Gottes Werk und Teufels Beitrag - John Irving - E-Book

Gottes Werk und Teufels Beitrag E-Book

John Irving

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Beschreibung

Homer ist anders als die anderen Kinder im Saint-Cloud´s Waisenhaus: Er will nicht weg. Nach vier gescheiterten Adoptionsversuchen erlaubt Dr. Larch ihm daher, zu bleiben ­ unter der Bedingung, daß er im Waisenhaus mit angeschlossener Entbindungs- und Abtreibungsstation bei »Gottes Werk« ­ dem Entbinden ­ und bei »Teufels Beitrag« ­ dem Abtreiben ­ assistiert. Doch das ist nur der Beginn von Homers Odyssee.
"

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Seitenzahl: 1099

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John Irving

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Roman Aus dem Amerikanischen von

Titel der 1985 bei William Morrow, New York,

erschienenen Originalausgabe:

›The Cider House Rules‹

Copyright ©1985 by Garp Enterprises, Ltd.

Die deutsche Erstausgabe erschien 1988

im Diogenes Verlag

Die Übersetzung wurde für

die Neuausgabe 2000 überarbeitet

Umschlagillustration von

Heinz Ita

Für David Calicchio

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright ©2015

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 21837 4 (35. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60020 9

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5]Festhalten am Herkömmlichen ist nicht sittliches Verhalten. Selbstgerechtigkeit ist nicht Frömmigkeit. Erstere schmähen heißt nicht letztere anfechten.

Charlotte Brontë, 1847

Die Abtreibung kann für praktische Zwecke als die Unterbrechung einer Schwangerschaft vor der Lebensfähigkeit des Kindes definiert werden.

[7] Inhalt

  1  Der Junge, der nach St. Cloud’s gehörte  [9]

  2  Gottes Werk  [58]

  3  Prinzen von Maine, Könige Neuenglands  [106]

  4  Der junge Dr. Wells  [166]

  5  Homer bricht ein Versprechen  [233]

  6  Ocean View  [311]

  7  Vor dem Krieg  [386]

  8  Die Chance klopft an  [466]

  9  Über Birma  [543]

10  Fünfzehn Jahre  [629]

11  Die Regeln verletzen  [730]

Anmerkungen des Autors  [822]

[9] 1

Der Junge, der nach St. Cloud’s gehörte

Im Spital des Waisenhauses – in der Knabenabteilung von St. Cloud’s im Staate Maine – waren zwei Krankenschwestern damit betraut, den neugeborenen Babys Namen zu geben und nachzusehen, ob ihr kleiner Penis auch heilte. Zu jener Zeit (im Jahr 192–) wurden alle in St. Cloud’s geborenen Knaben beschnitten, weil der Arzt des Waisenhauses verschiedene Komplikationen gesehen hatte, die sich bei nichtbeschnittenen Soldaten ergaben, welche er im Ersten Weltkrieg medizinisch zu versorgen hatte. Der Arzt, der gleichzeitig Leiter der Knabenabteilung war, war kein religiöser Mensch; für ihn war die Beschneidung kein Ritus – sie war ein rein medizinischer Akt, vorgenommen aus hygienischen Gründen. Sein Name war Wilbur Larch, was eine der Schwestern, abgesehen von dem Ätherduft, der ihn stets umwehte, an das zähe, widerstandsfähige Holz jenes gleichnamigen Nadelbaumes erinnerte – der Lärche. Sie haßte den albernen Namen Wilbur und nahm Anstoß an der Albernheit, ein Wort wie Wilbur mit etwas so Wesentlichem wie einem Baum zu kombinieren.

Die andere Schwester wähnte sich in Dr. Larch verliebt, und wenn es an ihr war, einen Namen für ein Baby zu finden, nannte sie es oft John Larch oder John Wilbur (ihr Vater hieß John) oder Wilbur Walsh (ihre Mutter war eine geborene Walsh). Trotz ihrer Liebe zu Dr. Larch konnte sie sich unter Larch – Lärche – nichts anderes vorstellen als einen Nachnamen – und wenn sie an ihn dachte, dachte sie bestimmt nicht an Bäume. Den Namen Wilbur liebte sie wegen seiner vielseitigen Verwendbarkeit, als [10] Vor- und als Nachname, und wenn sie es leid war, den Namen John zu vergeben, oder wenn sie von ihrer Kollegin getadelt wurde, weil sie ihn überstrapazierte, verfiel sie selten auf etwas Originelleres als einen Robert Larch oder einen Jack Wilbur (sie schien nicht zu wissen, daß Jack ein häufiger Spitzname war für John).

Hätte er seinen Namen von dieser einfältigen, liebesblinden Schwester bekommen, wäre aus ihm wahrscheinlich ein Larch oder ein Wilbur der einen oder anderen Sorte geworden; und ein John oder Jack oder Robert, um alles noch einfältiger zu machen. Weil die andere Schwester an der Reihe war, bekam er den Namen Homer Wells.

Der Vater der anderen Schwester war Brunnenbauer von Beruf, eine harte, mühselige, ehrliche und präzise Arbeit – in ihren Augen bestand ihr Vater aus diesen Eigenschaften, was dem Wort »Wells« – Brunnen – eine gewisse Aura von Tiefe und Erdverbundenheit gab. »Homer« hatte eine der zahllosen Katzen ihrer Familie geheißen.

Diese andere Schwester – von fast allen Schwester Angela genannt – wiederholte selten die Namen ihrer Babys, wogegen die arme Schwester Edna gleich drei John Wilbur junior und zwei John Larchs III. ausgeteilt hatte. Schwester Angela kannte eine unerschöpfliche Zahl sachlicher Dingwörter, die sie eifrig als Nachnamen verwandte – wie Maple, Fields, Stone, Hill, Knot, Day, Waters (um nur einige aufzuzählen) – und eine kaum weniger eindrucksvolle Liste von Vornamen, entlehnt aus einer Familientradition vieler toter, aber in Ehren gehaltener Hauskatzen (Felix, Fuzzy, Smoky, Sam, Snowy, Joe, Curly, Ed und so fort).

Bei den meisten Waisen waren die Namen, die ihnen die Schwestern verliehen, nur eine Übergangslösung. Die Knabenabteilung schnitt besser ab als die Mädchenabteilung, wenn es darum ging, die Waisen noch als Babys in Familien unterzubringen, wenn sie sich die Namen noch nicht merken konnten, die die [11] guten Schwestern ihnen gegeben hatten; die meisten Waisen erinnerten sich später auch nicht an Schwester Angela oder Schwester Edna, die ersten Frauen auf dieser Welt, die sie bemuttert hatten. Dr. Larch hielt an dem Grundsatz fest, den Adoptiveltern der Waisen nicht die Namen mitzuteilen, die die Schwestern mit solchem Eifer verliehen. Man war in St. Cloud’s der Meinung, daß ein Kind, wenn es das Waisenhaus verließ, auch das Erregende eines neuen Anfangs erleben sollte – aber für Schwester Angela und Schwester Edna, und sogar für Dr. Larch, war es (vor allem bei solchen Jungen, die schwierig unterzubringen waren und länger in St. Cloud’s blieben) fast unvorstellbar, daß ihre John Wilburs und ihre John Larchs (ihre Felix Hills und Curly Maples und Joe Knots und Smoky Waters) nicht die von den Schwestern verliehenen Namen behielten.

Der Grund, weshalb Homer Wells seinen Namen behielt, war, daß er so viele Male, nach so vielen gescheiterten Pflegefamilien, nach St. Cloud’s zurückkehrte und daß das Waisenhaus sich mit Homers Absicht abfinden mußte, nach St. Cloud’s zu gehören – womit sich alle Beteiligten schwertaten. Doch Schwester Angela und Schwester Edna – und zuletzt auch Dr. Wilbur Larch – mußten schließlich einsehen, daß Homer Wells zu St. Cloud’s gehörte. Der entschlossene Junge wurde nicht mehr zur Adoption freigegeben.

Schwester Angela, mit ihrer Liebe zu Katzen und Waisen, bemerkte einmal über Homer Wells, der Junge müsse den Namen, den sie ihm gegeben habe, ja wirklich heiß lieben, wenn er so hart darum kämpfte, ihn nicht zu verlieren.

Der Ort St. Cloud’s in Maine war im neunzehnten Jahrhundert die längste Zeit ein Holzfällerlager gewesen. Das Lager und nach und nach auch der Ort nahmen ihren Betrieb im Flußtal auf, wo das Land flach war, was sowohl den Bau der ersten Straßen als auch den Transport der schweren Maschinen enorm erleichterte. [12] Das erste Bauwerk war eine Sägemühle. Die ersten Siedler waren Frankokanadier: Holzhacker, Waldarbeiter, Sägewerker. Dann kamen die Fuhrleute und die Flußschiffer, dann die Prostituierten, dann die Landstreicher und Gauner und (zuletzt) eine Kirche. Das erste Holzfällerlager hatte schlicht Clouds geheißen – weil das Tal so flach war und die Wolken sich nur widerwillig verzogen. Der Nebel hing bis zum späten Morgen über dem reißenden Fluß, und die tosenden Wasserfälle drei Meilen oberhalb des ersten Lagerplatzes erzeugten einen immerwährenden Dunst. Als die ersten Holzfäller dort an die Arbeit gingen, setzten sich nur die Moskitos und Kriebelmücken der Verwüstung des Waldes entgegen; die teuflischen Insekten zogen die permanente Wolkendecke in den stickigen Tälern des Hinterlandes von Maine der scharfen Bergluft oder dem frischen Sonnenlicht über dem blanken Meer vor Maine entschieden vor.

