Witwe für ein Jahr - John Irving - E-Book

Witwe für ein Jahr E-Book

John Irving

0,0
11,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Liebe und Tod, Leidenschaft und Vergänglichkeit, Wirklichkeit und Fiktion sind die Pole, zwischen denen der Puls des neuen Romans von John Irving schlägt. Im Mittelpunkt steht die Schriftstellerin Ruth Cole, eine starke und verletzliche Frau, die mit ihren Büchern Erfolg und mit ihren Freunden Pech hat... Umwerfend komisch und aufwühlend.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 983

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



John Irving

Witwe für ein Jahr

Roman Aus dem Amerikanischen von

Titel der 1998 bei Random House, Inc.,

New York, erschienenen Originalausgabe:

›A Widow for One Year‹

Copyright © 1998 by Garp Enterprises Limited

Die deutsche Erstausgabe

erschien 1999 im Diogenes Verlag

Auszugsweiser Abdruck der beiden Gedichte

›When You Are Old‹ / ›Wenn du alt bist‹ (S. 645 f.)

und ›He Wishes For the Cloths of Heaven‹ /

›Er wünscht sich die Tücher des Himmels‹ (S. 728) aus:

William Butler Yeats, Werke, Bd. 1:

Ausgewählte Gedichte, herausgegeben von

Werner Vordtriede. Hermann Luchterhand Verlag,

Darmstadt und Neuwied 1970

Mit freundlicher Genehmigung der Luchterhand

Literaturverlag GmbH, München

Umschlagillustration von

Edward Gorey

Mit freundlicher Genehmigung des

Edward Gorey Charitable Trust, New York

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2012

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23300 1 (13. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60024 7

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5]Für Janet,

[7]»… und das Beste, was ich dieser kleinen Dame wünschen kann,

[9] Dank

Ich bin dankbar für meine vielen Besuche in Amsterdam während der vier Jahre, in denen ich diesen Roman geschrieben habe, und ganz besonders danke ich Joep de Groot von der Polizeiwache im 2. Bezirk für seine Geduld und seine großzügige Unterstützung; ohne ihn wäre dieses Buch nicht zustande gekommen. Dankbar für ihre Hilfe bin ich auch Margot Alvarez, die früher bei De Rode Draad tätig war, einer Organisation, die sich für die Rechte der Prostituierten in Amsterdam einsetzt. Ganz besonders danken möchte ich Robbert Ammerlaan, meinem holländischen Verleger. Alle drei waren mir eine unschätzbare Hilfe bei den Teilen dieses Buches, die in Amsterdam spielen. Soweit sie stimmen, ist das ihr Verdienst. Sollten mir dennoch Fehler unterlaufen sein, liegt die Schuld bei mir.

Was die anderen Schauplätze betrifft, habe ich mich auf die Fachkenntnis von Anna von Planta in Genf, Anne Freyer in Paris, Ruth Geiger in Zürich, Harvey Loomis in Sagaponack und Alison Gordon in Toronto verlassen. Bei der Recherche von Detailinformationen wurde ich von drei hervorragenden Assistenten unterstützt, die ungeheuer gewissenhafte Arbeit geleistet haben: Lewis Robinson, Dana Wagner und Chloe Bland.

Eine Besonderheit verdient noch erwähnt zu werden: Das Kapitel mit der Überschrift »Die blaurote Luftmatratze« erschien – in leicht abgewandelter Form und auf deutsch – in der Magazinbeilage der ›Süddeutschen Zeitung‹ vom 27. Juli 1994.

J.I.

[11] Inhalt

  I Sommer 1958

Der unzureichende Lampenschirm  [15]

Ferienjob  [21]

Ein Geräusch, wie wenn einer versucht, kein Geräusch zu machen  [25]

Unglückliche Mütter  [38]

Marion wartet  [46]

Eddie langweilt sich – und ist scharf  [53]

Die Tür im Boden  [60]

Eine Onaniermaschine  [77]

Kommt herbei …  [94]

Die Schachfigur  [110]

Ruths rechtes Auge  [121]

Mrs. Vaughn wird fallengelassen  [129]

Kein Grund zur Panik vormittags um zehn  [146]

Wie aus dem Schriftstellerassistenten ein Schriftsteller wurde  [162]

Ein nahezu biblischer Augenblick  [172]

Die Autorität des geschriebenen Wortes  [191]

Ein Kind ohne Mutter  [202]

Das Bein  [223]

Arbeiten für Mr. Cole  [235]

Abschied von Long Island  [248]

 II Herbst 1990

Eddie mit achtundvierzig  [269]

Ruth mit sechsunddreißig  [291]

[12]Die blaurote Luftmatratze  [315]

Allan mit vierundfünfzig  [326]

Hannah mit fünfunddreißig  [353]

Ted mit siebenundsiebzig  [371]

Ruth erinnert sich, wie sie Auto fahren lernte  [397]

Zwei Schubladen  [411]

Schmerz an einer ungewohnten Stelle  [419]

Ruth gibt ihrem Vater eine Fahrstunde  [432]

Eine Witwe für den Rest ihres Lebens  [443]

Ruths Tagebuch und diverse Postkarten  [449]

Die erste Begegnung  [467]

Ruth ändert ihre Geschichte  [486]

Weder Mutter noch Sohn  [505]

Der Maulwurfmann  [519]

Verfolgt auf dem Heimweg vom Flying Food Circus  [544]

Das erste Kapitel  [547]

Die Vermißtenstelle  [555]

Eins zu eins  [564]

Ruths erste Hochzeit  [574]

III Herbst 1995

Der Beamte  [589]

Der Leser  [597]

Die Tochter der Prostituierten  [608]

Sergeant Hoekstra findet seine Zeugin  [622]

Eddie O’Hare verliebt sich noch einmal  [642]

Mrs. Cole  [665]

Besser als mit einer Prostituierten in Paris  [682]

Eddie und Hannah können sich nicht einigen  [705]

Ein glückliches Paar, seine zwei unglücklichen Freunde  [726]

Marion mit sechsundsiebzig  

[13] I

Sommer 1958

[15] Der unzureichende Lampenschirm

Eines Nachts – sie war vier und schlief in der unteren Koje ihres Stockbettes – wachte Ruth Cole von leidenschaftlichem Stöhnen auf, das aus dem Schlafzimmer ihrer Eltern kam. Ruth hatte noch nie solche Geräusche gehört. Vor kurzem hatte sie eine Magengrippe gehabt, und als sie ihre Mutter das erste Mal mit einem Mann im Bett hörte, glaubte sie, diese würde sich erbrechen.

Ihre Eltern hatten nicht einfach getrennte Schlafzimmer; in diesem Sommer wohnten sie sogar getrennt, auch wenn Ruth das andere Haus nie zu Gesicht bekam. Ihr Vater und ihre Mutter übernachteten abwechselnd bei ihr zu Hause, und in der Nähe hatten sie ein Ausweichquartier gemietet, in dem sich jeweils der Elternteil aufhielt, der nicht bei Ruth war. Es handelte sich um eines jener unsinnigen Arrangements von Ehepaaren, die sich trennen wollen, aber noch nicht geschieden sind, und die sich einreden, mit etwas gutem Willen statt gegenseitiger Schuldzuweisungen müsse es doch möglich sein, sich Kinder und Eigentum zu teilen.

Als Ruth beim Aufwachen diese fremdartigen Geräusche hörte, war sie zunächst nicht sicher, wer sich erbrach, ihre Mutter oder ihr Vater; dann erkannte sie, trotz der ungewohnten Störung, den vertrauten melancholischen und leicht hysterischen Unterton, der häufig in der Stimme ihrer Mutter mitschwang. Außerdem fiel ihr ein, daß heute ihre Mutter bei ihr übernachtete.

Das große Bad lag zwischen Ruths Zimmer und dem Elternschlafzimmer, und als die Vierjährige barfuß hindurchtappte, [16] nahm sie ein Handtuch mit. (Als sie ihre Magengrippe hatte, sagte ihr Vater, sie solle in ein Handtuch spucken.) Arme Mummy! dachte Ruth, als sie das Handtuch mitnahm.

Im matten Mondlicht und bei dem noch matteren, diffusen Schein des Nachtlichts, das ihr Vater im Bad angebracht hatte, sah Ruth die bleichen Gesichter ihrer toten Brüder auf den Fotos an der Badezimmerwand. Überall im Haus, an sämtlichen Wänden, hingen Fotos von ihren toten Brüdern; obwohl die beiden Jungen als Teenager ums Leben gekommen waren, noch bevor Ruth geboren (ja noch ehe sie gezeugt) wurde, hatte sie das Gefühl, sie weit besser zu kennen als ihre Mutter oder ihren Vater.

Der große Dunkelhaarige mit dem kantigen Gesicht war Thomas. Schon mit vier hatte er die Ausstrahlung eines Stars – eine Mischung aus Unbekümmertheit und Draufgängertum, die ihn später viel selbstbewußter erscheinen ließ, als es einem Teenager entsprach. (Thomas hatte am Steuer des Unglückswagens gesessen.)

Der unsicher blickende Jüngere war Timothy; noch als Teenager hatte er ein Babygesicht und wirkte immer irgendwie verwundert. Es war, als hätte ihn der Fotograf stets in einem Moment der Unschlüssigkeit erwischt, in dem er zögerte, ein halsbrecherisches Kunststück nachzumachen, das Thomas mit Bravour gemeistert hatte. (Letzten Endes hatte Thomas nicht einmal etwas so Elementares gemeistert wie Autofahren.)

Als die kleine Ruth das Schlafzimmer ihrer Eltern betrat, sah sie den nackten jungen Mann, der ihre Mutter von hinten bestiegen hatte; er hielt ihre Brüste umfaßt und bumste sie auf allen vieren, wie ein Hund, doch weder das Gewaltsame noch das Widerwärtige an diesem Akt waren der Grund dafür, daß Ruth aufschrie. Mit ihren vier Jahren wußte sie weder, daß sie einen Sexualakt miterlebte, noch empfand sie die Betätigung des jungen Mannes und ihrer Mutter als wirklich anwidernd. Vielmehr war sie erleichtert, als sie feststellte, daß ihre Mutter sich nicht erbrechen mußte.

[17] Auch daß der junge Mann nackt war, war nicht der Grund, weshalb Ruth aufschrie; sie hatte ihren Vater und ihre Mutter oft nackt gesehen – bei den Coles war Nacktheit kein Grund, sich zu genieren. Schuld war der junge Mann, denn Ruth war überzeugt, einen ihrer toten Brüder vor sich zu haben; er sah Thomas, dem Selbstbewußten, so ähnlich, daß sie ein Gespenst zu sehen glaubte.

