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Eine gefühlvolle Familiengeschichte, in der motorradfahrende und feministische Bären, weiße Vergewaltiger und schwarze Rächer, ein Wiener Hotel voller Huren und Anarchisten, ein Familienhund mit Flatulenz im Endstadium, Arthur Schnitzler, Moby Dick, der große Gatsby, Gewichtheber, Geschwisterliebe und Freud vorkommen – nicht ›der‹ Freud, sondern Freud der Bärenführer.
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Seitenzahl: 838
John Irving
Das Hotel New Hampshire
Roman
Aus dem Amerikanischen von
Titel der 1981 bei E. P. Dutton, New York, erschienenen Originalausgabe: ›The Hotel New Hampshire‹
Copyright © 1981 by Garp Enterprises, Ltd.
Die deutsche Erstausgabe erschien 1982 im Diogenes Verlag
A Birthday Candle Copyright © 1957 by Donald Justice
Erstmals erschienen in ›The New Yorker‹
On the Death of Friends in Childhood Copyright © 1959 by Donald Justice
Love’s Stratagems Copyright © 1958 by Donald Justice
Erstmals erschienen in ›The New Yorker‹
To a Ten-Month’s Child Copyright © 1960 by Donald Justice
Tales from a Family Album Copyright © 1957 by Donald Justice
Der Abdruck dieser Gedichte aus der Sammlung The Summer Anniversaries erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Wesleyan University Press
The Evening of the Mind Copyright © 1965 by Donald Justice
Erstmals erschienen in ›Poetry‹
The Tourist from Syracuse Copyright © 1965 by Donald Justice
Men at Forty Copyright © 1966 by Donald Justice
Erstmals erschienen in ›Poetry‹
Der Abdruck dieser Gedichte aus der Sammlung Night Light
erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Wesleyan University Press
I Forgot to Remember to Forget Copyright © by permission of Stanley Kesler; Highlow Music Inc., 639 Madison Avenue, Memphis, Tn. 38103
I Love You Because by Leon Payne, Copyright © 1949 by Fred Rose
Music, Inc., Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags
Alle Rechte vorbehalten
Covermotiv: Illustration von Edward Gorey
Mit freundlicher Genehmigung des Edward Gorey Charitable Trust, New York
Alle deutschen Rechte vorbehalten
Copyright © 2011
Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
ISBN Buchausgabe 978 3 257 21194 8
ISBN E-Book 978 3 257 60021 6
Für meine Frau Shyla, deren Liebe Licht und Raum
[9] 1.
Der Bär namens State o’ Maine
In jenem Sommer, als mein Vater den Bären kaufte, war noch keiner von uns auf der Welt – wir waren noch nicht mal gezeugt: weder Frank, der älteste, noch Franny, die lauteste, noch ich, der nächste, noch die jüngsten von uns, Lilly und Egg. Mein Vater und meine Mutter kannten sich von klein auf und waren praktisch miteinander groß geworden, doch ihre »eheliche Vereinigung«, wie Frank das immer nannte, hatte damals, als Vater den Bären kaufte, noch nicht stattgefunden.
»Ihre ›eheliche Vereinigung‹, Frank?« triezte ihn Franny gern; Frank war zwar der Älteste, aber mir kam er jünger vor als Franny, und sie behandelte ihn immer wie ein kleines Kind. »Du meinst doch Frank«, sagte Franny, »daß sie noch nicht angefangen hatten mit vögeln.«
»Sie hatten ihr Verhältnis noch nicht vollzogen«, sagte Lilly einmal; obwohl sie, abgesehen von Egg, jünger war als wir anderen, spielte sich Lilly immer als die große Schwester von allen auf – sehr zum Ärger Frannys.
»›Vollzogen‹?« sagte Franny. Ich weiß nicht mehr, wie alt Franny damals war, aber Egg war für solche Sprüche bestimmt noch zu jung: »Den Sex haben Vater und Mutter doch erst entdeckt, nachdem der alte Herr diesen Bären gekauft hatte«, sagte Franny. »Der Bär brachte sie auf die Idee – ein richtig ordinärer, geiler Bock, der dauernd Bäume besprang und an sich selber rumfummelte und versuchte, Hunde zu vergewaltigen.«
»Er hat hin und wieder einen Hund rauh angefaßt«, sagte Frank angewidert. »Er hat nie Hunde vergewaltigt.«
»Er hat es versucht«, sagte Franny. »Du kennst doch die Geschichte.«
[10] »Vaters Geschichte«, sagte daraufhin Lilly, die auf etwas andere Art angewidert war als Frank; es war Franny, die Frank anwiderte, doch Lilly fand Vater widerlich.
Und so liegt es nun an mir, dem mittleren und am wenigsten voreingenommenen von uns Kindern, die Tatsachen ins rechte – oder fast rechte – Licht zu rücken. Wir waren eine Familie, deren Lieblingsgeschichte die Romanze zwischen meiner Mutter und meinem Vater war: wie Vater den Bären kaufte, wie Mutter und Vater sich verliebten und in rascher Folge Frank, Franny und mich zeugten (»Peng, Peng, Peng!« sagt Franny gern), und wie sie dann, nach einer kurzen Verschnaufpause, noch Lilly und Egg (»Blup und Pfft«, sagt Franny) in die Welt setzten. Die Geschichte, die wir als Kinder zu hören bekamen und die wir uns in den Jahren danach immer wieder von neuem erzählten, scheint sich auf die Jahre zu konzentrieren, von denen wir selber nichts wissen konnten und die wir heute nur so sehen können, wie unsere Eltern sie in ihren vielen Versionen schilderten. Ich glaube, ich sehe meine Eltern klarer in diesen früheren Jahren als in den Jahren, an die ich mich tatsächlich erinnern kann, denn natürlich sind die Zeiten, die ich selbst erlebte, dadurch gefärbt, daß es Auf-und-Ab-Zeiten waren, über die ich Auf-und-Ab-Meinungen habe. Wenn ich aber an den berühmten Sommer des Bären und an den Zauber der ersten Liebe meiner Mutter und meines Vaters denke, dann kann ich mir da einen eindeutigeren Standpunkt erlauben.
Wenn sich Vater beim Erzählen der Geschichte verhaspelte – sei es, daß er einer früheren Version widersprach, sei es, daß er unsere Lieblingsstellen ausließ –, zeterten wir wie wütende Vögel.
»Entweder lügst du jetzt, oder du hast beim letzten Mal gelogen«, warf Franny (immer die strengste von uns) ihm vor, doch Vater schüttelte nur unschuldig den Kopf.
»Versteht ihr denn nicht?« fragte er uns dann. »In eurer Vorstellung ist die Geschichte lebendiger als in meiner Erinnerung.«
[11] »Lauf, hol Mutter«, wies Franny mich dann an und schubste mich von der Couch. Oder Frank hob Lilly von seinem Schoß und flüsterte ihr ins Ohr: »Lauf, hol Mutter.« Und dann mußte unsere Mutter als Zeugin auftreten, weil wir Vater der Fälschung verdächtigten.
»Oder aber, du läßt all die saftigen Stellen absichtlich weg«, beschuldigte ihn Franny, »nur weil du meinst, Lilly und Egg seien noch zu jung für die ganzen Rumvögeleien.«
»Es gab keine Rumvögeleien«, schaltete Mutter sich ein. »Es gab nicht die sexuellen Freiheiten und das Durcheinander von heute. Wenn ein Mädchen die Nacht oder das Wochenende mit einem Mann verbrachte, hielten sogar Gleichaltrige sie für ein Flittchen oder was Schlimmeres; danach war sie für uns so gut wie gestorben. ›Die Sorte hält sich an ihresgleichen‹, sagten wir immer, oder: ›Schlecht und schlecht gesellt sich gern.‹« Und Franny, ob acht oder zehn oder fünfzehn oder fünfundzwanzig, verdrehte dann immer die Augen und stieß mir den Ellbogen in die Rippen oder kitzelte mich, und wenn ich zurückkitzelte, brüllte sie: »Perverser Kerl! Befingert die eigene Schwester!« Und ob Frank nun neun oder elf oder einundzwanzig oder einundvierzig war, sexuelle Themen und Zurschaustellungen wie die von Franny waren ihm schon immer verhaßt, und so sagte er rasch zu Vater: »Laß nur. Wie war denn das mit dem Motorrad?«
»Nein, erzähl weiter vom Sex«, sagte dann Lilly völlig humorlos zu Mutter, und Franny fuhr mir mit der Zunge ins Ohr oder machte mit den Lippen ein furzendes Geräusch an meinem Hals.
»Jedenfalls«, sagte Mutter, »redeten wir in gemischter Gesellschaft nicht offen über Sex. Es wurde geschmust und geknutscht, mehr oder weniger heftig; das geschah gewöhnlich in einem Auto. Es gab immer stille Gegenden, wo man parken konnte. Natürlich mehr Feldwege als heute, nicht so viele Menschen und nicht so viele Autos – und die Autos, das waren damals keine Kleinwagen.«
»So daß ihr euch schön langlegen konntet«, sagte Franny.
[12] Mutter warf Franny einen mißbilligenden Blick zu und fuhr mit ihrer Darstellung der Vergangenheit fort. Sie war eine wahrheitsliebende, aber langweilige Geschichtenerzählerin – mit meinem Vater gar nicht zu vergleichen –, und immer wenn wir sie beizogen, um den Wahrheitsgehalt einer Geschichte festzustellen, bereuten wir das hinterher.