Dr. Wilbur Larch – der nicht nur Arzt des Waisenhauses und Leiter der Knabenabteilung war, sondern das Haus auch gegründet hatte – war der selbsternannte Historiker der Stadt. Dr. Larch zufolge wurde das Holzfällerlager namens Clouds nur deshalb zu St. Clouds, weil die hinterwäldlerischen Katholiken einen inbrünstigen Drang verspürten, allen möglichen Dingen ein Sankt voranzustellen – wie um diesen Dingen einen Liebreiz zu verleihen, der ihnen von Natur aus fehlte. Das Holzfällerlager blieb fast ein halbes Jahrhundert lang St. Clouds, bis der Apostroph eingeführt wurde – wahrscheinlich von jemandem, der vom Ursprung des Lagers nichts wußte. Doch um die Zeit, als es sich zu St. Cloud’s wandelte, mit Apostroph, war es eher Fabrikstadt denn Holzfällerlager. Der Wald war Meilen im Umkreis gerodet; statt Baumstämmen, die sich im Fluß verkeilten, statt des wüsten Lagers voll Männer, die verkrüppelt und gelähmt waren, weil sie von Bäumen oder Bäume auf sie herabgestürzt waren, sah man hohe, ordentliche Stapel frisch geschnittener Bretter in der diesigen Sonne trocknen. Über allem lag ein schmieriger Sägestaub, [13] manchmal zu fein, als daß man ihn überhaupt sah, aber allgegenwärtig im Schniefen und Keuchen der Stadt, in den ewig juckenden Nasen und rasselnden Lungen. Die Invaliden der Stadt protzten jetzt mit chirurgischen Nähten statt Blutergüssen und Knochenbrüchen; sie schmückten sich mit klaffenden Schnittwunden von den vielen Sägeblättern der Stadt (und fanden Mittel und Wege, mit ihren fehlenden Körperteilen zu prunken). Das schrille Wimmern der Sägeblätter hing über St. Cloud’s wie der Nebel, der Dunst, die Feuchtigkeit über dem Hinterland Maines, in der klammen Kälte seiner langen, nassen, verschneiten Winter und in der stinkenden, stickigen Schwüle seiner feuchten (zuweilen gar durch gewaltige Gewitter beglückten) Sommer.

Es gab nie einen Frühling in diesem Teil von Maine, abgesehen von jener Zeitspanne im März und April, die sich durch tauenden Matsch auszeichnete. Die schweren Maschinen des Holzgeschäfts standen still; die Arbeit der Stadt ruhte. Die unpassierbaren Straßen hielten jeden im Hause fest – und der Fluß war so frühlingshaft angeschwollen und so reißend, daß niemand ihn zu befahren wagte. Frühling in St. Cloud’s, das hieß Krawall: Saufkrawall, Raufkrawall, Hurerei und Vergewaltigung. Im Frühling war Selbstmordsaison. Im Frühling wurde die Saat für ein Waisenhaus gesät – überreichlich.

Und der Herbst? In seinem Tagebuch – seinem Miszellenjournal, seinem täglichen Protokoll der Angelegenheiten des Waisenhauses – schrieb Dr. Wilbur Larch auch über den Herbst. Jede von Dr. Larchs Eintragungen begann mit: »Hier in St. Cloud’s…« – abgesehen von jenen Eintragungen, die begannen: »In anderen Teilen der Welt…« Über den Herbst schrieb Dr. Larch: »In anderen Teilen der Welt ist der Herbst die Zeit der Ernte. Man sammelt die Früchte der Mühen von Frühling und Sommer. Diese Früchte nähren uns während des langen Schlummers, der Zeit stockenden Wachstums, die wir Winter nennen. Doch hier in St. Cloud’s dauert der Herbst nur fünf Minuten.«

[14] Welches andere Klima hätte denn zu einem Waisenhaus gepaßt? Kurort-Wetter etwa? Würde ein Waisenhaus in einer harmlosen Stadt gedeihen?

In seinem Tagebuch ging Dr. Larch vorbildlich umweltbewußt mit dem Papier um. Er schrieb die Blätter mit seiner kleinen, gedrängten Schrift beidseitig voll. Dr. Larch war nicht der Typ, der Ränder ließ. »Hier in St. Cloud’s«, schrieb er, »darf man dreimal raten: Wer hat die Wälder von Maine auf dem Gewissen, wer ist der schurkische Vater der unerwünschten Babys, wer ist schuld, daß der Fluß an totem Holz erstickt, daß das Tal verödet, versteppt und erodiert? Dreimal darf man raten, wie der unersättliche Zerstörer heißt (des Waldarbeiters mit seinen verpichten Händen und seinen zerquetschten Fingern; des Holzfällers und Sägemühlensklaven, dessen Hände spröde und rissig sind und manche Finger nur Erinnerung) und warum sich dieser Nimmersatt nie mit Balken oder mit Brettern zufriedengibt…«

Für Dr. Larch war der Feind das Papier – genauer, die Ramses-Papierfabrik. Für Balken und Bretter gab es genug Bäume, stellte Dr. Larch sich vor, niemals aber für all das Papier, das die Ramses-Papierfabrik zu benötigen schien – vor allem, wenn man versäumte, neue Bäume zu pflanzen. Als das Tal um St. Cloud’s gerodet war, als der Wildwuchs (Krüppelkiefern und einzelne ungehegte Nadelhölzer) überall aufschoß wie Sumpfblüten und es keine Baumstämme mehr auf dem Fluß von Three Mile Falls nach St. Cloud’s hinabzuschicken gab – weil es keine Bäume mehr gab –, da eröffnete die Ramses-Papierfabrik für St. Cloud’s das zwanzigste Jahrhundert, indem sie die Sägemühle und den Holzhof am Fluß in St. Cloud’s schloß und mit Sack und Pack flußabwärts zog.

Und was blieb zurück? Das Wetter, der Sägestaub, die zerklüfteten und geschändeten Ufer des Flusses (wo die großen Balken triftend, sich verkeilend eine neue wunde Böschung ausgekerbt hatten) und die Gebäude selbst: die Sägemühle mit ihren [15] kaputten Fenstern ohne Scheiben; die Hurenherberge mit ihrem Tanzsaal im Parterre, der Bingo-um-Geld-Halle, die den reißenden Fluß überblickte; die wenigen Privathäuser im Blockhausstil und die Kirche, eine katholische, für die Frankokanadier, die allzu sauber und unbenutzt wirkte, um zu St. Cloud’s zu gehören, wo sie sich niemals solcher Beliebtheit erfreut hatte wie die Huren oder der Tanzsaal oder gar Bingo-um-Geld. (In seinem Tagebuch schrieb Dr. Larch: »In anderen Teilen der Welt spielt man Tennis oder Poker; hier in St. Cloud’s spielt man Bingo-um-Geld.«)

Und die Leute, die zurückblieben? Von der Ramses-Papierfabrik war keiner mehr da, dafür gab es die andern: die Alten, die weniger attraktiven Prostituierten und die Kinder dieser Prostituierten. Nicht einer der ungeliebten Offizianten der katholischen Kirche zu St. Cloud’s wollte bleiben; es gab mehr Seelen zu retten, wenn man der Ramses-Papierfabrik flußabwärts folgte.

In seiner Kurzen Geschichte von St. Cloud’s belegt Dr. Larch, daß zumindest eine dieser Prostituierten lesen und schreiben konnte. Mit der letzten Barke, die der Ramses-Papierfabrik flußab in eine neue Zivilisation folgte, hatte eine relativ schreibkundige Prostituierte einen Brief abgeschickt, adressiert an: IRGENDEINEN BEAMTEN DES STAATES MAINE, DER FÜR WAISEN ZUSTÄNDIG IST!

Irgendwie erreichte dieser Brief sogar irgend jemanden. Vielmals umgeleitet (»wegen seiner Merkwürdigkeit«, schrieb Dr. Larch, »wie auch wegen seiner Dringlichkeit«), erreichte der Brief schließlich die Amtsärztekammer von Maine. Dem jüngsten Mitglied dieser Kammer – »einem jungen Springinsfeld, frisch von der Medizinischen Fakultät«, wie Dr. Larch sich selbst bezeichnete – wurde der Brief wie ein Köder vorgehalten. Der Rest der Kammer meinte, der junge Larch sei »der einzige hoffnungslos naive Demokrat und Liberale« unter ihnen. Der Brief lautete: ES MÜSSTE EINEN VERDAMMTEN ARZT UND EINE VERDAMMTE SCHULE UND AUCH EINEN VERDAMMTEN POLIZISTEN UND EINEN [16]VERDAMMTEN RECHTSANWALT GEBEN IN ST. CLOUD’S, DAS VON SEINEN VERDAMMTEN MÄNNERN (DIE SOWIESO NICHTS TAUGEN) IM STICH GELASSEN UND HILFLOSEN FRAUEN UND WAISEN ÜBERLASSEN IST!

Der Vorsitzende der staatlichen Amtsärztekammer war ein pensionierter Mediziner, für den feststand, daß außer ihm und Präsident Teddy Roosevelt alle Menschen nur Brei im Kopf hatten.

»Kümmern Sie sich um diesen Gefühlsbrei, Larch?« sagte der Vorsitzende, ohne zu ahnen, daß aus dieser Einladung bald eine staatlich geförderte Einrichtung – für Waisen! – hervorgehen sollte. Eines Tages sollte sie, wenigstens teilweise, Unterstützung aus Bundesmitteln erhalten – und gar jene höchst vagen, wenig verläßlichen Zuwendungen »privater Gönner«.

Im Jahr 190– jedenfalls, als das zwanzigste Jahrhundert – so jung und verheißungsvoll – aufblühte (sogar im Hinterland von Maine), übernahm Dr. Wilbur Larch die Aufgabe, alle Übel in St. Cloud’s zu heilen. Die Arbeit war für ihn wie geschaffen. Beinah zwanzig Jahre lang sollte Dr. Larch nur einmal St. Cloud’s verlassen – um in den Ersten Weltkrieg zu ziehen, wobei zu bezweifeln ist, daß er dort dringender gebraucht wurde. Welch besseren Mann hätte man sich denken können für die Aufgabe, zu richten, was die Ramses-Papierfabrik angerichtet hatte, als einen Mann mit dem Namen eines der Nadelbäume dieser Welt? In seinem eben begonnenen Tagebuch schrieb Dr. Larch: »Hier in St. Cloud’s ist es höchste Zeit, daß etwas Gutes für die Menschen getan wird. Gibt es zur Läuterung – zur Selbstläuterung, zur Läuterung aller – einen besseren Ort als den, wo das Böse so sichtbar gedeiht, wenn nicht gar triumphiert?«

192–, als Homer Wells auf die Welt kam und seinen kleinen Penis beschnippeln ließ und einen Namen bekam, hatten Schwester Edna (die verliebt war) und Schwester Angela (die es nicht war) beide einen besonderen Kosenamen für den Gründer von St. [17] Cloud’s, den Arzt, Stadthistoriker, (dekorierten!) Kriegshelden und Leiter der Knabenabteilung.

»Sankt Larch« nannten sie ihn – und warum nicht?

Als Wilbur Larch Homer Wells die Erlaubnis gab, in St. Cloud’s zu bleiben, solange der Junge dorthin zu gehören meinte, übte der Arzt nur seine beträchtliche, wohlverdiente Autorität aus. In der Frage der Zugehörigkeit zu St. Cloud’s war Dr. Larch eine Autorität. St. Larch hatte dieses Haus – im zwanzigsten Jahrhundert – gegründet, um sich, wie er sagte, »nützlich« zu machen. Und genau mit diesen Worten ermahnte Dr. Larch Homer Wells, als der Arzt den Wunsch des Jungen, in St. Cloud’s zu bleiben, feierlich gewährte.

