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John Irvings Auseinandersetzung mit einem halben Jahrhundert amerikanischer Geschichte, mit der Frage nach dem Glauben in einer chaotischen Welt: die bewegende Geschichte der einzigartigen Freundschaft zwischen Owen Meany und John Wheelwright. Man schreibt den Sommer 1953, die beiden elfjährigen Freunde Owen und John spielen Baseball, als ein fürchterliches Unglück passiert...
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Seitenzahl: 1160
John Irving
Owen Meany
Roman
Aus dem
Amerikanischen von
Edith Nerke und
Jürgen Bauer
Titel der 1989 bei William Morrow, New York,
erschienenen Originalausgabe:
›A Prayer for Owen Meany‹
Copyright © 1989 by Garp Enterprises, Ltd.
Die deutsche Erstausgabe erschien 1990
im Diogenes Verlag
Der Verlag dankt Warner Bros., Inc.,
für die freundliche Genehmigung zum Abdruck
des Liedes ›Four Strong Winds‹
von Ian Tyson, Copyright © 1963 by Warner Bros., Inc.
Das Gedicht ›The Gift Outright‹
von Robert Frost ist zitiert nach der von Edward Connery Lathem
herausgegebenen Gesamtausgabe The Poetry of Robert Frost,
Copyright © 1969 by Holt, Rinehart and Winston, Inc.,
mit freundlicher Genehmigung
Die Übersetzer danken Anthony Tranter-Krstev
für seine wertvolle Hilfe
Covermotiv: Illustration von Heinz Ita
Alle deutschen Rechte vorbehalten
Copyright © 2012
Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
ISBN Buchausgabe 978 3 257 22491 7
ISBN E-Book 978 3 257 60022 3
[5] Dieses Buch ist Helen Frances Winslow Irving und Colin Franklin Newell Irving,
[7] Sorget nichts! sondern in allen Dingen lasset eure Bitten im Gebet und Flehen mit Danksagung vor Gott kund werden.
Der Brief des Paulus an die Philipper
Keineswegs das geringste unter meinen Problemen ist es, daß ich mir kaum vorstellen kann, wie eine echte, für sich selbst sprechende religiöse Erfahrung aussehen sollte. Wie könnte Gott sich so zu erkennen geben, daß er für Zweifel keinen Raum mehr ließe, ohne mich dabei auf die eine oder andere Weise zu vernichten? Wo kein Raum für Zweifel wäre, da wäre auch kein Raum für mich.
[11] 1
Der Fehlschlag
Ich bin dazu verdammt, mit der Erinnerung an einen Jungen mit einer entsetzlichen Stimme zu leben – nicht wegen seiner Stimme, auch nicht, weil er der kleinste Mensch war, der mir je begegnet ist, und nicht einmal, weil er das Werkzeug zum Tod meiner Mutter war, sondern weil er der Grund ist, warum ich an Gott glaube: wegen Owen Meany bin ich Christ geworden. Ich behaupte nicht, ein Leben in Christus zu führen, oder mit Christus – und ganz bestimmt nicht für Christus, wie es einige Glaubenseiferer von sich behaupten. Meine Kenntnisse vom Alten Testament sind recht oberflächlich, und die vom Neuen Testament habe ich seit meinen Tagen in der Sonntagsschule nicht mehr aufgefrischt, abgesehen von einigen Passagen, die ich höre, wenn ich in die Kirche gehe. Etwas vertrauter bin ich mit den Bibelstellen, die im Gebetbuch stehen; in meinem Gebetbuch lese ich oft, in der Bibel nur an den hohen Kirchenfeiertagen – das Gebetbuch ist viel übersichtlicher.
Ich bin schon immer ziemlich regelmäßig zur Kirche gegangen. Früher war ich bei den Kongregationalisten – ich wurde in der kongregationalistischen Kirche getauft, und nach einigen Jahren der Verbrüderung mit der Episkopalkirche (ich wurde dort konfirmiert) wurde meine religiöse Gesinnung ziemlich vage; als Jugendlicher ging ich in eine »konfessionsfreie« Kirche. Dann wurde ich Anglikaner; die anglikanische Kirche von Kanada ist meine Kirche, seit ich die Vereinigten Staaten verließ, vor etwa zwanzig Jahren. Die Unterschiede zwischen der anglikanischen Kirche und der Episkopalkirche sind nicht sehr groß – so gering, daß mich manchmal der Verdacht beschleicht, einfach wieder zur Episkopalkirche zurückgekehrt zu sein. Jedenfalls verließ ich die [12] Kongregationalisten und die Episkopalkirche, und auch mein Land – für immer.