Der Schrei einer Vierjährigen ist durchdringend. Ruth war erstaunt, wie blitzschnell der junge Liebhaber ihrer Mutter abstieg; er entfernte sich mit derart panischer Hast von Frau und Bett, daß es fast so aussah, als wäre er abgeschossen worden. Er stolperte über das Nachtkästchen, und um seine Blöße zu bedecken, riß er den Lampenschirm von der zu Bruch gegangenen Nachttischlampe. In dieser Aufmachung empfand Ruth ihn als weniger bedrohlich als ein Gespenst, für das sie ihn zunächst gehalten hatte; und als sie ihn genauer betrachtete, erkannte sie ihn auch. Es war der junge Mann, der das hinterste Gästezimmer belegt hatte, der, der den Wagen ihres Vaters fuhr; er arbeitete für ihren Daddy, wie ihre Mummy ihr erklärt hatte. Ein- oder zweimal hatte er Ruth und ihre Babysitterin zum Strand gefahren.

In diesem Sommer hatte Ruth drei verschiedene Kindermädchen; alle drei hatten sich darüber ausgelassen, wie blaß der junge Mann sei, doch Ruths Mutter hatte ihr klargemacht, daß manche Menschen einfach keine Sonne mögen. Natürlich hatte Ruth den jungen Mann noch nie unbekleidet gesehen, aber sie war ganz sicher, daß er Eddie hieß und garantiert kein Gespenst war. Trotzdem schrie sie noch einmal.

Ihre Mutter, die sich nicht vom Fleck gerührt hatte, schien, typisch für sie, keineswegs überrascht; sie betrachtete ihre Tochter lediglich mit einer Miene, die zu besagen schien: Komm, laß es, und die etwas entnervt wirkte. Bevor Ruth ein drittes Mal schreien konnte, sagte ihre Mutter: »Schrei nicht, Schätzchen. Wir sind es nur, Eddie und ich. Geh wieder in dein Bettchen.«

[18] Ruth tat wie geheißen und tappte wieder an den vielen Fotos vorbei, die ihr jetzt gespenstischer vorkamen als das entzauberte Gespenst des mütterlichen Liebhabers. Als Eddie versucht hatte, sich mit dem Lampenschirm zu bedecken, war ihm völlig entgangen, daß dieser, da er an beiden Enden offen war, Ruth einen ungehinderten Blick auf seinen schrumpfenden Penis gewährte.

Mit vier Jahren war Ruth noch zu jung, um sich in allen Einzelheiten an Eddie oder seinen Penis zu erinnern, aber Eddie behielt Ruth sehr wohl in Erinnerung. Sechsunddreißig Jahre später, als er zweiundfünfzig war und Ruth vierzig, sollte sich dieser unglückselige junge Mann in Ruth Cole verlieben. Doch auch dann bereute er es nicht, Ruths Mutter gevögelt zu haben. Aber das war Eddies Problem. Und das hier ist die Geschichte von Ruth Cole.

Daß ihre Eltern eigentlich mit einem dritten Sohn gerechnet hatten, war nicht ausschlaggebend dafür, daß Ruth Schriftstellerin wurde; sehr viel wahrscheinlicher wurde ihre Phantasie dadurch angeregt, daß sie in einem Haus aufwuchs, in dem die Fotografien ihrer toten Brüder stärker präsent waren, als man das von ihrer Mutter und ihrem Vater behaupten konnte; und nachdem ihre Mutter sie und ihren Vater verlassen (und nahezu alle Fotos von ihren Söhnen mitgenommen) hatte, fragte sich Ruth natürlich, warum ihr Vater die Bilderhaken in den kahlen Wänden steckenließ. Diese Bilderhaken waren mit dafür verantwortlich, daß Ruth Schriftstellerin wurde, denn nachdem ihre Mutter weggegangen war, versuchte sie sich noch jahrelang zu erinnern, welche Fotos an welchen Haken gehangen hatten. Und da sie sich die konkreten Fotos ihrer toten Brüder nicht in befriedigendem Umfang ins Gedächtnis zu rufen vermochte, ging sie dazu über, sämtliche Momente aus dem kurzen Leben ihrer Brüder, die sie selbst ja nicht miterlebt hatte, neu zu erfinden. Daß Thomas und Timothy ums Leben gekommen waren, noch bevor Ruth [19] geboren wurde, war ebenfalls ein Grund, weshalb Ruth Schriftstellerin wurde; so weit sie zurückdenken konnte, hatte sie sich die beiden immer vorstellen müssen.

Es war einer jener Autounfälle, bei denen sich im nachhinein herausstellt, daß die verunglückten Teenager »brave Jungs« gewesen waren und nichts getrunken hatten. Am schlimmsten und unerträglich qualvoll für die Eltern war, daß Thomas und Timothy nur durch Zufall ausgerechnet an diesem Abend vorn saßen, weil ihre Eltern sich, völlig überflüssigerweise, gezankt hatten. Die armen Eltern sollten die tragische Folge ihres banalen Streits bis ans Ende ihrer Tage immer wieder durchleben.

 Später erfuhr Ruth, daß sie in guter Absicht, aber ohne jede Leidenschaft gezeugt worden war. Ihre Eltern irrten sich, wenn sie glaubten, ihre Söhne ersetzen zu können, und sie dachten nicht weit genug, um sich klarzumachen, daß das neue Baby, das die Last ihrer unerfüllbaren Erwartungen zu tragen haben würde, ein Mädchen sein könnte.

Daß Ruth Cole zu jener seltenen Mischung aus hochangesehener literarischer Schriftstellerin und internationaler Bestsellerautorin heranwuchs, ist weniger bemerkenswert als die Tatsache, daß es ihr überhaupt gelang, heranzuwachsen. Die beiden gutaussehenden jungen Männer auf den Fotos hatten so gut wie alles mitgenommen, was Ruths Mutter an Mutterliebe besaß. Und doch konnte Ruth die ablehnende Haltung ihrer Mutter noch eher ertragen als die Kälte, die zwischen ihren Eltern herrschte und in deren Schatten sie heranwuchs. Ted Cole, Bestsellerautor und Illustrator von Kinderbüchern, war ein gutaussehender Mann, dem es mehr lag, für Kinder zu schreiben und zu zeichnen, als alltägliche Vaterpflichten zu erfüllen. Und wenn er in der Zeit, bis Ruth viereinhalb war, auch nicht immer betrunken war, trank er doch häufig zuviel. Und selbst wenn es stimmt, daß er nicht jede wache Minute hinter den Frauen herlief, gab es doch sein Leben lang keine Zeit, in der er nicht hinter den Frauen [20] herlief. (In dieser Beziehung war er noch unzuverlässiger als mit Kindern.)

Kinderbuchautor war Ted gewissermaßen aus Verlegenheit geworden. Sein literarisches Debüt gab er mit einem übermäßig hochgelobten Erwachsenenroman, der zweifellos literarische Qualität besaß. Die zwei folgenden Romane sind nicht der Rede wert; erwähnenswert ist lediglich, daß kein Mensch – schon gar nicht Ted Coles Verleger – Interesse an einem vierten Roman bekundete, der auch nie zustande kam. Statt dessen schrieb Ted sein erstes Kinderbuch. Es hieß Die Maus, die in der Wand krabbelt und wäre um ein Haar nicht erschienen. Auf den ersten Blick handelte es sich um eines jener Kinderbücher, die für Eltern einen zweifelhaften Reiz besitzen und Kindern nur deshalb im Gedächtnis bleiben, weil sie sich daran erinnern, Angst bekommen zu haben. Zumindest Thomas und Timothy bekamen Angst, als Ted ihnen die Geschichte zum erstenmal erzählte; als Ted sie später seiner Tochter Ruth erzählte, hatte Die Maus, die in der Wand krabbelt bereits neun oder zehn Millionen Kindern auf der ganzen Welt in über dreißig Sprachen Angst eingejagt.

Ruth wuchs, wie ihre toten Brüder, mit den Geschichten ihres Vaters auf. Als sie sie zum erstenmal in einem Buch las, empfand sie das als Verletzung ihrer Privatsphäre. Sie hatte sich eingebildet, ihr Vater hätte sich diese Geschichten einzig und allein für sie ausgedacht. Später fragte sie sich, ob ihre toten Brüder auf die Bücher ähnlich reagiert hatten.

Nun zu Ruths Mutter: Marion Cole war eine wunderschöne Frau. Und sie war eine gute Mutter, zumindest bis Ruth zur Welt kam. Bis zum Tod ihrer geliebten Söhne war sie auch eine loyale und treue Ehefrau gewesen – trotz der unzähligen Seitensprünge ihres Mannes. Doch nachdem ihr jener schreckliche Unfall beide Jungen genommen hatte, wurde Marion ein anderer Mensch, kalt und distanziert. Daß sie sich ihrer Tochter gegenüber scheinbar gleichgültig verhielt, machte es Ruth relativ leicht, ihre Mutter [21] abzulehnen. Schwieriger sollte es für Ruth werden, die schwachen Seiten ihres Vaters zu erkennen; vor allem brauchte sie dafür ungleich länger, was für sie zur Folge hatte, daß es dann zu spät war, sich ganz und gar gegen ihn zu stellen. Ted bezauberte sie – er bezauberte fast alle Menschen bis zu einem gewissen Alter. Von Marion war nie jemand bezaubert. Die arme Marion versuchte es erst gar nicht, nicht einmal bei ihrer einzigen Tochter; und doch war es möglich, Marion Cole zu lieben.

Und hier nun betritt Eddie, der unglückselige junge Mann mit dem unzureichenden Lampenschirm, die Szene. Er liebte Marion, und er sollte nie aufhören, sie zu lieben. Hätte er freilich von Anfang an gewußt, daß er sich in Ruth verlieben würde, hätte er sich die Sache mit ihrer Mutter vielleicht anders überlegt. Aber wahrscheinlich doch nicht. Eddie konnte gar nicht anders.

Ferienjob

Er hieß Edward O’Hare. Im Sommer 1958 war er gerade sechzehn, und daß er seinen Führerschein hatte, war eine wichtige Voraussetzung für seinen ersten Ferienjob. Freilich war Eddie O’Hare nicht klar, daß sein eigentlicher Ferienjob, wie sich herausstellen sollte, darin bestand, Marion Coles Liebhaber zu werden; Ted Cole hatte ihn eigens zu diesem Zweck angeheuert, und das sollte lebenslange Folgen haben.

