und das nicht etwa nur wegen der Klassenunterschiede, die es damals zwischen Edinburgh und Leith gab. (Da waren ja auch noch die Unterschiede zwischen der Scottish Episcopal Church und der Church of Scotland.)

Alice’ Vater ging nie in irgendeine Kirche. Er hatte Alice dort hingeschickt und in den Chor eintreten lassen, damit sie das Leben außerhalb des Studios kennenlernte, und er wäre niemals auf den Gedanken gekommen, sie könnte ihrem Verderben ausgerechnet in der Kirche, bei den Chorproben begegnen – oder ihren gewissenlosen Verführer ins Studio bringen, damit er eine Tätowierung bekam.

Williams Eltern bestanden darauf, daß er, obgleich er erster Organist an der Pfarrkirche von Süd-Leith war, eine Stelle als zweiter Organist in Old St. Paul’s annahm. Für sie war wichtig, [19] daß Old St. Paul’s episkopalisch war und in Edinburgh stand, nicht in Leith.

William war von der Orgel fasziniert. Er hatte mit sechs begonnen, Klavier spielen zu lernen, und war neun gewesen, als er zum ersten Mal Orgel gespielt hatte, doch schon mit sieben oder acht hatte er kleine Papierschnipsel über den Tasten befestigt und sich vorgestellt, es seien Orgelregister. Er träumte bereits davon, Orgel zu spielen, und das Instrument, von dem er träumte, war die Father-Willis-Orgel in Old St. Paul’s.

Seine Eltern mochten finden, eine Anstellung als zweiter Organist in Old St. Paul’s sei prestigeträchtiger denn eine als erster Organist in der Pfarrkirche von Süd-Leith, doch William wollte nur die Father-Willis-Orgel spielen. Die Akustik der Kirche trug, wie Jacks Mutter sagte, zum Ruhm dieser Orgel bei. Der Junge fragte sich später, ob sie damit gemeint hatte, daß dort beinahe jede Orgel gut klingen würde, weil die Nachhallzeit wichtiger war als die Qualität der Orgel.

Alice erinnerte sich, in Old St. Paul’s einmal etwas gehört zu haben, was sie als »Orgelmarathon« bezeichnete. Es handelte sich um ein vierundzwanzigstündiges Orgelkonzert, bei dem die Organisten alle Stunde oder halbe Stunde wechselten und das sicher für irgendwelche wohltätigen Zwecke veranstaltet wurde. Wer wann spielen durfte, war natürlich hierarchisch geregelt; die besten Organisten traten auf, wenn voraussichtlich viele Menschen da sein würden, die anderen waren zu weniger günstigen Zeiten an der Reihe. Der junge William Burns durfte vor Mitternacht spielen – wenn auch nur eine halbe Stunde vorher.

Die Kirche war halb leer oder sogar noch leerer. Niemand im Publikum war so hingerissen wie Jacks Mutter. Der etwas schlechtere Organist, der als nächster spielen würde, war wohl ebenfalls anwesend – der Mann in der Warteposition, der die Mitternachtsschicht hatte.

William wollte die legendäre Nachhallzeit von Old St. Paul’s [20] nicht auf ein leises Stück verschwenden. Wenn Jack die Geschichte, die seine Mutter ihm erzählte, richtig verstand, spielte sein Vater Orgel, um gehört zu werden; seine Wahl war auf die Tokkata von Boëllmann gefallen, die Alice als »aufwühlend und laut« bezeichnete.

Eine schmale Gasse führte an Old St. Paul’s vorbei, und dort drückte sich einer von Edinburghs Obdachlosen – höchstwahrscheinlich betrunken – an die Außenmauer der Kirche und suchte Zuflucht vor dem Regen. Er war entweder in dieser Gasse zusammengebrochen oder hatte sich absichtlich dort schlafen gelegt; vielleicht war es auch sein Stammplatz. Aber nicht einmal ein Betrunkener kann schlafen, wenn Boëllmanns Tokkata erklingt – offenbar nicht einmal außerhalb der Kirche.

Alice führte den Auftritt des betrunkenen Penners gern vor. »Ist jetzt vielleicht mal Schluß? Wie soll ich auch nur ein Scheißauge zumachen, wenn dieses Scheißding von einer Scheißorgel einen Krach macht, daß die Scheißtoten aus den Gräbern auferstehen?«

Alice fand, für diese Worte hätte der Mann es verdient gehabt, von einem Blitz niedergestreckt zu werden, doch bevor Gott tätig werden konnte, fuhr William fort zu spielen –, und er spielte wie besessen. Er spielte so laut, daß alle, einschließlich Alice’, aus der Kirche liefen. Der Organist, der die Mitternachtsschicht hatte, stand mit ihr draußen im Regen. Jack erfuhr, der Mann mit der unflätigen Ausdrucksweise sei nirgends mehr zu sehen gewesen. »Wahrscheinlich hat er sich einen Schlafplatz außer Reichweite von Boëllmanns Tokkata gesucht.«

Trotz dieser wahrhaft erschütternden Darbietung war William Burns von der Orgel enttäuscht. Die Father-Willis-Orgel stammte aus dem Jahr 1888 und hätte weit besser geklungen, wäre sie noch im Originalzustand gewesen. Leider hatte man, wie William glaubte, »viel an ihr herumgefummelt«; als er sie spielen durfte, war sie restauriert und mit elektrischen [21] Aggregaten versehen worden – in den anti-viktorianischen sechziger Jahren ein völlig normaler Vorgang.

Nicht daß Alice sich in irgendeiner Weise für die Orgel interessierte. Was sie niederschmetterte, war die Tatsache, daß sie, als William seine Stelle als Organist in der Pfarrkirche von Süd-Leith aufgab, um die Father-Willis-Orgel in Old St. Paul’s zu spielen, nicht in den dortigen Chor wechseln konnte. Damals war der Chor von Old St. Paul’s ein reiner Männerchor, und von den Gemeindeplätzen aus konnte Alice nur Williams Rücken sehen.

Wie sie den Chor beneidete! Nicht nur, weil es eine Prozession gab, bei der der Chor dem Kreuz folgte, sondern auch, weil der Chor vorn saß, wo alle ihn sehen konnten, und nicht versteckt irgendwo hinten, wie in Leith. Jacks Mutter war besonders unglücklich, als sie herausfand, daß sie beileibe nicht die einzige Chorsängerin war, die sich in Jacks Vater verliebt hatte. Sie war nur die einzige, die schwanger geworden war.

Als neuer Hilfsorganist in Old St. Paul’s war William dem Organisten und dem Pfarrer Rechenschaft schuldig; daß er die Tochter eines Tätowierers aus Leith geschwängert hatte, war etwas, das weder seine ehrgeizigen Eltern noch die Scottish Episcopal Church auf die leichte Schulter nahmen. Wessen Entscheidung es war, ihn »nach Nova Scotia verschwinden zu lassen«, wie Jacks Mutter es ausdrückte, fand Jack nie heraus, doch wahrscheinlich hatten sowohl Williams Eltern als auch die Kirche die Finger im Spiel.

Das Gegenstück von Old St. Paul’s in Halifax, die Anglican Church of Canada, hieß einfach St. Paul’s. Dort gab es keine Father-Willis-Orgel. Die Kirche mit der besten Orgel in Halifax war die First Baptist Church in der Oxford Street. William Burns hatte vermutlich die Anweisung erhalten, sich rasch zu entscheiden. Es gibt keine andere Erklärung, warum er der Konfessionsgemeinschaft den Vorzug vor dem Instrument gab – schließlich [22] war es die Musik und nicht die Kirche, die ihm etwas bedeutete. Aber der Organist von St. Paul’s ging in Ruhestand; der Zeitpunkt war günstig.