Wenn ich sterbe, möchte ich in New Hampshire begraben werden, neben meiner Mutter, doch die anglikanische Kirche wird die notwendige Zeremonie abhalten, ehe mein Leichnam die unwürdige Prozedur über sich ergehen lassen muß, durch den amerikanischen Zoll geschleust zu werden. Was ich für mich in der Beerdigungsliturgie ausgesucht habe, ist ganz und gar üblich und steht im Gebetbuch – mit dem Unterschied, daß es gelesen und nicht gesungen werden wird. Fast alle meine Bekannten kennen die Passage bei Johannes, die so anfängt: »…und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben.« Dann kommt die Stelle: »…In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen. Wenn’s nicht so wäre, hätte ich es euch gesagt.« Und besonders gefallen hat mir schon immer die Offenheit bei Timotheus, wo es heißt: »Denn wir haben nichts in die Welt gebracht; darum werden wir auch nichts hinausbringen.« Es wird ein hundertprozentig anglikanischer Gottesdienst werden, dergestalt, daß meine früheren Mitkongregationalisten in den Kirchenbänken zappeln würden. Ich bin jetzt Anglikaner, und ich werde auch als Anglikaner sterben. Doch ab und zu lasse ich einen Sonntagsgottesdienst ausfallen; ich behaupte nicht, besonders fromm zu sein; meine Beziehung zur Kirche ist eher lau und muß jeden Sonntag wieder aufgewärmt werden. Was ich an Glauben habe, verdanke ich Owen Meany, einem Jungen, mit dem ich zusammen aufwuchs. Owen war es, der mich zum Gläubigen machte.
In der Sonntagsschule entwickelten wir eine Art Spiel, für das wir Owen Meany mißbrauchten, der so klein war, daß seine Füße nicht nur nicht den Boden berührten, wenn er auf dem Stuhl saß, sondern daß seine Knie nicht einmal bis zur Kante des Stuhles reichten und die Beine gerade vorstanden wie bei einer Puppe. Es sah aus, als sei Owen Meany ohne Gelenke geboren.
[13] Owen war so winzig, daß es uns ungeheuer Spaß machte, ihn hochzuheben; wir konnten es einfach nicht lassen. Wir hielten es für ein Wunder: Wie leicht er doch war. Und eigentlich paßte es gar nicht zu ihm, denn Owen kam aus einer Familie, die im Granitgeschäft tätig war. Der Granitsteinbruch der Meanys war riesig; die Werkzeuge zum Sprengen und Schneiden der Granitplatten waren schwer und wirkten gefährlich; und Granit ist ein so rauhes, solides Gestein. Doch der einzige Hauch von Granit, der Owen umgab, war der körnige Staub, dieses graue Puder, das aus seinen Kleidern fiel, wenn wir ihn hochhoben. Sein Teint hatte die Farbe eines Grabsteins; das Licht wurde von seiner Haut gleichzeitig absorbiert und reflektiert, wie bei einer Perle, so daß er manchmal geradezu durchsichtig wirkte – besonders an den Schläfen, wo seine blauen Venen durch die Haut hindurchschimmerten (als wäre seine ungewöhnliche Größe nicht der einzige Beweis dafür, daß er zu früh geboren wurde).
Entweder waren seine Stimmbänder nicht voll entwickelt, oder seine Stimme hatte vom Granitstaub einen Schaden abbekommen. Vielleicht war sein Kehlkopf nicht in Ordnung oder seine Luftröhre; vielleicht war ihm ein Granitbrocken gegen die Kehle geflogen. Um überhaupt gehört zu werden, mußte Owen durch die Nase schreien.
Trotzdem hatten wir ihn alle gern – »Püppchen« nannten ihn die Mädchen, wenn er sich hin und her wand, um ihnen, und uns allen, zu entkommen.
Ich weiß nicht mehr, wie es dazu kam, daß wir dieses Spiel, ihn hochzuheben, zum erstenmal spielten.
Es war jedenfalls in der Christ Church, der Episkopalkirche von Gravesend, New Hampshire. Unsere Sonntagsschullehrerin war Mrs.Walker, eine abgespannte, unglücklich dreinblickende Frau. Mrs.Walker las uns immer eine lehrreiche Passage aus der Bibel vor. Dann forderte sie uns auf, ernsthaft über das nachzudenken, was wir soeben gehört hatten. »Still und ernsthaft, so sollt [14] ihr nachdenken!« meinte sie. »Ich lasse euch jetzt mit euren Gedanken alleine«, sagte sie mit unheilverkündender Stimme, als ob unsere Gedanken fähig sein könnten, uns zum Wahnsinn zu treiben. »Ihr sollt feste nachdenken«, ermahnte uns Mrs.Walker. Dann ging sie hinaus. Ich glaube, sie rauchte, und das konnte sie natürlich nicht vor unseren Augen tun. »Wenn ich wiederkomme«, sagte sie, »werden wir darüber reden.«
Bis sie dann wiederkam, hatten wir natürlich längst vergessen, worüber wir nachdenken sollten – denn sobald sie den Raum verlassen hatte, alberten wir wie verrückt herum. Weil es uns keinen Spaß machte, mit unseren Gedanken allein zu sein, hoben wir Owen Meany hoch und reichten ihn herum, über unseren Köpfen. Wir blieben dabei auf den Stühlen sitzen; das war das Reizvolle an der Sache. Einer – ich weiß nicht mehr, wer damit anfing – stand auf, packte Owen, setzte sich wieder hin, reichte ihn zum nächsten hinüber, der ihn wieder weiterreichte, und so weiter. Die Mädchen durften auch mitmachen; ein paar von ihnen waren die Eifrigsten bei diesem Spiel. Jeder konnte Owen hochheben. Wir paßten gut auf; ließen ihn niemals fallen. Sein Hemd wurde vielleicht etwas zerknittert. Sein Schlips war so lang, daß Owen ihn in die Hose steckte – sonst hätte er ihm bis an die Knie hinuntergehangen – und er rutschte oft heraus; manchmal fiel ihm das Kleingeld aus der Tasche (auf unsere Köpfe). Wir gaben ihm sein Geld immer zurück.