Eddie hatte von dem tragischen Unglücksfall in der Familie Cole gehört, doch wie die meisten Teenager schenkte er den Gesprächen der Erwachsenen nur sporadisch Beachtung. Er hatte sein zweites Jahr an der Phillips Exeter Academy beendet, wo sein Vater Englisch unterrichtete; und über eine Exeter-Verbindung kam Eddie auch an diesen Job. Eddies Vater glaubte felsenfest an Exeter-Verbindungen. Als ehemaliger Schüler der [22] Academy und späterer Lehrer fuhr O’Hare senior nie ohne sein abgegriffenes Exemplar des Exeter-Verzeichnisses in Urlaub. In seinen Augen waren die Absolventen der Academy die Standartenträger einer dauerhaften Zuverlässigkeit; Exonianer vertrauten und halfen einander, wo sie nur konnten.

Nach Ansicht der Academy hatte sich das Ehepaar Cole der Schule gegenüber bereits sehr großzügig gezeigt. Die verunglückten Söhne waren erfolgreiche und beliebte Schüler gewesen; und so hatten Ted und Marion Cole trotz ihres großen Kummers, oder wahrscheinlich deswegen, Gelder für einen jährlich wechselnden Gastdozenten für englische Literatur – das war Thomas’ und Timothys bestes Fach – zur Verfügung gestellt. »Minty« O’Hare, wie O’Hare senior von unzähligen Exeter-Schülern genannt wurde, war süchtig nach atemerfrischenden Pfefferminzpastillen, die er im Unterricht hingebungsvoll lutschte, während er laut vorlas; er liebte es über die Maßen, aus den Büchern, die er als Lektüre aufgegeben hatte, seine Lieblingspassagen vorzutragen. Der sogenannte Thomas-und-Timothy-Cole-Lehrstuhl war Minty O’Hares Idee gewesen.

Als Eddie seinem Vater eröffnete, daß er sich für den Sommer am liebsten einen Job als Assistent bei einem Schriftsteller suchen würde – der Sechzehnjährige führte seit langem Tagebuch und hatte in letzter Zeit etliche Short Stories geschrieben –, konsultierte O’Hare senior ohne zu zögern sein Exeter-Verzeichnis. Gewiß gab es unter den Absolventen viele Schriftsteller von höherem literarischem Rang als Ted Cole – Thomas und Timothy hatten die Exeter Academy besucht, weil Ted ein Ehemaliger war –, aber da es Minty O’Hare erst vor vier Jahren gelungen war, Ted Cole zu überreden, sich von 82000 Dollar zu trennen, wußte er, daß dieser Mann leicht zu überreden war.

»Sie brauchen ihn nicht groß zu bezahlen«, hatte Minty Ted Cole am Telefon erklärt. »Der Junge könnte Manuskripte abtippen, Briefe beantworten oder Botengänge für Sie erledigen, was [23] immer Sie wünschen. Es geht ihm hauptsächlich um die Erfahrung. Ich will damit sagen, wenn er meint, er möchte Schriftsteller werden, sollte er mitbekommen, wie ein Schriftsteller arbeitet.«

Ted war am Telefon unverbindlich, aber höflich gewesen; außerdem war er betrunken. Er hatte einen eigenen Spitznamen für Minty O’Hare – er nannte ihn »Pushy«, wegen seiner aufdringlichen Art. Und es war in der Tat typisch für Pushy O’Hare, daß er Ted Cole auf die Fotos im 1957er PEAN (dem Jahrbuch der Exeter Academy) hinwies, auf denen Eddie zu sehen war.

In den ersten paar Jahren nach Thomas’ und Timothys Tod hatte Marion die Jahrbücher aus Exeter angefordert. Wäre Thomas noch am Leben, hätte er 1954 seinen Abschluß gemacht, Timothy zwei Jahre später. Doch nun trafen die Jahrbücher jedes Jahr ein, auch noch nach dem potentiellen Abschluß der beiden – auf freundliche Veranlassung von Minty O’Hare, der sie regelmäßig schickte, um Marion die zusätzliche Qual des Nachfragens zu ersparen. Marion sah sie auch weiterhin getreulich durch; wiederholt fielen ihr einzelne Jungen auf, die eine gewisse Ähnlichkeit mit Thomas oder Timothy besaßen, doch nach Ruths Geburt hörte sie auf, Ted auf diese Ähnlichkeiten aufmerksam zu machen.

Auf dem Foto des Junior-Debattierclubs im Jahrbuch 1957 sitzt Eddie O’Hare in der ersten Reihe; in seiner dunkelgrauen Flanellhose, seinem Tweedjackett und mit der in den Schulfarben gestreiften Krawatte wäre er nicht weiter aufgefallen, wären da nicht sein beeindruckend offenes Gesicht gewesen und die dunkle Ahnung künftigen Leids in den großen, braunen Augen.

Auf dem Foto war Eddie zwei Jahre jünger als Thomas und so alt wie Timothy zu der Zeit, als die beiden ums Leben kamen. Trotzdem sah er eher Thomas ähnlich als Timothy; noch größer war die Ähnlichkeit mit Thomas auf einem Foto des Sportclubs, auf dem Eddie weniger pickelig und selbstbewußter wirkte als die meisten seiner Kameraden, deren Interesse an sportlicher [24] Betätigung im Freien, wie Ted Cole vermutete, auch weiterhin unvermindert anhielt. Sonst war Eddie im Exeter-Jahrbuch 1957 nur noch auf zwei Fotos von Leichtathletik-Teams zu sehen: den Juniorenmannschaften im Geländelauf und im Kurzstreckenlauf. Eddies magerer Körper läßt darauf schließen, daß er eher aus Nervosität lief als zum Vergnügen und daß das Laufen womöglich seine einzige sportliche Betätigung war.

Diese Fotos des jungen Edward O’Hare zeigte Ted Cole mit gespielter Gleichgültigkeit seiner Frau. »Dieser Junge sieht Thomas ziemlich ähnlich, findest du nicht?« fragte er.

Marion hatte die Fotos schon gesehen; sie sah sich sämtliche Fotos in sämtlichen Exeter-Jahrbüchern sehr genau an. »Ja, ein bißchen«, antwortete sie. »Wieso? Wer ist das?«

»Er möchte einen Ferienjob«, erklärte Ted.

»Bei uns?«

»Na ja, bei mir«, sagte Ted. »Er möchte Schriftsteller werden.«

»Aber was hätte er denn zu tun?« wollte Marion wissen.

»Es geht ihm vermutlich um die Erfahrung«, erläuterte Ted. »Ich will damit sagen, wenn er meint, er möchte Schriftsteller werden, sollte er mitbekommen, wie ein Schriftsteller arbeitet.«

Marion, die schon immer Ambitionen gehabt hatte, selbst zu schreiben, wußte, daß ihr Mann nicht sehr viel arbeitete. »Aber was genau hätte er denn zu tun?« fragte sie noch einmal.

»Na ja …« Ted hatte die Angewohnheit, seine Sätze und Gedanken unvollendet in der Luft hängenzulassen. Das war ein ebenso beabsichtigter wie unbewußter Teil seines vagen Naturells.

Als er Minty O’Hare zurückrief, um seinem Sohn einen Job anzubieten, wollte er als erstes wissen, ob Eddie seinen Führerschein hatte. Ted war zum zweitenmal wegen Trunkenheit am Steuer verurteilt worden und den ganzen Sommer über ohne Führerschein. Er hatte gehofft, die Sommermonate könnten sich als gute Gelegenheit erweisen, um eine sogenannte Trennung auf [25] Probe in die Wege zu leiten. Doch wenn er ein Haus in der Nähe mieten und sich das eigene Haus (und Ruth) weiterhin mit Marion teilen wollte, brauchte er jemanden, der ihn chauffierte.

»Natürlich hat er den Führerschein!« sagte Minty. Damit war das Schicksal des Jungen besiegelt.

Und so blieb Marions Frage, was genau Eddie O’Hare denn zu tun haben würde, in der Form stehen, in der Ted Cole vieles stehenließ – offen und unbeantwortet. Und Marion ließ er mit dem aufgeschlagenen Exeter-Jahrbuch im Schoß sitzen; auch das kam häufig vor. Er konnte nicht umhin zu bemerken, daß Marion das Foto von Eddie O’Hare in Sportkleidung offenbar äußerst fesselnd fand. Mit dem langen, rosa lackierten Nagel ihres Zeigefingers fuhr sie die Konturen von Eddies nackten Schultern nach; eine unbewußte, aber sehr konzentrierte Geste. Ted fragte sich unweigerlich, ob ihm nicht stärker bewußt war als Marion, daß sie sich zwanghaft mit Jungen beschäftigte, die Thomas oder Timothy ähnlich sahen. Immerhin hatte sie noch mit keinem von ihnen geschlafen.

Eddie sollte der einzige sein, mit dem sie tatsächlich schlafen würde.

Ein Geräusch, wie wenn einer versucht, kein Geräusch zu machen

Eddie O’Hare schenkte den vielen Gesprächen in Exeter-Kreisen, in denen es darum ging, wie die Coles mit dem tragischen Verlust ihrer Söhne »zurechtkamen«, wenig Beachtung; noch fünf Jahre nach dem schrecklichen Ereignis wurde dieses Thema bei den Dinnerpartys, die Minty O’Hare und seine klatschsüchtige Frau für das Lehrerkollegium gaben, ausführlich erörtert. Eddies Mutter hieß Dorothy, doch alle – mit Ausnahme [26] seines Vaters, der Spitznamen bewußt vermied – nannten sie »Dot«.

Eddie war kein Klatschmaul. Er war jedoch ein ordentlicher Schüler; auf seinen Ferienjob als Schriftstellerassistent bereitete er sich in einer Form vor, die ihm wichtiger und sinnvoller erschien, als sich die Presseberichte über den tragischen Unfall einzuprägen.

Auch wenn Eddie übersehen hatte, daß das Ehepaar Cole noch ein Kind bekommen hatte – seinen Eltern war es nicht entgangen: Daß Ted Cole ein Absolvent der Academy (Jahrgang 1931) war und seine Söhne bis zu ihrem Tod diese Schule besucht hatten, reichte aus, um sämtlichen Mitgliedern der Familie Cole für immer Exeter-Verbindungen zu verschaffen. Hinzu kam, daß Ted Cole ein berühmter Exonianer war; im Gegensatz zu Eddie ließen sich Minty und Dot O’Hare von Berühmtheit ungeheuer beeindrucken.