»Tja, Homer«, sagte St. Larch, »ich erwarte von dir, daß du dich nützlich machst.«

Er (Homer Wells) tat nichts anderes, als sich nützlich zu machen. Sein Sinn für Nützlichkeit schien noch älteren Datums zu sein als Dr. Larchs Ermahnungen. Seine ersten Pflegeeltern hatten ihn nach St. Cloud’s zurückgebracht; er war ihnen unheimlich, weil er nie weinte. Die Pflegeeltern klagten, daß sie von der gleichen Stille erwachten, die sie ursprünglich dazu bewogen hatte, ein Kind zu adoptieren. Sie erwachten vor Schreck darüber, daß das Baby sie nicht geweckt hatte, sie eilten ins Kinderzimmer und erwarteten, es tot vorzufinden, aber Homer Wells biß sich zahnlos auf die Lippe, grimassierte auch vielleicht, aber ohne dagegen zu protestieren, daß er ungefüttert und unbeachtet geblieben war. Homers Pflegeeltern argwöhnten immer, er habe stundenlang leidend wach gelegen. Sie fanden das nicht normal.

Dr. Larch erklärte ihnen, daß die Babys von St. Cloud’s daran gewöhnt seien, unbeachtet in ihren Betten zu liegen. Schwester Angela und Schwester Edna, so lieb und hingebungsvoll sie waren, konnten doch nicht zu jedem einzelnen Baby eilen, kaum daß es anfing zu weinen; Weinen nützte nicht viel in St. Cloud’s [18] (obwohl Dr. Larch in seinem tiefsten Herzen wußte, daß Homer Wells’ Fähigkeit, die Tränen zurückzuhalten, selbst für eine Waise ungewöhnlich war).

Dr. Larch hatte die Erfahrung gemacht, daß Pflegeeltern, die sich so leicht von ihrem Wunsch nach einem Baby abbringen ließen, nicht die besten Pflegeeltern für eine Waise waren. Homers erste Pflegeeltern waren so schnell überzeugt gewesen, daß sie das Falsche bekommen hätten – ein Zurückgebliebenes, ein Hirngeschädigtes, ein Trottelchen –, daß Dr. Larch ihnen nicht lange beteuern wollte, daß Homer nicht nur kerngesund sei, sondern auch mit Mut und Beharrlichkeit gerüstet für das Leben, das vor ihm lag.

Die zweite Pflegefamilie reagierte anders auf Homers Lautlosigkeit – seine stoische, mit zusammengebissenen Zähnen alles runterschluckende Gemütsruhe. Seine zweite Pflegefamilie prügelte das Kind so regelmäßig, daß sie es schafften, ihm die angemessen kindertümlichen Laute zu entlocken. Homers Geschrei war seine Rettung.

Hatte er sich erst als tapferer Kerl erwiesen, der gegen die Tränen anzukämpfen verstand, so versuchte er jetzt, da er sah, daß Tränen und Heulen und Kreischen genau das waren, was seine Pflegeeltern von ihm wünschten, sich nützlich zu machen, und stimmte aus vollem Herzen das kräftigste Gezeter an, das er von sich geben konnte. Er war ein so stillzufriedenes Kind, daß Dr. Larch überrascht war zu erfahren, daß das neue Baby aus St. Cloud’s den Frieden der glücklicherweise kleinen und nahe gelegenen Stadt Three Mile Falls störte. Glücklicherweise war Three Mile Falls klein, denn die Berichte über Homers Geschrei standen wochenlang im Mittelpunkt aller Gerüchte in der Region; und glücklicherweise war Three Mile Falls nah, denn diese Berichte fanden ihren Weg nach St. Cloud’s und zu Schwester Angela und Schwester Edna, die ein Monopol auf dem Gerüchtemarkt all dieser Holz- und Papierstädtchen am Fluß besaßen. Als [19] ihnen zu Ohren kam, wie ihr Homer Wells angeblich Three Mile Falls bis nach Mitternacht wach hielt und wie er die Stadt vor Sonnenaufgang weckte, wußten die Schwestern, daß das nicht sein konnte; sie gingen stracks zu Dr. Larch.

»Das ist nicht mein Homer!« rief Schwester Angela.

»Weinen ist nicht seine Natur, Wilbur!« sagte Schwester Edna – jede Gelegenheit nutzend, die sich ihr bot, den so innig geliebten Namen auszusprechen: Wilbur! Es machte Schwester Angela immer sauer auf sie (immer wenn Schwester Edna ihrem Verlangen frönte, Dr. Larch ihr Wilbur ins Gesicht zu sagen).

»Doktor Larch«, sagte Schwester Angela mit spitzer, übertriebener Höflichkeit, »wenn Homer Wells ganz Three Mile Falls weckt, dann muß die Familie, der Sie ihn überlassen haben, den Jungen mit Zigaretten versengen.«

Nein, so eine Familie waren sie nicht. Das war eine Lieblingsphantasie Schwester Angelas – sie haßte alle Rauchwaren; allein der Anblick einer Zigarette in einem x-beliebigen Mundwinkel erinnerte sie an jenen frankophonen Indianer, der ihren Vater wegen eines zu bohrenden Brunnens sprechen wollte und dann einer ihrer Katzen die Zigarette ins Gesicht gedrückt und ihr so das Näschen versengt hatte! – die Katze, ein besonders zutrauliches sterilisiertes Weibchen, war dem Indianer auf den Schoß gesprungen. Bandit hatte diese Katze geheißen – sie hatte das klassische Maskengesicht eines Waschbären. Schwester Angela hatte es sich versagt, eine der Waisen nach Bandit zu nennen – sie fand, Bandit sei ein Mädchenname.

Doch Homers Adoptiveltern aus Three Mile Falls waren keine gewöhnlichen Sadisten. Ein älterer Mann und seine junge Frau lebten da bei seinen erwachsenen Kindern aus erster Ehe; die junge Frau wünschte sich nun selbst ein Kind, aber sie wurde und wurde nicht schwanger. Alle in der Familie fanden, es wäre nett, wenn die Frau ihr eigenes Baby hätte. Was niemand erwähnte, war, daß eine der erwachsenen Töchter aus erster Ehe ein [20] uneheliches Baby bekommen und sich nicht richtig darum gekümmert hatte und daß das Baby nur schrie, Tag und Nacht. Alle hatten sich über das Baby beschwert, das Tag und Nacht schrie, und eines Morgens hatte die erwachsene Tochter einfach ihr Baby genommen und war verschwunden. Sie hinterließ nur diese Nachricht:

ICH HAB’S SATT, VON EUCH ALLEN ZU HÖREN, DASS MEIN BABY IMMER SCHREIT. WENN ICH VERSCHWINDE, SCHÄTZE ICH, WERDET IHR DAS GESCHREI NICHT VERMISSEN, UND MICH AUCH NICHT.

Aber das taten sie gerade, alle vermißten sie dieses herrliche krähende Baby und die liebe, schwachsinnige Tochter, die es mitgenommen hatte.

»Wäre doch nett, wieder ein schreiendes Baby hierzuhaben«, hatte jemand aus der Familie bemerkt, und so gingen sie hin und holten sich ein Baby aus St. Cloud’s.

Für ein Baby, das nicht schreien wollte, waren sie die falsche Familie. Homers Schweigen war eine so herbe Enttäuschung für sie, daß sie persönlich beleidigt waren und untereinander wetteiferten, wer das Baby als erster zum Schreien bringen konnte; nach »wer als erster« ging es darum, »wer am lautesten«, nach »wer am lautesten« kam »wer am längsten«.

Zuerst brachten sie ihn zum Schreien, indem sie ihn nicht fütterten, aber am lautesten brachten sie ihn zum Schreien, indem sie ihm weh taten; dies bedeutete in der Regel, daß sie ihn kniffen und knufften, aber es gab auch hinreichende Beweise, daß das Kind gebissen worden war. Am längsten brachten sie ihn zum Schreien, indem sie ihm angst machten; sie entdeckten, daß Erschrecken die beste Art war, einem Baby angst zu machen. Sie müssen sehr versiert darin gewesen sein, das längste und lauteste Geschrei zu erzielen, wenn es ihnen gelang, Homer Wells’ [21] Geschrei zur Legende in Three Mile Falls zu machen. In Three Mile Falls war es schon schwer, überhaupt etwas zu hören – ganz zu schweigen, dort zur akustischen Legende zu werden.

Die Wasserfälle allein machten ein so immerwährendes Getöse, daß Three Mile Falls die perfekte Stadt war für einen Mord; Schreie oder Schüsse verhallten ungehört. Wenn in Three Mile Falls jemand ermordet und die Leiche bei den Wasserfällen in den Fluß geworfen worden wäre, wäre die Leiche ungehindert und unentdeckt bis drei Meilen flußabwärts nach St. Cloud’s gelangt. Um so bemerkenswerter, daß die ganze Stadt Homers Geschrei hörte.

Es kostete Schwester Angela und Schwester Edna fast ein Jahr, um Homer Wells soweit zu beruhigen, daß er nicht mehr sofort Zeter und Mordio schrie, sobald jemand sein Gesichtsfeld kreuzte oder wann immer er einen menschlichen Laut vernahm – das Rücken eines Stuhls auf dem Boden, ein knarrendes Bett, ein Fenster, das geschlossen, eine Tür, die geöffnet wurde. Jeder Anblick und jedes Geräusch im Zusammenhang mit einem menschlichen Wesen, das sich womöglich in Homers Richtung bewegte, bewirkte ein schrilles Gezeter und ein so tränenreiches Greinen, daß jeder, der die Knabenabteilung betrat, meinen mußte, die Waisen würden wie im Schauermärchen gefoltert, mißhandelt und anderen undenkbaren Qualen ausgesetzt.

»Aber Homer«, pflegte Dr. Larch besänftigend zu sagen – während der Junge purpurrot anlief und seine Lungen neu füllte. »Homer, du bringst es noch so weit, daß wir wegen Mordes angeklagt werden! Du bringst es so weit, daß man uns das Haus schließen wird!«

Die arme Schwester Angela und die arme Schwester Edna wurden durch diese Familie in Three Mile Falls wahrscheinlich nachhaltiger geschädigt als Homer Wells, und der gute große St. Larch sollte sich nie ganz von dem Zwischenfall erholen. Er hatte die Familie kennengelernt; er hatte sich mit jedem einzeln unterhalten – und sich schrecklich in ihnen getäuscht; und er [22] hatte sie alle wiedergesehen an dem Tag, als er nach Three Mile Falls ging, um Homer Wells heimzuholen nach St. Cloud’s.