Wenn er seine Baseball-Sammelkarten dabei hatte, fielen ihm auch die aus der Tasche. Dann wurde er ärgerlich, denn die Karten waren alphabetisch oder nach einem anderen System geordnet, zum Beispiel steckten vielleicht alle Nahfänger zusammen. Wir kannten sein System nicht, aber offensichtlich gab es eines, denn wenn Mrs.Walker zurückkam – wenn Owen zurück an seinen Platz ging und wir ihm die Münzen und Baseballkarten zurückgaben – dann saß er immer wütend da und ordnete verbissen seine Karten.
[15] Er war an sich kein guter Baseballspieler, doch als Schlagmann hatte er den Vorteil, daß bei ihm die Schlagzone, der Bereich neben seinem Körper zwischen Achselhöhle und Knien, auf den der Werfer zielen muß, sehr klein war. Da die meisten Werfer diese Schlagzone kaum trafen, wurde er oft als Einwechselschlagmann eingesetzt, wenn es darauf ankam, zusätzliche Punkte zu holen. Nicht etwa deshalb, weil er den Ball kräftig zurückschlagen konnte (im Gegenteil, ihm wurde immer gesagt, er solle den Ball keinesfalls zurückschlagen), sondern weil der Werfer meistens die Schlagzone viermal verfehlte, und Owen konnte dann ungehindert zur ersten Base gehen, und seine Mitspieler durften um jeweils eine Base vorrücken. Er haßte es, bei Schülermannschaftsspielen auf diese Art und Weise ausgenutzt zu werden, und einmal weigerte er sich, überhaupt am Schlagmal anzutreten, wenn er nicht schlagen dürfe. Aber es gab keinen Baseballschläger, der so klein war, daß Owen beim Ausholen nicht das Gleichgewicht verlor und auf dem Rücken landete. Also wählte Owen Meany nach der einen Erniedrigung, ein paarmal danebenzuschlagen und dabei jedesmal umzufallen, die andere Erniedrigung, nämlich reglos am Schlagmal zu stehen, während der Werfer den vorgeschriebenen Bereich genau ins Visier nahm – und fast jedesmal danebentraf.
Dennoch liebte Owen seine Sammelkarten, und aus irgendwelchen Gründen liebte er auch das Spiel selbst, obwohl es für ihn ein grausames Spiel war. Die Werfer aus der gegnerischen Mannschaft drohten ihm. Sie sagten, wenn er nicht schlagen würde, würden sie mit dem Ball auf ihn zielen. »Dein Kopf ist schließlich größer als die Schlagzone, Kleiner«, sagte ein Werfer einmal. Und so bekam Owen manchmal ein paar Bälle ab, ehe er zur ersten Base gelangte.
Wenn er die erste Base einmal erreicht hatte, war er unschlagbar. Niemand konnte so schnell rennen wie Owen. Wenn unsere Mannschaft lange genug mit Schlagen dran war, schaffte er die [16] Runde immer. Er lief auch dann los, wenn es für die anderen zu gefährlich war. So machten wir Punkte, wenn er am Schlagmal war und wenn er lief; »Punkteklau Meany«, so nannten wir ihn. Als Feldspieler war er eine Katastrophe. Er hatte Angst vor dem Ball; er kniff die Augen zu, sobald der auch nur in seine Nähe kam. Und wenn er es wirklich einmal schaffte, ihn zu fangen, dann konnte er ihn nicht zurückwerfen; seine Hand war zu klein, und er bekam ihn nicht richtig zu fassen. Doch er quengelte nicht wie andere Kinder; wenn er sich beschwerte, war seine Stimme so einzigartig, daß selbst sein Jammern liebenswert war.
In der Sonntagsschule, wenn wir Owen in der Luft festhielten – vor allem dann! – protestierte er auf diese einzigartige Weise. Ich glaube, wir quälten ihn nur, um seine Stimme zu hören; früher dachte ich immer, seine Stimme käme von einem anderen Stern. Heute bin ich überzeugt, daß seine Stimme wirklich nicht ganz von dieser Welt war.
»LASST MICH RUNTER!« quäkte er in seinem erstickten, gepreßten Falsetto. »HÖRT ENDLICH AUF! ICH HAB KEINE LUST MEHR. GENUG IST GENUG. LASST MICH RUNTER! IHR ARSCHLÖCHER!«
Doch wir reichten ihn weiter hin und her. Und nach und nach fügte er sich in sein Schicksal. Sein Körper war steif; er wehrte sich nicht. Wenn wir ihn droben in der Luft hatten, verschränkte er trotzig die Arme und starrte finster an die Decke. Manchmal hielt er sich, sobald Mrs.Walker den Raum verließ, an seinem Stuhl fest; er klammerte sich daran wie ein Vogel im Käfig an seine Schaukel, doch man brachte ihn leicht davon los, denn er war kitzlig. Ein Mädchen namens Sukey Swift war ganz besonders geschickt, wenn es darum ging, Owen zu kitzeln; sofort streckte er Arme und Beine von sich, und wir hatten ihn wieder oben.
»NICHT KITZELN!« mahnte er immer, doch wir spielten das Spiel nach unseren Regeln. Wir hörten nie auf ihn.