Daß Ted Cole zu den bekanntesten Kinderbuchautoren Nordamerikas zählte, hatte zur Folge, daß sich die Medien ganz besonders für die Tragödie interessierten. Wie kommt ein bekannter Kinderbuchautor und -illustrator mit dem Tod seiner eigenen Kinder zurecht? Und natürlich zieht eine Berichterstattung mit derart persönlichem Hintergrund immer Klatsch nach sich. Im Kreis der Exeter-Lehrer und ihrer Familien war Eddie O’Hare vermutlich der einzige, der diesem Klatsch nicht viel Beachtung schenkte. Und er war mit Sicherheit der einzige, der alles gelesen hatte, was von Ted Cole bisher erschienen war.

Die meisten jungen Leute aus Eddies Generation – und einer halben Generation vor und nach ihm – hatten Die Maus, die in der Wand krabbelt gelesen oder (vermutlich eher) vorgelesen bekommen, bevor sie alt genug waren, um selbst lesen zu können. Und ein Großteil des Lehrerkollegiums und fast alle Schüler der Academy hatten irgendein anderes Kinderbuch von Ted Cole gelesen. Aber niemand sonst hatte seine drei Romane gelesen; zum [27] einen waren nicht mehr alle lieferbar, und abgesehen davon waren sie nicht besonders gut. Doch als treuer Exonianer hatte Ted Cole der Bibliothek der Academy Erstausgaben von allen seinen Büchern geschenkt und die Originalmanuskripte von allem, was er je geschrieben hatte.

Aus den Gerüchten und Klatschgeschichten hätte Eddie mehr erfahren können als aus seiner Lektüre – zumindest mehr, was ihn auf die mühsamen Aspekte seines ersten Ferienjobs vorbereitet hätte –, doch Eddies Lesehunger war ein Beweis dafür, wie ernst er seinen künftigen Job als Schriftstellerassistent nahm. Eines freilich wußte er nicht, nämlich daß sich Ted Cole auf dem besten Weg zum Exschriftsteller befand.

Die traurige Wahrheit ist, daß sich Ted chronisch von jüngeren Frauen angezogen fühlte; Marion war erst siebzehn und bereits mit Thomas schwanger gewesen, als Ted sie heiratete. Er selbst war damals dreiundzwanzig. Und als Marion älter wurde – auch wenn sie immer sechs Jahre jünger bleiben würde als Ted –, war das Problem, daß sein Interesse an jungen Frauen vorhielt.

Die nostalgische Sehnsucht nach Unschuld, die ältere Männer offenbar verspüren, war ein Thema, dem der sechzehnjährige Eddie O’Hare bislang nur in Romanen begegnet war, und Ted Coles geradezu peinlich autobiographische Romane waren weder die ersten noch die besten, die Eddie zu diesem Thema gelesen hatte. Doch seine kritische Einstellung zu Ted Coles schriftstellerischen Qualitäten taten seinem eifrigen Bestreben, dessen Assistent zu werden, keinen Abbruch. Bestimmt konnte man eine Kunst oder Fertigkeit auch von jemandem lernen, der es nicht bis zur Meisterschaft gebracht hatte. Schließlich hatte Eddie in Exeter eine ganze Menge von recht unterschiedlichen Lehrern gelernt, die größtenteils ganz ausgezeichnet waren. Nur wenige hielten einen so langweiligen Unterricht ab wie sein Vater. Sogar Eddie ahnte, daß Minty selbst an einer schlechten Schule [28] als Paradebeispiel für Mittelmäßigkeit aufgefallen wäre, von Exeter ganz zu schweigen.

Als junger Mann, der auf dem Gelände und in dem mehr oder minder gleichbleibenden Umfeld einer guten Schule aufgewachsen war, wußte Eddie, daß man von älteren Menschen, die hart arbeiteten und an bestimmten Werten festhielten, eine Menge lernen konnte. Allerdings wußte er nicht, daß Ted Cole aufgehört hatte, hart zu arbeiten, und daß die wenigen fragwürdigen »Werte«, die er sich bewahrt hatte, durch das Scheitern seiner Ehe mit Marion und den unverwindbaren Tod seiner beiden Söhne noch weiter gelitten hatten.

Ted Coles Kinderbücher fand Eddie in intellektueller wie auch in psychologischer (und sogar emotionaler) Hinsicht interessanter als seine Romane. Für Kinder eine Geschichte zu schreiben, die eine Moral enthielt, fiel Ted nicht schwer; er konnte sich ihre Ängste vorstellen und diese zum Ausdruck bringen, er konnte ihre Bedürfnisse befriedigen. Hätten Thomas und Timothy länger gelebt, wären sie als Erwachsene von ihrem Vater bestimmt enttäuscht gewesen. Und auch Ruth sollte erst als Erwachsene von Ted enttäuscht sein; als Kind liebte sie ihn über alles.

Eddie befand sich mit seinen sechzehn Jahren irgendwo in der Schwebe zwischen Kind und Erwachsenem. Seiner Meinung nach gab es keine Geschichte, die einen besseren Anfang hatte als Die Maus, die in der Wand krabbelt. »Tom wachte auf, Tim aber nicht.« Ruth Cole sollte in ihrem ganzen späteren Leben als Schriftstellerin – und wie sich herausstellte, übertraf sie ihren Vater auf diesem Gebiet bei weitem – immer neidisch auf diesen ersten Satz sein. Sie konnte auch nie vergessen, wann sie ihn zum erstenmal gehört hatte, nämlich lange bevor sie wußte, daß es der erste Satz eines berühmten Buches war.

Zum erstenmal hörte sie ihn im Sommer 1958, als sie vier Jahre alt war, kurz bevor Eddie zu ihnen kam. Diesmal war es kein leidenschaftliches Stöhnen, von dem Ruth geweckt wurde, sondern [29] ein Geräusch aus ihrem Traum, das beim Aufwachen noch nachklang. Im Traum hatte Ruths Bett gezittert; als sie aufwachte, zitterte sie selbst, und folglich schien auch ihr Bett zu zittern. Auch als Ruth schon hellwach war, hielt das Geräusch noch mindestens eine Sekunde lang an. Dann hörte es abrupt auf. Es war ein Geräusch, wie wenn einer versucht, kein Geräusch zu machen.

»Daddy!« flüsterte Ruth. Diesmal wußte sie sofort, daß ihr Vater in dieser Nacht bei ihr im Haus war, hatte aber so leise geflüstert, daß sie ihre eigene Stimme nicht hören konnte. Außerdem schlief Ted Cole wie ein Stein. Wie die meisten Leute, die kräftig trinken, schlief er nicht sanft ein, sondern fiel in eine Art Bewußtlosigkeit – mindestens bis vier oder fünf Uhr morgens, und dann konnte er nicht mehr einschlafen.

Ruth kroch aus ihrem Bett und ging auf Zehenspitzen durch das große Bad ins Elternschlafzimmer, wo ihr Vater lag und nach Whiskey oder Gin roch – so intensiv wie ein Wagen in einer geschlossenen Garage nach Motoröl und Benzin.

»Daddy!« wiederholte sie. »Ich hab was geträumt. Ich habe ein Geräusch gehört.«

»Was für ein Geräusch denn, Ruthie?« fragte ihr Vater; er hatte sich nicht gerührt, war aber wach.

»Es ist ins Haus gekommen«, sagte Ruth.

»Das Geräusch?«

»Es ist im Haus, aber es versucht, ganz leise zu sein«, erklärte Ruth.

»Dann wollen wir es mal suchen«, schlug ihr Vater vor. »Ein Geräusch, das versucht, ganz leise zu sein. Das muß ich sehen.«

Er nahm sie auf den Arm und trug sie auf den langen Gang hinaus. In diesem Gang im ersten Stock hingen mehr Fotografien von Thomas und Timothy als in irgendeinem anderen Teil des Hauses, und als Ted das Flurlicht einschaltete, schienen Ruths tote Brüder um ihre Aufmerksamkeit zu betteln – wie ein Spalier von Prinzen, die um die Gunst einer Prinzessin buhlen.

[30] »Wo bist du, Geräusch?« rief Ted.

»Schau in den Gästezimmern nach«, sagte Ruth.

Ihr Vater trug sie bis ans Ende des Ganges, wo sich drei Gästezimmer und zwei Gästebäder befanden – auch sie voller Fotografien. Sie machten alle Lichter an und spähten in alle Schränke und hinter die Duschvorhänge.

»Komm heraus, Geräusch!« befahl Ted.

»Komm heraus, Geräusch!« wiederholte Ruth.

»Vielleicht ist es unten«, meinte ihr Vater.

»Nein, es war hier oben bei uns«, erklärte Ruth.

»Dann ist es wohl verschwunden, denke ich«, sagte Ted. »Wie hat es sich denn angehört?«

»Es war ein Geräusch, wie wenn einer versucht, kein Geräusch zu machen«, sagte Ruth.

Ted setzte sie auf einem Gästebett ab und griff zu Block und Stift, die auf dem Nachttischchen lagen. Was Ruth gerade gesagt hatte, gefiel ihm so gut, daß er es unbedingt aufschreiben wollte. Aber er hatte keinen Schlafanzug an und folglich auch keine Tasche, in die er den Zettel hätte stecken können; und so klemmte er ihn zwischen die Zähne, als er Ruth wieder auf den Arm nahm. Wie üblich, interessierte es sie nur flüchtig, daß er nackt war. »Dein Pimmel sieht aber komisch aus«, sagte sie.

»Mein Pimmel sieht wirklich komisch aus«, pflichtete Ted ihr bei. Das sagte er jedesmal. Mit dem Blatt Papier zwischen den Zähnen hörte sich seine lässige Bemerkung noch lässiger an als sonst.

»Wo ist das Geräusch hingegangen?« wollte Ruth wissen. Ihr Vater trug sie durch die Gästeschlafzimmer und die Gästebäder, machte die Lichter aus, doch dann blieb er im zweiten Bad so abrupt stehen, daß es Ruth vorkam, als hätten sich Thomas und Timothy oder auch nur einer von beiden aus einem Foto gebeugt und ihn festgehalten.

»Ich werde dir eine Geschichte von einem Geräusch erzählen«, sagte ihr Vater; zwischen seinen Zähnen flatterte der Zettel. [31] Er setzte sich mit Ruth auf dem Arm auf den Rand der Badewanne.

Auf dem Foto, das seine Aufmerksamkeit erregt hatte, war Thomas vier, genauso alt wie Ruth. Die Aufnahme wirkte sehr steif und gestellt: Thomas thronte auf einem großen, mit einem wirren Blumenmuster bezogenen Sofa; Timothy, dem es mit seinen zwei Jahren offenbar nicht behagte, auf Thomas’ Schoß sitzen zu müssen, schien von dem floralen Wildwuchs völlig überwältigt. Das Foto mußte 1940 aufgenommen worden sein, zwei Jahre bevor Eddie O’Hare geboren wurde.