Woran sich Dr. Larch immer erinnern sollte, das war die Furcht in ihren Mienen, als er in ihr Haus marschiert war und Homer in die Arme geschlossen hatte. Die Furcht in ihren Gesichtern sollte Dr. Larch immer verfolgen, es war der Inbegriff all dessen, was er vorher nie begriffen hatte: welch zwiespältige Gefühle Erwachsene Kindern gegenüber hegten. Da war einerseits der menschliche Leib, der so deutlich dazu bestimmt war, Babys zu bekommen, und da war andererseits der menschliche Geist, der in diesen Dingen so verwirrt war. Manchmal wollte der Geist keine Babys, aber manchmal war der Geist auch so pervers, daß er andere Menschen zwang, Babys zu haben, die sie, wie sie wußten, nicht haben wollten. In wessen Namen geschah dieses Beharren? fragte sich Dr. Larch. In wessen Namen beharrten manche Geister darauf, daß Babys, auch die eindeutig ungewollten, schreiend auf die Welt gebracht werden mußten?

Und wenn andere Geister glaubten, Babys haben zu wollen, dann aber nicht richtig für sie sorgen konnten (oder wollten) … nun, was dachten sich diese Geister? Wenn Dr. Larch seinem Geist in dieser Sache einmal die Zügel schießenließ, dann sah er immer die Furcht in den Gesichtern der Familie aus Three Mile Falls vor sich und hörte innerlich Homer Wells’ legendäres Geschrei. Die Furcht dieser Familie hatte sich St. Larch so nachhaltig eingeprägt, daß sie ihm gleichsam zur Vision wurde; niemand, so fand er, der solche Furcht gesehen, sollte je eine Frau zwingen, ein unerwünschtes Baby zu bekommen. »NIEMAND!« schrieb Dr. Larch in sein Tagebuch. »Nicht mal jemand von der Ramses-Papierfabrik!«

Niemand, der auch nur einen Funken Verstand besaß, sagte vor Dr. Larch etwas gegen die Abtreibung – sonst mußte er sich einen detaillierten Bericht über die gesamten sechs Wochen anhören, die Homer Wells bei der Familie in Three Mile Falls [23] verbracht hatte; denn das war für Larch die einzige Möglichkeit, die Frage zu diskutieren – auf eine Debatte ließ er sich nicht ein. Er war Geburtshelfer, aber bei Bedarf – und wenn es ungefährlich war – trieb er auch ab.

Als Homer vier war, hatte er keine Alpträume mehr – jene Alpträume, die selbst die tiefsten Schläfer in St. Cloud’s aufweckten und einen Nachtwächter zu kündigen bewogen (»Mein Herz«, sagte er, »übersteht keine weitere Nacht mit diesem Jungen«) und die sich Dr. Wilbur Larch so tief eingeprägt hatten, daß er angeblich noch jahrelang im Schlaf Babys schreien hörte und sich herumwälzte und sagte: »Aber Homer, ist ja schon gut, Homer.«

In St. Cloud’s hörte natürlich jeder im Schlaf Babys schreien, aber kein Baby erwachte je mit einem Mordsgezeter vom Kaliber von Homer Wells.

»Gott, er schreit wie am Spieß«, pflegte Schwester Edna zu sagen.

»Als würde er mit einer Zigarette versengt«, pflegte Schwester Angela zu sagen.

Aber nur Wilbur Larch wußte, wie es wirklich war – diese Art, wie Homer Wells erwachte und (mit seinem lauten Erwachen) alle anderen weckte. »Als ob er beschnitten würde«, schrieb Dr. Larch in sein Tagebuch. »Als ob jemand seinen kleinen Penis beschnippelte und immer wieder schnippelte und schnippelte.«

Die dritte Pflegefamilie, die an Homer Wells scheiterte, war eine Familie von so seltenen und vorbildlichen Qualitäten, daß es töricht wäre, die Menschheit am Beispiel dieser Familie zu messen. Solch eine gute Familie waren sie und so vollkommen, denn sonst hätte Dr. Larch ihnen Homer nie anvertraut. Nach der Familie aus Three Mile Falls war Dr. Larch bei Homer Wells besonders vorsichtig.

Professor Draper und seine Frau waren fast vierzig Jahre [24] verheiratet und lebten in Waterville, Maine. Waterville war bei Homers Ankunft 193– als College-Stadt nichts Berühmtes; aber verglichen mit St. Cloud’s oder Three Mile Falls war Waterville eine Gemeinde von moralischen und sozialen Giganten. Obwohl noch im Hinterland, war es doch beträchtlich höher gelegen – die Berge waren nicht weit, von denen man auch eine nennenswerte Aussicht genoß; wer in den Bergen (oder am Meer oder in der Ebene oder auf offenem Farmland) lebt, genießt den Vorteil, daß er tagtäglich eine Aussicht vor Augen hat. Das Leben in einer Gegend, wo man gelegentlich weit in die Ferne blicken kann, bietet der Seele eine Perspektive von wohltuend weitläufiger Art – so jedenfalls dachte Professor Draper; er war der geborene Lehrer.

»Unbestellte Talgründe«, pflegte er zu dozieren, »und damit meine ich dichte, geduckte Wälder, die einem die Aussicht verstellen, behindern die emporstrebenden Eigenschaften der menschlichen Natur und fördern kleinliche und niedrige Instinkte.«

»Na, Homer«, pflegte Mrs. Draper zu sagen. »Der Professor ist der geborene Lehrer. Bei ihm darfst du nicht alles für bare Münze nehmen.«

Jeder nannte sie Mom. Niemand (auch seine erwachsenen Kinder und seine Enkel nicht) nannte ihn anders als den Professor. Selbst Dr. Larch kannte seinen Vornamen nicht. War auch sein Ton professoral, manchmal sogar offiziös, so war er doch ein Mann von recht durchschnittlichen Gewohnheiten und Leidenschaften und witzigem Gehabe.

»Nasse Schuhe«, sagte der Professor einmal zu Homer, »gehören in Maine dazu. Sie sind ein Faktum. Deine Methode, Homer, nasse Schuhe auf ein Fensterbrett zu stellen, wo sie womöglich beim schwachen, wiewohl seltenen Erscheinen der Sonne von Maine trocknen könnten, zeugt von auffallend positivem Denken und einem unbeugsamen Optimismus. Wohlgemerkt«, fuhr [25] der Professor fort, »zieht die, im übrigen wetterunabhängige, Methode, die ich bei nassen Schuhen empfehlen möchte, eine zuverlässigere Wärmequelle in Maine heran: nämlich die Heizung. Wenn du bedenkst, daß die Tage, an denen die Schuhe naß werden, in der Regel auch Tage sind, an denen wir die Sonne nicht zu Gesicht bekommen, wirst du erkennen, daß die Heizungsmethode gewisse Vorzüge hat.«

»Nicht alles für bare Münze nehmen, Homer«, sagte Mrs. Draper zu dem Jungen. Sogar der Professor nannte sie Mom; sogar Mom nannte ihn Professor.

Wenn Homer Wells auch fand, daß die Gespräche des Professors von platten Sinnsprüchen wimmelten, beschwerte er sich doch nicht. Wenn Professor Drapers Studenten und seine Kollegen von der Historischen Fakultät den Professor auch für einen geschwätzigen Langweiler hielten – und vor ihm Reißaus nahmen wie Hasen vor dem langsamen, aber gründlich schnüffelnden Jagdhund –, konnten sie Homers Meinung über diese erste Vaterfigur seines Lebens, die es mit Dr. Larch aufnahm, doch nicht beeinflussen.

Homers Ankunft in Waterville wurde mit einer Aufmerksamkeit begrüßt, wie der Junge sie niemals kennengelernt hatte. Schwester Angela und Schwester Edna waren Helferinnen in der Not, und Dr. Larch war ein liebevoller, wenn auch zerstreuter Armenvogt. Mrs. Draper aber war eine Mom; sie war die Mami aller Mamis; sie war eine Glucke. Sie war auf, bevor Homer wach wurde; die Plätzchen, die sie buk, während er sein Frühstück aß, waren mittags, wie durch ein Wunder, in seinem Vesperbeutel noch warm. Mom Draper wanderte mit Homer zur Schule – sie gingen über Land und verschmähten die Straße, weil es Mom guttat.

Nachmittags holte Professor Draper Homer auf dem Pausenhof ab – wie durch Zauberei schien der Schulschluß zeitlich mit des Professors letzter Vorlesung am College [26] zusammenzufallen –, und dann trotteten die beiden nach Hause. Im Winter, der in Waterville früh hereinbrach, war es ein buchstäbliches Trotten – auf Schneeschuhen, deren Beherrschung der Professor auf eine Stufe stellte mit der Kunst des Lesens und Schreibens.

»Übe den Körper, übe den Geist, Homer«, sagte der Professor.

Man sieht ohne weiteres, wieso der Mann Wilbur Larch beeindruckte. Er vertrat energisch das Nützlichkeitsprinzip.

In Wahrheit liebte Homer diese Routine, dieses Trott-Trott-Trott, diese äußerste Vorhersagbarkeit. Eine Waise ist einfach mehr Kind als andere Kinder, in ihrer grundsätzlichen Dankbarkeit für all die Dinge, die tagtäglich wiederkehren, wie nach Fahrplan. Auf alles, was zu bleiben, sich gleichzubleiben verspricht, fällt die Waise herein.

Dr. Larch führte die Knabenabteilung mit so vielen simulierten Beweisen alltäglicher Normalität, wie man sie in einem Waisenhaus eben aufrechterhalten kann. Die Mahlzeiten wurden pünktlich serviert, jeden Tag zur gleichen Zeit. Dr. Larch las jeden Abend vor, immer zur gleichen Zeit ein gleich langes Stück, auch wenn dies bedeutete, ein Kapitel mitten im Abenteuer abzubrechen, während die Jungen »Mehr! Mehr!« riefen und: »Lesen Sie doch nur noch, was als nächstes passiert!«

Und Dr. Larch sagte immer: »Morgen, zur gleichen Stunde, am gleichen Ort.« Es gab Seufzer der Enttäuschung, aber Larch wußte, er hatte ein Versprechen gegeben; er hatte eine Routine eingeführt. »Hier in St. Cloud’s«, schrieb er in sein Tagebuch, »messen wir Sicherheit an der Zahl der gehaltenen Versprechen. Jedes Kind versteht ein Versprechen – falls es gehalten wird – und freut sich schon auf das nächste Versprechen. Bei Waisen baut man Sicherheit langsam, aber regelmäßig auf.«

»Langsam, aber regelmäßig«, so läßt sich das Leben beschreiben, das Homer Wells bei den Drapers in Waterville führte. Jede Tätigkeit war eine Lektion; jeder Winkel des gemütlichen alten [27] Hauses barg etwas, was man kennenlernen – und worauf man fortan zählen konnte.