»Lieber soll der alte Herr immer weitererzählen«, meinte Franny, »Mutter nimmt alles so ernst.« Frank blickte finster drein, und Franny forderte ihn auf: »Spiel doch ein bißchen mit deinem Ding, Frank, dann fühlst du dich wohler.«
Aber Frank blickte nur noch finsterer drein. Dann sagte er: »Du würdest eine bessere Antwort bekommen, wenn du Vater erst mal nach dem Motorrad oder nach etwas Konkretem fragen würdest; stattdessen kommst du mit diesen allgemeinen Dingen, Kleidern, Bräuchen, sexuellen Gewohnheiten.«
»Frank, erklär doch mal, was Sex ist«, sagte Franny, doch Vater rettete uns alle, indem er mit seiner verträumten Stimme sagte: »Glaubt mir, sowas wär heute nicht mehr möglich. Ihr denkt vielleicht, ihr habt mehr Freiheit, aber ihr habt auch mehr Gesetze. Der Bär wäre heute nicht mehr möglich. Sie würden ihn gar nicht zulassen.« Und in dem Augenblick verstummten wir, unsere ganzen Streitereien waren schlagartig vergessen. Wenn Vater redete, konnten sogar Frank und Franny in Reichweite voneinander sitzen, ohne sich zu zanken. Ich konnte dann so dicht neben Franny sitzen, daß ich sogar ihr Haar in meinem Gesicht und ihr Bein an meinem Bein spürte, doch wenn Vater redete, dachte ich überhaupt nicht an Franny. Lilly saß dann totenstill (wie das nur Lilly konnte) auf Franks Schoß. Egg war gewöhnlich zu jung, um zuzuhören oder gar etwas zu begreifen, aber er war ein ruhiges Kind. Selbst wenn Franny ihn auf den Schoß nahm, war er still; bei mir auf dem Schoß schlief er immer ein.
»Er war ein Schwarzbär«, sagte Vater; »er wog dreieinhalb Zentner und war ein bißchen widerspenstig.«
»Ursus americanus«, murmelte Frank. »Und er war unberechenbar.«
[13] »Ja«, sagte Vater, »aber doch ganz gutmütig, die meiste Zeit jedenfalls.«
»Er war zu alt, um noch ein Bär zu sein«, sagte Franny andächtig.
Das war der Satz, mit dem Vater gewöhnlich anfing – mit dem er auch damals anfing, als ich, soweit ich mich erinnern kann, die Geschichte erstmals zu hören bekam. »Er war zu alt, um noch ein Bär zu sein.« Ich saß bei dieser Fassung auf dem Schoß meiner Mutter, und ich kann mich erinnern, daß ich das Gefühl hatte, auf immer an die Zeit und den Ort gefesselt zu sein: Mutters Schoß, Franny auf Vaters Schoß neben mir, Frank aufrecht und abseits – im Schneidersitz auf dem abgewetzten Perserteppich, daneben unser erster Familienhund, Kummer (der eines Tages eingeschläfert werden sollte wegen seiner schrecklichen Furzerei). »Er war zu alt, um noch ein Bär zu sein«, fing Vater an. Ich sah Kummer an, unseren vertrottelten und treuen Labrador, und er wuchs vor meinen Augen bis zur Größe eines Bären und wurde dann alt und sackte neben Frank in stinkender Verfilztheit zusammen, bis er wieder bloß ein Hund war (auch wenn Kummer nie »bloß ein Hund« war).
Ich kann mich bei diesem ersten Mal nicht an Lilly oder Egg erinnern – sie müssen noch so klein gewesen sein, daß sie nicht wahrnehmbar waren, jedenfalls nicht bewußt. »Er war zu alt, um noch ein Bär zu sein«, sagte Vater. »Er ging auf seinen letzten Füßen.«
»Doch es waren die einzigen Füße, die er hatte!« sangen wir dann im Chor – Frank, Franny und ich –, das war unser einstudierter Anteil am Ritual. Und später, als sie die Geschichte draufhatten, stimmten auch Lilly und schließlich sogar Egg mit ein.
»Der Bär hatte keine Freude mehr an seiner Rolle als Entertainer«, sagte Vater. »Er spielte sie lustlos, ohne innere Beteiligung. Und von allen Menschen und Tieren und Gegenständen liebte er nur noch dieses Motorrad. Deshalb mußte ich mit dem Bären auch das Motorrad kaufen. Und deshalb fiel es dem [14] Bären auch nicht sonderlich schwer, seinen Lehrmeister zu verlassen und mir zu folgen; das Motorrad bedeutete diesem Bären mehr als irgendein Lehrmeister.«
Und später stieß Frank Lilly an, die gelernt hatte, an dieser Stelle zu fragen: »Wie hieß der Bär?«
Und Frank und Franny und Vater und ich riefen wie mit einer Stimme: »State o’ Maine!« Der doofe Bär hieß tatsächlich so, und zusammen mit einem Motorrad – einer 1937er Indian mit handgefertigtem Beiwagen – kaufte ihn mein Vater im Sommer 1939 für200 Dollar und die besten Kleider in seiner Feldkiste.
Mein Vater und meine Mutter waren in diesem Sommer neunzehn Jahre alt; sie wurden beide 1920 in Dairy, New Hampshire, geboren und wuchsen beide dort auf, doch sie waren sich in diesen Jahren mehr oder weniger aus dem Weg gegangen. Es ist einer jener logischen, vielen guten Geschichten zugrunde liegenden Zufälle, daß beide – zu ihrer Überraschung – den Sommer über im Arbuthnot-by-the-Sea arbeiteten, einem Strandhotel fernab von zuhause, jedenfalls für sie, denn Maine lag (damals und in ihrer Vorstellung) fernab von New Hampshire.
Meine Mutter war Zimmermädchen, trug jedoch ihre eigene Kleidung, wenn sie servierte oder bei den Cocktailparties aushalf, die im Freien unter Zeltdächern stattfanden und von den Golfern, den Tennis- und Krocketspielern und, nach einer Regatta, von den Segelsportlern besucht wurden. Mein Vater half in der Küche, schleppte Gepäck, hegte und pflegte die Grüns auf dem Golfplatz und sorgte dafür, daß die weißen Linien auf den Tennisplätzen immer gut sichtbar und gerade waren und daß die Leute, die wackelig auf den Beinen waren und erst gar nicht an Bord eines Schiffes hätten gehen sollen, beim Ein- und Aussteigen am Anlegeplatz möglichst davor bewahrt wurden, sich wehzutun oder ins Wasser zu fallen.
Es waren Ferienjobs, die sowohl von den Eltern meiner Mutter als auch denen meines Vaters gebilligt wurden, doch [15] für Mutter und Vater war es irgendwie demütigend, einander dort zu entdecken. Es war der erste Sommer, den sie nicht in Dairy, New Hampshire, verbrachten, und sie hatten sich das noble Ferienhotel zweifellos als einen Ort vorgestellt, an dem auch sie – zwei völlig Fremde – als einigermaßen glanzvoll gelten könnten. Mein Vater hatte gerade die Dairy School, eine Privatschule für Jungen, hinter sich gebracht; für den Herbst war er zum Studium an der Harvard University zugelassen worden. Er wußte zwar, daß er frühestens im Herbst 1941 hingehen konnte, da er sich vorgenommen hatte, erst das Geld für die Studiengebühren zu verdienen; aber im Sommer 39 im Arbuthnot-by-the-Sea hätte mein Vater nur zu gerne bei den Gästen und den anderen Bediensteten den Eindruck erweckt, er sei morgen schon Harvard-Student. Da nun meine Mutter da war, die seine Verhältnisse natürlich genau kannte, war er gezwungen, die Wahrheit zu sagen. Er konnte das Studium an der Harvard University erst aufnehmen, wenn er das Geld für die Kosten zusammen hatte; aber natürlich war es schon eine Leistung, überhaupt dort studieren zu können, und die meisten Leute in Dairy, New Hampshire, hatten mit Überraschung auf die Neuigkeit reagiert, daß die Harvard University ihn tatsächlich angenommen hatte.
Als Sohn des Football-Coaches an der Dairy School gehörte mein Vater, Winslow Berry, nicht ganz in die Kategorie der Lehrerkinder. Er war der einzige Sohn eines Kraftprotzes, und sein Vater, den jeder nur Coach Bob nannte, war kein Harvard-Mann – ja, er galt als unfähig, Nachwuchs für Harvard zu produzieren.
Robert Berry hatte Iowa verlassen und war in den Osten gezogen, nachdem seine Frau im Kindbett gestorben war. Bob Berry war ein wenig alt für einen alleinstehenden Mann, der gerade erstmals Vater geworden war – er war zweiunddreißig. Er kam dahin auf der Suche nach einer geeigneten Schule für seinen kleinen Jungen und bot dafür als Gegenwert sich selbst an. Er verkaufte seine sportpädagogischen Fähigkeiten an die beste Privatschule, die versprach, seinen Sohn aufzunehmen, [16] wenn sein Sohn in das entsprechende Alter kam. Die Dairy School war nicht gerade eine Bastion der höheren Schulbildung.
Sie mochte sich einst einen Status wie Exeter oder Andover gewünscht haben, aber sie hatte sich dann kurz nach der Jahrhundertwende für eine Zukunft der Kompromisse entschieden. Nicht weit von Boston gelegen, nahm sie ein paar Hundert Jungen auf, die von Exeter und Andover abgewiesen worden waren, und dazu weitere hundert, die man nirgends hätte aufnehmen dürfen, und sie gab ihnen einen vernünftigen Lehrplan, der nicht aus dem Rahmen fiel – und der strenger war als die meisten Lehrkräfte, die man einstellte; auch von diesen waren die meisten anderswo abgewiesen worden. Doch wenn die Dairy School unter den Privatschulen Neuenglands auch nur zweitklassig war, so war sie doch weit besser als die öffentlichen Schulen in der Gegend und insbesondere besser als die einzige High School in Dairy.
Die Dairy School war genau die richtige Schule für einen Handel wie den mit Coach Bob Berry: ein mickriges Gehalt und das Versprechen, daß sein Sohn Win die Schule (kostenfrei) besuchen konnte, wenn er erst alt genug war. Weder Coach Bob noch die Dairy School ahnten, daß mein Vater, Win Berry, einmal ein so guter Schüler werden würde. Er war in der ersten Gruppe der Bewerber, die von Harvard zugelassen wurden, aber er wurde nicht so hoch eingestuft, daß es für ein Stipendium gereicht hätte. Wäre er von einer besseren Schule als der Dairy School zu ihnen gekommen, hätte er wahrscheinlich irgendein Latein- oder Griechisch-Stipendium bekommen; er hielt sich für sprachbegabt und wollte ursprünglich Russisch studieren.