In der breiten Schneise, die William, wie es hieß, in Halifax geschlagen hatte, lagen höchstwahrscheinlich auch ein, zwei Chormädchen. (Es hieß, unter seinen Opfern sei auch eine ältere Frau gewesen.) Binnen kurzem war er bei den Anglikanern nicht mehr wohlgelitten; laut Alice hätte es bei den Baptisten nicht einen Tag länger gedauert.

Williams Eltern hatten Alice angeblich gesagt, sie hätten ihm weder Geld geschickt noch ihr seinen Aufenthaltsort verschwiegen. Die erste Behauptung stimmte wohl: Williams Eltern hatten nicht viel Geld. Alice fiel es jedoch schwerer zu glauben, daß sie nichts getan hatten, um ihn von ihr fernzuhalten. Und als William aus Halifax fliehen mußte – kurz vor Alice’ Ankunft in dieser Stadt –, hatte er gewiß kaum noch Geld. Er hatte sich abermals tätowieren lassen, wie Alice feststellte, als sie nach ihm suchte, und zwar in Charlie Snows Studio in Halifax, wo der Strom für die elektrischen Maschinen aus Autobatterien stammte. Und es hatte sicher eine Weile gedauert, bis William eine Stelle in Toronto gefunden und um so schneller wieder verloren hatte.

Alice warf den Gemeindemitgliedern von Old St. Paul’s nie vor, daß sie William möglicherweise geholfen hatten, nach Nova Scotia zu verschwinden. Immerhin waren sie es – und überraschenderweise nicht die Mitglieder ihrer eigenen Gemeinde in Süd-Leith –, die eine Kollekte veranstalteten, damit Alice ihm nach Halifax nachreisen konnte.

Auch die Anglican Church of Canada in Halifax kümmerte sich gut um sie, und zwar ohne Hintergedanken. Doch zunächst einmal brachte man sie im Pfarrhaus von St. Paul’s an der Ecke Argyle und Prince Street unter, bis ihre Zeit gekommen war. Inzwischen war sie nicht nur schwanger – man sah es auch.

[23] Es war, wie sie sagte, eine schwere Geburt. »Ein Kaiserschnitt«, bemerkte sie etwa zu der Zeit, als sie im ersten der zahlreichen Nordseehäfen eintrafen. Der vierjährige Jack schloß daraus, daß man bei schwierigen Geburten den Kaiser rief, damit dieser den Bauch der Mutter aufschnitt. Etwas später – wahrscheinlich während, nicht nach ihrer Europareise – erfuhr er, was es mit einem Kaiserschnitt in Wirklichkeit auf sich hatte. Erst da wurde ihm erklärt, dies sei der Grund, warum er nicht mit seiner Mutter baden oder sie in anderen Situationen nackt sehen sollte. Alice sagte, sie wolle nicht, daß er die Narbe sehe.

Also wurde Jack Burns in Halifax geboren, in der Obhut jener anderen St.-Paul’s-Gemeinde. Seine Mutter erinnerte sich – gern – daran, daß die Gemeinde dem gefallenen, der Church of Scotland angehörenden Chormädchen ein beträchtliches Mitgefühl entgegengebracht und über den schändlichen Organisten, der immerhin ein Gemeindemitglied war, mit äußerster Verachtung gesprochen hatte. Die Schottischen Episkopalen und die Kanadischen Anglikaner waren aus demselben Holz geschnitzt. Offenbar hatte es an den Mitgliedern der anglikanischen Gemeinde von St. Paul’s in Halifax gelegen, daß William sich nicht lange in Toronto hatte verstecken können.

Alice drückte es so aus: »Die Kirche war ihm auf den Fersen.«

Nachdem Jack in Nova Scotia geboren worden war, arbeitete Alice für Charlie Snow. Charlie war ein Engländer, der im Ersten Weltkrieg Matrose in der britischen Handelsmarine gewesen war; angeblich hatte er sich in Montreal abgesetzt, wo Freddie Baldwin, Veteran des Burenkriegs und ebenfalls Engländer, ihm das Tätowieren beigebracht hatte.

Sowohl Freddie Baldwin als auch Charlie Snow hatten den Großen Omi gekannt. Die Leute zahlten Geld, um das tätowierte Gesicht des Großen Omi zu sehen; er kam mit dem Zirkus nach Halifax. Wenn er durch die Stadt lief, trug er eine Skimaske. »Niemand bekam sein Gesicht umsonst zu sehen«, sagte [24] Jacks Mutter. (Das war noch mehr Material für Jacks Alpträume: Er stellte sich unwillkürlich die schrecklichsten Tätowierungen auf dem Gesicht des Großen Omi vor.)

Von Charlie Snow lernte Alice, die Tätowiermaschinen mit Äthylalkohol auszuspülen; sie putzte die Schläuche mit Pfeifenreinigern, die sie mit dem Alkohol getränkt hatte, und jede Nacht kochte sie die Schläuche und Nadeln in einem Dampfkochtopf aus. »So einem, in dem man Muscheln und Hummer kocht«, sagte sie.

Charlie Snow schnitt seine Verbände selbst aus Leinenstoff zu. »Damals gab es nicht viele Fälle von Hepatitis«, erklärte Alice.

Sie erzählte Jack, daß Charlie Snow seine beeindruckendste Tätowierung von Charlie Baldwin bekommen hatte. Über Charlies Herz saß Sitting Bull und blickte General Custer an, der, ohne ihn zu sehen, auf die rechte Seite von Charlies Brust starrte. Mitten über Charlies Brustbein fuhr mit vollen Segeln ein Schiff; auf einem Banner unter seinem Schlüsselbein stand HEIMWÄRTS.

Charlie Snow kehrte erst 1969, mit achtzig, heim zu seinem letzten Liegeplatz. (Er starb an einem durchgebrochenen Geschwür.) Alice lernte eine Menge von Charlie Snow, aber Jerry Swallow, dessen Künstlername Matrosen-Jerry war, brachte ihr bei, wie man einen japanischen Karpfen machte; er war 1962 Charlie Snows Lehrling geworden. Alice sagte oft, Jerry Swallow und sie seien bei Charlie »gemeinsam in die Lehre gegangen«, aber natürlich hatte sie schon im Studio ihres Vaters in Leith viel gelernt.

Schon lange bevor sie in Halifax vor Anker gegangen war, wußte Jacks Mutter, wie man tätowierte.

Jack Burns hatte keinerlei Erinnerung an seinen Geburtsort. Bis zum Alter von vier Jahren war Toronto die einzige Stadt, die er kannte. Er war noch ein Kleinkind, als seine Mutter erfuhr, daß [25] sein Vater in Toronto war und was er dort machte. Sogleich folgten sie ihm dorthin, doch er hatte die Stadt schon wieder verlassen. Das entwickelte sich langsam zu einem Muster. Als der Junge alt genug war, um einen Begriff von der Abwesenheit seines Vaters zu haben, gab es Gerüchte, William habe erneut den Atlantik überquert und sei wieder in Europa.

Als Jugendlicher fragte Jack sich oft, ob es die Geschichten von den Taten seines Vaters gewesen waren, die seine Mutter zu St. Hilda geführt hatten. Es erschien unglaublich, aber die Schule hatte William Burns als Leiter des Chors der älteren Schülerinnen eingestellt, der aus Mädchen der 9. bis 13. Klassen bestand. William erteilte auch Privatunterricht an Klavier und Orgel, und zwar beinahe ausschließlich älteren Mädchen. Man kann nur spekulieren, was Jack als Teenager von den Abenteuern seines Vaters an einer reinen Mädchenschule hielt. (Williams bemerkenswerter Einsatz für die musische Bildung der Mädchen bewirkte außerdem, daß man ihn als ersten Organisten bei den täglichen Gottesdiensten spielen ließ.)