»Das ist Rufus. Er ist sehr alt«, sagte der Professor und machte Homer mit dem Hund bekannt. »Das ist Rufus’ Teppich, er ist sein Königreich. Wenn Rufus auf seinem Teppich schläft, darfst du ihn nicht wecken – wenn du nicht darauf gefaßt sein willst, daß er schnappt.« Worauf der Professor den betagten Hund wachrüttelte, der schnappend erwachte – und dann in die Luft staunte, die er gebissen hatte und in der er die erwachsenen Kinder der Drapers witterte, die nun verheiratet waren und selbst wieder Kinder hatten.

Homer lernte sie alle an Thanksgiving kennen. Erntedank bei den Drapers war ein Familienereignis, das jeder anderen Familie garantiert Minderwertigkeitskomplexe bereitet hätte. Mom übertraf sich selbst an Mamihaftigkeit. Der Professor hielt über jedes nur denkbare Thema eine Vorlesung: über die Qualitäten von weißem Fleisch gegenüber rotem, über die letzten Wahlen, über den Snobismus von Salatgabeln, die Überlegenheit des Romans im neunzehnten Jahrhundert (ganz zu schweigen von anderen Aspekten der Überlegenheit jenes Jahrhunderts), die richtige Konsistenz von Preiselbeermarmelade, die Bedeutung von »Buße«, die Bekömmlichkeit körperlicher Ertüchtigung (einschließlich des Vergleichs zwischen Holzhacken und Schlittschuhlaufen), das Lasterhafte eines Mittagsschläfchens. Auf jede dieser weitschweifig vorgetragenen Ansichten des Professors antworteten seine erwachsenen Kinder (zwei verheiratete Frauen, ein verheirateter Mann) mit einer völlig ausgewogenen Mischung von:

»Ganz genau!«

»War es nicht immer so?«

»Sehr richtig, Professor!«

Diese roboterhaften Antworten wurden, mit gleicher Präzision, unterstrichen durch Moms oft wiederholtes »Bare Münze, bare Münze«.

[28] Homer Wells lauschte diesen gleichmäßigen Rhythmen wie ein Besucher aus einer anderen Welt, der die Trommeln eines fremden Stammes zu entschlüsseln sucht. Er kam nicht dahinter. Diese scheinbare Übereinstimmung aller in allem war überwältigend. Er sollte erst viel später erkennen, was ihm damals nicht hatte einleuchten wollen – diese unausgesprochene (und ausgesprochene) selbstbeweihräuchernde Humanitätsduselei, die Herzhaftigkeit, mit der das Leben wortreich versimpelt wurde.

Was immer es sein mochte, es gefiel ihm nicht mehr; es wurde zum Hindernis auf dem Weg, den er suchte, der ihn zu sich selbst führen sollte – zu dem, was er war oder sein wollte. Er konnte sich an verschiedene Erntedankfeste in St. Cloud’s erinnern. Sie waren nicht so vergnügt gewesen wie das Fest bei Drapers in Waterville, aber sie erschienen ihm so viel wirklicher. Er erinnerte sich, wie er sich nützlich gefühlt hatte. Es gab immer Babys, die noch nicht allein essen konnten. Es gab immer die Möglichkeit eines Schneesturms, der das Stromnetz zusammenbrechen ließ; Homer war verantwortlich für die Kerzen und Petroleumlampen. Er war auch verantwortlich dafür, dem Küchenpersonal beim Putzen zu helfen oder Schwester Angela beim Trösten der anderen Waisen – und er war Dr. Larchs Botenjunge: das war die höchstbegehrte Verantwortung, die einem in der Knabenabteilung übertragen wurde. Bevor er zehn war, und lange bevor er von Dr. Larch ausdrücklich dazu ermahnt worden war, fühlte sich Homer Wells in St. Cloud’s von seiner Nützlichkeit durchdrungen.

Was war los mit dem Erntedankfest bei Drapers, daß es so kraß abstach vom gleichen Ereignis in St. Cloud’s? Mom war eine unvergleichlich gute Köchin; es konnte nicht am Essen liegen – das in St. Cloud’s an einer sichtbaren, anscheinend unheilbaren Bleichsucht litt. Lag es am Sprechen des Dankgebets? In St. Cloud’s war das Dankgebet ein stumpfes Instrument – Dr. Larch war ja kein religiöser Mensch.

[29] »Laßt uns dankbar sein«, pflegte er zu sagen – und innezuhalten, als frage er sich eigentlich: Wofür? »Laßt uns dankbar sein für alles Gute, das wir empfangen haben«, sagte Larch mit einem vorsichtigen Blick in die Runde all der Unerwünschten und Verlassenen um ihn herum. »Laßt uns dankbar sein für Schwester Angela und für Schwester Edna«, fügte er mit mehr Festigkeit in der Stimme hinzu. »Laßt uns dankbar sein dafür, daß wir die freie Entscheidung haben, daß wir immer wieder eine zweite Chance bekommen«, fügte er einmal hinzu, Homer Wells ins Auge fassend.

Beim Erntedankfest in St. Cloud’s war das Dankgebet ein Akt der Unwägbarkeit, der begreiflichen Vorsicht, getragen von typisch Larchscher Zurückhaltung.

Das Dankgebet bei den Drapers war überschwenglich und wunderlich. Anscheinend hing es damit zusammen, wie der Professor die Bedeutung von »Buße« definierte. Professor Draper sagte, der Anfang echter Buße sei, daß man sich als lasterhaft erkenne. Beim Dankgebet rief der Professor aus: »Sprecht mir nach – ich bin lasterhaft, ich verabscheue mich, ich bin dankbar für jeden in meiner Familie!« So sprachen sie alle – sogar Homer, sogar Mom (die diesmal mit ihrer baren Münze zurückhielt).

St. Cloud’s war ein nüchterner Ort, aber seine Art, das bißchen Dank zu sagen, das er zu sagen hatte, klang freimütig und aufrichtig. Homer fiel der unterschwellige Widerspruch bei der Familie Draper zum erstenmal am Erntedankfest auf. Anders als in St. Cloud’s wurde das Leben in Waterville rundum positiv begrüßt – Babys zum Beispiel waren erwünscht. Woher also diese Bußfertigkeit? War es schuldhaft, glücklich zu sein? Und wenn Larch seinen Namen (wie Homer gehört hatte) von einem Baum hatte, so hatte Gott (von dem Homer in Waterville allzu viel zu hören bekam) seinen Namen von einem sehr viel härteren Stoff: vielleicht von Berggipfeln, vielleicht von Eis. So ernüchternd Gott in Waterville sonst wirkte, so sehr artete das [30] Erntedankfest der Drapers – zu Homers Erstaunen – zum trunkenen Besäufnis aus.

Der Professor hatte, mit Moms Worten, »einen sitzen«. Dies besagte, so folgerte Homer, daß der Professor mehr als sein normales, tägliches Quantum Alkohol konsumiert hatte – das ihn, wiederum mit Moms Worten, nur »beschwipst« machte. Erschüttert sah Homer, daß die beiden verheirateten Töchter und der verheiratete Sohn sich benahmen, als hätten auch sie einen sitzen. Und weil das Erntedankfest ein besonderer Anlaß war und er wie die Enkelkinder länger aufbleiben durfte, beobachtete Homer jenes allabendliche Ereignis, das er bislang nur beim Einschlafen gehört hatte: dieses Poltern und Zerren und Schlurfen und dann die gedämpfte Stimme der Vernunft, nämlich die des Professors, der nuschelnd gegen die Tatsache protestierte, daß Mom ihm mit Gewalt die Treppe hinaufhalf und ihn, mit erstaunlicher Körperkraft, aufs Bett hievte.

»Der Wert körperlicher Ertüchtigung!« schrie der erwachsene und verheiratete Sohn, bevor er von der grünen Chaiselongue kippte und auf dem Teppich – neben dem alten Rufus – zusammenbrach, als sei er vergiftet worden.

»Wie der Vater, so der Sohn«, sagte eine der verheirateten Töchter. Die andere verheiratete Tochter, stellte Homer fest, hatte nichts zu sagen. Sie schlummerte friedlich im Schaukelstuhl; ihre ganze Hand – bis übers zweite Fingerglied – badete in ihrem beinah vollen Glas, das sie auf ihrem Schoß balancierte.

Die ungebärdigen Enkel verstießen gegen sämtliche Hausfriedensparagraphen. Die leidenschaftlichen Appelle des Professors, Ruhe und Ordnung zu wahren, verhallten am Erntedankfest offenbar ungehört.

Der noch nicht einmal zehnjährige Homer Wells kroch still in sein Bett. Das Heraufbeschwören einer besonders traurigen Erinnerung an St. Cloud’s war ein Mittel, das ihm oft half, den Schlaf herbeizuzwingen. Er erinnerte sich an das eine Mal, als [31] er die Mütter aus dem Spital des Waisenhauses hatte kommen sehen, das im Gesichtsfeld der Mädchenabteilung lag und an die Knabenabteilung angrenzte – beide waren durch einen langen Schuppen verbunden, in dem früher die Reserveblätter der Kreissäge aufbewahrt wurden. Es war früher Morgen und noch dunkel draußen, und Homer war auf die Lichter der Kutsche angewiesen, um zu erkennen, daß es schneite. Er schlief schlecht und war oft wach bei der Ankunft der Kutsche, die vom Bahnhof kam und das Küchenpersonal und die Putzfrauen und die erste Schicht fürs Spital in St. Cloud’s ablieferte. Die Kutsche war bloß ein ausgemusterter Eisenbahnwaggon; im Winter wurde sie auf Gleitkufen gestellt und fungierte als umgebauter Pferdeschlitten. Wenn nicht genug Schnee auf der Schotterstraße lag, schlugen die Schlittenkufen Funken aus den Steinen am Boden und machten ein schreckliches knirschendes Geräusch (denn die Kufen wurden erst gegen Räder ausgetauscht, wenn man sicher wußte, daß der Winter vorbei war). Eine Laterne zischte hell wie ein Leuchtfeuer neben dem dick vermummten Fahrer auf dem behelfsmäßigen Kutschbock, während im Innern der Kutsche schwächere Lampen blinkten.