Meine Mutter, die (als Mädchen) nie die Dairy School besuchen konnte, ging auf die höhere Schule für Mädchen, eine weitere Privatschule am Ort und ebenfalls zweitklassig, aber dennoch besser als die öffentliche High School und außerdem die einzige Möglichkeit für die Eltern im Ort, die ihre Töchter ohne die Gegenwart von Jungen erzogen haben wollten. [17] Anders als die Dairy School, die Wohnheime hatte – und zu 95 Prozent Internatsschüler –, war das Thompson Female Seminary eine reine Tagesschule. Die Eltern meiner Mutter, die aus irgendeinem Grund sogar noch älter waren als Coach Bob, wünschten, daß ihre Tochter nur mit den Jungs von der Dairy School Umgang pflegte, und nicht mit den Jungs aus dem Ort – schließlich war der Vater meiner Mutter ein pensionierter Lehrer der Dairy School (alle nannten ihn nur Latein-Emeritus) und die Mutter meiner Mutter eine Arzttochter aus Brookline in Massachusetts, verheiratet mit einem Harvard-Mann; sie hoffte, ihre Tochter würde das gleiche Schicksal anstreben. Auch wenn die Mutter meiner Mutter sich nie darüber beklagte, daß ihr Harvard-Mann sie postwendend in die Provinz verfrachtet (und aus der Bostoner Gesellschaft gerissen) hatte, so hoffte sie doch, meine Mutter würde einen richtigen Dairy-School-Jungen kennenlernen und von ihm postwendend nach Boston zurückverfrachtet werden.
Meine Mutter, Mary Bates, wußte, daß mein Vater, Win Berry, nicht der richtige Dairy-Schüler war, wie er ihrer Mutter vorschwebte. Harvard hin, Harvard her – er war Coach Bobs Sohn, und wer das Studium erst mit Verzögerung aufnehmen konnte, war nicht zu vergleichen mit einem, der schon studierte oder es sich leisten konnte, umgehend damit zu beginnen.
Mutters eigene Pläne in diesem Sommer 1939 machten ihr selber kaum Freude. Ihr Vater, der alte Latein-Emeritus, hatte einen Schlaganfall hinter sich; sabbernd und wirr im Kopf und lateinische Brocken murmelnd geisterte er durch das Haus in Dairy, nutzlos umsorgt von seiner Frau, wenn nicht Mary da war und sich um beide kümmerte. Mit ihren neunzehn Jahren hatte Mary Bates Eltern, die älter waren als anderer Leute Großeltern, und aus Pflichtgefühl – wenn auch ohne Begeisterung – verzichtete sie auf ein mögliches Universitätsstudium, damit sie zuhause bleiben und sich um ihre Eltern kümmern konnte. Sie nahm sich vor, das Maschinenschreiben zu erlernen und sich im Ort Arbeit zu suchen. Dieser Job im Arbuthnot [18] war für sie in Wirklichkeit so etwas wie ein exotischer Sommerurlaub vor der Plackerei, die im Herbst auf sie zukommen würde. Mit jedem Jahr, so blickte sie in die Zukunft, würden die Jungs von der Dairy School jünger werden – bis schließlich keiner mehr daran interessiert sein würde, sie nach Boston zurückzuverfrachten.
Mary Bates war mit Winslow Berry groß geworden, doch sie hatten sich höchstens mal zugenickt oder einen kurzen Blick des gegenseitigen Erkennens ausgetauscht. »Irgendwie haben wir immer über den anderen hinausgeschaut, ich weiß nicht, warum«, erzählte Vater uns Kindern – vielleicht bis sie sich erstmals außerhalb der vertrauten Umgebung sahen, in der sie beide groß geworden waren: der Stadt Dairy und des Campus der Dairy School, die beide nichts Ganzes und nichts Halbes waren.
Als das Thompson Female Seminary meine Mutter im Juni 1939 nach bestandenem Examen entließ, stellte sie gekränkt fest, daß die Dairy School ihre Abschlußfeier bereits hinter sich hatte und geschlossen war; die interessanteren, auswärtigen Schüler waren nach Hause gefahren, und ihre zwei, drei »Beaus« (wie sie sie nannte) – von denen sie vielleicht eine Einladung zu ihrem eigenen Abschlußball hätte erhoffen können – waren fort. Sie kannte keinen der Jungs von der einheimischen High School, und als ihre Mutter Win Berry vorschlug, rannte meine Mutter aus dem Eßzimmer. »Warum denn nicht gleich Coach Bob!« schrie sie ihre Mutter an. Latein-Emeritus, ihr Vater, der ein Nickerchen gemacht hatte, hob den Kopf von der Tischplatte.
»Coach Bob?« sagte er. »Ist der Schwachkopf wieder hier, um sich den Schlitten auszuleihen?«
Coach Bob, den sie auch Iowa-Bob nannten, war kein Schwachkopf, aber für Latein-Emeritus, dessen Zeitgefühl seit dem Schlaganfall offenbar durcheinander war, gehörte der gedungene Kraftprotz aus dem mittleren Westen nicht in eine Klasse mit dem regulären Lehrkörper. Und vor Jahren, als Mary Bates und Win Berry noch Kinder gewesen waren, [19] war Coach Bob einmal gekommen, um sich einen alten Schlitten auszuleihen, von dem jeder wußte, daß er schon drei Jahre lang ungenutzt bei den Bates im Garten gestanden hatte.
»Hat der Trottel denn ein Pferd dafür?« hatte Latein-Emeritus seine Frau gefragt.
»Nein, er will ihn selber ziehen!« sagte die Mutter meiner Mutter. Und die Familie Bates stand am Fenster und sah zu, wie Coach Bob den kleinen Win auf den Kutschersitz hievte, das Ortscheit mit den Händen hinter seinem Rücken umklammerte und den Schlitten in Bewegung setzte; der gewaltige Schlitten glitt über den Schnee und hinunter auf die glatte Straße, die zu der Zeit noch von Ulmen eingefaßt war – »So schnell, als hätte ein Pferd ihn gezogen!« sagte meine Mutter immer.
Iowa-Bob war der kleinste Innenverteidiger gewesen, der jemals in der Liga der ›Großen Zehn‹ einen Stammplatz in einer Footballmannschaft gehabt hatte. Sein Einsatz war, wie er einmal zugab, so groß, daß er einen gegnerischen Angreifer biß, nachdem er ihn zu Fall gebracht hatte. An der Dairy School trainierte er zusätzlich zu seinen Pflichten als Football-Coach auch noch die Kugelstoßer und all diejenigen, die sich fürs Gewichtheben interessierten. Doch für die Familie Bates war Iowa-Bob zu unkompliziert, als daß man ihn hätte ernst nehmen können: ein komischer, untersetzter Kraftmensch, dessen Haare so kurz geschnitten waren, daß er glatzköpfig wirkte; und ständig sah man ihn durch den Ort traben – »gekrönt mit einem Schweißband von abscheulicher Farbe«, wie Latein-Emeritus zu sagen pflegte.
Da Coach Bob noch lange lebte, war er von den Großeltern der einzige, an den wir Kinder uns erinnern konnten.
»Was ist das für ein Geräusch?« fragte Frank einmal beunruhigt mitten in der Nacht, nachdem Bob zu uns gezogen war.
Was Frank hörte und was wir danach noch oft hören sollten, waren die knarrenden Liegestütze und die ächzenden Sit-ups des alten Mannes auf seinem Fußboden (unserer Decke) über uns.
[20] »Das ist Iowa-Bob«, flüsterte Lilly einmal. »Er möchte ewig in Form bleiben.«
Jedenfalls war es nicht Win Berry, der Mary Bates zu ihrem Abschlußball führte. Der Pfarrer der Familie, der erheblich älter war als meine Mutter, aber ledig, war so nett, sie einzuladen. »Es wurde ein langer Abend«, erzählte uns Mutter. »Ich war niedergeschlagen. Ich war in meinem eigenen Heimatort eine Außenseiterin. Doch nur wenig später war es eben dieser Pfarrer, der euren Vater und mich traute!«
Das hätten sie sich nicht träumen lassen, als sie zusammen mit den anderen Aushilfskräften, die für die Sommermonate eingestellt wurden, auf dem unwirklichen Grün des verwöhnten Rasens am Arbuthnot-by-the-Sea einander »vorgestellt« wurden. Selbst die Vorstellung des Personals war dort ein formeller Akt. Ein Mädchen wurde aufgerufen aus einer Reihe anderer Mädchen und Frauen; und aus einer Reihe von Jungen und Männern kam ihr ein ebenfalls namentlich aufgerufener Junge entgegen wie bei einer Aufforderung zum Tanz.
»Das ist Mary Bates, die soeben ihren Abschluß am Thompson Female Seminary gemacht hat! Sie wird im Hotel und beim Betreuen der Gäste aushelfen. Sie segelt gerne, nicht wahr, Mary?«
Kellner und Kellnerinnen, die Rasenpfleger und Caddies, die Bootshilfen und das Küchenpersonal, Mädchen für alles, Empfangsdamen, Zimmermädchen, die Leute aus der Wäscherei, ein Klempner und die Mitglieder der Band. Bälle waren sehr beliebt; die Hotels in den weiter südlich gelegenen Badeorten – wie das Weirs in Laconia und Hampton Beach – lockten im Sommer einige der berühmten Bands an. Doch das Arbuthnot-by-the-Sea hatte seine eigene Band, die auf eine kalte, für Maine typische Art den Sound der Big-Bands nachahmte.