Wie nicht anders zu erwarten, war Williams Erfolg in St. Hilda nur von kurzer Dauer. Ein Mädchen aus der 11. Klasse – eine seiner Klavierschülerinnen – erlag als erste seinem Charme, doch es war eine Schülerin der 13. Klasse, die von ihm schwanger wurde. Er fuhr sie später nach Buffalo, wo sie eine illegale Abtreibung vornehmen ließ. Als Alice mit ihrem unehelichen Kind in Toronto eintraf, war William bereits geflohen, und wieder einmal wurden Jack und seine Mutter von Kirchgängern willkommen geheißen.

St. Hilda war eine anglikanische Schule; die Schulkapelle, in der viele der Absolventinnen sich später trauen ließen, war eine der Bastionen der anglikanischen Kirche von Kanada in Toronto. Die wenigen Stipendien für diese Schule, die es in den sechziger Jahren gab, wurden von der Old Girl’s Association, einer einflußreichen Vereinigung ehemaliger Schülerinnen, finanziert. [26] Die Töchter anglikanischer Geistlicher hatten gewöhnlich Vorrang, doch die Entscheidung, wer sonst noch auf Unterstützung rechnen konnte, blieb der Gemeinde überlassen. Nicht nur die Anglikaner, die Schulleitung und die Lehrer, sondern auch die Old Girls erfuhren rasch von Alice und ihrem Zustand. (Der Zustand war natürlich Jack.) Darum nahm Jack, als seine Mutter ihm sagte, er werde einer der wenigen Jungen sein, die neuerdings in St. Hilda aufgenommen würden, natürlich an, daß Alice auf die Hilfe der Ehemaligen zählen konnte.

Tatsächlich hatten Alice und Jack bereits Glück gehabt, denn sie waren im Haus einer Ehemaligen untergekommen. Mrs. Wicksteed war ein Eckpfeiler der Vereinigung. Nach dem Tod ihres Mannes brach sie unerklärlicherweise auch Lanzen für ledige Mütter. Sie setzte sich nicht nur vehement für sie ein, sondern nahm sie auch unter ihrem Dach auf.

Mrs. Wicksteed war eine Witwe, deren Trauerzeit längst vorüber war; sie lebte praktisch allein in einem stattlichen, aber nicht allzu imposanten Haus Ecke Spadina Road und Lowther Avenue, wo Jack und seine Mutter Zimmer bekamen. Die Räume waren nicht groß, und es waren auch nur zwei (mit einem gemeinsamen Bad), aber sie waren hübsch und sauber und hatten hohe Decken.

Die Haushälterin hieß Lottie, stammte von Prince Edward Island und hinkte.

Lottie wurde Jacks Kindermädchen, während Alice Arbeit in der Branche suchte, in der sie sich auskannte.

In den sechziger Jahren war Toronto alles andere als das Tätowierungs-Mekka Nordamerikas. Alice’ Lehrjahre im Studio ihres Vaters und ihre berufliche Weiterbildung bei Charlie Snow und Matrosen-Jerry in Halifax hatten sie für die Studios in Toronto überqualifiziert. Sie war wesentlich besser als Beachcomber Bill, der ihr (aus Gründen, die Jack nicht kannte) keinen Job anbot, und sie war auch besser als der Mann, den man den [27] Chinesen nannte und der dies sehr wohl tat. Sein wirklicher Name war Paul Harper, und er sah keineswegs chinesisch aus, aber er wußte, daß Alice 1965 die beste Tätowiererin in Toronto war, und stellte sie sofort ein.

Das Studio des Chinesen lag an der nordwestlichen Ecke von Dundas und Jarvis Street. Unweit des alten Warwick Hotels stand ein viktorianisches Haus mit einer Treppe, die zu einem Souterraineingang führte. Dort befand sich das Studio, das man direkt vom Bürgersteig der Dundas Street betrat; die Vorhänge der Fenster waren stets zugezogen.

Als Kind dachte Jack gelegentlich daran, Paul Harper in seine Gebete einzuschließen. Der sogenannte Chinese half Alice, beruflich Fuß zu fassen in der Stadt, die schließlich ihre – wenn auch nie Jacks – Heimatstadt werden sollte.

Doch es ist nicht gut, jemandem verpflichtet zu sein; Verpflichtungen haben oft einen Preis. Während der Chinese Alice niemals das Gefühl gab, sie sei ihm etwas schuldig, lag der Fall bei Mrs. Wicksteed vollkommen anders. Daß sie es gut meinte, stand außer Frage, aber wenn jemand – beispielsweise ihre geschiedene Tochter – sagte, Jack und Alice seien »mietfreie Mieter«, so war das eine falsche Verwendung des Wortes »mietfrei«.

Mrs. Wicksteed kam übereilt zu dem Schluß, Alice’ schottischer Akzent wirke sich ungünstig auf ihren gesellschaftlichen Status aus und sei letztlich schädlicher als ihre exotische, aber anrüchige Tätigkeit als Tätowiererin. Nach Jacks Eindruck war Mrs. Wicksteed überzeugt, die rollenden Rs seiner Mutter seien nicht nur ein Verbrechen an der englischen Sprache – oder jedenfalls an der Sprache, deren Mrs. Wicksteed sich bediente –, sondern auch ein Makel, der »die arme Alice« für alle Zeit zu Lebensumständen verdammen werde, die noch schlimmer waren als die in Leith.

Als Ehemalige mit Vermögen und einer unerschütterlichen Loyalität gegenüber St. Hilda beauftragte Mrs. Wicksteed eine [28] junge Lehrerin dieser Schule, eine gewisse Miss Caroline Wurtz, damit, Alice’ anstößigen Akzent zu eliminieren. In Mrs. Wicksteeds Augen verfügte Miss Wurtz nicht nur über eine makellose Aussprache; es hatte vielmehr auch den Anschein, als fehlte es ihr an der nötigen Phantasie, um Alice’ Zungen-Rs sympathisch finden zu können. Möglicherweise ging Miss Wurtz’ Mißbilligung aber auch noch weiter – vielleicht fand sie, der schottische Akzent sei das am wenigsten Anstößige an dieser jungen Tätowiererin.

Caroline Wurtz stammte aus Deutschland und war auf dem Umweg über Edmonton nach Toronto gekommen; sie war eine hervorragende Lehrerin. Sie hätte jeden von seinem ausländischen Akzent kurieren können, ja schon das Wort ausländisch war etwas, dem sie sich beherzt entgegenwarf. Und was auch immer der Grund für ihre scheinbare Mißbilligung von Alice war – sie fand offenbar großen Gefallen an Jack. Sie konnte den Blick nicht von dem Jungen wenden; manchmal, wenn sie ihn ansah, schien sie in seinen Gesichtszügen zu lesen, was die Zukunft für ihn bereithielt.

Was Alice betraf, so hatte sie jede Bindung an Schottland aufgegeben; sie unterwarf sich Carolines Anweisungen in Hinblick auf Diktion und Artikulation, als gäbe es in ihrer Muttersprache nichts, was ihr lieb und teuer war. Der Tod ihres Vaters – nach ihrer Ankunft in Halifax, aber vor Jacks Geburt – sowie Williams Flucht hatten bewirkt, daß sie Miss Wurtz nichts entgegenzusetzen hatte.

So kam zum Verlust ihrer Tugend auf der einen Seite des Atlantiks auch noch der Verlust ihres schottischen Akzents auf der anderen hinzu.

»Das war keine große Sache«, vertraute sie Jack eines Tages an. (Der Junge nahm an, daß seine Mutter ihren Akzent meinte.) Alice schien weder Miss Wurtz noch Mrs. Wicksteed etwas nachzutragen. Jacks Mutter war keine gebildete Frau, wußte sich [29] jedoch gut auszudrücken. Mrs. Wicksteed war äußerst gütig zu ihr und Jack.