An diesem Morgen fielen Homer die Frauen auf, die im Schnee darauf warteten, von der Kutsche abgeholt zu werden. Homer kannte die Frauen nicht, die unruhig umhertrippelten, bis das Personal von St. Cloud’s vollzählig ausgestiegen war. Offenbar bestand eine gewisse Spannung zwischen diesen Gruppen – die Frauen, die darauf warteten, einsteigen zu können, wirkten scheu, sogar verschämt; die Männer und Frauen, die zur Arbeit kamen, wirkten vergleichsweise arrogant, sogar überheblich, und eine von ihnen (es war eine Frau) machte eine grobe Bemerkung zu einer der wartenden Frauen. Homer konnte die Bemerkung nicht hören, stellte aber fest, daß sie die wartenden Frauen wie ein kalter Windstoß von der Kutsche zurücktrieb. Die Frauen, die in die Kutsche einstiegen, blickten sich weder um, noch [32] blickten sie einander an. Sie sprachen nicht einmal miteinander, und der Fahrer, den Homer stets als freundlichen Mann gekannt hatte, der zu jedem etwas zu sagen wußte, bei jedem Wetter, hatte kein freundliches Wort für sie. Die Kutsche wendete einfach und glitt durch den Schnee zum Bahnhof; in den erleuchteten Fenstern sah Homer Wells, daß etliche der Frauen ihr Gesicht in den Händen bargen oder versteinert dasaßen, wie manche Trauernde bei einem Begräbnis – die völlige Teilnahmslosigkeit vortäuschen müssen, um nicht den letzten Rest an Selbstbeherrschung zu verlieren.

Er hatte die Mütter noch nie gesehen, die ihre ungewollten Babys in St. Cloud’s bekamen und dort zurückließen, und diesmal sah er sie auch nicht sehr deutlich. Zweifellos war es bedeutungsvoll, daß er sie zum erstenmal beim Abschiednehmen sah und nicht bei der Ankunft, mit vollem Bauch und ihrer Sorgen unentbunden. Noch bedeutsamer war, daß Homer spürte, daß sie nicht all ihrer Sorgen entbunden waren, wenn sie fortgingen. Noch nie hatte er trostlosere Menschen gesehen als diese Frauen; vermutlich war es kein Zufall, daß sie in der Dunkelheit fortgingen.

Als er sich in den Schlaf zu wiegen versuchte, in jener Erntedanknacht bei Drapers in Waterville, sah Homer Wells die Mütter im Schnee fortgehen, doch er sah sogar mehr, als er tatsächlich gesehen hatte. In den Nächten, wenn er nicht schlafen konnte, fuhr Homer mit den Frauen in der Kutsche zum Bahnhof. Er stieg mit ihnen in den Zug, fuhr mit ihnen nach Hause; er fand heraus, welche seine Mutter war, und folgte ihr. Es war schwer, zu erkennen, wie sie aussah und wo sie wohnte, woher sie gekommen war, ob sie dorthin zurückkehrte – und schwerer noch, sich vorzustellen, wer sein Vater sei und ob sie zu ihm zurückkehrte. Wie die meisten Waisen stellte Homer sich oft vor, seine Eltern zu sehen, aber immer blieb er von ihnen unerkannt. Als Kind war es ihm peinlich, wenn er dabei ertappt wurde, wie er Erwachsene anstarrte – manchmal liebevoll, manchmal mit einer [33] instinktiven Feindseligkeit, die er in seinem Gesicht auch nicht hätte lesen mögen.

»Laß das, Homer«, pflegte Dr. Larch bei solchen Gelegenheiten zu sagen. »Hör endlich auf damit.«

Selbst als Erwachsener ließ Homer sich immer noch beim Anstarren ertappen.

In der Erntedanknacht aber, in Waterville, starrte er so angestrengt in das Leben seiner wirklichen Eltern, daß er sie beinah gefunden hätte, bevor er erschöpft einschlief. Plötzlich wurde er jäh von einem der Enkel geweckt, einem älteren Jungen; Homer hatte vergessen, daß er sein Bett mit ihm teilen sollte, weil das Haus überfüllt war.

»Mach Platz«, sagte der Junge. Homer machte Platz. »Laß deinen Pimmel in deinem Pyjama«, sagte der Junge zu Homer, der nicht die Absicht hatte, ihn herauszuholen. »Weißt du, was Fummeln ist?« fragte der Junge dann.

»Nein«, sagte Homer.

»Doch, du weißt es, Pimmelsack«, sagte der Junge. »Ihr tut ja nichts anderes, ihr in St. Cloud’s. Ihr befummelt euch. Die ganze Zeit. Versuche nur, mich zu befummeln, und ich sage dir, du wirst zurückgeschickt, ohne deinen Pimmel«, sagte der Junge. »Ich werd dir den Pimmel abschneiden und ihn dem Hund verfüttern.«

»Du meinst Rufus?« fragte Homer Wells.

»Ganz richtig, Pimmelsack«, sagte der Junge. »Willst du mir immer noch erzählen, daß du nicht weißt, was Fummeln ist?«

»Ich weiß nicht«, sagte Homer.

»Du willst, daß ich’s dir zeige, nicht wahr?« sagte der Junge.

»Ich glaube nicht«, sagte Homer.

»Doch, tust du, Pimmelsack«, sagte der Junge, und dann versuchte er, Homer Wells zu befummeln. Homer hatte nie gesehen oder gehört, daß jemand in St. Cloud’s auf diese Weise mißbraucht worden wäre. Auch wenn der ältere Junge seinen [34] Fummel-Stil auf einem Internat gelernt hatte – einem sehr guten –, hatte man ihm dort nicht beigebracht, welche Art von Geschrei sich Homer Wells bei der Familie in Three Mile Falls antrainiert hatte. Jetzt aber schien es Homer an der Zeit, zu schreien – und zwar laut, wenn man der Fummelei entkommen wollte –, und sein Geschrei weckte den einzigen Erwachsenen im Hause Draper, der nur schlafen gegangen war (statt bewußtlos umzufallen). Mit anderen Worten, Homer weckte Mom. Er weckte auch alle Enkelkinder, und weil einige von ihnen jünger waren als Homer und weil sie alle keine Ahnung hatten von Homers Leistungen beim Zetern, stürzte sein Geschrei sie in nackte Panik – und rüttelte sogar Rufus wach, der schnappte.

»Was, um Himmels willen …?« fragte Mom vor Homers Tür.

»Er versuchte mich zu befummeln, da hab ich ihm eins verpaßt«, sagte der Internatsschüler. Homer, dem darum zu tun war, sein legendäres Geschrei unter Kontrolle zu bringen – es in die Vergangenheit zurückzuschicken –, wußte nicht, daß man Enkeln mehr Glauben schenkt als Waisen.

»Hier in St. Cloud’s«, schrieb Dr. Larch, »ist es selbstzerstörerisch und grausam, sich allzu viele Gedanken zu machen über die Vorfahren. In anderen Teilen der Welt, muß ich leider sagen, stehen die Vorfahren einer Waise stets unter Verdacht.«

Mom prügelte den Jungen so hart, wie nur je ein Mitglied der gescheiterten Familie aus Three Mile Falls ihn geprügelt hatte. Dann verbannte sie ihn für den Rest der Nacht in den Heizungskeller; wenigstens war es dort unten warm und trocken, und es gab ein Feldbett, das im Sommer bei Campingausflügen benützt wurde.

Es gab auch eine Menge nasser Schuhe – darunter sogar ein Paar, das Homer gehörte. Einige der nassen Socken waren schon beinah trocken und paßten ihm. Das Angebot an feuchten Skianzügen und rustikalen Wanderklamotten bot Homer eine hinlängliche Auswahl. Er kleidete sich in warme Freizeitsachen, die [35] größtenteils trocken waren. Er wußte, daß Mom und der Professor viel zu große Stücke auf ›die Familie‹ hielten, um ihn wegen bloßer Fummelei nach St. Cloud’s zurückzuschicken; wenn er zurückwollte, und das wollte er, mußte er aus eigenem Antrieb gehen.

Tatsächlich hatte Mom Homer eine Vorschau vermittelt, wie seine angebliche Fummelei behandelt und zweifellos geheilt werden würde. Sie ließ ihn vor dem Feldbett im Heizungskeller niederknien.

»Sprich mir nach«, sagte sie und wiederholte des Professors sonderbare Version des Dankgebets. »Ich bin lasterhaft, ich verabscheue mich«, sprach Mom, und Homer sprach es ihr nach – wohl wissend, daß jedes Wort gelogen war. Noch nie hatte er sich selbst so gut leiden können. Er fühlte, er war auf der Spur, herauszufinden, wer er war und wie er sich nützlich machen konnte, aber er wußte auch, daß der Weg zurück nach St. Cloud’s führte.

Als Mom ihm einen Gutenachtkuß gab, sagte sie: »Na, Homer, mach dir keine Sorgen, was der Professor dazu sagen wird. Was immer er sagt, du darfst es nicht für bare Münze nehmen.«

Homer Wells wartete den Vortrag des Professors über die Fummelei nicht ab. Homer trat ins Freie; auch der Schnee konnte ihn nicht aufhalten. 193–, in Waterville, überraschte es niemanden, zum Erntedankfest so viel Schnee auf der Erde zu sehen; und Professor Draper hatte Homer sorgfältig über die Meriten und Methoden des Schneeschuhlaufs aufgeklärt.

Homer war ein tüchtiger Wanderer. Die Straße, die in die Stadt führte, fand er auf Anhieb, und dann auch die breitere Landstraße. Es war schon heller Tag, als der erste Lastwagen hielt; es war ein Holzfuhrwerk. In Anbetracht seines Reiseziels war das für Homer genau das richtige. »Ich gehöre nach St. Cloud’s«, erzählte er dem Fahrer. »Ich habe mich verlaufen.« 193– wußte jeder Holzfuhrwerker, wo St. Cloud’s lag, nämlich in entgegengesetzter Richtung, und der Fahrer wußte es auch.

[36] »Du bist auf dem falschen Weg, Kleiner«, riet er dem Jungen. »Dreh dich um und warte auf ein Fuhrwerk, das in die andere Richtung fährt. Wie sagst du, du bist aus St. Cloud’s?« fragte der Fahrer. Wie die meisten Menschen dachte er, daß Waisen nur immer aus dem Waisenhaus weg- statt hinlaufen.

»Ich gehöre einfach dorthin«, sagte Homer Wells, und der Fahrer winkte zum Abschied. Nach Dr. Larchs Auffassung konnte dieser Fahrer – da er so fühllos war, einen Jungen allein im Schnee losziehen zu lassen – nur ein Angestellter der Ramses-Papierfabrik sein.

Der nächste Fahrer steuerte ebenfalls ein Holzfuhrwerk. Es war leer und unterwegs in den Wald, um noch mehr Baumstämme zu holen, und St. Cloud’s lag mehr oder minder am Weg.

»Ein Waisenjunge?« fragte der Fahrer, als Homer sagte, daß er nach St. Cloud’s wolle.