»Eines Nachts, als Thomas so alt war wie du und Timothy noch in den Windeln steckte, hörte Thomas ein Geräusch«, begann Ted. Ruth sollte sich immer daran erinnern, daß ihr Vater an dieser Stelle den Zettel aus dem Mund nahm.

»Sind alle beide aufgewacht?« fragte sie, ohne das Foto aus den Augen zu lassen.

Und so kam diese denkwürdige alte Geschichte in Gang; Ted Cole kannte sie von der ersten Zeile an auswendig.

»Tom wachte auf, Tim aber nicht.«

Ruth schauderte auf dem Arm ihres Vaters. Noch als erwachsene Frau und renommierte Romanautorin konnte sie diese Zeile weder hören noch aussprechen, ohne eine Gänsehaut zu bekommen.

»Tom wachte auf, Tim aber nicht. Es war mitten in der Nacht. ›Hast du das gehört?‹ fragte Tom seinen Bruder. Aber Tim war erst zwei. Auch wenn er wach war, sprach er nicht viel.

Tom weckte seinen Vater auf und fragte ihn: ›Hast du dieses Geräusch gehört?‹

›Wie hat es sich denn angehört?‹ wollte sein Vater wissen.

›Wie ein Monster mit ohne Arme und ohne Beine, aber es hat versucht, sich zu bewegen‹, sagte Tom.

›Wie kann es sich denn ohne Arme und ohne Beine bewegen?‹ fragte der Vater.

[32] ›Es zappelt hin und her‹, sagte Tom. ›Es rutscht auf seinem Fell.‹

›Ach, es hat also ein Fell?‹ fragte der Vater.

›Es zieht sich mit den Zähnen vorwärts‹, sagte Tom.

›Und Zähne hat es auch!‹ rief der Vater.

›Ich hab dir doch gesagt, daß es ein Monster ist!‹ sagte Tom.

›Aber was war das denn für ein Geräusch, von dem du aufgewacht bist?‹ fragte der Vater.

›Es war so ein Geräusch, wie wenn in Mummys Schrank ein Kleid lebendig wird und von seinem Kleiderbügel runterklettern will‹, sagte Tom.«

Bis an ihr Lebensende sollte Ruth Cole Angst vor Schränken haben. Wenn in einem Zimmer eine Schranktür offenstand, konnte sie nicht einschlafen; sie mochte es nicht, wenn sie die Kleider da hängen sah. Sie mochte überhaupt keine Kleider. Und als Kind machte sie nie eine Schranktür auf, wenn es im Zimmer dunkel war, weil sie Angst hatte, ein Kleid könnte sie in den Schrank hineinziehen.

»›Komm, wir gehen wieder in dein Zimmer und horchen, ob wir das Geräusch hören können‹, schlug Toms Vater vor. Und da lag Tim und schlief immer noch; er hatte das Geräusch noch immer nicht gehört. Es war ein Geräusch, wie wenn jemand die Nägel aus den Bodenbrettern unter dem Bett zieht. Es war ein Geräusch, wie wenn ein Hund versucht, eine Tür aufzumachen. Sein Maul ist feucht, und deshalb bekommt er den Türknauf nicht richtig zu fassen, aber er gibt nicht auf. Irgendwann kommt der Hund herein, dachte Tom. Es war ein Geräusch, wie wenn ein Gespenst in der Mansarde die Erdnüsse fallen läßt, die es aus der Küche stibitzt hat.«

Als Ruth die Geschichte zum erstenmal hörte, unterbrach sie ihren Vater an dieser Stelle, weil sie wissen wollte, was eine Mansarde ist. »Das ist ein großer Raum über allen Schlafzimmern«, erklärte er. Da das Haus der Coles keine Mansarde hatte, jagte ihr [33] die unbegreifliche Vorstellung, daß es so einen Raum geben könnte, Angst ein.

»›Da ist es wieder, das Geräusch!‹ flüsterte Tom seinem Vater zu. ›Hast du es gehört?‹ Diesmal wachte auch Tim auf. Es war ein Geräusch, wie wenn etwas im Kopfbrett des Bettes eingesperrt wäre und sich nach draußen frißt, sich durch das Holz nagt.«

An dieser Stelle unterbrach Ruth ihren Vater noch einmal; ihr Stockbett hatte kein Kopfteil, und sie wußte auch nicht, was »nagen« bedeutet. Ihr Vater erklärte es ihr.

»Tom war fest davon überzeugt, daß das Geräusch von einem armlosen, beinlosen Monster stammt, das auf seinem dicken, nassen Fell dahinrutscht. ›Es ist ein Monster!‹ schrie Tom.

›Es ist nur eine Maus, die in der Wand krabbelt‹, beruhigte ihn sein Vater.

Tim kreischte auf. Er hatte noch nie eine Maus gesehen. Und er bekam Angst, wenn er sich vorstellte, daß irgend so ein Ding mit einem dicken, nassen Fell – und ohne Arme und Beine – in der Wand herumkrabbelte. Wie war es überhaupt da hineingelangt?

Aber da fragte Tom seinen Vater: ›Ist es wirklich nur eine Maus?‹

Der Vater klatschte mit der Hand an die Wand, und sie hörten die Maus davonflitzen. ›Wenn sie zurückkommt‹, sagte er zu Tom und Tim, ›dann schlagt einfach an die Wand.‹

›Eine Maus, die in der Wand krabbelt!‹ sagte Tom. ›Das war alles!‹ Er schlief bald wieder ein, und der Vater ging auch wieder ins Bett und schlief ein, nur Tim lag die ganze Nacht wach, weil er nicht genau wußte, wie eine Maus aussieht, und wach sein wollte, wenn dieses Ding, das in der Wand rumkrabbelte, wieder angekrabbelt kam. Sooft er meinte, die Maus in der Wand krabbeln zu hören, schlug er mit der Hand an die Wand, und die Maus flitzte davon – mit ihrem dicken, nassen Fell und mit ohne Arme und ohne Beine.

[34] Und das …«, sagte Ruths Vater, dessen Geschichten alle gleich endeten.

»Und das …«, wiederholte Ruth mit ihm zusammen, »ist das Ende der Geschichte.«

Als sich ihr Vater vom Badewannenrand erhob, hörte Ruth seine Knie knacken. Er klemmte den Zettel wieder zwischen die Zähne und schaltete das Licht im Gästebad aus, in dem Eddie O’Hare bald unsinnig viel Zeit verbringen würde – endlos lang duschte, bis das heiße Wasser ausging, oder was Teenager sonst so tun.

Ruths Vater machte alle Lichter in dem langen Flur aus, in dem die Fotos von Thomas und Timothy perfekt in Reih und Glied hingen. Ruth hatte, vor allem in diesem Sommer, in dem sie vier war, den Eindruck, als gäbe es von ihren beiden Brüdern Unmengen von Aufnahmen, auf denen sie etwa vier Jahre alt waren. Später vermutete sie, daß ihre Mutter Vierjährige vielleicht lieber mochte als Kinder in einem anderen Alter; und sie fragte sich, ob das der Grund war, weshalb sie sie am Ende jenes Sommers, in dem sie vier war, verlassen hatte.

Nachdem ihr Vater sie wieder ins Bett gebracht und gut zugedeckt hatte, fragte Ruth: »Gibt es in unserem Haus Mäuse?«

»Nein, Ruthie«, antwortete er. »In unseren Wänden krabbelt nichts.« Trotzdem lag sie wach, nachdem er ihr einen Gutenachtkuß gegeben hatte, und auch wenn das Geräusch, das aus ihrem Traum nachgeklungen hatte, nicht zurückkehrte – wenigstens nicht in jener Nacht –, wußte Ruth schon damals, daß doch etwas in den Wänden dieses Hauses herumkrabbelte. Die Anwesenheit ihrer toten Brüder beschränkte sich nicht auf die Fotografien. Sie wanderten umher, und ihre Gegenwart ließ sich auf vielfältige, freilich nicht sichtbare Weise feststellen.

Noch bevor Ruth in dieser Nacht die Schreibmaschine hörte, wußte sie, daß ihr Vater wach war und auch nicht mehr ins Bett [35] gehen würde. Zuerst horchte sie, wie er sich die Zähne putzte, dann hörte sie, wie er sich anzog – das Ratschen des Reißverschlusses, das Klappern seiner Schuhe.

»Daddy?« rief sie hinüber.

»Ja, Ruthie.«

»Ich möchte einen Schluck Wasser.«

Eigentlich wollte sie gar kein Wasser, aber sie fand es immer wieder spannend, daß ihr Vater das Wasser laufen ließ, bis es kalt war. Ihre Mutter nahm das Wasser, das unmittelbar aus dem Hahn lief; es war lauwarm und schmeckte nach Wasserleitung.

»Trink nicht so viel, sonst mußt du pinkeln«, sagte ihr Vater dann jedesmal, während ihre Mutter sie so viel trinken ließ, wie sie wollte – manchmal ohne überhaupt hinzusehen.

Als Ruth ihrem Vater den Becher zurückgab, sagte sie: »Erzähl mir von Thomas und Timothy.« Ihr Vater seufzte. Seit einem halben Jahr bekundete Ruth ein unstillbares Interesse am Thema Tod – eigentlich kein Wunder. Seit sie drei war, hatte sie Thomas und Timothy auf den Fotos unterscheiden können; nur auf den Säuglingsfotos verwechselte sie sie hin und wieder. Beide Eltern hatten ihr die Umstände, unter denen jedes einzelne Foto entstanden war, genau geschildert – ob Mummy oder Daddy es aufgenommen und ob Thomas oder Timothy geweint hatte. Doch erst seit kurzem versuchte Ruth zu begreifen, was es eigentlich bedeutete, daß ihre Brüder tot waren.

»Sag«, fragte sie ihren Vater oft, »sind sie richtig tot?«

»Ja, Ruthie.«

»Und tot bedeutet, daß sie kaputt sind?«

»Na ja … ihre Körper sind kaputt, ja.«

»Und sie sind unter der Erde?«

»Ihre Körper schon, ja.«

»Aber ganz fort sind sie nicht?«

»Hm … nicht, solange wir uns an sie erinnern. Aus unseren Herzen und unseren Gedanken sind sie nicht fort.«

[36] »Dann sind sie irgendwie in uns drin?«

»Na ja …« Ihr Vater ließ es dabei bewenden, aber seine Antwort war immerhin ausführlicher als die, die Ruth von ihrer Mutter bekam; ihre Mutter hätte das Wort »Tod« nie über die Lippen gebracht. Weder Ted noch Marion waren religiös. Es kam für beide nicht in Frage, Ruth eine anschauliche Vorstellung vom Himmel zu vermitteln, auch wenn sie bei anderen Gesprächen mit Ruth über dieses Thema rätselhafte Anspielungen auf den Himmel und die Sterne machten; sie deuteten an, daß irgendein Teil von den Jungen anderswo lebte als bei ihren kaputten Körpern unter der Erde.