Jack liebte die hinkende Lottie. Sie hielt ihn immer an der Hand und griff oft danach, bevor er nach ihrer greifen konnte. Und wenn sie ihn umarmte, spürte Jack, daß sie das ebensosehr aus eigennützigen Gründen tat wie aus dem Bestreben, ihm das Gefühl zu geben, daß er geliebt wurde.

»Wir halten jetzt den Atem an, du und ich«, sagte sie, und wenn sie das dann taten, Brust an Brust, konnten sie spüren, wie ihre Herzen schlugen. »Du scheinst am Leben zu sein«, sagte sie dann immer.

»Du scheinst auch am Leben zu sein, Lottie«, antwortete der Junge und schnappte nach Luft.

Später erfuhr Jack, daß Lottie Prince Edward Island in demselben Zustand verlassen hatte, in dem seine Mutter gewesen war, als sie das Schiff nach Halifax bestiegen hatte – nur daß Lotties Kind nach ihrer Ankunft in Toronto tot geboren worden war. Mrs. Wicksteed und die Vereinigung der Ehemaligen von St. Hilda waren äußerst gütig zu ihr gewesen. Ganz gleich, ob man sie als Anglikaner, als Episkopale oder als Anhänger der Church of England bezeichnete – die Ehemaligen bildeten ein Netzwerk. Und angesichts der Tatsache, daß Jack und seine Mutter als Heimatlose in die Neue Welt gekommen waren, konnten sie sich glücklich schätzen, in der Obhut dieser Ehemaligen zu sein.

[30] 2

Der kleinste Soldat von allen

Stronach ist ein Name aus Aberdeen, und darum war Bill Stronach, Alice’ Vater, in der Welt der Tätowierer als Aberdeen-Bill bekannt, auch wenn er in Leith geboren war und nichts mit Aberdeen zu tun hatte. Laut Alice, seinem einzigen Kind, hatte Bill Stronach ein betrunkenes Wochenende in Aberdeen verbracht – eines von diesen Wochenenden, an denen alles schiefgegangen war –, mit dem Ergebnis, daß er für den Rest seines Lebens Aberdeen-Bill hieß. Als junger Mann war Aberdeen-Bill mit dem Zirkus gereist. Nachts hatte er die Zirkusleute in ihren Zelten tätowiert, gewöhnlich beim Schein einer Öllampe. Er hatte gelernt, seine beste schwarze Tinte aus dem Ruß von Öllampen herzustellen, den er mit Melasse vermischte.

Bevor Jack und seine Mutter im Herbst 1969 nach Europa aufbrachen, schrieb Alice alle Tätowierer in den Städten auf ihrer geplanten Reiseroute an, von denen sie gehört hatte. Sie habe ihr Handwerk im Studio Persevere in Leith gelernt, schrieb sie; eigentlich hätte es gereicht zu sagen, daß sie Aberdeen-Bills Tochter war. Ein Tätowierer in diesen Nordseehäfen, der nicht von Aberdeen-Bill gehört hatte, war seine Nadeln nicht wert.

Ihr erstes Ziel war Kopenhagen. Die Adresse von Ole Hansens Studio lautete Nyhavn 17; Ole hatte Alice’ Brief erhalten und erwartete sie. Wie Aberdeen-Bill war auch Tatovør-Ole ein Mann der Seefahrt. (Er hätte sich niemals als Künstler bezeichnet, sondern nannte sich schlicht »Tätowierer«.) Und wie Aberdeen-Bill war auch Tatovør-Ole jemand, unter dessen Händen viele Herzen und Meerjungfrauen, Schlangen und Schiffe, Flaggen und Blumen, Schmetterlinge und nackte Frauen entstanden.

[31] Es war Tatovør-Ole – damals ein Mann von Anfang Vierzig –, der Alice ihren Künstlernamen gab. Sie trat mit Jack in Oles Studio am Nyhavn, wo das kabbelige Wasser des grauen Kanals an die Schiffsrümpfe klatschte – es war spät im November, und von der Ostsee wehte ein frischer Wind. Ole sah von der Tätowierung auf, an der er gerade arbeitete: eine nackte Frau auf dem breiten Rücken eines halbnackten Mannes.

»Du mußt Tochter Alice sein«, sagte er. Und so hatte Alice einen Künstlernamen, noch bevor sie ein eigenes Studio besaß.

Tatovør-Ole stellte sie sofort ein. In der ersten Woche tätowierte Ole die Konturen und überließ Alice die Schattierungen. Danach hatte sie freie Hand.

Bei Tatovør-Ole zählte nur eines: daß er ein Mann der Seefahrt war und daß Tochter Alice tat, was er ihr sagte. Immerhin hatte sie bei ihrem Vater gelernt; sie hatte ihre ersten Tätowierungen mit der Hand gestochen, bis Bill ihr schließlich die Handhabung der elektrischen Maschine erklärt hatte.

Vom Studio ihres Vaters in Leith war Alice mit den Acetatschablonen vertraut, die Tatovør-Ole verwendete. Sie zeichnete ein gebrochenes oder entzweigerissenes Herz oder ein blutendes, mit dornigen Rosen umkränztes Herz. Sie zeichnete schaurige Totenschädel und gekreuzte Knochen oder feuerspeiende Drachen. Sie zeichnete beeindruckende Versionen von Christus am Kreuz und eine wunderschöne Jungfrau Maria, über deren Wange eine grüne Träne rann. Sie zeichnete eine Göttin, die im Begriff war, mit einem Schwert eine Schlange zu köpfen. Sie zeichnete Schiffe auf hoher See, alle möglichen Anker und eine Meerjungfrau, die im Damensitz auf einem Delphin ritt. Sie zeichnete auch eigene nackte Frauen und weigerte sich, Oles Schablonen zu benutzen.

An Tatovør-Oles nackten Frauen störte Alice etwas: Der schmale Streifen ihres Schamhaars war gewölbt wie eine auf dem Kopf stehende Augenbraue, wie ein von einer vertikalen Linie [32] geteiltes Lächeln. Diese Frauen hatten oft mehr Haare in den Achselhöhlen. Doch die einzige Kritik, die Alice gegenüber Tatovør-Ole äußerte, war die Bemerkung, sie zeige ihre nackten Frauen lieber »von hinten«.

Oles anderer Lehrling, Lars Madsen, hieß Herzensbrecher-Lars oder Herzensbrecher-Madsen. Er war ein nicht sonderlich selbstsicherer junger Mann, der Alice anvertraute, er möge nackte Frauen so, wie er sie bekommen könne. »Von vorne und von hinten.«

Worauf Alice, wenn überhaupt, antwortete: »Nicht wenn Jack dabei ist.«

Der Junge mochte Herzensbrecher-Lars. Seine Mutter hatte ihn so gut wie nie in das Studio des Chinesen in Toronto mitgenommen. Obwohl Jack eine Menge über ihre Ausbildung und ihre Fertigkeiten als Tätowiererin wußte, hatte seine Mutter nie Wert darauf gelegt, daß er ihr bei der Arbeit zusah. Doch in Kopenhagen gab es keine Lottie, und bis Tatovør-Ole zwei Zimmer mit Bad in der Angestelltenetage des Hotel d’Angleterre für sie fand, schliefen Jack und seine Mutter im Studio.

»Ich schlafe mal wieder in den Nadeln«, sagte Tochter Alice, als hätte sie dabei gemischte Gefühle.

Trotz mancher Vorbehalte hatte sie Jack hin und wieder mit den Tätowiermaschinen spielen lassen. Für den Jungen hatten sie Ähnlichkeit mit Pistolen, auch wenn ihr Geräusch eher dem eines Zahnarztbohrers gleicht und sie mehr als zweitausend Stiche pro Minute machen können.

Bevor Jack und Alice nach Kopenhagen fuhren, hatte der Junge hin und wieder an einer Orange oder Grapefruit üben dürfen und einmal auch an einer Flunder – aber eben nur ein einziges Mal, denn seine Mutter sagte, frischer Fisch sei teuer. (Die Haut einer frischen Flunder, hatte Aberdeen-Bill seiner Tochter gesagt, komme in ihrer Beschaffenheit der menschlichen Haut [33] am nächsten.) Herzensbrecher-Lars aber ließ Jack an seinem Körper üben.