»Nein«, sagte Homer. »Ich gehöre einfach dorthin – einstweilen.«

193– dauerte es in Maine lange, um irgendwohin zu fahren, besonders bei schneebedeckter Straße. Es wurde schon dunkel, als Homer in sein Zuhause zurückkehrte. Die Tönung des Lichts war dieselbe wie an dem frühen Morgen, als er die Mütter gesehen hatte, die ihre Kinder zurückließen. Homer stand eine Zeitlang vor dem Eingang zum Spital und sah den Schnee fallen. Dann ging er und stellte sich vor den Eingang der Knabenabteilung. Dann ging er zurück und stand draußen vor dem Eingang zum Spital, weil dort besseres Licht war.

Er dachte noch immer nach, was er Dr. Larch eigentlich sagen solle, als die Kutsche vom Bahnhof – jener unselige Schlitten – vor der Einfahrt zum Spital hielt und eine einzige Reisende absetzte. Sie war so hochschwanger, daß der Fahrer zuerst besorgt schien, sie könnte ausrutschen und stürzen; dann schien der Fahrer sich zu besinnen, warum die Frau gekommen war, und vielleicht schien es ihm unmoralisch, einer solchen Frau tatsächlich [37] über den Schnee zu helfen. Er fuhr los und überließ es ihr, sich vorsichtig einen Weg zum Eingang zu bahnen – und zu Homer Wells. Homer läutete die Türglocke für die Frau, die nicht zu wissen schien, was sie tun sollte. Es kam ihm vor, als hoffte sie auf ein wenig Zeit, um nachzudenken, was auch sie zu Dr. Larch sagen solle.

Für jeden, der die beiden dort stehen sah, war dies eine Mutter mit ihrem Sohn. Eben diese Vertrautheit lag in der Art, wie sie einander anschauten, und in dem klaren Einander-Erkennen – sie wußten ganz genau, was mit dem anderen los war. Homer hatte Angst vor dem, was Dr. Larch zu ihm sagen würde, doch er erkannte, daß die Frau noch größere Angst hatte – die Frau kannte Dr. Larch nicht; sie hatte keine Ahnung, was für ein Ort St. Cloud’s war.

Innen gingen mehr Lichter an, und Homer erkannte die engelhafte Gestalt Schwester Angelas, die kam, um die Tür zu öffnen. Aus irgendeinem Grund streckte er die Hand aus und griff nach der Hand der schwangeren Frau. Vielleicht war es die angefrorene Träne in ihrem Gesicht, die im stärkeren Licht aufleuchtete, doch er selbst brauchte auch eine Hand, an der er sich festhalten konnte. Jedenfalls war Homer Wells gefaßt, als Schwester Angela ungläubig in die Schneenacht hinauslugte, während sie sich mühte, die zugefrorene Tür zu öffnen. Zu der schwangeren Frau und ihrem ungewollten Kind sagte Homer: »Keine Angst, hier sind alle freundlich.«

Er spürte, wie die schwangere Frau seine Hand drückte, so fest, daß es schmerzte. Das Wort »Mutter!« lag ihm sonderbar auf den Lippen, als Schwester Angela endlich die Tür aufstieß und Homer Wells in die Arme schloß.

»Oh, oh!« rief sie. »Oh, Homer – mein Homer, unser Homer! Ich wußte, du würdest wiederkommen!«

Und weil die Hand der schwangeren Frau noch immer Homers Hand hielt – da irgendwie keiner von beiden loslassen [38] konnte –, drehte sich Schwester Angela zur Seite und schloß auch die Frau in ihre Umarmung ein.

Es schien Schwester Angela, als sei auch diese schwangere Frau eine Waise, die (wie Homer Wells) genau dorthin gehörte, wo sie jetzt stand.

Dr. Larch erzählte er lediglich, daß er sich in Waterville nicht nützlich gefühlt habe. Wegen der Dinge, die die Drapers erzählt hatten, als sie Larch anriefen, um zu sagen, daß Homer weggelaufen sei, mußte Homer das mit der Fummelei erklären – anschließend erklärte St. Larch Homer alles über die Fummelei. Der Suff des Professors verwunderte Larch (in der Regel fand er solche Sachen ganz schnell heraus), über die Gebete war er mehr als nur verwundert. Dr. Larchs Brief an die Drapers war von einer Bündigkeit, wie sie selbst beim Professor nur selten vorkam.

»Tut Buße«, lautete der Brief. Larch hätte es dabei bewenden lassen können, aber er konnte nicht widerstehen hinzuzufügen: »Ihr seid lasterhaft, Ihr solltet Euch verabscheuen.«

Wilbur Larch wußte, daß eine vierte Pflegefamilie für Homer Wells nicht so einfach zu finden sein würde. Die Suche kostete Dr. Larch drei Jahre, und Homer war inzwischen zwölf – beinah dreizehn. Larch wußte, wie prekär die Situation war: Homer würde Jahre brauchen, um sich woanders so wohl zu fühlen wie in St. Cloud’s.

»Hier in St. Cloud’s«, schrieb Larch in sein Tagebuch, »haben wir nur ein Problem. Daß es immer Waisen geben wird, gehört nicht in die Kategorie Problem; es läßt sich einfach nicht lösen – wir tun unser Bestes, indem wir für sie sorgen. Daß unser Budget immer zu klein sein wird, ist ebenfalls kein Problem – ein Waisenhaus ist immer von der Pleite bedroht; so muß es sein, per Definition. Und es ist kein Problem, daß nicht jede Frau, die schwanger wird, unbedingt auch ihr Baby haben will; vielleicht dürfen wir einer aufgeklärteren Zeit entgegensehen, in der Frauen [39] das Recht haben werden, die Geburt eines ungewollten Kindes abzuwenden – doch einige Frauen werden immer unwissend sein, verwirrt, verängstigt. Auch in aufgeklärten Zeiten wird es unerwünschten Babys gelingen, auf die Welt zu kommen.

Und es wird immer Babys geben, die sehr erwünscht waren, dann aber als Waisen enden – sei es durch Unfall, durch vorsätzliche oder zufällige Akte der Gewalt, die ebenfalls keine Probleme sind. Hier in St. Cloud’s würden wir unsere beschränkte Kraft und unsere beschränkte Phantasie vergeuden, wollten wir die Schattenseiten des Lebens als Probleme betiteln. Hier in St. Cloud’s haben wir nur ein Problem. Sein Name ist Homer Wells. Bei Homer hatten wir Erfolg: Es ist uns gelungen, das Waisenhaus zu seinem Zuhause zu machen, und eben dies ist das Problem. Wenn man versucht, einer staatlichen oder anderen öffentlichen Institution etwas von jener Liebe zu schenken, die in eine Familie investiert werden sollte – und wenn diese Institution ein Waisenhaus ist und es gelingt einem, ihm Liebe zu schenken –, wird man ein Monstrum schaffen: ein Waisenhaus, das nicht Zwischenstation ist zu einem besseren Leben, sondern ein Waisenhaus, das die erste und letzte Station ist, der einzige Ort, den die Waise je akzeptieren wird.

Es gibt keine Entschuldigung für Grausamkeit, doch – in einem Waisenhaus – sind wir womöglich verpflichtet, Liebe vorzuenthalten. Wenn man es in einem Waisenhaus versäumt, Liebe vorzuenthalten, wird man ein Waisenhaus schaffen, das keine Waise von sich aus verläßt. Man wird einen Homer Wells schaffen – eine wahre Waise, weil sein einziges Zuhause immer St. Cloud’s sein wird. Gott (oder wer immer) verzeihe mir. Ich habe eine Waise geschaffen; ihr Name ist Homer Wells, und er wird immer nach St. Cloud’s gehören.«

Als Homer zwölf war, hatte er das Sagen im Haus. Er kannte seine Öfen und seine Holzkästen, seine Sicherungsboxen und seine Wäschetruhen, die Wäscherei, die Küche, die Winkel, wo [40] die Katzen schliefen – er wußte, wann Post kam und wer welche bekam, wußte, wer in welcher Schicht arbeitete und wie er hieß; wußte auch, wohin die Mütter zum Rasieren gingen, wenn sie eintrafen, wie lange die Mütter blieben, wann sie gingen – ob und mit welcher Hilfe. Er kannte die Glocken und läutete sie. Er wußte, wer die Hauslehrer waren; er erkannte sie an ihrem Gang, wenn sie vom Bahnhof kamen, schon aus zweihundert Meter Entfernung. Er war sogar in der Mädchenabteilung bekannt, obwohl die wenigen Mädchen, die älter waren als er, ihm angst machten und er möglichst wenig Zeit dort verbrachte – nur, um Aufträge für Dr. Larch zu erledigen, um Nachrichten und Arzneien zu überbringen. Die Leiterin der Mädchenabteilung war keine Ärztin, und wenn die Mädchen erkrankten, gingen sie entweder zu Dr. Larch ins Spital, oder Dr. Larch kam zu ihnen in die Mädchenabteilung. Die Leiterin der Mädchenabteilung war eine Bostoner Irin und hatte einige Zeit im Neuengland-Heim für kleine Landstreicher gearbeitet. Sie hieß Mrs. Grogan, obwohl sie nie einen Mr. Grogan erwähnte und niemand, der sie sah, sich so leicht vorstellen konnte, daß es je einen Mann in ihrem Leben gegeben hatte. Vielleicht gefiel ihr der Klang von Missus besser als der Klang von Miss. Im Neuengland-Heim für kleine Landstreicher hatte sie der Gemeinschaft der Kleinen Dienerinnen Gottes angehört, was Dr. Larch stutzig machte. Aber Mrs. Grogan machte keine Anstalten, in St. Cloud’s Mitglieder für eine solche Gemeinschaft zu werben; vielleicht war sie zu beschäftigt – neben ihren Pflichten als Leiterin der Mädchenabteilung war sie verantwortlich dafür, das wenige an Bildung zu verwalten, das für die Waisen verfügbar war.

Wenn es eine Waise gab, die über die sechste Schulklasse hinaus in St. Cloud’s blieb, gab es keine Schule mehr, die sie hätte besuchen können – und die einzige Schule für die Klassen eins bis sechs war in Three Mile Falls; es war mit dem Zug nur eine Station von St. Cloud’s entfernt, aber 193– hatten die Züge oft [41] Verspätung, und der Donnerstags-Lokomotivführer war bekannt dafür, daß er im Bahnhof von St. Cloud’s zu halten vergaß (als habe der Anblick so vieler verlassener Bauten ihn überzeugt, daß St. Cloud’s immer noch eine Geisterstadt sei, oder als mißbilligte er die Frauen, die hier aus dem Zug stiegen).