Und wenn Mrs.Walker wieder hereinkam, hing Owen natürlich immer in der Luft. Angesichts der ernsten Anweisung, die sie [17] uns gegeben hatte:»feste nachdenken…«, mochte sie denken, daß wir es aufgrund einer Gewaltanstrengung an festem Nachdenken geschafft hatten, Owen Meany in der Luft schweben zu lassen. Vielleicht vermutete sie sogar, daß Owen sich als Folge ihrer Entscheidung, uns mit unseren Gedanken allein zu lassen, himmelwärts richtete.
Doch die Reaktion von Mrs.Walker war jedesmal gleich – unfreundlich, phantasielos und ungeheuer blöde. »Owen!« blökte sie. »Owen Meany, du gehst auf der Stelle auf deinen Platz! Du kommst sofort da runter!«
Was konnte uns Mrs.Walker über die Bibel lehren, wenn sie so dumm war, anzunehmen, Owen Meany hätte sich selbst in die Luft verfrachtet?
Owen verhielt sich immer sehr würdevoll. Niemals sagte er: »DIE ANDEREN WAREN ES! DAS MACHEN SIEIMMER! SIE HEBEN MICH HOCH UND VERSTREUEN MEIN GELD UND BRINGEN MEINE SAMMELKARTEN DURCHEINANDER – UNDNIE LASSEN SIE MICH RUNTER, WENN ICH ES IHNEN SAGE! WAS GLAUBEN SIE DENN: DASS ICH HIERHINGEFLOGEN BIN?!«
Doch obgleich Owen sich bei uns beschwerte, beschwerte er sich nie über uns. So wie er es gelegentlich fertigbrachte, noch in der Luft seinen stoischen Gleichmut zu bewahren, war er immer stoisch gleichmütig, wenn ihm Mrs.Walker vorwarf, er benehme sich kindisch. Er petzte nie. Ebenso deutlich wie jede beliebige Geschichte in der Bibel zeigte uns Owen Meany, was ein Märtyrer war.
Offensichtlich war er auch nicht nachtragend. Obwohl wir unsere ausgeklügeltsten Attacken auf ihn für die Sonntagsschule aufbewahrten, hoben wir ihn auch bei anderen Gelegenheiten hoch – jedoch spontaner. Einmal hängte ihn jemand am Kragen an einem der Kleiderhaken in der Aula der Grundschule auf; nicht einmal dort setzte sich Owen zur Wehr. Er baumelte still vor sich hin und wartete darauf, daß jemand ihn wieder abhängte und herunterließ. [18] Und nach der Turnstunde hängte ihn jemand in sein Kleiderspind und schloß die Tür. »DAS IST ÜBERHAUPT NICHT LUSTIG! ÜBERHAUPT NICHT LUSTIG!« schrie er so lange, bis sich jemand seiner Meinung anschloß und ihn aus der Gefangenschaft befreite.
Wie hätte ich damals wissen können, daß Owen ein Held war?
Ich möchte gleich zu Anfang sagen, daß ich ein Wheelwright war – das war der Familienname, der in der Stadt zählte: die Wheelwrights. Und Wheelwrights empfanden kaum Sympathie für die Meanys. Wir waren eine matriarchalische Familie, denn mein Großvater starb bereits in jungen Jahren und ließ meine Großmutter alleine zurück, und sie schlug sich wirklich großartig durch. Großmütterlicherseits bin ich ein Nachkomme von John Adams (ihr Mädchenname war Bates, und ihre Familie war mit der Mayflower nach Amerika gekommen); und dennoch, in dieser Stadt war es der Name meines Großvaters, der zählte, und meine Großmutter trug diesen Namen mit einem derartigen Selbstbewußtsein, daß sie ebensogut eine Wheelwright und eine Adams und eine Bates hätte sein können.
Ihr Vorname war Harriet, doch für nahezu jeden war sie Mrs. Wheelwright – und unbedingt für jeden aus Owen Meanys Familie. Ich glaube, Großmutter brachte jeden, der den Namen Meany trug, immer nur mit George Meany in Verbindung – dem Gewerkschaftsführer und Zigarrenraucher. Gewerkschaften und Zigarren paßten Harriet Wheelwrights Meinung nach nicht zusammen. (Soweit ich weiß, sind George Meany und die Meanys aus unserer Stadt nicht miteinander verwandt.)
Ich wuchs in Gravesend, New Hampshire, auf; dort gab es keine Gewerkschaften – zwar ein paar Zigarrenraucher, aber keine Gewerkschaftler. Reverend John Wheelwright, nach dem ich benannt wurde, kaufte meine Geburtsstadt 1638 von einem indianischen Sagamore. In Neuengland hießen die Häuptlinge und höheren Tiere bei den Indianern Sagamores; doch der [19] einzige Sagamore, den ich als Kind kannte, war der Hund eines Nachbarn (ein Labradorrüde, der, wie ich glaube, nicht wegen seiner indianischen Vorfahren so genannt wurde, sondern weil der Besitzer einfach keine Ahnung hatte). Der Besitzer von Sagamore, Mr.Fish, erzählte mir immer, er habe seinen Hund nach einem See benannt, in dem er im Sommer immer schwimmen gegangen war – »als ich noch jung war«, so sagte Mr.Fish. Der arme Mr.Fish: Er wußte nicht, daß der See nach den Indianerhäuptlingen benannt war – und daß es mit ziemlicher Sicherheit eine Beleidigung für die Geister war, einen hundsgewöhnlichen Labradorrüden »Sagamore« zu nennen. Und wie sich noch zeigen wird, war es das wirklich.