Lars Madsen war etwas jünger als Alice, als Lehrling aber weit unerfahrener; vielleicht war das der Grund, warum Lars dem Jungen gegenüber so großzügig war. Nachdem Tatovør-Ole gesehen hatte, was Alice konnte, durfte der arme Lars nur noch schattieren. Mit wenigen Ausnahmen ließen Ole und Alice ihn lediglich ihre Konturen füllen, doch bei Herzensbrecher-Madsen durfte Jack die Konturen stechen.

Es war kühn, ja geradezu leichtsinnig von Lars, einen Vierjährigen an seine Haut zu lassen. Glücklicherweise beschränkte Jack sich auf den Bereich von Madsens Knöcheln, wo ein »Picker« (ein schlechter Tätowierer) die Namen zweier ehemaliger Freundinnen des Herzensbrechers gestochen hatte. Diese Tätowierungen erwiesen sich nun als hinderlich für sein Liebesleben – jedenfalls glaubte er das. Der Junge sollte diese Namen überdecken.

Tatsächlich dienen etwa zwanzig Prozent aller Tätowierungen dazu, ältere Tätowierungen zu überdecken – und dabei handelt es sich zur Hälfte um irgendwelche Namen. Herzensbrecher-Madsen war blond und blauäugig. Seine gebrochene Nase und die Zahnlücke, die man sah, wenn er lächelte, verdankte er einem verlorenen Faustkampf. Um einen Knöchel zog sich ein grüner Dornenzweig mit kleinen roten Herzen – als hätte ein Rosenstrauch irrtümlich nicht Blüten, sondern Herzen hervorgebracht. Um den anderen Knöchel schmiegte sich eine schwarze Kette. Der Zweig wand sich durch die Buchstaben des Wortes Kirsten, und in den Kettengliedern stand Elise.

Die Tätowiermaschine vibrierte in der kleinen Hand des Jungen. Als er sie ansetzte, drückte er wohl zu fest auf. Der Kunde sollte – jedenfalls, wenn er nüchtern ist – nicht bluten, und Madsen hatte nichts Stärkeres als Kaffee getrunken. Die Nadeln dringen nicht tiefer als 0,4 bis 1 Millimeter in die Haut ein, so daß sie keine Blutgefäße verletzen. Bei dem armen Lars ging Jack jedoch [34] offenbar tiefer. Der Herzensbrecher nahm es zwar sportlich, doch da Tinte spritzte und überraschend viel Blut quoll, gab es eine Menge wegzuwischen. Madsen blutete nicht nur – seine Haut glänzte auch von Vaseline.

Daß Lars sich nicht beklagte, lag nicht nur an Jacks Jugend. Lars war bestimmt in Alice verliebt – möglicherweise versuchte er, ihr Herz zu gewinnen, indem er Jack seine Knöchel opferte.

Alice war Anfang zwanzig, und Lars war achtzehn oder neunzehn, und in diesem Lebensabschnitt bekommt beinahe jeder Altersunterschied zwangsläufig eine große Bedeutung. Auch Madsens Gesichtsbehaarung verbesserte seine Aussichten nicht gerade. Er trug mit gänzlich unangebrachtem Stolz ein äußerst schütteres Ziegenbärtchen, das eher aussah, als hätte er vergessen, sich zu rasieren.

Die Familie Madsen war im Fischgeschäft. (Verkaufen, nicht tätowieren.) Herzensbrecher-Lars hatte jedoch absolut keine Lust, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten. Sein Talent als Tätowierer mochte begrenzt sein, doch er fand in dieser Branche immerhin eine gewisse Distanz zu seiner Familie und der Welt des Fischs. Jedesmal, wenn er sich die Haare wusch, spülte er sie mit frischem Zitronensaft aus. Das Problem war nicht unähnlich dem, das er mit Kirsten und Elise hatte, den verflossenen Freundinnen, die an seinen Knöcheln prangten: Lars glaubte, er sei bis an die Haarwurzeln mit dem Geruch des Familiengeschäfts durchtränkt.

Tatovør-Ole untersuchte Jacks Überdecker des Namenszugs Kirsten – das war der mit den Herzen und Dornen – und verkündete, nicht einmal Herbert Hoffmann in Hamburg hätte es besser machen können. (Trotz der Lobeshymne blutete Lars Madsen noch immer.)

Alice’ Methode, Buchstaben zu überdecken, bestand darin, diese in Blätter oder Beeren umzuwandeln. Aus jedem Buchstaben, sagte sie Jack, könne man ein Blatt oder eine Beere machen, [35] gelegentlich auch ein Blütenblatt. Manche Buchstaben hatten mehr runde Bestandteile als andere – hier bot sich die Form einer Beere an. Die Buchstaben, die mehr gerade Elemente und Winkel enthielten, wurden zu Blättern. Ein Blütenblatt dagegen konnte sowohl spitz als auch rund sein.

Kirsten brachte mehr Blätter als Beeren und ein seltsames Blütenblatt hervor. Zusammen mit den unverändert gebliebenen Herzen und Dornen umkränzten sie Lars’ linken Knöchel mit einer eigenartigen Girlande: Es sah aus, als wären viele kleine Tiere geschlachtet und ihre Herzen in einem ungepflegten Garten verteilt worden.

Jack war recht zuversichtlich, auch Elise überdecken zu können, doch die schwarzen Kettenglieder gaben einen schlechten Hintergrund für jede denkbare Kombination von Blättern und Beeren ab. Außerdem läßt sich einem E nicht so ohne weiteres eine Form verleihen, die auch nur entfernte Ähnlichkeit mit etwas Pflanzlichem hat.

Für seinen zweiten Versuch auf menschlicher Haut war die Wahl des Vierjährigen auf einen Stechpalmenzeig gefallen. Die spitzen, gezackten Blätter und die leuchtendroten Beeren erschienen ihm ideal für einen Namen, der so kurz war wie Elise. Das Ergebnis erinnerte an einen mißhandelten Weihnachtsschmuck, den jemand zum Spott an einem Maschendrahtzaun befestigt hatte.

Dennoch lautete Tatovør-Oles einziger Kommentar, daß selbst der legendäre Les Skuse aus Bristol Jack um seine Kunstfertigkeit beneidet hätte. Das war ein hohes Lob. Nur die Behauptung, daß Aberdeen-Bill sich in seinem Grab aufgesetzt hätte, um das Werk seines Enkels zu würdigen, hätte noch schmeichelhafter sein können, doch Ole wußte, wie empfindlich Alice auf Bemerkungen reagierte, in denen ihr Vater in einem Atemzug mit dem Wort Grab vorkam.

Sie war nicht in Leith gewesen, um die Asche ihres Vaters [36] durch den Zaun auf den Friedhof der Pfarrkirche zu streuen, aber ihr Vater hatte noch selbst dafür gesorgt, daß ein Fischer die Asche der Nordsee übergab. Und die allen Tätowierern in den Hafenstädten an der Nordsee bekannte Tatsache, daß Aberdeen-Bill sich zu Tode getrunken hatte, erwähnte Ole nur ein einziges Mal.

Hatte ihn die Schande seiner Tochter, die nach Halifax geflohen war und ein uneheliches Kind zur Welt gebracht hatte, in die Trunksucht getrieben? Oder war Aberdeen-Bill schon immer ein Trinker gewesen? Schließlich war ja schon an jenem Wochenende in Aberdeen alles schiefgegangen, und vielleicht hatte die Abreise seiner Tochter seine bereits bestehenden Probleme nur noch verschärft.