»Und das ist Winslow Berry, der es mag, wenn man ihn Win nennt! Nicht wahr, Win? Er geht im Herbst auf die Harvard University!«
[21] Aber mein Vater blickte geradeaus auf meine Mutter, die lächelte und das Gesicht abwandte – seinetwegen ebenso verlegen wie ihretwegen. Sie hatte noch nie bemerkt, wie gut er wirklich aussah; er war so robust gebaut wie Coach Bob, doch durch die Dairy School hatte er sich die Manieren, die Kleidung und die Art Frisur angeeignet, wie sie in Boston (und nicht in Iowa) Mode waren. Er sah aus, als gehe er schon jetzt auf die Harvard University, was immer das damals für meine Mutter bedeutet haben mag. »Ich weiß nicht, was es bedeutete«, erzählte sie uns Kindern. »Irgendwie kultiviert, nehme ich an. Er sah wie ein Junge aus, der trinken kann, ohne daß ihm schlecht davon wird. Er hatte die dunkelsten, strahlendsten Augen, und wenn man ihn ansah, hatte man immer das Gefühl, daß auch er einen gerade angesehen hatte – aber man konnte ihn nie dabei ertappen.«
Diese Fähigkeit blieb meinem Vater sein ganzes Leben erhalten; wir hatten in seiner Gegenwart immer das Gefühl, daß er uns sorgfältig und liebevoll beobachtet hatte – selbst wenn er, sobald wir hinblickten, offenbar in eine andere Richtung sah, träumte oder Pläne schmiedete, angestrengt nachdachte oder in Gedanken ganz weit weg war. Selbst als er wirklich blind war gegenüber unseren Plänen und Taten, schien er uns noch zu »beobachten«. Es war eine merkwürdige Verbindung von Zurückgezogenheit und Wärme – und meine Mutter spürte sie zum ersten Mal auf dieser leuchtend grünen Rasenzunge, eingerahmt vom grauen Meer von Maine.
VORSTELLUNG DES PERSONALS: 16.00 UHR
So erfuhr sie also, daß er da war.
Als die Vorstellungen vorbei waren und das Personal angewiesen wurde, sich für die erste Cocktailstunde, das erste Dinner und die erste Abendunterhaltung bereitzumachen, fiel der Blick meines Vaters auf meine Mutter, und er kam zu ihr herüber.
»Ich kann mir Harvard erst in zwei Jahren leisten«, war das erste, was er zu ihr sagte.
[22] »Das dachte ich mir«, sagte meine Mutter. »Aber ich finde es wunderbar, daß sie dich genommen haben«, fügte sie rasch hinzu.
»Warum sollten sie mich nicht nehmen?« fragte er.
Mary Bates zuckte mit den Achseln, eine Geste, die sie sich angewöhnt hatte, weil sie ihren Vater nie verstand (da er seit dem Schlaganfall höchst undeutlich redete). Sie trug weiße Handschuhe und einen weißen Hut mit einem Schleier; sie war schon für die erste Gartenparty angezogen, bei der sie servieren sollte, und mein Vater staunte, wie hübsch ihr Haar sich an ihren Kopf schmiegte – es war hinten länger, vom Gesicht aus nach hinten gekämmt und irgendwie an Hut und Schleier auf eine Art und Weise festgemacht, die so einfach und doch geheimnisvoll war, daß mein Vater anfing, sich Gedanken über meine Mutter zu machen.
»Was tust du im Herbst?« fragte er sie.
Wieder zuckte sie mit den Achseln, aber vielleicht sah mein Vater in den Augen hinter dem weißen Schleier, daß meine Mutter hoffte, vor der Zukunft bewahrt zu werden, die sie auf sich zukommen sah.
»Wir waren nett zueinander bei dieser ersten Begegnung, das weiß ich noch genau«, erzählte uns Mutter. »Wir waren beide allein, in einer neuen Umgebung, und wir wußten Dinge voneinander, die sonst niemand wußte.« Damals war das wohl bereits ziemlich intim.
»Zu der Zeit war man überhaupt nicht intim«, sagte Franny einmal. »Nicht mal Leute, die sich liebten, furzten voreinander.«
Und Franny wirkte überzeugend – ich glaubte ihr oft. Selbst mit der Sprache war sie ihrer Zeit voraus – als wüßte sie immer, wo es langging; und ich konnte nie ganz Schritt mit ihr halten.
An diesem ersten Abend im Arbuthnot spielte die hauseigene Band ihre Imitation des Big-Band-Sounds, aber es waren sehr wenige Gäste da, und noch weniger Tänzer; die Saison lief gerade erst an, und in Maine läuft sie langsam an – [23] es ist so kalt dort, selbst im Sommer. Der Ballsaal hatte einen blank gewienerten Holzboden, der über die offenen, zum Meer hin gelegenen Veranden hinauszugehen schien. Wenn es regnete, mußte man Markisen über die Veranden herunterlassen, da der Ballsaal ringsum so offen war, daß der Regen hereingeweht wurde und die gebohnerte Tanzfläche naßmachte.
An diesem ersten Abend, als Bonbon für das Personal – und weil so wenige Gäste da waren, von denen sowieso die meisten zu Bett gegangen waren, um sich zu wärmen – spielte die Band länger als sonst. Mein Vater und meine Mutter und die anderen Angestellten durften eine Stunde oder länger tanzen. Meine Mutter erinnerte sich immer daran, daß der Kronleuchter im Ballsaal kaputt war – er verbreitete nur einen matten Schimmer; unregelmäßige Farbtupfen sprenkelten die Tanzfläche, die in dem kümmerlichen Licht so weich und glatt wirkte, daß der Boden die Beschaffenheit einer Kerze zu haben schien.
»Ich bin froh, daß jemand hier ist, den ich kenne«, flüsterte meine Mutter meinem Vater zu, der sie ziemlich förmlich zum Tanz aufgefordert hatte und sehr steif mit ihr tanzte.
»Aber du kennst mich doch gar nicht«, sagte Vater.
»Das«, erzählte uns Vater, »habe ich nur gesagt, damit eure Mutter wieder mit den Achseln zuckte.« Und als sie es tatsächlich tat und sich dachte, was für ein unendlich schwieriger – und vielleicht überlegener – Gesprächspartner er doch sei, da war mein Vater überzeugt, daß er sich nicht nur zufällig zu ihr hingezogen fühlte.
»Aber ich möchte, daß du mich kennst«, sagte er zu ihr, »und ich möchte auch dich kennenlernen.«
(»Puh«, sagte Franny immer an dieser Stelle der Erzählung.)
Ein Motorengeräusch übertönte die Band, und viele hörten zu tanzen auf, um nachzusehen, was das für ein Lärm war. Meine Mutter war für die Unterbrechung dankbar: sie wußte nicht, was sie Vater antworten sollte. Sie gingen, ohne sich an den Händen zu halten, auf die Veranda hinaus, die den Blick [24] auf den Bootsanlegeplatz freigab; im Licht der Lampen, die dort an Freileitungen schwankten, sahen sie einen Hummerfänger, der gerade in See stach, nachdem er offenbar ein dunkles Motorrad an Land abgesetzt hatte, das nun aufheulend auf Touren gebracht wurde – vielleicht sollte so die feuchte salzige Luft aus seinen Röhren und Leitungen geblasen werden. Der Fahrer schien darauf bedacht, erst das richtige Motorengeräusch zu bekommen, bevor er den Gang einlegte. Das Motorrad hatte einen Beiwagen, und darin saß eine dunkle Gestalt, plump und reglos, wie ein bis zur Unbeholfenheit vermummter Mann.
»Es ist Freud«, sagte jemand aus dem Personal. Und dann riefen auch andere, ältere Angestellte aus: »Ja, Freud! Freud und State o’ Maine!«
Meine Mutter und mein Vater dachten beide, »State o’ Maine« sei der Markenname des Motorrads. Doch dann hörte die Band zu spielen auf, da niemand mehr tanzte, und auch von den Musikern kamen einige auf die Veranda heraus.
»Freud!« riefen die Leute.
Mein Vater erzählte uns immer, ihn habe die Vorstellung amüsiert, der Freud werde im nächsten Augenblick mit dem Motorrad an die Veranda herangefahren kommen und sich dann im Licht der hoch oben hängenden Lampen, die den makellosen Kiesweg säumten, dem Personal vorstellen. Hier kommt also Sigmund Freud, dachte Vater; er war gerade dabei, sich zu verlieben – da war alles möglich.
Aber es war natürlich nicht der Freud; es war das Jahr, in dem der Freud starb. Dieser Freud war ein Wiener Jude, der ein Bein nachzog und dessen Namen keiner aussprechen konnte; seit 1933, als er seine österreichische Heimat verlassen hatte, arbeitete er den Sommer über im Arbuthnot, und dort hatte er den Namen Freud verdient wegen seiner Fähigkeit, bekümmerte Angestellte und Gäste zu trösten. Er war ein Entertainer, und da er aus Wien stammte und Jude war, fanden es einige der eigenartigen, fremden Geister im Arbuthnot-by-the-Sea ganz natürlich, ihn »Freud« zu nennen. Der Name [25] schien erst recht angemessen, als Freud im Sommer 1937 mit einem neuen Motorrad angereist kam, einer Indian mit einem Beiwagen, den er eigenhändig gebaut hatte.
»Wer darf hinten sitzen, Freud, und wer kommt in den Beiwagen?« neckten ihn die Mädchen vom Hotel – denn mit den schrecklichen Pockennarben im Gesicht (den »alten Furunkellöchern«, wie er sie nannte) war er so häßlich, daß keine Frau ihn je lieben konnte.