»Ich möchte wissen …«, sagte Ruth, »was ›tot‹ bedeutet.«

»Also hör zu, Ruthie …«

»Okay«, sagte Ruth.

»Wenn du dir Thomas und Timothy auf den Fotos ansiehst, erinnerst du dich dann, was wir dir dazu erzählt haben? Was sie damals gerade gemacht haben?« fragte ihr Vater. »Auf den Fotos, meine ich?«

»Ja«, antwortete Ruth, obwohl sie nicht sicher war, ob sie das noch bei jedem Bild genau wußte.

»Na also … Und das heißt, daß Thomas und Timothy in deiner Vorstellung leben«, erklärte ihr Vater. »Wenn ein Mensch stirbt, wenn sein Körper kaputt ist, bedeutet das nur, daß wir seinen Körper nicht mehr sehen können; sein Körper ist nicht mehr da.«

»Er ist unter der Erde«, verbesserte ihn Ruth.

»Wir können Thomas und Timothy zwar nicht mehr sehen«, fuhr ihr Vater beharrlich fort, »aber aus unseren Gedanken sind sie nicht verschwunden. Wenn wir an sie denken, sehen wir sie vor uns.«

»Dann sind sie nur aus unserer Welt verschwunden?« sagte Ruth. (Sie sprach weitgehend nach, was sie vorher gehört hatte.) »Und sie sind in einer anderen Welt?«

[37] »Ja, Ruthie.«

»Werde ich auch tot?« fragte die Vierjährige. »Werde ich auch ganz kaputt?«

»Bis dahin dauert es noch sehr, sehr lange!« sagte ihr Vater. »Ich gehe vor dir kaputt, und selbst ich gehe noch sehr, sehr lange nicht kaputt.«

»Noch sehr, sehr lange nicht?« wiederholte Ruth.

»Das verspreche ich dir, Ruthie.«

»Okay.«

Sie führten fast jeden Tag ein Gespräch dieser Art. Mit ihrer Mutter führte Ruth ähnliche Gespräche, nur kürzer. Einmal, als Ruth ihrem Vater erklärte, sie werde immer ganz traurig, wenn sie an Thomas und Timothy denke, gab er zu, daß er auch traurig sei.

Daraufhin hatte Ruth gesagt: »Aber Mummy ist noch viel trauriger.«

»Na ja … schon«, hatte Ted eingeräumt.

Und so lag Ruth wach in dem Haus, in dem irgend etwas in den Wänden krabbelte, etwas, das größer war als eine Maus, und sie lauschte dem einzigen Geräusch, das sie je würde trösten können und das sie zugleich wehmütig stimmte. Damals freilich wußte sie nicht einmal, was »wehmütig« bedeutet. Es war das Geräusch einer Schreibmaschine, das Geräusch des Geschichtenerzählens. Später als Romanautorin ließ Ruth sich nie dazu bekehren, einen Computer zu verwenden; sie schrieb entweder mit der Hand oder auf einer Schreibmaschine, die sie deshalb ausgesucht hatte, weil sie das altmodischste Geräusch machte, das man sich denken konnte.

Damals (in jener Nacht im Sommer 1958) wußte sie nicht, daß ihr Vater mit der Geschichte begann, die ihre Lieblingsgeschichte werden sollte. Er arbeitete den ganzen Sommer daran, und wie sich herausstellte, war sie das einzige, was er zu Papier brachte, bei dem sein demnächst eintreffender Assistent Eddie O’Hare tatsächlich Gelegenheit haben sollte zu »assistieren«. Und auch [38] wenn kein anderes Kinderbuch Ted Cole jemals soviel wirtschaftlichen Erfolg oder internationalen Ruhm bescherte wie Die Maus, die in der Wand krabbelt, mochte Ruth das Buch, das ihr Vater in jener Nacht angefangen hatte, am liebsten. Selbstverständlich hieß es Ein Geräusch, wie wenn einer versucht, kein Geräusch zu machen, und für Ruth blieb es immer etwas Besonderes, weil sie den Anstoß dazu gegeben hatte.

Unglückliche Mütter

Ted Coles Kinderbücher ließen sich nicht recht einordnen, was das Alter seiner Leserschaft betraf. Die Maus, die in der Wand krabbelt kam als Vorlesebuch für Kinder zwischen vier und sechs auf den Markt; in dieser Altersgruppe kam es gut an, ebenso wie Teds spätere Bücher. Aber Zwölfjährige beispielsweise stellten nicht selten fest, daß sie einer Geschichte von Ted Cole ein zweites Mal etwas abgewinnen konnten. Diese etwas anspruchsvolleren Leser schrieben ihm häufig Briefe, in denen sie dem Autor mitteilten, früher – das heißt, ehe sie in die tieferen Bedeutungsschichten seiner Bücher vorgedrungen seien – hätten sie geglaubt, er schreibe für kleine Kinder. Diese Briefe, die in stilistischer und orthographischer Hinsicht ein recht unterschiedliches Maß an Kompetenz offenbarten, bildeten in Teds Werkstatt eine Art Tapete.

Der Ausdruck »Werkstatt« stammte von ihm selbst; später fragte sich Ruth, ob dieser Begriff die Meinung, die ihr Vater von sich selbst hatte, nicht viel treffender kennzeichnete, als ihr als Kind bewußt gewesen war. Die Bezeichnung »Atelier« stand nie zur Debatte, weil Ted es längst aufgegeben hatte, seine Bücher als Kunstwerke zu betrachten; und »Werkstatt« hörte sich immerhin ambitionierter an als »Arbeitszimmer« – so wurde dieser [39] Raum auch nie genannt, weil ihr Vater anscheinend doch recht stolz auf seine Kreativität war. Er reagierte empfindlich auf die weitverbreitete Annahme, er betrachte das Bücherschreiben lediglich als Geschäft. Erst viel später kam Ruth dahinter, daß ihr Vater sein Zeichentalent höher einschätzte als sein literarisches Können, auch wenn niemand behauptet hätte, Die Maus, die in der Wand krabbelt oder seine anderen Kinderbücher seien wegen der Illustrationen so erfolgreich.

Verglichen mit der Faszination, die von seinen Geschichten ausging – stets gruselig, kurz und in einer klaren Sprache geschrieben –, waren die Illustrationen recht schlicht; vor allem waren es nach Ansicht all seiner Verleger zu wenige. Trotzdem kamen nie Beschwerden von Teds Lesern, jenen Millionen Kindern zwischen vier und vierzehn, manchmal auch etwas älter – und natürlich den Millionen junger Mütter, die Ted Coles Bücher in erster Linie kauften. Diese Leser wären nie auf die Idee gekommen, daß Ruths Vater viel mehr Zeit auf das Zeichnen verwandte als auf das Schreiben; jeder Illustration, die Eingang in eines seiner Bücher fand, gingen Hunderte von Zeichnungen voraus. Was jedoch sein Erzähltalent betraf, für das er berühmt war … – Ruth hörte die Schreibmaschine immer nur nachts.

Und nun stelle man sich den armen Eddie O’Hare vor. An einem warmen Junimorgen im Sommer 1958 stand er bei den Pequod Avenue Docks in New London, Connecticut, und wartete auf die Fähre, die ihn nach Orient Point auf Long Island bringen sollte. Eddie dachte über seinen Job als Schriftstellerassistent nach, ohne auch nur zu ahnen, daß er recht wenig mit Schreiben zu tun haben würde. (Als zukünftiger Graphiker sah sich Eddie erst recht nicht.)

Angeblich hatte Ted Cole sein Studium in Harvard abgebrochen, um eine nicht sonderlich renommierte Kunstakademie zu besuchen – in Wirklichkeit war es eine Schule für GraphikDesign, auf der sich vorwiegend mittelmäßig begabte Studenten [40] tummelten, die bescheidene Ambitionen in Richtung Werbegraphik hatten. Ted versuchte es erst gar nicht mit Radierungen und Lithographien; er bevorzugte schlichtes Zeichnen. Er behauptete gern, »Dunkel« sei seine »Lieblingsfarbe«.

Ruth brachte die äußere Erscheinung ihres Vaters immer mit Bleistiften und Radiergummis in Verbindung. Er hatte schwarze und graue Flecken an den Händen, und an seiner Kleidung hingen unweigerlich Radiergummikrümel. Doch sein ganz persönliches unveränderliches Merkmal waren – selbst wenn er soeben gebadet und frische Sachen angezogen hatte – seine tintengefleckten Finger. Der Farbton der Tinte variierte von Buch zu Buch. »Ist das ein schwarzes Buch oder ein braunes, Daddy?« lautete Ruths Standardfrage.

Die Maus, die in der Wand krabbelt war ein schwarzes Buch. Die Originalvorlagen waren mit chinesischer Tusche gezeichnet, Teds Lieblingsschwarz. Ein Geräusch, wie wenn einer versucht, kein Geräusch zu machen war eher ein braunes Buch, was dem im Sommer 1958 im Haus vorherrschenden Geruch entsprach. Teds Lieblingsbraun, das freilich eher schwarz als braun wirkte, war die frische Tintenfisch-Tinte mit ihrer Sepiafärbung, die leicht nach Fisch riecht.

Teds abenteuerliche Versuche, die Sepiatinte frisch zu halten, stellten eine zusätzliche Belastung für das ohnehin angespannte Verhältnis zwischen ihm und Marion dar, die von den geschwärzten Behältern im Kühlschrank die Finger zu lassen lernte; zum Teil lagen sie auch in der Tiefkühltruhe, gefährlich dicht neben den Eiswürfelschalen. (Im Laufe des Sommer versuchte Ted auch, die Tinte in den Eiswürfelschalen zu konservieren, was kuriose, wenn auch qualvolle Folgen hatte.)