Tochter Alice sprach nie darüber, und auch Tatovør-Ole erwähnte das Thema nicht mehr. Jack Burns wuchs mit Gerüchten auf, und davon bekam der Junge in Nyhavn 17 eine Menge ab.

Jack überließ es natürlich seiner Mutter, Lars’ Knöchel zu reinigen und zu verbinden. Eine Tätowierung heilt von allein. Man deckt sie für einige Stunden ab und wäscht sie dann mit unparfümierter Seife. Man vermeidet zuviel Wasser und trägt lediglich eine Feuchtigkeitscreme auf. Ole erzählte Jack, eine frische Tätowierung fühle sich an wie ein Sonnenbrand.

Die Überdecker des Vierjährigen mochten in ästhetischer Hinsicht bedenklich sein, doch die beiden Namen waren verschwunden. Daß Herzensbrecher-Madsens Knöchel nun mit Gestrüppen umkränzt waren, die an Leichenteile erinnerten – oder schlimmer: mit etwas, das laut Tatovør-Ole »die reinste Anti-Weihnachts-Propaganda« war –, stand auf einem anderen Blatt.

Der arme Lars. Tatovør-Ole hatte ihm den Spitznamen Herzensbrecher verpaßt, doch das Gegenteil schien der Fall zu sein. Jack sah ihn nie in Gesellschaft einer Frau, hörte ihn nie von einer Frau sprechen. Natürlich lernte der Junge auch weder [37] Kirsten noch Elise kennen – nur ihre Namen, die er in Tinte und Blut ertränkte.

Wie jeder Vierjährige hörte Jack Burns nicht so genau hin, wenn Erwachsene sich unterhielten. Sein Verständnis von linearer Zeit mochte auf dem Niveau eines Elfjährigen sein, doch was er von der Geschichte seines Vaters wußte, stammte aus seinen kleinen Gesprächen mit seiner Mutter und nicht aus dem, was sie gegenüber anderen Erwachsenen sagte. Bei diesen Unterhaltungen schweifte Jacks Aufmerksamkeit immer wieder ab; er hörte noch nicht zu wie ein Elfjähriger.

Selbst Herzensbrecher-Lars erinnerte sich an William Burns, obwohl es Tatovør-Ole gewesen war, der ihn gestochen hatte, und es bei Notenschrift keine Schattierungen gab. Williams Tätowierungen waren einfach schwarz, es gab offenbar keine Abstufungen.

Ole drückte es so aus: »Alles an ihm war schwarz.«

Vermutlich schloß Jack aus dieser Bemerkung – sofern er sie überhaupt hörte –, daß sein Vater immer schwarze Kleider trug. (Aber Tatovør-Ole mochte Tochter Alice sehr gern, und so bezog sich das Wort »schwarz« möglicherweise auf Williams treuloses Herz.)

Doch den Spitznamen, den Tatovør-Ole seinem Vater gegeben hatte, hörte der Junge sehr wohl: »Der Musikmann.«

Ole hatte Weihnachtsmusik von Johann Sebastian Bach auf Williams rechte Schulter geschrieben, wo sich die Tätowierung gewellt wie ein Stück Fahnentuch präsentierte. Entweder aus dem Weihnachtsoratorium oder aus den Canonischen Veränderungen über das Weihnachtslied, vermutete Alice. Sie kannte viele der Stücke, die der junge Organist am liebsten spielte. Und im Nierenbereich, wo das Tätowieren besonders schmerzhaft ist, hatte Ole eine recht lange und komplizierte Phrase von Händel gestochen.

[38] »Noch mehr Weihnachtsmusik«, sagte Ole geringschätzig. Alice fragte sich, ob das Stück aus dem Weihnachtsteil des Messias stammte.

Ole äußerte sich kritisch über zwei Tätowierungen, die William bereits gehabt hatte und die natürlich nicht von Aberdeen-Bill stammten. (Ole bewunderte den Osterchoral auf Williams rechtem Oberschenkel sehr.) Und dann war da noch das Fragment eines anderen Chorals, das sich um den linken Unterschenkel schmiegte wie ein Strumpf ohne Fußteil. Hier gab es auch Worte zu den Noten, und Herzensbrecher-Madsen war von der Tätowierung so beeindruckt gewesen, daß er sich an den Text erinnerte. Es war ein anglikanisches Kirchenlied: »Erlöse mich, du Odem Gottes«.

Alice kannte es. Es klang eher wie ein Sprechgesang, doch sie nannte es einen Choral, weil Choräle, wie sie sagte, lediglich vertonte Gebete waren. (Sie hatte ihn Jack vorgesungen; sie hatte ihn mit William geprobt.) Aus dem hohen Lob, das Tatovør-Ole und der Herzensbrecher der Odem-Gottes-Tätowierung zollten, schloß Alice, daß sie Charlie Snows oder Matrosen-Jerrys Werk war. Ihre alten Freunde hatten ihr eine detaillierte Beschreibung der Tätowierungen, die William sich in Halifax hatte machen lassen, erspart.

Lars fand die beiden mißlungenen Tätowierungen des Musikmanns nicht so schlimm wie Ole, gab jedoch zu, die Nadelführung sei nichts Besonderes. Auf Williams linker Hüfte standen weitere Noten, doch der Tätowierer hatte nicht bedacht, daß eine Beugung der Hüfte einige davon zusammenpressen würde.

Aufgrund dieser spärlichen Indizien nahm Alice an, daß William bei Beachcomber Bill in Toronto gewesen war – obgleich sie später einräumte, daß ein solcher Fehler auch dem Chinesen hätte unterlaufen können. Den anderen Fehler – einige Noten lagen auf der Unterseite von Williams rechtem Bizeps und entzogen sich so dem Blick – traute sie beiden Männern zu.

[39] Tatovør-Ole und Herzensbrecher-Madsen vermittelten Jack und seiner Mutter einen recht guten Eindruck davon, wie der Musikmann seinen Körper gestaltete. Er war tatsächlich tintensüchtig – ein Sammler, wie Aberdeen-Bill prophezeit hatte.

»Aber was ist mit seiner Musik?« fragte Alice.

»Was soll damit sein?« erwiderte Ole.

»Er muß irgendwo Orgel spielen«, sagte Alice. »Ich nehme doch an, daß er einen Job hat.«

Jack Burns erinnerte sich recht genau an die Stille, nicht aber an das Gespräch, das dann folgte. Zum einen war es in Tatovør-Oles Studio eigentlich nie ganz still, denn das Radio spielte immer irgendeine Unterhaltungsmusik. Und in dem Augenblick, als Jacks Mutter die Frage nach dem Aufenthaltsort seines Vaters aufbrachte, die – das begriff Jack schon mit vier Jahren – im Zentrum ihres Lebens stand, surrten drei Maschinen.

Tatovør-Ole arbeitete an einer seiner nackten Frauen, einer Meerjungfrau, also ohne die umgedrehte Augenbraue, die Alice so mißfiel. Der Kunde, ein alter Seemann, schlief oder war tot; er lag vollkommen reglos da, während Ole die Konturen der Schuppen auf dem Schwanz stach. (Es war ein Fischschwanz, der in weiblich geformten Hüften auslief – auch dies etwas, was Alice nicht gefiel.)

Herzensbrecher-Madsen war ebenfalls beschäftigt: Er schattierte eine von Oles Seeschlangen auf einem Schweden. Es schien sich um eine Würgeschlange zu handeln, denn sie umschlang ein berstendes Herz.

Alice legte letzte Hand an ihre berühmte Rose von Jericho. Es war ein regelrechtes Schmuckstück, das den linken Brustkorb eines halbwüchsigen Jungen halb bedeckte. Alice fand, daß er zu jung war, um zu wissen, was eine Rose von Jericho war. Jack war viel zu jung, um es zu wissen. Man hatte ihm erklärt, eine Rose von Jericho sei eine Rose, in der etwas verborgen sei.