Doch die Amerikaner haben es nicht so sehr mit Geschichte, und so glaubte ich, wie mein Nachbar, jahrelang, »Sagamore« sei ein indianisches Wort für See. Sagamore wurde von einem LKW überfahren, der Windeln transportierte, und heute bin ich überzeugt, daß die Götter der beunruhigten Wasser dieses oftmals mißbrauchten Sees die Hand dabei im Spiel hatten. Meiner Meinung wäre es eine bessere Geschichte, wenn Mr.Fish durch diesen Windellaster umgekommen wäre – doch genaugenommen ist es bei Göttern immer das gleiche: Sie rächen sich an den Unschuldigen. (Dies ist ein Teil meines ganz persönlichen Glaubens, der bei meinen Freunden aus der kongregationalistischen, anglikanischen und auch der Episkopalkirche auf Widerspruch stößt.)
Um auf meinen Vorfahren John Wheelwright zurückzukommen: der landete 1636 in Boston, nur zwei Jahre, bevor er unsere Stadt kaufte. Er kam aus Lincolnshire in England, einem kleinen Dorf namens Saleby, und niemand weiß, warum er unsere Stadt Gravesend nannte. Zu dem englischen Gravesend hatte er, soweit bekannt, keine Verbindung, obwohl das sicherlich die Stadt ist, nach der unser Gravesend benannt wurde. Wheelwright hatte in Cambridge studiert; er hatte zusammen mit Oliver Cromwell [20] Fußball gespielt – der bewunderte Wheelwright (als Fußballspieler) auf eine schizophrene Weise. Oliver Cromwell glaubte, Wheelwright sei ein gemeiner, ja fieser Spieler, der die Technik, seinem Gegner ein Bein zu stellen und sich dann auf ihn fallen zu lassen, perfektioniert habe. Gravesend (das britische) liegt in Kent – ein ganzes Stück von Wheelwrights Jagdgründen entfernt. Vielleicht hatte er dort einen Freund, der mit ihm nach Amerika kommen wollte, dann aber England nicht verlassen konnte oder auf der Schiffsreise gestorben war.
Der History of Gravesend,N. H., von Wall zufolge war Reverend John Wheelwright ein guter Geistlicher der anglikanischen Kirche gewesen, bis er »die Autorität gewisser Dogmen anzuzweifeln begann«; er wurde Puritaner und schließlich »von den klerikalen Mächten wegen seines Nonkonformismus zum Schweigen gebracht«. Ich spüre, daß meine eigene religiöse Verwirrung und Starrköpfigkeit zum großen Teil von meinem Vorfahren herrührt, der nicht nur, ehe er sich auf den Weg in die Neue Welt machte, die Kritik der englischen Kirche auf sich zog; als er angekommen war, geriet er auch mit seinen puritanischen Brüdern in Boston in Konflikt. Zusammen mit der berühmten Mrs.Hutchinson wurde Rev. Mr.Wheelwright aus der Massachusetts Bay Colony verbannt, weil er den »Bürgerfrieden« störte; in Wahrheit bestand sein Aufwieglertum lediglich darin, daß er einige unorthodoxe Meinungen bezüglich der Lokalisierung des Heiligen Geistes anbot – doch Massachusetts fällte ein hartes Urteil. Er mußte seine Waffen abgeben, und mit seiner Familie sowie einigen seiner mutigsten Anhänger segelte er nordwärts in die Great Bay, wo er an zwei der frühen Vorposten in New Hampshire vorbeigekommen sein muß – der eine hieß damals Strawberry Bank, an der Mündung des Pascataqua (heute Portsmouth), und der andere war die Siedlung in Dover.
Wheelwright folgte dem Squamscott River aus der Great Bay hinaus; er segelte ihn hoch bis zu den Wasserfällen, wo das [21] Wasser nicht mehr salzig war und das Süßwasser anfing. Damals war der Wald sicherlich noch dicht; die Indianer haben ihm bestimmt gezeigt, wie gut man hier fischen konnte. Nach Walls History of Gravesend gab es dort »Gebiete mit natürlichen Weiden« und »Marschland zu beiden Seiten des Meerwasserflusses«.
Der Sagamore in dieser Gegend hieß Watahantowet; statt mit einer Unterschrift besiegelte er den Kaufvertrag mit einer Zeichnung seines Totems – einem armlosen Mann. Später gab es – nicht besonders interessante – Auseinandersetzungen über diesen Vertrag, und eine etwas interessantere Spekulation darüber, warum Watahantowets Totem ein armloser Mann war. Einige behaupteten, so habe sich der Sagamore gefühlt, als er all sein Land aufgab – als hätte man ihm beide Arme abgeschlagen – und andere wiesen darauf hin, daß die Figur in früheren »Signaturen« von Watahantowet zwar auch armlos war, aber eine Feder im Mund hatte; dies sollte auf die Frustration des Sagamore darüber hindeuten, daß er nicht schreiben konnte. Doch in mehreren anderen Zeichen, die Watahantowet zugeschrieben wurden, hat die Figur einen Tomahawk im Mund und sieht vollkommen irre aus – oder aber sie macht eine Geste des Friedens: keine Arme, Tomahawk im Mund; alles zusammen soll vielleicht darauf hindeuten, daß Watahantowet nicht kämpft. Egal, was es mit der Unterschrift auf diesem umstrittenen Kaufvertrag nun auf sich hatte, die Indianer zogen jedenfalls keinen Nutzen aus der Beilegung dieses Meinungsstreites.