Zu den Hauptaufgaben von Eddie O’Hare – nicht als Schriftstellerassistent, sondern als Ted Coles designierter Chauffeur – würde zunächst einmal die regelmäßige Fahrt nach Montauk gehören, für die man eine Dreiviertelstunde hin und eine [41] Dreiviertelstunde zurück brauchte. Denn nur im dortigen Fischgeschäft war man bereit, den Sepiafarbstoff für den berühmten Kinderbuchautor und -illustrator aufzuheben. (Wenn der Fischhändler außer Hörweite war, mußte Eddie sich von dessen Frau wiederholt erklären lassen, daß sie Teds »größter Fan« sei.)

Die Werkstatt von Ruths Vater war der einzige Raum im Haus, an dessen Wänden kein einziges Foto von Thomas oder Timothy hing. Ruth fragte sich, ob ihr Vater vielleicht nicht arbeiten oder nachdenken konnte, wenn er seine verstorbenen Jungen vor Augen hatte.

Es war auch der einzige Raum im Haus, zu dem Ruth keinen Zutritt hatte, es sei denn, ihr Vater hielt sich dort auf. Gab es in diesem Raum irgend etwas, womit sie sich hätte verletzen können? Etwa große Mengen scharfer Werkzeuge? Freilich lagen unzählige (verschluckbare) Zeichenfedern herum, aber Ruth gehörte nicht zu den Kindern, die Sachen, die sie nicht kannten, in den Mund steckten. Doch ungeachtet der Gefahren, die in Teds Werkstatt lauern mochten, erübrigte es sich, Ruth irgendwelche Verbote aufzuerlegen oder gar ein Schloß an der Tür anzubringen. Der Geruch der Sepiatinte genügte schon, um das Kind fernzuhalten.

Auch Marion wagte sich nicht in die Nähe von Teds Werkstatt, doch es mußten noch zwanzig Jahre vergehen, ehe Ruth begriff, daß nicht nur die Sepiatinte ihre Mutter ferngehalten hatte. Marion wollte auf jeden Fall vermeiden, Teds Modellen zu begegnen oder sie auch nur von fern zu sehen – nicht einmal die Kinder, da diese nie ohne ihre Mütter zum Modellstehen kamen. Erst nachdem die Kinder ein halbes dutzendmal (oder öfter) Modell gestanden hatten, kamen die Mütter allein. Ruth stellte sich als Kind nie die Frage, warum in den Büchern ihres Vaters kaum Zeichnungen von Müttern mit Kindern vorkamen. Da seine Bücher für Kinder bestimmt waren, enthielten sie natürlich [42] keine Aktzeichnungen, obwohl Ted viele Akte zeichnete; von den jungen Müttern existierten buchstäblich Hunderte von Aktzeichnungen.

Zu diesen Aktzeichnungen pflegte Ruths Vater anzumerken: »Sie sind eine unverzichtbare Voraussetzung für jeden Zeichner, Ruthie.« Wie Landschaften, vermutete sie anfangs, auch wenn sich Ted kaum mit Landschaften beschäftigte. Ruth glaubte immer, sein mangelndes Interesse an Landschaften könnte mit der Gleichförmigkeit und der extremen Flachheit der gesamten Umgebung zu tun haben, die sich wie eine Landebahn zum Meer hin erstreckte, oder auch mit der von ihr so empfundenen Gleichförmigkeit und extremen Flachheit des Meeres – und erst recht mit dem unendlich weiten, sich häufig lustlos darüber hinziehenden Himmel.

Ihr Vater schien sich so wenig aus Landschaften zu machen, daß Ruth erstaunt war, als er sich später über die neuen Häuser aufregte, die er als »architektonische Mißgeburten« bezeichnete. Diese neuen Häuser erstanden ohne jede Vorwarnung und störten das Bild der flachen Kartoffelfelder, auf die die Coles einst im wesentlichen geblickt hatten.

»Es gibt keine Rechtfertigung für Bauten von derart experimenteller Häßlichkeit«, verkündete Ted beim Abendessen jedem, der es hören wollte. »Wir befinden uns doch nicht im Krieg. Es ist absolut nicht nötig, solche Häuser zur Abschreckung von Fallschirmjägern zu bauen.« Aber Teds Klagen nutzten sich mit der Zeit ab; die Architektur der Sommerdomizile in diesem Teil der Welt, den sogenannten Hamptons, und ihre Bewohner waren nicht annähernd so interessant – weder für Ruth noch für ihren Vater – wie die fest hier ansässigen Aktmodelle.

Weshalb ausgerechnet verheiratete junge Frauen? Weshalb lauter junge Mütter? Als Ruth aufs College ging, gewöhnte sie sich an, ihrem Vater direktere Fragen zu stellen als je zuvor. In dieser Zeit kam ihr auch zum erstenmal ein beunruhigender Gedanke. [43] Welche Frauen mochten ihm sonst noch Modell stehen oder, für noch kürzere Zeit, seine Geliebten sein? Mit wem traf er sich sonst noch? Die jungen Mütter erkannten ihn natürlich und sprachen ihn an.

»Mr. Cole? Ich kenne Sie, Sie sind Ted Cole! Ich wollte nur sagen – meine Tochter ist nämlich zu schüchtern –, daß Sie ihr Lieblingsautor sind. Sie haben ihr absolutes Lieblingsbuch geschrieben …« Und dann wurde die widerstrebende Tochter (oder der verlegene Sohn) nach vorn geschoben, um Ted die Hand zu geben. Wenn Ted die Mutter attraktiv fand, machte er den Vorschlag, das Kind könnte ihm vielleicht Modell stehen, zusammen mit der Mutter natürlich – zum Beispiel für sein nächstes Buch. (Den Vorschlag, daß die Mutter allein – und nackt – Modell stehen könnte, sparte er sich für einen späteren Zeitpunkt auf.)

»Aber die meisten dieser Frauen sind doch verheiratet, Daddy«, gab Ruth zu bedenken.

»Ja … vermutlich sind sie deshalb so unglücklich, Ruthie.«

»Wenn dir deine Akte so wichtig wären, ich meine, deine Aktzeichnungen, würdest du professionelle Modelle nehmen«, sagte Ruth. »Aber wahrscheinlich waren dir die Frauen schon immer wichtiger als die Aktzeichnungen.«

»Für einen Vater ist es schwer, seiner Tochter das zu erklären, Ruthie. Aber … wenn ein Akt Nacktheit vermitteln soll – damit meine ich, wie es sich anfühlt, nackt zu sein –, gibt es keine Form von Nacktheit, die sich mit dem Gefühl vergleichen läßt, das erste Mal nackt vor jemandem zu stehen.«

»Soviel zu professionellen Modellen«, entgegnete Ruth. »Mein Gott, Daddy, muß das denn sein?« Inzwischen wußte sie natürlich, daß ihm weder die Aktzeichnungen noch die Porträts der Mütter mit ihren Kindern wichtig genug waren, als daß er sie behalten hätte; er verkaufte sie weder privat, noch gab er sie an seine Galerie weiter. Wenn eine Affäre beendet war – und normalerweise ging das rasch –, händigte er der jeweiligen jungen Mutter [44] die Zeichnungen aus, die sich angesammelt hatten. Ruth fragte sich wiederholt: Wenn die jungen Mütter allesamt so unglücklich verheiratet oder auch schlicht unglücklich waren, machte dieses Geschenk sie dann wenigstens vorübergehend glücklicher? Ihr Vater hätte das, was er fabrizierte, nie als »Kunst« bezeichnet, und auch sich selbst betrachtete er nicht als Künstler. Ted bezeichnete sich auch nicht als Schriftsteller.

»Ich bin eine Art Unterhalter für Kinder, Ruthie«, pflegte er zu sagen.

Und Ruth ergänzte dann: »Und der Liebhaber ihrer Mütter, Daddy.«

Wenn ein Kellner oder eine Kellnerin in einem Restaurant wie gebannt auf seine tuschegefleckten Finger starrte, entlockte ihm das nicht einmal eine Rechtfertigung wie: »Ich bin Künstler« oder: »Ich bin Kinderbuchautor und -illustrator«, sondern er sagte höchstens: »Ich arbeite mit Tusche« oder, wenn der Blick des Kellners oder der Kellnerin verächtlich gewesen war: »Ich arbeite mit Sepia.«

Als Teenager – und ein-, zweimal auch während ihrer hyperkritischen College-Zeit – begleitete Ruth ihren Vater auf einen Schriftstellerkongreß, wo er der einzige Kinderbuchautor unter lauter vermeintlich ernstzunehmenderen belletristischen Autoren und Dichtern war. Ruth amüsierte sich darüber, daß diese Typen, die eine ungleich literarischere Aura verbreiteten als ihr Vater mit seinem nachlässigen, attraktiven Äußeren und den für ihn typischen tintengefleckten Fingern, ihn nicht nur darum beneideten, daß seine Bücher allgemein so beliebt waren. Diese ultraliterarischen Typen wurmte es auch, wenn sie mitbekamen, was für eine schlechte Meinung Ted Cole von sich hatte – was für ein bescheidener Mensch er allem Anschein nach geblieben war!

»Sie haben zu Beginn Ihrer Karriere Romane geschrieben, nicht wahr?« wurde Ted gelegentlich von besonders fiesen ultraliterarischen Typen gefragt.

[45] »Ja, aber die waren furchtbar«, antwortete er dann fröhlich. »Es ist ein Wunder, daß mein erster Roman bei so vielen Rezensenten Anklang gefunden hat. Und es ist ein Wunder, daß drei Romane nötig waren, bis ich gemerkt habe, daß ich kein Schriftsteller bin. Ich bin eine Art Unterhalter für Kinder. Und ich zeichne gern.« Zum Beweis dafür zeigte er seine Finger her; dazu lächelte er. Und was für ein Lächeln!

Einmal berichtete Ruth ihrer Zimmergenossin im College (die schon im Internat ihre Zimmergenossin gewesen war): »Ich schwöre dir, daß man die Höschen der Frauen zu Boden gleiten hören konnte.«

Bei einem Schriftstellerkongreß sah sich Ruth das erste Mal damit konfrontiert, daß ihr Vater mit einem jungen Mädchen schlief, einer Kommilitonin, die noch jünger war als Ruth.

»Ich dachte, du bist einverstanden mit meinem Verhalten, Ruthie«, hatte Ted gesagt. Wenn sie ihn kritisierte, schlich sich häufig Selbstmitleid in seine Stimme – so, als wäre sie die Erwachsene und er das Kind, was in gewisser Weise auch zutraf.