»Mit mir fährt niemand außer State o’ Maine«, sagte Freud, und er löste das Segeltuch-Verdeck über dem Beiwagen. Im Beiwagen saß ein Bär, schwarz wie Ruß, dicker vollgepackt mit Muskeln als selbst Iowa-Bob, wachsamer als jeder streunende Hund. Freud hatte den Bären aus einem Holzfällercamp im Norden von Maine herausgeholt, und er hatte die Direktion des Arbuthnot überzeugt, daß er das Biest dressieren und mit ihm die Hotelgäste unterhalten konnte. Als Freud aus Österreich emigriert und mit dem Schiff von New York aus nach Boothbay Harbour gefahren war, hatte er Arbeitspapiere bei sich, die seine beruflichen Fähigkeiten in Großbuchstaben schilderten: ERFAHRUNG IN DRESSUR UND PFLEGE VON TIEREN. GUTE HANDWERKLICHE BEGABUNG. Da keine Tiere verfügbar waren, reparierte er Fahrzeuge für das Arbuthnot und mottete sie fachmännisch für die Monate ein, in denen keine Touristen kamen; er selbst verbrachte diese Zeit als Mechaniker in den Holzfällercamps und Papierfabriken.
In dieser ganzen Zeit hatte er, wie er später meinem Vater erzählte, nach einem Bären gesucht. Bären, sagte Freud, seien eine Goldgrube.
Als mein Vater den Mann unterhalb der Veranda vom Motorrad steigen sah, wunderte er sich über die Hochrufe der altgedienten Hotelangestellten; als Freud seinem Passagier aus dem Beiwagen half, war der erste Gedanke meiner Mutter, es sei eine uralte Frau – möglicherweise die Mutter des Motorradfahrers (eine beleibte, in eine dunkle Decke gehüllte Frau).
»State o’ Main!« brüllte jemand in der Band und ließ ein Trompetensignal hören.
[26] Meine Mutter und mein Vater sahen, wie der Bär anfing zu tanzen. Auf den Hinterbeinen tanzte er von Freud weg; er ließ sich auf alle viere fallen und lief ein, zwei Runden um das Motorrad herum. Freud stand auf dem Motorrad und klatschte in die Hände. Der Bär namens State o’ Maine fing ebenfalls an zu klatschen. Als meine Mutter spürte, daß mein Vater ihre Hand in die seine nahm – sie gehörten nicht zu denen, die klatschten –, wehrte sie sich nicht; sie erwiderte den Druck seiner Hand, und beide ließen den massigen Bären, der vor ihnen tanzte, nicht eine Sekunde aus den Augen, und meine Mutter dachte: Ich bin neunzehn, und mein Leben fängt gerade erst an.
»Hattest du wirklich das Gefühl?« fragte Franny immer.
»Alles ist relativ«, sagte Mutter dann. »Aber ich hatte wirklich das Gefühl, ja: daß mein Leben anfing.«
»Heiliger Strohsack«, sagte Frank.
»War ich es, den du mochtest, oder war es der Bär?« fragte Vater.
»Red keinen Unsinn«, sagte Mutter. »Es war alles zusammen. Es war der Anfang meines Lebens.«
Und dieser Satz hatte dieselbe, uns völlig in Bann schlagende Qualität wie Vaters Satz über den Bären (»Er war zu alt, um noch ein Bär zu sein«). Ich fühlte mich vollkommen in die Geschichte hineingezogen, wenn meine Mutter sagte, dies sei der Anfang ihres Lebens gewesen; es war, als könnte ich sehen, wie in Mutters Leben – wie beim Motorrad – nach langem Warmlaufen endlich der Gang einrastete und es sich schlingernd in Bewegung setzte.
Und was muß sich mein Vater vorgestellt haben, als er nach ihrer Hand griff, nur weil ein Hummerfänger einen Bären in sein Leben brachte?
»Ich wußte, es würde mein Bär sein«, sagte Vater zu uns. »Ich weiß nicht, warum.« Und dieses Wissen – daß er etwas sah, was einmal ihm gehören würde – war es vielleicht auch, das ihn die Hand nach meiner Mutter ausstrecken ließ.
Sie sehen, warum wir Kinder so viele Fragen stellten. Es ist [27] eine vage Geschichte – von der Sorte, wie Eltern sie am liebsten erzählen.
An diesem ersten Abend, an dem sie Freud und seinen Bären sahen, küßten sich mein Vater und meine Mutter nicht einmal. Als die Band Schluß machte und das Dienstpersonal sich in die Männer- und Frauenschlafräume zurückzog – es waren die etwas weniger eleganten Gebäude abseits vom Hotel –, da gingen mein Vater und meine Mutter hinunter zum Anlegeplatz und blickten aufs Wasser hinaus. Falls sie überhaupt miteinander redeten, so erzählten sie uns Kindern jedenfalls nie, was. Es muß dort ein paar tolle Segelboote gegeben haben, und in Maine waren selbst an privaten Landestegen immer ein, zwei Hummerfänger festgemacht. Wahrscheinlich lag dort auch ein Beiboot, und mein Vater schlug vor, es für eine kleine Ruderpartie auszuleihen; meine Mutter lehnte das wahrscheinlich ab. Fort Popham war damals eine Ruine, nicht das attraktive Ausflugsziel von heute; sollte es aber dort am Ufer irgendeine Beleuchtung gegeben haben, hätte man sie vom Arbuthnot-by-the-Sea gesehen. Außerdem gab es in der breiten Mündung des Kennebec bei Bay Point eine Glockenboje und ein Leuchtfeuer, und es könnte schon 1939 einen Leuchtturm auf Stage Island gegeben haben – mein Vater konnte sich nie genau erinnern.
Im allgemeinen muß jedoch das Ufer damals im Dunkel gelegen haben, so daß mein Vater und meine Mutter die weiße Schaluppe, die auf sie zugesegelt kam – aus Boston oder New York: jedenfalls aus dem Südwesten, der zivilisierten Welt – deutlich sehen und ungestört so lange betrachten konnten, bis sie beim Landesteg längsseits kam. Mein Vater fing das Tau auf; er erzählte uns immer, daß er der Panik nahe war, da er nicht wußte, ob er es irgendwo festbinden oder daran ziehen sollte, als der Mann in der weißen Smokingjacke, den schwarzen Hosen und den schwarzen Halbschuhen lässig von Bord ging, die Leiter zum Landesteg erklomm und meinem Vater das Tau abnahm. Mühelos dirigierte der Mann die Schaluppe [28] um das Ende des Stegs herum, bevor er das Tau zurückwarf. »Alles klar!« rief er dann zu dem Boot hinüber. Meine Mutter und mein Vater behaupteten, sie hätten niemanden an Bord gesehen, doch die Schaluppe glitt davon, hinaus aufs Meer – ihre gelben Lichter entschwanden wie versinkendes Glas –, und der Mann in der Smokingjacke wandte sich meinem Vater zu und sagte: »Vielen Dank für die Hilfe. Sind Sie neu hier?«
»Ja, wir sind beide neu«, sagte Vater.
Die makellose Kleidung des Mannes zeigte keine Spuren von der Bootsfahrt. Dafür, daß der Sommer erst begann, war der Mann bereits sehr braun, und er bot meiner Mutter und meinem Vater Zigaretten an aus einem eleganten, flachen schwarzen Etui. Sie rauchten nicht. »Ich hatte gehofft, rechtzeitig zum letzten Tanz zu kommen«, sagte der Mann, »aber die Band hat wohl schon Schluß gemacht?«
»Ja«, sagte meine Mutter. Mit ihren neunzehn Jahren hatten meine Mutter und mein Vater noch nie jemand wie diesen Mann gesehen. »Er hatte ein geradezu obszönes Selbstvertrauen«, erzählte uns meine Mutter.
»Er hatte Geld«, sagte Vater.
»Sind Freud und der Bär angekommen?« fragte der Mann.
»Ja«, sagte Vater. »Und das Motorrad.«
Der Mann in der weißen Smokingjacke rauchte hungrig, doch nicht ohne Eleganz, während er auf das dunkle Hotel blickte. Nur in ganz wenigen Zimmern brannte noch Licht, aber die zur Beleuchtung der Wege, Hecken und Anlegeplätze aufgehängten Lampen erhellten das braune Gesicht des Mannes und machten seine Augen schmal, und sie spiegelten sich in der schwarzen, bewegten See. »Freud ist nämlich Jude«, sagte der Mann. »Nur gut, daß er Europa rechtzeitig den Rücken gekehrt hat. In Europa wird es nicht zum Aushalten sein für Juden. Das weiß ich von meinem Makler.«
Diese ernste Neuigkeit muß tiefen Eindruck auf meinen Vater gemacht haben, der es kaum erwarten konnte, Harvard – und die Welt – zu erobern, und der noch nicht ahnte, daß sich ein Krieg für längere Zeit zwischen ihn und seine [29] Pläne schieben würde. Der Mann in der weißen Smokingjacke veranlaßte meinen Vater, zum zweiten Mal an diesem Abend nach der Hand meiner Mutter zu greifen, und auch diesmal erwiderte sie seinen Händedruck, während sie höflich darauf warteten, daß der Mann seine Zigarette zu Ende rauchte oder Gutenacht sagte oder weiterredete.
Doch er sagte lediglich: »Und die Welt wird nicht zum Aushalten sein für Bären!« Seine Zähne waren so weiß wie seine Smokingjacke, als er lachte, und bei dem Wind hörten mein Vater und meine Mutter das Zischen seiner Zigarette beim Auftreffen auf den Wellen nicht – ebensowenig wie die Schaluppe, die wieder längsseits kam. Plötzlich ging der Mann auf die Leiter zu, und erst als er flink die Sprossen hinabstieg, merkten Mary Bates und Win Berry, daß die weiße Schaluppe unter die Leiter glitt und daß der Mann genau im richtigen Augenblick unten war, um an Deck zu springen. Kein Tau wurde angerührt. Die Schaluppe, die keine Segel gesetzt hatte, sondern sonstwie angetrieben langsam tuckerte, drehte ab nach Südwesten (wieder nach Boston oder New York) – ohne Angst vor der Nacht –, und was ihnen der Mann in der weißen Smokingjacke zuletzt noch zurief, verlor sich im lauten Blubbern des Motors, im Klatschen des Schiffsrumpfes auf dem Wasser und im Wind, der die Möwen vorbeitrug (wie gefiederte Party-Hüte, die auf den Wellen tanzten, von Betrunkenen hineingeworfen). Für den Rest seines Lebens wünschte sich mein Vater, er hätte gehört, was der Mann damals zu sagen hatte.