Später fiel dann unsere Stadt unter die Zuständigkeit von Massachusetts – was erklären könnte, warum die Einwohner von Gravesend die Leute aus Massachusetts auch heute noch verachten. Mr.Wheelwright ging dann nach Maine. Mit achtzig hielt er eine Rede in Harvard und bat um Beiträge für die Wiederherstellung eines Teils des College, der bei einem Brand zerstört wurde – und demonstrierte damit, daß er den Bürgern von Massachusetts gegenüber weniger nachtragend war, als es jeder andere [22] Bewohner von Gravesend gewesen wäre. Wheelwright starb mit fast neunzig Jahren in Salisbury, Massachusetts, als geistiger Führer der Kirche.
Doch wenn man sich die Namen der Gründerväter von Gravesend ansieht, wird man keinen Meany darunter finden.
Barlow Blackwell Cole Copeland Crawley Dearborn Hilton Hutchinson Littlefield Read Rishworth Smart Smith Walker Wardell Wentworth Wheelwright
Ich glaube kaum, daß meine Mutter ihren Mädchennamen deshalb beibehalten hat, weil sie eine Wheelwright war; ich glaube, der Stolz meiner Mutter hatte nichts mit ihren Wheelwright-Vorfahren zu tun, sondern sie hätte ihren Mädchennamen auch dann beibehalten, wenn sie eine geborene Meany gewesen wäre. Und ich hatte keine Schwierigkeiten in den Jahren, in denen ich ihren Namen trug; ich war der kleine Johnny Wheelwright, Vater unbekannt, und ich fand das – damals – in Ordnung. Ich begehrte nie auf. Ich dachte immer, eines Tages würde sie mir schon davon [23] erzählen – wenn ich alt genug war, um die Geschichte zu erfahren. Es war offensichtlich eine von den Geschichten, für die man »alt genug« sein mußte. Erst als sie gestorben war – ohne mir ein Wort darüber gesagt zu haben, wer mein Vater war – kam mir der Gedanke, daß mir eine Information vorenthalten worden war, auf die ich ein Recht hatte; erst nach ihrem Tod verspürte ich, wenn auch nur ganz kurz, einen leichten Groll gegen sie. Selbst wenn die Identität meines Vaters und seine Geschichte für meine Mutter schmerzlich waren – selbst wenn ihre Beziehung so schmutzig gewesen war, daß auch nur die leiseste Andeutung ein nie verlöschendes, ungünstiges Licht auf beide Elternteile werfen würde –, war es nicht egoistisch von meiner Mutter, daß sie mir nie etwas von meinem Vater erzählte?
Aber natürlich, so setzte Owen Meany mir auseinander, war ich erst elf, als sie starb, und meine Mutter erst dreißig; wahrscheinlich hatte sie gedacht, sie hätte noch eine ganze Menge Zeit, um mir diese Geschichte zu erzählen. Sie wußte ja nicht, daß sie sterben würde, wie Owen Meany sagte.
Owen und ich standen am Squamscott und warfen Steine in den Salzwasserfluß, in dem man die Gezeiten spürte – oder genauer gesagt: Ich warf Steine hinein. Owens Steine landeten im Schlamm, denn es war gerade Ebbe, und das Wasser war für Owens kleine, schwache Arme zu weit entfernt. Durch unsere Werferei hatten wir die Silbermöwen, die im Schlamm herumpickten, aufgescheucht, und sie hatten sich ins Marschland auf der anderen Seite des Squamscott zurückgezogen. Es war ein heißer, drückender Sommertag; bei Ebbe roch der Schlamm noch salziger und modriger als sonst. Owen Meany meinte, mein Vater wisse, daß meine Mutter tot war, und eines Tages, wenn ich alt genug wäre, würde er sich mir gegenüber zu erkennen geben.
»Wenn er noch lebt«, sagte ich und warf weiter mit Steinen. »Wenn er lebt und wenn er sich was draus macht, daß er mein Vater ist – wenn er überhaupt weiß, daß er mein Vater ist.«
[24] Und obwohl ich ihm an diesem Tag nicht glaubte, war dies der Tag, an dem Owen Meany mit seinem kontinuierlichen Beitrag zu meinem Glauben an Gott anfing. Owen warf immer kleinere Steine, und dennoch erreichte er das Wasser nicht; es klang schon auch irgendwie befriedigend, wenn die Steine im Schlamm auftrafen, doch die Befriedigung war viel größer, wenn sie ins Wasser klatschten. Und ganz beiläufig, mit einer Sicherheit, die in einem überraschenden und geradezu unfairen Gegensatz zu seinem kleinen Wuchs stand, sagte mir Owen Meany, er sei sicher, daß mein Vater lebte, und er sei auch sicher, daß mein Vater wüßte, daß er mein Vater sei, und daß Gott wüßte, wer mein Vater sei; selbst wenn mein Vater sich mir niemals zu erkennen geben würde, so sagte Owen, würde Gott ihn mir zeigen, »DEIN VATER KANN SICH VOR DIR VERSTECKEN«, sagte Owen, »ABER VOR GOTT KANN ER SICH NICHT VERSTECKEN.«
Und bei dieser Aussage stieß Owen Meany ein zufriedenes Grunzen aus, als er einen Stein warf, der das Wasser erreichte. Wir waren beide überrascht; es war der letzte Stein, den wir an diesem Tag warfen, und wir sahen reglos zu, wie sich die Wellen von der Stelle aus, wo der Stein eingetaucht war, kreisförmig ausbreiteten, bis sogar die Möwen sicher waren, daß wir ihr Leben nicht weiter stören würden, und auf unsere Seite des Squamscott zurückgeflogen kamen.