»Eine Rose mit einem Geheimnis«, hatte seine Mutter gesagt.

[40] In den Blütenblättern der Rose sind die jener anderen Blume verborgen. Man kann in einer Rose von Jericho Schamlippen entdecken, wenn man weiß, wonach man suchen muß. Je schwerer sie auszumachen sind, desto besser ist die Tätowierung, erfuhr Jack später. (Und in einer guten Rose von Jericho springen einem die Schamlippen, wenn man sie erst einmal entdeckt hat, regelrecht entgegen.)

Drei Tätowiermaschinen machen recht viel Lärm, und der Junge, der die Rose von Jericho bekam, weinte schon seit einiger Zeit hörbar. Alice hatte ihn gewarnt, daß die Schmerzen vom Brustkorb bis zur Schulter ausstrahlen würden.

Doch als Alice sagte: »Ich nehme doch an, daß er einen Job hat«, glaubte Jack für einen Augenblick, es habe einen Stromausfall gegeben. Selbst das Radio verstummte.

Wie kann es sein, daß drei Tätowierer ohne ein Kommando oder verabredetes Signal gleichzeitig die Füße von den Fußschaltern nehmen? Die drei Maschinen hielten inne, der Fluß von Tinte und Schmerz wurde unterbrochen. Der komatöse Seemann öffnete die Augen und musterte die unfertige Meerjungfrau auf seinem geröteten Unterarm. Der Schwede, dessen herzumschlingende Schlange – die ausgerechnet über seinem Herzen saß – farbig schattiert wurde, sah Lars fragend an. Der weinende Junge hielt den Atem an. Waren die Sitzung und seine Schmerzen endlich vorüber?

Nur das Radio setzte wieder ein. (Jack erkannte das Weihnachtslied, auch wenn es auf dänisch gesungen wurde.) Da niemand ihr antwortete, wiederholte Alice ihre Frage. »Er muß irgendwo Orgel spielen«, sagte sie. »Ich nehme doch an, daß er einen Job hat.«

»Er hatte einen«, sagte Ole.

Dieses »hatte« bewirkte, daß Jack sich fragte, ob sie wieder einmal zu spät gekommen waren, um seinen Vater zu treffen, doch der Vierjährige hatte das vielleicht falsch verstanden. Er [41] war überrascht, daß seine Mutter anscheinend nicht enttäuscht war. Ihr Fuß drückte auf den Schalter, und sie machte sich wieder daran, die Schamlippen zwischen den Rosenblättern zu verbergen. Der Junge fuhr fort zu klagen, der alte Seemann, der geduldig auf die Vollendung seiner Meerjungfrau wartete, schloß die Augen. Lars schattierte und sorgte dafür, daß die Schlange sich enger um das Herz über dem Herzen des Schweden legte.

Die Wände von Tatovør-Oles Studio waren mit Schablonen und handgezeichneten Vorlagen bedeckt, die man »Flashs« nannte. Jack starrte auf eine Wand voller Flashs, während Ole einige Einzelheiten der Geschichte des flüchtigen Vaters erzählte. (Es war einer der Augenblicke, in denen die Aufmerksamkeit des Jungen abschweifte.)

»Er hat die Orgel in der Kastelskirken gespielt«, sagte Ole. »Aber nicht als erster Organist, wohlgemerkt.«

»Vermutlich war er Hilfsorganist«, sagte Alice.

»So was wie ein Lehrling«, warf Lars ein.

»Ja, aber er war gut«, sagte Ole. »Ich muß zwar zugeben, daß ich ihn nie gehört habe, aber man hat mir gesagt, daß er gut war.«

»Und das war wohl nicht das einzige, worin er gut war –«, begann Lars.

»Nicht wenn Jack dabei ist«, unterbrach ihn Alice.

Die Flashs an dem Stück Wand, dem Jacks Aufmerksamkeit galt, waren allesamt Vorlagen zum Thema »Des Mannes Verderben« und zeigten verschiedene Formen männlicher Selbstzerstörung: Glücksspiel, Alkohol und Frauen. Am besten gefiel dem Jungen das Martiniglas mit der weiblichen Brustwarze, die wie eine Olive aus der Flüssigkeit ragte, oder das, bei dem ein weiblicher Hintern eine ähnliche Rolle spielte. Auf beiden Bildern schwammen, als wären sie aus Eis, zwei Spielwürfel im Glas.

Jacks Mutter machte ein erstklassiges »Des Mannes Verderben«, allerdings etwas anders als die hier gezeigten. In ihrer Version trank eine nackte Frau – selbstverständlich eine [42] Rückenansicht – aus einer halbvollen Flasche Wein. Die Würfel lagen auf ihrer ausgestreckten Hand.

»Dann gab es in der Kastelskirken also Schwierigkeiten?« fragte Alice.

Herzensbrecher-Madsen nickte neidisch.

»Nicht wenn Jack dabei ist«, war Oles Antwort.

»Ich verstehe«, sagte Alice.

»Kein Chormädchen«, sagte Ole. »Sie war aus der Gemeinde.«

»Die junge Frau eines Soldaten«, sagte Herzensbrecher-Lars, aber Jack hatte ihn sicher falsch verstanden. Der Junge starrte noch immer mit offenem Mund auf die Brustwarze in dem Martiniglas, so gebannt, als säße er vor einem Fernseher. Er sah nicht, wie seine Mutter Lars mit einem Nicht-wenn-Jack-dabei-ist-Blick ansah.

»Dann hat er die Stadt also verlassen?« fragte Alice.

»Du solltest in der Kirche nachfragen«, sagte Ole.

»Ihr habt wahrscheinlich nicht gehört, wohin er gegangen ist«, sagte Alice.

»Nach Stockholm, hab ich gehört, aber ich bin mir nicht sicher«, sagte Ole.

Lars, der mit der Schlange des Schweden fertig war, sagte: »In Stockholm kriegt er keine anständige Tätowierung. Wenn sie sich tätowieren lassen wollen, kommen die Schweden zu uns.« Er sah seinen Kunden an. »Stimmt’s?«

Der Schwede zog das linke Hosenbein hoch. »Das hier hab ich mir in Stockholm machen lassen«, sagte er.

Auf seiner Wade war eine hervorragende Tätowierung. Sie war so gut, daß sie auch von Tatovør-Ole oder Tochter Alice hätte stammen können. Ein Dolch mit reichverziertem grün-goldenem Griff durchbohrte eine Rose; sowohl die Blütenblätter als auch das Dolchheft waren orangerot konturiert, und um Rose und Dolch wand sich eine grün-rote Schlange. (Offenbar hatte der Schwede eine Vorliebe für Schlangen.)

[43] Der Gesichtsausdruck von Jacks Mutter verriet, daß sie die Nadelführung bewunderte. Sogar Tatovør-Ole sagte, die Tätowierung sei gut. Herzensbrecher-Madsen war sprachlos vor Neid. Vielleicht dachte er auch an seine beinahe sichere Zukunft im Fischgeschäft der Familie.

»Das war Doc Forest«, sagte der Schwede.

»In welchem Studio arbeitet er?« fragte Ole.

»Ich wußte gar nicht, daß es in Stockholm überhaupt ein Studio gibt!« sagte Lars.

»Er arbeitet zu Hause«, erklärte der Schwede.

Jack wußte, daß sie nicht vorhatten, nach Stockholm zu fahren. Die Stadt stand nicht auf der Liste seiner Mutter.

Alice bandagierte behutsam den Jungen. Er hatte sich die Rose von Jericho auf die Brust tätowieren lassen, damit die Blütenblätter sich bewegten, wenn er atmete.

»Versprich mir, daß du das nicht deiner Mutter zeigst«, sagte Alice zu ihm. »Und wenn du’s tust, daß du ihr nicht sagst, was es ist. Laß sie es nicht zu lange ansehen.«

»Versprochen«, sagte der Junge.