»Wie könnte ich dein Verhalten billigen, Daddy?« fragte sie ihn ganz empört. »Du verführst ein Mädchen, das jünger ist als ich, und dann erwartest du, daß ich das gutheiße?«

»Aber Ruthie, sie ist doch nicht verheiratet«, entgegnete ihr Vater. »Sie ist keine Mutter. Ich dachte, das wenigstens würdest du gutheißen.«

Die Romanautorin Ruth Cole beschrieb den Bereich, in dem ihr Vater arbeitete, einmal so: »Das Spezialgebiet meines Vaters sind unglückliche Mütter.«

Doch wie hätte Ted eine unglückliche Mutter nicht erkennen sollen, wenn ihm eine begegnete? Schließlich lebte er, zumindest seit dem Tod seiner Söhne vor fünf Jahren, mit der unglücklichsten Mutter zusammen, die man sich vorstellen konnte.

[46] Marion wartet

Orient Point, die Spitze des nördlichen Ausläufers von Long Island, sieht aus wie das, was es ist: das Ende einer Insel, das sich allmählich im Meer verliert. Die Vegetation, vom Salz verkrüppelt, vom Wind geduckt, ist spärlich. Der Sand ist grobkörnig und mit Muscheln und Gesteinsbrocken durchsetzt. Als Marion Cole an jenem Tag im Juni 1958 auf die Fähre aus New London wartete, die Eddie O’Hare über den Long Island Sound bringen sollte, war Ebbe, und Marion bemerkte gleichgültig, daß die Pfahlwand des Fähranlegers bis zur Flutmarke naß war; oberhalb waren die Pfähle trocken. Über der leeren Rampe hing ein lärmender Chor Möwen in der Luft; dann schwenkten die Vögel dicht über dem gekräuselten Wasser ab, das im unbeständigen Sonnenlicht andauernd die Farbe wechselte – von Schiefergrau zu Blaugrün und dann wieder zu Grau. Die Fähre war noch nicht in Sicht.

Nicht einmal ein Dutzend Autos parkten in der Nähe des Anlegers. In Anbetracht der Tatsache, daß die Sonne nicht verweilen wollte und der Wind aus Nordosten blies, warteten die meisten Fahrer in ihren Autos. Anfangs hatte Marion neben ihrem Wagen gestanden, an den vorderen Kotflügel gelehnt; dann setzte sie sich darauf und schlug auf der Kühlerhaube das Exeter-Jahrbuch 1958 auf. Und hier, in Orient Point, auf der Kühlerhaube ihres Wagens, sah sich Marion die neuesten Fotos von Eddie O’Hare zum erstenmal genau an.

Marion haßte es, zu spät zu kommen, und sie hatte unweigerlich eine schlechte Meinung von Leuten, die unpünktlich waren. Ihr Wagen stand ganz vorn in der Spur der Abholer, die auf die Ankunft der Fähre warteten. Auf dem Parkplatz, auf dem die Passagiere warteten, die mit der Fähre nach New London fahren wollten, stand eine längere Autoschlange. Aber Marion achtete nicht auf die Leute; sie betrachtete selten andere Menschen, wenn sie ausging, was selten vorkam.

[47] Doch alle sahen sie an. Sie konnten einfach nicht anders. Als Marion Cole an jenem Tag in Orient Point wartete, war sie neununddreißig. Sie sah aus wie neunundzwanzig oder noch etwas jünger. Während sie auf dem Kotflügel ihres Wagens saß und die Seiten des Jahrbuchs 1958 in den ungestümen Windböen aus Nordosten niederzuhalten versuchte, waren ihre hübschen und noch dazu langen Beine weitgehend unter einem Wickelrock in einem nichtssagenden Beigeton verborgen. Die Paßform ihres Rocks jedoch war alles andere als nichtssagend – er saß wie angegossen. Sie trug ein extrem weites, weißes T-Shirt, das sie in den Bund gesteckt hatte, und darüber eine nicht zugeknöpfte Kaschmirjacke in dem gleichen verblichenen Rosa wie die Innenseiten bestimmter Muscheln – einem Hellrosa, dem man eher an einer tropischen Küste begegnen mochte als an dem keineswegs exotischen Strand von Long Island.

Als der Wind auffrischte, zog Marion die Jacke fester um sich. Das T-Shirt saß sehr lose, aber sie hatte einen Arm unter der Brust um sich geschlungen. Daß sie eine lange Taille hatte, war unübersehbar; daß ihre vollen Brüste etwas herabhingen, aber wohlgeformt waren und natürlich wirkten, war ebenfalls unübersehbar. Ihr schulterlanges, gewelltes Haar veränderte in der mit den Wolken Versteck spielenden Sonne seine Farbe von Bernstein zu Honigblond, und ihre leicht gebräunte Haut schien zu leuchten. Sie war nahezu makellos.

Bei näherer Betrachtung jedoch hatte ihr eines Auge etwas Irritierendes. Ihr Gesicht war mandelförmig, genau wie ihre Augen, die eigentlich dunkelblau waren; doch in der Iris des rechten Auges befand sich ein sechseckiger hellgelber Fleck. Es sah aus, als wäre ihr ein Brillantsplitter oder ein Eissplitter ins Auge gefallen, der nun ständig die Sonne reflektierte. Je nach Lichteinfall bewirkte dieses gelbe Fleckchen, daß die Farbe ihres rechten Auges von Blau zu Grün wechselte. Fast ebenso beunruhigend war Marions vollkommener Mund. Doch ihr Lächeln, [48] wenn sie denn lächelte, war voller Wehmut. Seit fünf Jahren hatten nur wenige Menschen sie überhaupt lächeln sehen.

Während Marion im Exeter-Jahrbuch nach den aktuellsten Fotos von Eddie O’Hare suchte, runzelte sie unwillkürlich die Stirn. Vor einem Jahr war Eddie im Sportclub gewesen, jetzt nicht mehr. Im vergangenen Jahr war er noch Mitglied des Junior-Debattierclubs; in diesem Jahr gehörte er ihm nicht mehr an, war aber auch nicht in die erlesene Riege der sechs jungen Männer aufgerückt, aus denen der Debattierkreis der Schule bestand. Hatte er beides einfach so aufgegeben? fragte sich Marion. (Ihre eigenen Jungen hatten auch nichts für Clubs und dergleichen übrig gehabt.)

Doch dann entdeckte sie ihn etwas verloren inmitten einer Gruppe selbstgefällig und großspurig wirkender junger Männer, die das Exeter-Literaturmagazin Pendel herausgaben und auch die meisten Beiträge beisteuerten. Eddie stand am Rand der mittleren Reihe, so, als wäre er um ein Haar zu spät zum Fotografieren gekommen und in letzter Sekunde scheinbar ganz cool und desinteressiert ins Bild geschlüpft. Während sich einige andere in Positur geworfen hatten und der Kamera bewußt ihr Profil zuwandten, starrte Eddie direkt in die Linse. Wie schon auf den Fotos im Jahrbuch 1957 wirkte er aufgrund seiner beängstigenden Ernsthaftigkeit und seines hübschen Gesichts älter, als er war.

Was auch immer an ihm »literarisch« sein mochte, die einzig erkennbaren Komponenten waren sein dunkles Hemd und eine noch dunklere Krawatte. Es war eines jener Hemden, die normalerweise nicht mit Krawatte getragen werden. (Marion mußte daran denken, daß Thomas diesen Aufzug auch gern gemocht hatte; Timothy, der jünger oder konventioneller oder auch beides war, nicht.) Marion fand es deprimierend, sich den Inhalt des Pendels auszumalen: düstere Gedichte und quälend autobiographische Geschichten von Halbwüchsigen – literarisch [49] ambitionierte Varianten des Themas: »Wie ich die Sommerferien verbrachte«. Jungen in diesem Alter sollten sich an Sport halten, dachte Marion. (Thomas und Timothy hatten sich nur an Sport gehalten.)

Plötzlich machte das windige, wolkige Wetter sie frösteln – vielleicht fröstelte sie auch aus anderen Gründen. Sie klappte das Jahrbuch zu und setzte sich in den Wagen, wo sie es wieder aufschlug und ans Lenkrad lehnte. Jeder, der Marion wieder ins Auto hatte steigen sehen, hatte ihre Hüften betrachtet. Man konnte einfach nicht anders.

Apropos Sport: Eddie O’Hare lief nach wie vor. Da war er, ein Jahr mehr Muskeln am Leib, auf den Fotos der beiden Juniorenmannschaften: Geländelauf und Kurzstreckenlauf. Warum läuft er? fragte sich Marion. (Ihre Söhne hatten eine Vorliebe für Fußball und Hockey gehabt, und im Frühjahr hatte Thomas Lacrosse gespielt, und Timothy hatte es mit Tennis versucht. Keinen von beiden reizte der Lieblingssport ihres Vaters: Ted spielte einzig und allein Squash.)

Wenn Eddie O’Hare weder im Geländelauf noch im Kurzstreckenlauf aus der Juniorenmannschaft in die Schulmannschaft aufgestiegen war, bedeutete das wohl, daß er nicht besonders schnell lief oder keinen großen Ehrgeiz hatte. Doch ganz gleich, wie schnell oder ehrgeizig er lief, seine nackten Schultern lenkten erneut die unbewußte Aufmerksamkeit von Marions Zeigefinger auf sich. Ihr Nagellack war mattrosa und genau auf ihren Lippenstift abgestimmt, dessen Rosaton mit etwas Silber durchsetzt war. Es ist durchaus denkbar, daß Marion Cole im Sommer 1958 eine der schönsten Frauen ihrer Zeit war.

Sie spürte auch wirklich keinerlei bewußtes sexuelles Interesse, als sie die Konturen von Eddies nackten Schultern nachfuhr. Daß die zwanghafte Intensität, mit der sie junge Männer in Eddies Alter betrachtete, erotische Dimensionen annehmen könnte, ahnte zu diesem Zeitpunkt einzig und allein ihr Mann. [50] Während er seinem sexuellen Instinkt vertraute, war Marion in dieser Beziehung zutiefst verunsichert.

Schon so manche Ehefrau hat die kränkenden Seitensprünge eines treulosen Ehemanns toleriert, ja sogar akzeptiert; Marion nahm sie bei Ted in Kauf, weil sie selbst sehen konnte, daß seine vielen Frauen keine nachhaltige Rolle in seinem Leben spielten. Hätte er eine andere Frau gehabt, eine, die ihn ganz in ihren Bann zog, hätte Marion sich vielleicht dazu durchgerungen, ihn vor die Tür zu setzen. Aber Ted behandelte sie nie schlecht; vor allem nach dem Tod von Thomas und Timothy blieb er ihr gegenüber gleichbleibend liebevoll und zärtlich. Schließlich hätte außer ihm auch niemand ihren abgrundtiefen Kummer begreifen und respektieren können.