Es war Freud, der meinem Vater sagte, er habe den Besitzer des Arbuthnot-by-the-Sea gesehen.
»Ja, das war er und kein anderer«, sagte Freud. »So kommt er immer, nur ein paarmal jeden Sommer. Einmal hat er mit einem der Mädchen getanzt, die hier arbeiten – den letzten Tanz; wir haben sie nie wieder gesehen. Eine Woche danach kam einer und holte ihre Sachen ab.«
»Wie heißt er eigentlich?« fragte Vater.
[30] »Vielleicht ist er Arbuthnot persönlich, wer weiß?« sagte Freud. »Irgendwer sagte, er sei Holländer, aber seinen Namen hab ich nie gehört. Über Europa weiß er allerdings Bescheid – das kann ich Ihnen sagen!«
Mein Vater brannte darauf, ihn nach den Juden zu fragen; er spürte, wie ihn meine Mutter sanft in die Rippen stieß. Sie saßen auf einem der Grüns auf dem Golfplatz lange nach Feierabend – wenn das Grün im Mondlicht blau wurde und das rote Tuch schlaff an dem im Loch steckenden Flaggenstock hing. Der Bär namens State o’ Maine war ohne Maulkorb und versuchte gerade, sich an dem dünnen Flaggenstock zu scheuern.
»Komm her, Dummkopf!« sagte Freud zu dem Bären, doch der Bär beachtete ihn nicht.
»Lebt Ihre Familie immer noch in Wien?« fragte meine Mutter Freud.
»Meine Schwester ist meine ganze Familie«, sagte er. »Und ich hab schon lange nichts mehr von ihr gehört, im März war es ein Jahr.«
»Und im März war es ein Jahr«, sagte mein Vater, »daß die Nazis Österreich geschnappt haben.«
»Als ob ich das nicht wüßte!« sagte Freud.
State o’ Maine, dem der Flaggenstock zu wenig Widerstand entgegensetzte, als daß er sich richtig daran hätte scheuern können, schlug in seiner Enttäuschung den Flaggenstock aus dem Loch, so daß er über das gepflegte Grün wirbelte.
»Jessas Gott«, sagte Freud. »Er gräbt noch Löcher in den Golfplatz, wenn wir nicht anderswo hingehen.« Mein Vater steckte die alberne, mit einer »18« versehene Flagge in das Loch zurück. Meine Mutter hatte den Abend frei bekommen und mußte nicht servieren, darum trug sie noch die Zimmermädchen-Uniform; sie rannte dem Bären voraus und rief seinen Namen.
Der Bär rannte nur selten. Es war eher ein Watscheln – und er entfernte sich nie sehr weit von dem Motorrad. Er rieb sich so oft am Motorrad, daß die rote Farbe am Schutzblech ebenso [31] glänzte wie die Chromteile, und der Beiwagen war vorne, wo er spitz zulief, eingedrückt, weil der Bär ständig dagegendrückte. Er hatte sich oft an den Auspuffrohren verbrannt, wenn er sich, kaum daß die Maschine zum Stillstand kam, daran reiben wollte; so kam es, daß ominöse Fetzen verkohlten Bärenfells an den Auspuffrohren klebten – als sei das Motorrad selbst (früher einmal) ein Pelztier gewesen. Entsprechend hatte State o’ Maine zerschlissene Stellen in seinem Fell, wo der Pelz fehlte oder zu bräunlichen Klumpen versengt war – Flecken, die die stumpfe Farbe getrockneten Seetangs hatten.
Wofür der Bär dressiert worden war, blieb allen ein Rätsel – selbst Freud schien es nicht genau zu wissen.
Ihre gemeinsame Nummer, die sie am späten Nachmittag vor den Gartenparties zeigten, war eine größere Anstrengung für das Motorrad und Freud als für den Bären. Runde um Runde fuhr Freud im Kreis herum, der Bär im Beiwagen, das Verdeck abgenommen – der Bär wie ein Pilot in einem offenen Cockpit ohne Instrumente. State o’ Maine trug in der Öffentlichkeit meistens seinen Maulkorb; es war ein Ding aus rotem Leder, das meinen Vater an die Masken erinnerte, mit denen Lacrossespieler manchmal ihr Gesicht schützen. Der Maulkorb ließ den Bären kleiner erscheinen, drückte sein ohnehin schon runzliges Gesicht noch mehr zusammen und verlängerte seine Schnauze, so daß er mehr denn je einem übergewichtigen Hund glich.
Runde um Runde fuhren sie, und unmittelbar bevor die gelangweilten Gäste ihre Gespräche wiederaufnehmen und diese Kuriosität sich selbst überlassen wollten, hielt Freud das Motorrad an, stieg bei laufendem Motor ab und trat an den Beiwagen, wo er den Bären mit einem deutschen Wortschwall piesackte. Das fanden die Zuhörer dann komisch, vor allem, weil es komisch war, wenn jemand deutsch redete, aber Freud ließ nicht locker, bis der Bär langsam aus dem Beiwagen kletterte und auf das Motorrad stieg, um den Platz des Fahrers einzunehmen; er legte seine schweren Pfoten auf die [32] Lenkstange, doch seine kurzen Hinterbeine reichten nicht bis zu den Fußrasten oder den Hebeln für die Hinterradbremse. Freud stieg in den Beiwagen und befahl dem Bären loszufahren.
Nichts passierte. Freud saß im Beiwagen und zeterte, weil sie nicht vom Fleck kamen; der Bär hielt sich wild entschlossen an der Lenkstange fest, wippte auf dem Sattel und strampelte mit den Beinen, als gelte es, Wasser zu treten.
»State o’ Maine!« rief dann mal einer aus der Menge. Und der Bär nickte, mit einer Art verlegener Würde, und blieb, wo er war.
Mit deutschen Flüchen, die die Leute so gerne hörten, stieg Freud aus dem Beiwagen und versuchte, dem Bären zu zeigen, wie man ein Motorrad in Gang setzt.
»Kupplung!« sagte Freud und hielt die große Bärenpfote über den Kupplungshebel. »Gas!« schrie er und brachte mit der anderen Pfote den Motor auf Touren. Freuds 1937er Indian hatte den Schalthebel neben dem Benzintank, so daß der Fahrer einen beängstigenden Augenblick lang die Hand vom Lenker nehmen mußte, um einen Gang einzulegen oder in einen anderen Gang zu schalten. »Schalten!« schrie Freud und knallte den ersten Gang rein.
Worauf der Bär auf dem Motorrad über den Rasen rollte, mit wenig Gas und gleichbleibend leise brummendem Motor; er wurde nicht schneller und nicht langsamer, fuhr aber entschlossen auf die geschniegelten, elegant gekleideten Leute zu – die Männer, selbst wenn sie eben noch Sport getrieben hatten, trugen Hüte; und auch die männlichen Gäste des Arbuthnot-by-the-Sea trugen zum Schwimmen Badeanzüge, obwohl sich in den dreißiger Jahren die Badehosen für Männer immer mehr durchsetzten. Doch nicht in Maine. Die Jacketts – ob für Damen oder Herren – hatten wattierte Schultern; die Herren trugen weißen Flanell, weit und bauschig; die sportliche Dame trug zweifarbige Halbschuhe mit kurzen Söckchen; die feine Dame legte Wert auf eine natürliche Taille und entschied sich gern für Puffärmel. Es gab ein buntes Durcheinander, als der Bär – verfolgt von Freud – geradewegs auf sie zusteuerte.
[33] »Nein! Nein! Du doofer Bär!«
Und State o’ Maine, dessen Miene unter dem Maulkorb den Gästen verborgen blieb, fuhr weiter, ohne die Richtung wesentlich zu ändern – eine ungeschlachte Gestalt, die da über der Lenkstange hing.
»Du dummes Vieh!« schrie Freud.
Der Bär fuhr davon – immer geradewegs durch ein offenes Zelt, doch ohne eine stützende Stange zu rammen oder an den weißen Leinentüchern hängenzubleiben, die über die Tische und die Bar gebreitet waren. Kellner verfolgten ihn über den kostbaren Rasen. Von den Tennisspielern kamen ermunternde Zurufe, doch wenn dann der Bär in ihre Richtung fuhr, räumten sie das Feld.
Ob der Bär nun wußte, was er tat, oder nicht: jedenfalls landete er nie in einer Hecke, und er fuhr nie zu schnell; es kam nie vor, daß er zum Anlegeplatz hinunterfuhr und versuchte, an Bord einer Yacht oder eines Hummerfängers zu gelangen. Und Freud holte ihn immer ein, wenn es so aussah, als hätten die Gäste genug von dem Schauspiel. Freud setzte sich dann hinter den Bären aufs Motorrad; er drückte sich an den breiten Rücken und steuerte das Tier und die 37er Indian zurück zu der Party.
»Na gut, er hat noch ein paar Mucken!« rief er dann jeweils der Menge zu. »Noch ein paar Haare in der Suppe. Aber das kriegen wir hin. Nichts von Bedeutung. Das begreift er schnell!«
Das also war die Nummer. Sie änderte sich nie. Das war alles, was Freud State o’ Maine beigebracht hatte; er behauptete, mehr könne der Bär nicht lernen.