Der alte Seemann bewegte den Unterarm und sah zufrieden, wie der Schwanz der Meerjungfrau, der noch koloriert werden mußte, durch die Anspannung der Muskeln hin und her schwang.

Es war kurz vor Weihnachten, und das Geschäft ging gut, doch die Nachricht, daß William abermals entwischt war – ausgerechnet nach Stockholm –, war wenig geeignet, Alice’ oder Jacks Stimmung zu heben.

Und wenn sie das Studio am Nyhavn verließen, war es immer schon dunkel, selbst um vier oder fünf Uhr nachmittags. Ganz gleich, wie spät es war – in den Restaurants am Nyhavn gab es immer warmes Essen. Inzwischen konnten Alice und Jack die Düfte unterscheiden: Kaninchen, Rehkeule, Wildente, gebratener Steinbutt, gegrillter Lachs, ja sogar den zarten Geruch von Kalbfleisch. Sie rochen die Früchte in den Wildsaucen, und viele [44] dieser dänischen Käse hatten ein Aroma, das auch auf einer winterlichen Straße wahrzunehmen war.

Sie zählten immer die Schiffe, die an der Kanalmauer vertäut waren, um zu sehen, ob sie auf ihre Glückszahl kamen. Vielleicht weil es kurz vor Weihnachten war, erschien ihnen der erleuchtete Bogen über dem Denkmal auf dem Platz, an dem das d’Angleterre stand, wie ein verläßlicher Schutz. Das Hotel selbst war mit Adventskränzen geschmückt.

Auf dem Weg zu ihren Dienstbotenzimmern kehrten Jack und seine Mutter oft irgendwo ein und tranken ein Weihnachtsbier. Es war dunkel und süß und so stark, daß Alice Jacks Bier mit Wasser verdünnte.

Einer von Alice’ Kunden bei Tatovør-Ole – ein Banker, der sich verschiedene ausländische Geldscheine auf Brust und Rücken hatte tätowieren lassen – hatte ihr gesagt, Weihnachtsbier sei gut für Kinder, denn es verhindere Alpträume. Der Junge mußte, nachdem er das Bier probiert hatte, zugeben, daß das Mittel des Bankers gegen schlechte Träume tatsächlich zu wirken schien. Er hatte seit einiger Zeit keine Alpträume mehr – oder jedenfalls keine, an die er sich erinnern konnte.

In seinen Träumen fehlte ihm Lottie: wie sie ihn an sich gedrückt hatte, wie sie beide den Atem angehalten und Brust an Brust ihre Herzschläge gespürt hatten. Eines Nachts im Hotel hatte Jack versucht, seine Mutter so zu umarmen. Alice hatte die Luft nicht anhalten wollen. Er hatte das Klopfen ihres Herzens gespürt, das langsamer und rhythmischer zu schlagen schien als Lotties, und gesagt: »Du scheinst am Leben zu sein.«

»Natürlich bin ich das«, hatte Alice geantwortet, noch unwilliger als zuvor, als er ihr gesagt hatte, sie solle die Luft anhalten. »Du scheinst auch am Leben zu sein, Jackie – jedenfalls warst du’s, als ich zuletzt nachgesehen habe.«

Ohne daß er hätte sagen können, wie oder wann, hatte sie sich schon aus der Umarmung des Jungen befreit.

[45] Am nächsten Tag vor Sonnenaufgang – in Kopenhagen hieß das zu dieser Jahreszeit nach acht Uhr – ging Jacks Mutter mit ihm zur Zitadelle Frederikshavn, dem »Kastellet«. Außer der Kaserne befanden sich dort das Kommandantenhaus und die Kirche, die Kastelskirken, in der William Burns gespielt hatte.

Gibt es einen Jungen, der Festungen nicht liebt? Jack fand es sehr aufregend, daß seine Mutter ihn zu einer echten Festung mitgenommen hatte. Er war nur zu bereit, sich selbst zu beschäftigen, wie Alice es ihm vorschlug.

Sie drückte es so aus: »Ich wäre gern ungestört, wenn ich mit dem Organisten spreche.«

Jack konnte sich überall umsehen. Als erstes entdeckte er das Gefängnis. Es lag hinter der Kastellskirche: An die Mauer der Kirche war ein Gefängnisflügel gebaut worden; man hatte Löcher in die Mauer geschlagen, damit die Gefangenen ungesehen den Gottesdienst verfolgen konnten. Jack war enttäuscht, daß es keine Gefangenen gab, nur leere Zellen.

Der Name des Organisten war Anker Rasmussen – ein typisch dänischer Name –, und laut Alice war er so höflich wie entgegenkommend. Jack fand es später seltsam, daß er eine Uniform trug, doch seine Mutter erklärte ihm, in der Kirche einer Zitadelle müsse man damit rechnen.

Während seiner kurzen Lehrzeit bei Rasmussen hatte William verschiedene Bach-Sonaten sowie dessen Präludium und Fuge in h-Moll und die Clavierübung III gemeistert. (Jack war beeindruckt, daß seine Mutter sich an die deutschen Namen der Stücke erinnerte, die sein Vater geübt hatte.) Auch Couperins Messe pour les Couvents spielte William recht gut, und mit dem Weihnachtsteil aus Händels Messias hatte Alice recht gehabt.

Über die verführte Frau aus der Gemeinde erzählte ihm seine Mutter nur wenig – gerade so viel, daß der Junge zu dem Schluß kommen konnte, man habe seinen Vater nicht wegen eines verpatzten Refrains gebeten, die Kastellskirche zu verlassen.

[46] Als Jack vom Gefängnis genug hatte, ging er hinaus. Es war eiskalt; das blaßgraue Tageslicht ließ den Himmel nur um so dunkler wirken. Obwohl Jack es aufregend fand, die Soldaten exerzieren zu sehen, hielt er Abstand von ihnen und machte sich an die Erkundung des Grabens.

Das Wasser rings um das Kastellet hieß Kastelsgraven. Für einen Vierjährigen sah es eher wie ein Teich oder ein kleiner See aus, und zu Jacks großer Überraschung war das Wasser gefroren. In Oles Studio hatte er gehört, daß der Kanal am Nyhavn sehr selten zufror und die Ostsee so gut wie nie. Salzwasser gefror nur, wenn es sehr, sehr kalt war. Was also war in diesem Graben? Es mußte wohl Süßwasser sein, doch Jack wußte nur, daß es gefroren war.

Für ein Kind gibt es wenige Wunder, die mit schwarzem Eis mithalten können. Und woher wußte der Vierjährige, daß das Wasser gefroren war? Er sah, daß Möwen und Enten darauf herumliefen, und er glaubte nicht, daß diese Vögel heilig waren. Um sicherzugehen, sammelte er ein paar kleine Steine und warf sie nach den Vögeln. Die Steine hüpften über das Eis. Nur die Möwen erhoben sich in die Luft. Die Enten rannten zu den Steinen, als glaubten sie, es seien Brotstücke, dann watschelten sie wieder davon. Die Möwen landeten wieder auf dem Eis. Bald ließen sich die Enten nieder, als hielten sie eine Versammlung ab, und die Möwen trippelten verächtlich um sie herum.

Die Soldaten marschierten auf und ab, mal näher, mal weiter entfernt. Am Rand des zugefrorenen Grabens war eine hölzerne Uferbefestigung; sie sah aus wie ein schmaler Weg, daneben eine Schräge, die bis zum Eis reichte. Jack kletterte mit Leichtigkeit hinunter. Die Möwen starrten ihn aus runden Augen herausfordernd an, die Enten ignorierten ihn einfach. Als der Junge auf das schwarze Eis trat, hatte er das Gefühl, etwas Geheimnisvolleres als seinen Vater entdeckt zu haben. Er ging auf dem Wasser. Selbst die Enten wandten ihm die Köpfe zu.

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