Jahrelang hatte es eine sehr gut gehende Lachsfischerei an unserem Fluß gegeben; heute läßt sich kein Lachs, der auch nur eine Spur von Leben in sich hat, dort blicken – die einzigen, die heute noch im Squamscott zu finden wären, wären tote. Damals hatte es auch viele Maifische gegeben – die gab es sogar noch, als ich ein kleiner Junge war, und Owen Meany und ich fingen sie immer. Gravesend liegt nur neun Meilen vom Meer entfernt. Obwohl der Squamscott nie mit der Themse vergleichbar war, kamen die großen Hochseedampfer früher den Fluß herauf bis nach Gravesend; [25] doch mittlerweile ist die Fahrrinne so voller Steine und Untiefen, daß kein Schiff mit einem gewissen Tiefgang hier entlangfahren könnte. Und obwohl Captain John Smiths geliebte Pocahontas ihr unglückliches Leben auf britischer Erde im Gemeindefriedhof des alten Gravesend beendete, wurde der im Geiste armlose Watahantowet nicht in unserem Gravesend begraben. Der einzige Sagamore, der offiziell in unserer Stadt beerdigt liegt, ist Mr.Fishs schwarzer Labrador, der auf der Front Street von einem Windellaster überfahren und im Rosenbeet meiner Großmutter begraben wurde – unter feierlicher Anteilnahme einiger Kinder aus der Nachbarschaft.
Über ein Jahrhundert lang war das große Geschäft von Gravesend Holz, das erste große Geschäft in New Hampshire überhaupt. Obwohl New Hampshire als »der Granitstaat« bezeichnet wird, kam der Granit – Granit zum Bauen, für Bordsteine und Grabsteine – erst nach dem Holz; und es war auch niemals ein so blühendes Geschäft wie Holz. Man kann sich zwar darauf verlassen, daß, wenn alle Bäume weg sind, immer noch viel an Gestein herumliegt, aber was den Granit angeht, so bleibt das meiste unter der Erde.
Mein Onkel war im Holzgeschäft – Onkel Alfred von der Eastman Lumber Company; er heiratete die Schwester meiner Mutter, meine Tante Martha Wheelwright. Wenn ich als kleiner Junge in den Norden fuhr und meine Vettern und meine Kusine besuchte, sah ich, wie die Holzstämme auf dem Fluß dahintrieben und sich ineinander verkeilten, und ich spielte sogar ein paarmal mit, wenn es darum ging, auf die Baumstämme zu klettern und möglichst lange auf dem Fluß mitzutreiben; ich fürchte, ich war zu unerfahren, um meinen Vettern ein ernstzunehmender Gegner zu sein. Doch heute ist das Geschäft von Onkel Alfred – oder besser gesagt das meiner Vettern – Immobilien. Das ist das einzige in New Hampshire, was man noch verkaufen kann, wenn die Bäume alle abgeschlagen sind.
[26] Doch Granit wird es im Granitstaat immer geben, und die Familie des kleinen Owen Meany war im Granitgeschäft – übrigens nie ein angesehener Berufszweig in unserem kleinen, am Meer gelegenen Teil von New Hampshire, obwohl der Granitsteinbruch der Meanys über dem lag, was Geologen den Exeter Pluton nennen. Owen Meany sagte immer, daß wir, die Einwohner von Gravesend, auf einem echten Ausbruch von Intrusivgestein hockten; er sagte das mit ehrfurchtsvoller Stimme – so als würde ihm in Gravesend jeder zustimmen, daß der Exeter Pluton so wertvoll wie eine Goldader war.
Es lag vielleicht an ihren Vorfahren aus der Mayflowerzeit, daß meine Großmutter Bäumen mehr zugetan war als Steinen. Aus mir unerklärten Gründen dachte Harriet Wheelwright, das Geschäft mit Holz sei sauber und das mit Granit schmutzig. Und da mein Großvater zu seinen Lebzeiten mit Schuhen gehandelt hatte, verstand ich sie um so weniger; doch mein Großvater starb, ehe ich geboren wurde – seine berühmte Entscheidung, keine Gewerkschaft in seiner Schuhfabrik zuzulassen, kannte ich nur vom Hörensagen. Meine Großmutter verkaufte die Fabrik mit beträchtlichem Gewinn, und ich wuchs mit ihrer Meinung auf, wie glücklich doch die seien, die für ihren Lebensunterhalt Bäume töteten, und wie niedrig die, die mit Steinen arbeiteten. Nun ja, Mr.Meany ist mit all seinem Granit nie steinreich geworden, wohl aber mein Onkel Alfred mit seinem Holz.