»Er ist kein besonders schlauer Bär«, sagte Freud zu Vater. »Er war schon zu alt, als ich ihn kriegte. Ich dachte, es würde schon noch werden. Er war ganz klein, als sie ihn zähmten. Aber bei den Holzfällern lernte er nichts. Diese Leute haben doch keine Manieren, das sind selber nur Tiere. Sie hielten sich den Bären als Haustier, sie gaben ihm so viel zu fressen, daß er nicht unangenehm wurde, aber sonst ließen sie ihn einfach [34] faulenzen und versacken – wie sich selbst. Ich glaube, die Holzfäller sind schuld, daß dieser Bär Alkoholprobleme hat. Heute trinkt er zwar nicht – ich erlaube es ihm nicht –, aber er benimmt sich wie einer, der gerne trinken würde, verstehen Sie?«
Vater verstand nicht. Er fand Freud großartig, und die 37er Indian war das schönste Motorrad, dem er je begegnet war. An freien Tagen fuhr mein Vater mit meiner Mutter die Küstenstraßen entlang, und beide drängten sich in der kühlen salzigen Luft eng aneinander, aber sie waren nie allein: das Motorrad war nicht vom Arbuthnot wegzufahren, ohne daß State o’ Maine im Beiwagen saß. Der Bär geriet völlig außer sich, wenn das Motorrad ohne ihn wegfahren wollte; es war der einzige Grund, der den alten Bären zum Laufen bringen konnte. Ein Bär kann überraschend schnell laufen.
»Los doch, versuchen Sie mal auszureißen«, sagte Freud zu Vater. »Aber ich rate Ihnen, erst mal zu schieben, den Fahrweg hinunter bis zur Straße, und erst dort den Motor anzulassen. Und lassen Sie beim ersten Versuch die arme Mary lieber hier. Sehen Sie zu, daß Sie gut vermummt sind, denn wenn er Sie einholt, wird er Sie ausgiebig betatschen. Er wird nicht wütend sein – nur aufgeregt. Los, versuchen Sie’s. Aber wenn Sie sich nach ein paar Kilometern umblicken und er läuft Ihnen immer noch nach, müssen Sie anhalten und ihn zurückbringen. Sonst bekommt er einen Herzschlag, oder er verirrt sich – er ist dermaßen dumm.
Er kann weder jagen noch sonstwas. Er ist hilflos, wenn man ihn nicht füttert. Er ist ein Spielzeug, kein richtiges Tier mehr. Und er ist nur etwa doppelt so klug wie ein Deutscher Schäferhund. Und das ist nun mal zu wenig für die Welt.«
»Die Welt?« fragte Lilly dann immer mit staunenden Augen.
Doch im Sommer 39 war die Welt für meinen Vater neu und herzlich, mit den scheuen Berührungen meiner Mutter, dem Röhren der 37er Indian und dem starken Geruch von State o’ Maine, den kalten Nächten von Maine und der Weisheit Freuds.
[35] Daß er hinkte, war natürlich die Folge eines Motorradunfalls; das Bein war unsachgemäß eingerichtet worden. »Diskriminierung«, behauptete Freud.
Freud war klein, kräftig, wendig wie ein Tier, von einer seltsamen Hautfarbe (wie eine grüne, durch langsames Kochen fast braun gewordene Olive). Er hatte glänzende schwarze Haare, die in einem merkwürdigen Flecken auch auf seiner Wange wuchsen, unmittelbar unter dem einen Auge: es war ein seidenweiches Haarpolster, größer als die meisten Leberflecke, mindestens so groß wie eine mittlere Münze, auffälliger als jedes Muttermal, und es wirkte in Freuds Gesicht so natürlich wie eine Napfschnecke an einer Felsklippe in Maine.
»Es kommt daher, daß mein Gehirn so riesig ist«, sagte Freud zu Mutter und Vater. »Mein Gehirn läßt auf dem Schädel nicht genug Platz für Haare, drum werden die Haare eifersüchtig und sprießen dort, wo sie eigentlich nicht hingehören.«
»Vielleicht war es ein Stück Bärenpelz«, sagte Frank einmal allen Ernstes, und Franny kreischte und schlang mir so heftig die Arme um den Hals, daß ich mir auf die Zunge biß.
»Frank ist wirklich zu komisch!« rief sie. »Zeig uns mal deinen Bärenpelz, Frank.« Der arme Frank näherte sich damals der Pubertät; er war für sein Alter schon weit entwickelt, und das war ihm sehr peinlich. Aber nicht einmal Franny konnte uns von dem hypnotisierenden Zauber Freuds und seines Bären ablenken; wir Kinder waren ebenso in deren Bann wie mein Vater und meine Mutter damals, im Sommer 1939.
An manchen Abenden, so erzählte uns Vater, begleitete er Mutter zu ihrer Unterkunft und gab ihr einen Gutenachtkuß. Wenn Freud schon schlief, kettete Vater State o’ Maine vom Motorrad los und nahm ihm den Maulkorb ab, damit er fressen konnte. Dann ging mein Vater mit dem Bären zum Fischen. Dicht über dem Motorrad hing eine Plane auf Pfählen, die wie ein offenes Zelt State o’ Maine vor dem Regen schützte; die Plane bildete am Boden eine Tasche, und darin [36] bewahrte mein Vater für solche Gelegenheiten sein Angelzeug auf.
Die beiden fuhren immer zum Pier von Bay Point; er lag weiter entfernt als all die Hotelpiers und wimmelte von Hummerfängern und kleinen Fischerbooten. Vater und State o’ Maine setzten sich dann am Ende des Stegs hin, und Vater angelte mit einem Blinker am Haken nach Steinköhlern. Mit den lebenden Steinköhlern fütterte er dann State o’ Maine. Nur einmal kam es zum Streit zwischen ihnen. Gewöhnlich fing Vater drei oder vier Steinköhler; dann hatten beide – Vater und State o’ Maine – genug, und sie fuhren wieder nach Hause. Doch eines Abends blieben die Steinköhler aus, und als nach einer Stunde immer noch keiner angebissen hatte, stand Vater auf, um den Bären zu seinem Maulkorb und seiner Kette zurückzubringen.
»Komm jetzt«, sagte er. »Heute sind keine Fische im Meer.«
State o’ Maine rührte sich nicht von der Stelle.
»Nun komm schon!« sagte Vater. Doch State o’ Maine erlaubte auch nicht, daß Vater wegging.
»Earl!« brummte der Bär. Vater setzte sich und angelte weiter. »Earl!« beschwerte sich State o’ Maine. Vater warf wieder und wieder die Angel aus, er nahm einen anderen Blinker, er versuchte alles. Hätte er unten im Schlick nach Ringelwürmern graben können, dann hätte er den richtigen Köder gehabt, um mit der Angel in die Tiefe zu gehen und Schollen zu fangen, doch wenn Vater auch nur den Versuch machte wegzugehen, wurde State o’ Maine sofort ungemütlich. Vater dachte daran, ins Wasser zu springen und an Land zu schwimmen, dann könnte er heimlich zum Hotel zurückgehen und Freud holen und dann mit seiner Hilfe – und mit Essensresten aus dem Hotel – State o’ Maine zurückholen. Doch dann griff die Stimmung auch auf Vater über und er sagte: »Schon gut, schon gut, du willst also Fisch? Dann fangen wir eben einen Fisch, verdammt nochmal!«
Kurz vor Morgengrauen kam ein Hummerfischer zum Steg herunter; er wollte hinausfahren, um seine Körbe einzuholen, [37] und hatte einige neue Körbe bei sich, die er ins Wasser lassen wollte; zudem hatte er – unglücklicherweise – auch Köder dabei. State o’ Maine roch die Köder.
»Es ist wohl besser, Sie geben sie ihm«, sagte Vater.
»Earl!« sagte State o’ Maine, und der Hummerfischer gab dem Bären seine ganzen Köderfische.
»Wir bezahlen natürlich dafür«, sagte Vater. »Umgehend.«
»Ich weiß, was ich gern tun würde, ›umgehend‹«, sagte der Hummerfischer. »Ich würde gern den Bären in meine Körbe tun und ihn als Köder benutzen. Ich würde gerne zugucken, wie er von Hummern aufgefressen wird!«
»Earl!« sagte State o’ Maine.
»Es ist wohl besser, Sie reizen ihn nicht«, sagte Vater zu dem Hummerfischer, der ihm beipflichten mußte.
»Ja ja, er ist nicht besonders schlau, dieser Bär«, sagte Freud danach zu Vater. »Ich hätte Sie warnen sollen. Er kann komisch sein, wenn’s ums Fressen geht. In den Holzfällercamps haben sie ihm zuviel gegeben; er bekam ständig zu fressen – lauter mieses Zeug. Und jetzt hat er manchmal plötzlich das Gefühl, er kriegt nicht genug – oder er will was zum Saufen oder so. Denken Sie immer dran: setzen Sie sich nie zum Essen, ohne ihn erst gefüttert zu haben. Er mag das nicht.«
Vor seinen Auftritten bei den Gartenparties wurde State o’ Maine also immer gut gefüttert – denn die weißen Leinentücher auf den Tischen waren reich mit Hors d’oeuvres, erlesenstem rohem Fisch und gegrilltem Fleisch beladen, und mit einem hungrigen State o’ Maine hätte es Ärger geben können. Freud stopfte deshalb State o’ Maine vor seiner Nummer, und der vollgefressene Bär war beim Motorradfahren ganz ruhig. Er hing friedlich, ja gelangweilt über der Lenkstange, als sei das größte körperliche Bedürfnis, das ihn überkommen würde, ein furchteinflößendes Rülpsen oder der Drang, seinen gewaltigen Bärendarm zu entleeren.
»Es ist eine doofe Nummer, und ich zahle drauf«, sagte Freud. »Das ist hier alles zu fein. Es kommen nur Snobs her. Ich müßte irgendwo sein, wo die Leute ein bißchen simpler [38] sind, wo sie Bingo spielen, nicht bloß tanzen. Ich sollte an Orten sein, wo es demokratischer zugeht – wo die Leute auf den Ausgang von Raufereien wetten, verstehen Sie?«
Mein Vater verstand nicht, aber er muß über solche Orte gestaunt haben – wilder noch als das Weirs in Laconia oder selbst Hampton Beach. Wo es mehr Betrunkene gab und wo das Geld für eine Nummer mit einem dressierten Bären lockerer saß. Die Leute im Arbuthnot waren schlicht zu vornehm für einen Mann wie Freud und einen Bären wie State o’ Maine. Sie waren sogar zu vornehm, als daß sie dieses Motorrad hätten würdigen können: die Indian aus dem Jahr 1937.