Die Mehrzahl der Schüler in der Dorfschule von Three Mile Falls dünkte sich den sporadisch anwesenden Waisen überlegen; am allerüberlegensten aber fühlten sich jene Schüler, die aus Familien stammten, wo sie vernachlässigt oder mißhandelt wurden, oder beides, und darum bestanden die Schulklassen eins bis sechs für Homer aus Erlebnissen eher kämpferischer denn erzieherischer Art. Jahrelang fehlte er an drei von vier Donnerstagen und mindestens einen weiteren Wochentag, weil der Zug Verspätung hatte; im Winter versäumte er einen Tag die Woche, weil er krank war. Und wenn zuviel Schnee lag, fuhren die Züge nicht.

Die drei Hauslehrer litten unter denselben Risiken, denen der Eisenbahnverkehr in jenen Jahren ausgesetzt war, denn sie kamen alle aus Three Mile Falls nach St. Cloud’s. Da war eine Frau, die Mathematik lehrte; sie war Buchhalterin bei einer Textilfabrik – »eine echte Steuerberaterin«, hatte Schwester Edna ausgerufen –, doch sie lehnte alles ab, was entfernt mit Algebra oder Geometrie zu tun hatte, und Additionen und Subtraktionen standen bei ihr entschieden höher im Kurs als Multiplikationen und Divisionen (Homer war schon erwachsen, als Dr. Larch entdeckte, daß der Junge nicht multiplizieren konnte).

Die Witwe eines wohlhabenden Klempners lehrte Grammatik und Rechtschreibung. Ihre Methode war streng und verzwickt. Sie präsentierte große Haufen falsch geschriebener Wörter, ohne Groß- oder Kleinschreibung, ohne Punkt und Komma, und dann verlangte sie, diese Haufen in richtige Sätze zu bringen, peinlich genau interpunktiert und korrekt geschrieben. Anschließend korrigierte sie die Korrekturen; das endgültige Dokument – sie verwendete ein System verschiedenfarbiger Tinten – [42] glich einem oft revidierten Staatsvertrag zwischen zwei halbanalphabetischen Ländern im Kriegszustand. Der Text selbst blieb Homer beinah immer fremd, auch wenn er endlich richtig geschrieben war. Und zwar, weil die Frau eifrig aus einem Familiengesangbuch zitierte – und Homer hatte weder je eine Kirche von innen gesehen noch ein Kirchenlied gehört (wenn man die Weihnachtslieder nicht mitzählte oder die Hymnen, die Mrs. Grogan sang; aber die Klempnerswitwe war nicht so dumm, Weihnachtslieder zu benutzen). Homer Wells hatte Alpträume vom Entziffern der Texte, die die Witwe des Klempners zusammenbraute.

o här main god wan ych ihm härpst mir wunter

bedrachte disse wält fon dainer hant geschawen…

Oder:

o fälz ter efichkaiten gip zuhfluchd mihr bay tir…

Der dritte Hauslehrer, ein pensionierter Schulmeister aus Camden, war ein unglücklicher alter Mann, der im Haus seiner Tochter lebte, weil er nicht selbst für sich sorgen konnte. Er unterrichtete Geschichte, aber er besaß keine Bücher. Er unterrichtete Weltgeschichte aus der Erinnerung; die Jahreszahlen, sagte er, wären nicht so wichtig. Er war imstande, einen Wortschwall von einer vollen halben Stunde über Mesopotamien loszulassen, aber wenn er innehielt, um Luft zu holen oder einen Schluck Wasser zu trinken, fand er sich in Rom oder in Troja wieder; er rezitierte lange, ununterbrochene Abschnitte aus dem Thukydides, aber ein bloßer Schluckauf trug ihn nach Elba, zu Napoleon.

»Ich finde«, bemerkte Schwester Edna eines Tages zu Dr. Larch, »es gelingt ihm, ein Gefühl für die Bandbreite der Geschichte zu vermitteln.«

[43] Schwester Angela verdrehte die Augen. »Wenn ich versuche, ihm zuzuhören«, sagte sie, »fallen mir hundert gute Gründe ein für den Krieg.«

Sie meinte, wie Homer es verstand, daß niemand so lange leben sollte.

Man begreift leicht, warum Homer an seinen häuslichen Pflichten mehr Freude fand als an Bildung.

Homers liebste Pflicht war, für Dr. Larch die abendliche Lektüre auszuwählen. Er sollte eine Passage abschätzen, für die Dr. Larch beim Vorlesen exakt zwanzig Minuten brauchen würde; dies war schwierig, denn wenn Homer sich selbst vorlas, las er viel langsamer als Dr. Larch, aber wenn er einfach leise für sich las, las er viel schneller, als Dr. Larch vorlesen konnte. Bei Passagen von je zwanzig Minuten pro Abend brauchte Dr. Larch mehrere Monate, um Große Erwartungen zu lesen, und mehr als ein Jahr, um David Copperfield zu lesen – wonach St. Larch Homer eröffnete, daß er wieder am Anfang von Große Erwartungen beginnen werde. Bis auf Homer waren alle Waisen, die Große Erwartungen schon einmal gehört hatten, fortgezogen.

Ohnehin verstand fast keiner von ihnen Große Erwartungen oder David Copperfield. Nicht nur waren sie zu klein für die Dickenssche Sprache, sie waren auch zu klein, um die alltägliche Sprache von St. Cloud’s zu begreifen. Worauf es Dr. Larch ankam, war die Idee des Vorlesens selbst – es war ein erfolgreiches Schlafmittel für die Kinder, die nicht wußten, was sie da hörten, und für die wenigen, die sowohl die Wörter wie auch die Handlung verstanden, war das abendliche Vorlesen eine Möglichkeit, in ihren Träumen, ihren Phantasien St. Cloud’s zu verlassen.

Dickens war Dr. Larchs persönlicher Lieblingsautor. Es war natürlich kein Zufall, daß sowohl Große Erwartungen als auch David Copperfield von Waisen handelte. (»Was, zum Teufel, sollte man Waisen auch sonst vorlesen?« fragte Dr. Larch in seinem Tagebuch.)

[44] Daher war Homer Wells wohlvertraut mit dem Bild jenes Galgens in den Themsemarschen – »mit Ketten daran hangend, die einst einen Seeräuber festhielten« –, und Homers Vorstellung von Pip, dem Waisenjungen, und von Magwitch, dem Sträfling… und von der schönen Estella, der rachsüchtigen Miss Havisham… lieferte ihm die Details, wenn er im Einschlafen den geisterhaften Müttern folgte, die im Schutz der Dunkelheit St. Cloud’s verließen, um in den pferdegezogenen Kutschwagen einzusteigen, oder später in den Bus, der die Kutsche ablöste und Homer ein erstes Gefühl vom Vergehen der Zeit gab, vom Fortschritt. Nachdem der Bus die Kutsche abgelöst hatte, wurde aller Busverkehr nach St. Cloud’s eingestellt. Danach gingen die Mütter zu Fuß. Dies gab Homer eine noch tiefere Einsicht in den Fortschritt.

Die Mütter, die er im Schlaf sah, veränderten sich nie. Aber die Männer, die sich nicht die Mühe gemacht hatten, sie nach St. Cloud’s zu begleiten – wo waren sie? Homer liebte die Stelle in Große Erwartungen, wo Pip gerade aufgebrochen ist und sagt: »Feierlich stiegen die Nebel alle… und die Welt lag vor mir ausgebreitet.« Ein Junge aus St. Cloud’s wußte über »die Nebel« ausreichend Bescheid – sie waren es, die den Fluß verhüllten, die Stadt und das Waisenhaus selbst; sie trieben von Three Mile Falls den Fluß herab; sie verbargen einem die eigenen Eltern. Sie waren die Wolken von St. Cloud’s, die es den eigenen Eltern erlaubten, sich ungesehen davonzustehlen.

»Homer«, pflegte Dr. Larch zu sagen, »eines Tages wirst du den Ozean sehen. Bislang bist du nur bis in die Berge gekommen; sie sind lange nicht so eindrucksvoll wie das Meer. Auch über der Küste hängt Nebel – er kann schlimmer sein als der Nebel hier –, doch wenn der Nebel sich hebt, Homer… nun«, sagte St. Larch, »das mußt du einmal erleben.«

Aber Homer hatte es bereits gesehen, er hatte es sich bereits vorgestellt – »die Nebel alle… die feierlich stiegen«. Er lächelte [45] Dr. Larch an und empfahl sich; es war Zeit, eine Glocke zu läuten. Und das tat er auch – Glockenläuten –, als seine vierte Pflegefamilie in St. Cloud’s eintraf; Homer hatte keine Mühe, das Paar zu erkennen.

Sie waren, wie man heute sagen würde, ein sportliches Ehepaar. In Maine, im Jahr 193–, als Homer zwölf war, galten die Leute, die Homer adoptieren wollten, schlicht als Fanatiker, die alles machten, was man in freier Natur machen konnte. Sie waren ein Wildwasserkanutenehepaar, ein Ozeanseglerpaar – ein Bergsteiger-, Tiefseetaucher-, Wildnis-Camper-Paar. Sie waren ein 100-Meilen-(im Eilmarsch)-Trecker-Ehepaar. Athleten – aber nicht aus dem Sportverein; ein organisiertes Memmensportlerpaar waren sie nicht.

An dem Tag, als sie in St. Cloud’s eintrafen, läutete Homer Wells die 10-Uhr-Glocke vierzehnmal. Er war wie verzaubert von ihnen – von ihrem kräftigen, muskulösen Äußern, ihrem federnden Schritt, von seinem Safarihut, von ihrer Buschmachete in langer Lederscheide (mit Indianerperlen), die sie am Patronengurt trug. Beide hatten sie Stiefel an, die gut einmarschiert aussahen. Ihr Fahrzeug war ein handgebastelter Vorläufer dessen, was man in späteren Jahren als Campingbus bezeichnen sollte; es schien dazu dazusein, ein Nashorn zu fangen und zu beherbergen. Homer sah augenblicklich voraus, daß er gezwungen sein würde, Bären zu jagen, mit Krokodilen zu raufen – kurz, sich von dem zu ernähren, was der Boden hergab. Schwester Edna fiel ihm in den Arm, bevor er fünfzehn Uhr läuten konnte.

Wilbur Larch war bewußt vorsichtig. Er fürchtete nicht für Homers geistige Entwicklung. Ein Junge, der selbst David Copperfield und Große Erwartungen gelesen hat, beide zweimal – und beide Bücher Wort für Wort vorlesen gehört hat, ebenfalls zweimal –, ist geistig besser gerüstet als die meisten. Dr. Larch fand, daß die körperliche oder athletische Entwicklung des Jungen weniger verläßlich gewesen sei. Sport war für Larch etwas [46]