Aber meinem Vater war klar, daß Freud keine Ambitionen hatte, die ihn hätten weglocken können. Im Arbuthnot verbrachte Freud einen angenehmen Sommer; nur war eben der Bär nicht zu der Goldmine geworden, die Freud sich erhofft hatte. Was Freud wirklich wollte, war ein anderer Bär.
»Mit einem derart doofen Bären«, sagte er zu meiner Mutter und meinem Vater, »hat es keinen Sinn, auf einen besseren Schnitt zu hoffen. Und wenn man die billigen Urlaubsorte abgrast, hat man andere Probleme.«
Meine Mutter griff nach der Hand meines Vaters und drückte sie fest und warnend – vielleicht weil sie sah, daß er sich diese »billigen Urlaubsorte«, diese »anderen Probleme« ausmalte. Doch mein Vater dachte an die Studiengebühren der Harvard University; er mochte die 37er Indian und den Bären namens State o’ Maine. Nach allem, was er gesehen hatte, gab sich Freud mit der Abrichtung des Bären nicht die geringste Mühe, und Win Berry war ein Junge, der an sich glaubte; Coach Bobs Sohn war ein junger Mann mit der Vorstellung, was er sich vorstellen könne, das könne er auch erreichen.
Er hatte ursprünglich den Plan gefaßt, nach dem Sommer im Arbuthnot nach Cambridge zu gehen, ein Zimmer zu mieten und einen Job zu finden – vielleicht in Boston. Er würde sich mit der Gegend um Harvard vertraut machen und irgendwo da Arbeit finden, damit er sich einschreiben konnte, sobald er die Studiengebühren beisammen hatte. Und er konnte dann [39] möglicherweise teilzeitarbeiten und Harvard besuchen. Meiner Mutter hatte dieser Plan natürlich gefallen, denn die Strecke von Boston nach Dairy und zurück ließ sich bequem mit der Boston & Maine bewältigen – die Züge fuhren damals noch regelmäßig. Sie malte sich bereits die Besuche meines Vaters aus, an langen Wochenenden, und wohl auch ihre eigenen – natürlich anständigen – Besuche, die sie gelegentlich bei ihm in Cambridge oder Boston machen würde.
»Was verstehst du schon von Bären?« fragte sie. »Oder von Motorrädern?«
Sie hielt auch nichts von Vaters Idee, mit Freud – falls Freud sich nicht von seiner Indian oder seinem Bären trennen wollte – zu den Holzfällercamps zu fahren. Win Berry war ein starker Junge, aber er war nicht vulgär. Und Mutter stellte sich die Camps als vulgäre Orte vor, von denen Vater – wenn überhaupt – als ein anderer Mensch wiederkehren würde.
Sie hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen. Diesem Sommer lag offenbar ein Plan zugrunde, der unausweichlich und sehr viel umfassender war als irgendwelche banalen Vorbereitungen, die mein Vater und meine Mutter für die Zukunft treffen mochten. Dieser Sommer 1939 verlief so unausweichlich wie der Krieg in Europa, von dem bald die Rede sein würde, und sie alle – Freud, Mary Bates und Winslow Berry – wurden vom Sommer so mühelos dahingetrieben, wie die Möwen, die von den wilden Strömungen in der Mündung des Kennebec bald da, bald dorthin verschlagen wurden.
Eines Abends Ende August, als Mutter beim Abendessen serviert und gerade genug Zeit gehabt hatte, die zweifarbigen Halbschuhe und den langen Rock anzuziehen, um Krocket zu spielen, wurde Vater aus seinem Zimmer geholt; er sollte bei der Bergung eines Verletzten behilflich sein. Vater lief an dem Krocket-Spielfeld vorbei, wo Mutter auf ihn wartete, einen Krocketschläger über der Schulter. Die Lichterketten, die wie Christbaumschmuck in den Bäumen hingen, beleuchteten den [40] Krocket-Rasen auf eine so gespenstische Weise, daß meine Mutter – für meinen Vater – »aussah wie ein Engel, der einen Knüppel bereithält«.
»Ich bin gleich wieder da«, sagte Vater zu ihr. »Es hat sich jemand verletzt.«
Sie ging mit, und zusammen mit einigen anderen Männern rannten sie hinunter zu den Anlegeplätzen. Am Landesteg vibrierte ein großes hell erleuchtetes Schiff. An Bord spielte eine Band mit zu vielen Blechbläsern, und der starke Gestank des Treibstoffs und der Auspuffgase in der salzigen Luft vermischte sich mit dem Geruch zerquetschter Früchte. Wie sich herausstellte, wurde den Gästen auf dem Schiff aus einer Riesenschüssel eine hochprozentige Früchtebowle ausgeschenkt, und sie kippten sie sich über die Kleidung oder schrubbten damit gleich das ganze Deck. Am Ende des Landestegs lag ein Mann auf seiner Seite und blutete aus einer Wunde in der Wange: er war, als er die Leiter heraufkam, gestolpert und hatte sich an einer Klampe das Gesicht aufgerissen.
Er war ein massiger Mann, dessen Gesichtsfarbe im wäßrig blauen Mondlicht blühend wirkte, und sowie ihn jemand anfaßte, setzte er sich auf. »Scheiße«, sagte er.
Meinem Vater und meiner Mutter war das deutsche Wort von den vielen Auftritten Freuds vertraut. Unter Mithilfe mehrerer kräftiger junger Männer wurde der Deutsche auf die Beine gestellt. Er hatte eine fantastische Menge Blut auf seiner weißen Smokingjacke, in die ohne weiteres auch zwei Männer gepaßt hätten; sein blauschwarzer Kummerbund erinnerte an einen Vorhang, und die gleichfarbige Frackschleife an seinem Hals hatte sich senkrecht gestellt wie ein verdrehter Propeller. Er hatte beträchtliche Hängebacken und roch stark nach der Bowle, die an Bord des Schiffes serviert wurde. Er brüllte jemandem etwas zu. Von Bord des Schiffs kam ein mehrstimmiges Echo auf deutsch, und eine große, braungebrannte Frau in einem mit gelben Spitzen oder Rüschen besetzten Abendkleid kam die Leiter herauf wie ein in Seide gekleideter Panther. [41] Der blutende Mann griff nach ihr und stützte sich mit seinem ganzen Gewicht auf sie, so daß die Frau trotz all ihrer offensichtlichen Kraft und Gelenkigkeit gegen meinen Vater gestoßen wurde, der verhinderte, daß sie das Gleichgewicht verlor. Sie war viel jünger als der Mann, wie meine Mutter bemerkte, und auch sie war Deutsche; sie redete mit weichen, gluckenden Tönen auf ihn ein, während er fortfuhr, in Richtung des an Bord verbliebenen deutschen Chors unflätig zu blöken und zu gestikulieren. Den Landesteg entlang und dann den Kiesweg hinauf zum Hotel schwankte das stämmige Paar.
Als sie das Arbuthnot erreichten, wandte sich die Frau meinem Vater zu und sagte auf englisch, mit einem kontrollierten Akzent: »Er muß genäht werden, ja? Hier gibt es doch einen Doktor, ja?«
Der Empfangschef flüsterte Vater zu: »Holen Sie Freud.«
»Genäht muß werden?« sagte Freud. »Der Doktor wohnt in Bath, viel zu weit weg, und außerdem säuft er. Aber ich kann nähen, ich flicke jeden zusammen.«
Der Empfangschef rannte nun selbst hinaus zu den Schlafräumen der Männer und rief nach Freud. »Setzen Sie sich auf Ihre Indian und schaffen Sie den alten Doc Todd her! Den kriegen wir schon nüchtern, wenn er erst hier ist«, meinte er. »Aber fahren Sie um Himmels willen los!«
»Das dauert eine Stunde, wenn ich ihn überhaupt finde«, sagte Freud. »Sie wissen doch, daß ich mich aufs Nähen verstehe. Sie brauchen mir nur die richtigen Kleider zu besorgen.«
»Das hier ist etwas anderes«, sagte der Empfangschef. »Ich glaube, das ist ein besonderer Fall, Freud – ich meine, dieser Mann. Es ist ein Deutscher, Freud. Und die Wunde ist in seinem Gesicht.«
Freud streifte die Arbeitskleidung von seinem narbigen, olivbraunen Körper und begann, sich die feuchten Haare zu kämmen. »Die Kleider«, sagte er. »Nur her damit. Den alten Doc Todd zu holen ist zu kompliziert.«
»Die Verletzung ist im Gesicht, Freud«, sagte Vater.
»Na und, was ist schon ein Gesicht?« sagte Freud. »Auch [42] nur Haut, ja? Wie an den Händen oder Füßen. Ich habe schon eine Menge Füße vernäht. Schnitte von Äxten und Sägen – die Holzfäller, diese Dummköpfe.«
Draußen schleppten die anderen Deutschen vom Schiff Koffer und schweres Gepäck vom Landesteg zum Hoteleingang auf dem kürzesten Weg – direkt über das achtzehnte Grün. »Seht euch das an, diese Schweine«, sagte Freud. »Machen Dellen in den Rasen, wo nachher der kleine weiße Ball hängenbleibt.«
Der Oberkellner kam in Freuds Zimmer. Es war das beste Zimmer der Männerunterkunft – niemand wußte, wie Freud es ergattert hatte. Der Oberkellner begann sich auszuziehen.
»Alles bis aufs Jackett, Dummkopf«, sagte Freud zu ihm. »Ärzte tragen keine Kellneruniform.«
Vater hatte eine schwarze Smokingjacke, die einigermaßen zu der schwarzen Kellnerhose paßte, und er brachte sie Freud.
»Ich hab es denen schon tausendmal gesagt«, sagte der Oberkellner – mit einer Bestimmtheit, die durch seine Nacktheit komisch wirkte. »Es sollte einen Arzt geben, der hier im Hotel lebt.«
Als Freud sich völlig angezogen hatte, sagte er: »Den gibt