Der Granitsteinbruch der Meanys ist inzwischen stillgelegt; das entsteinte Land mit seinen tiefen und gefährlichen Baggerseen taugt nicht mal fürs Immobiliengeschäft – meiner Mutter zufolge hat es noch nie zu irgendwas getaugt. Sie erzählte mir, daß der Steinbruch, als sie in Gravesend aufwuchs, die ganze Zeit brachgelegen hatte, und daß die kurze Zeit der Meanys, in der man die Arbeit wiederaufnahm, nichts einbrachte und der Versuch von vornherein zum Scheitern verurteilt war. All der gute Granit, sagte Mutter, war schon abgetragen worden, ehe die Meanys nach [27] Gravesend zogen. (Wann die Meanys nach Gravesend gekommen waren, wurde mir gegenüber immer als »ungefähr zu der Zeit, als du geboren wurdest« beschrieben.) Überdies ist nur ein geringer Teil des unter der Erde befindlichen Granits so gut, daß es sich lohnt, ihn herauszuholen – der Rest hat Mängel – und wenn er gut genug ist, dann sitzt er so tief drunten, daß man ihn kaum herausbekommt, ohne daß er dabei bricht.
Owen redete ständig von Ecksteinen und Grabsteinen; ein ORDENTLICHER Grabstein, so sagte er immer und erklärte, daß man dazu ein großes, gerade geschnittenes, glattes und fehlerfreies Stück Granit brauchte. Owens Sinn für Feinheiten – und sein zarter Körper – standen in krassem Gegensatz zu den riesigen, schweren Steinbrocken, die wir auf den LKWs sahen, und ebenso zu den schrecklichen Geräuschen im Steinbruch, dem markerschütternden Kreischen der Meißel am Bohrkopf – dem Bohrhammer, wie Owen das Ganze nannte – und zum Dynamit.
Ich habe mich immer gewundert, daß Owen nicht taub war; daß mit seiner Stimme und seiner Größe etwas nicht stimmte, war um so erstaunlicher angesichts der Tatsache, daß seine Ohren in Ordnung waren – denn die Arbeit mit Granit ist eine ohrenbetäubende Angelegenheit.
Owen war es, der mich mit Walls History of Gravesend vertraut machte; während ich das Buch erst ganz durchlas, als ich fast mit der Schule fertig war (damals mußte ich es im Rahmen eines Heimatkundeprojekts lesen), hatte Owen es schon gelesen, ehe er zehn war. Er sagte mir, das Buch sei VOLLER WHEELWRIGHTS.
Ich wurde im Wheelwright-Haus in der Front Street geboren; und ich habe mich immer gefragt, warum meine Mutter mich einfach in die Welt setzte und nie auch nur ein Wort der Erklärung fallen ließ – weder mir noch ihrer eigenen Mutter und Schwester gegenüber. Meine Mutter war kein Flittchen. Ihre Schwangerschaft und ihre Beharrlichkeit, nicht darüber zu reden, muß die [28] Wheelwrights um so stärker getroffen haben, als meine Mutter solch ein ruhiger, bescheidener Mensch war.
Sie hatte im Boston & Maine, dem Zug, mit dem sie einmal die Woche nach Boston fuhr, einen Mann getroffen; das war alles, was sie sagte.
Meine Tante Martha war im letzten College-Jahr und schon verlobt, als meine Mutter verkündete, sie würde sich nicht einmal zur Aufnahmeprüfung fürs College melden. Mein Großvater lag im Sterben, und vielleicht wurde meine Großmutter durch die Fürsorge für ihren Mann davon abgehalten, bei meiner Mutter auf dem zu bestehen, worauf die Familie bei Tante Martha bestanden hatte: auf einer Ausbildung am College. Sie könne sich ja, so das Argument meiner Mutter, zu Hause nützlich machen, wo doch ihr Vater im Sterben lag – und wo ihre Mutter jetzt so viel Sorge und Kummer hatte. Und Reverend Lewis Merrill, der Geistliche der kongregationalistischen Kirche und Leiter des Chores, in dem auch meine Mutter sang, hatte meine Großeltern davon überzeugt, daß die Stimme meiner Mutter wirklich eine professionelle Ausbildung verdiente. Wenn sie ernsthaft Sprech- und Gesangsunterricht nehme, sagte Rev. Mr.Merrill, dann sei das im Falle meiner Mutter eine genauso gute »Investition« wie eine Ausbildung am College.
Zu diesem Zeitpunkt ihres Lebens, dachte ich immer, hat es einige Interessenskonflikte gegeben. Wenn Sprech- und Gesangsunterricht so wichtig für sie waren, warum nahm sie ihn dann nur einmal die Woche? Und wenn meine Großeltern Mr.Merrills Einschätzung der Stimme meiner Mutter Glauben schenkten, warum waren sie dann so dagegen, daß sie eine Nacht in der Woche in Boston verbrachte? Meiner Meinung nach hättesie ganz in Boston wohnen und jeden Tag Stunden nehmen müssen! Doch ich nahm an, die Ursache dieser Interessenskonflikte lägen in der tödlichen Krankheit meines Großvaters – meine Mutter wollte zu Hause helfen, und meine Großmutter brauchte sie auch.
[29] Die Sprech- und Gesangsstunde fand am frühen Morgen statt; deshalb mußte sie die Nacht davor in Boston verbringen, das anderthalb Zugstunden von Gravesend entfernt lag. Ihr Sprech- und Gesangslehrer war recht bekannt; er hatte nur am frühen Morgen Zeit für meine Mutter. Sie konnte froh sein, daß er sie überhaupt nahm, meinte Rev. Lewis Merrill, denn normalerweise unterrichtete er nur Profis; obwohl meine Mutter und meine Tante Martha viele Stunden im Chor der kongregationalistischen Kirche gesungen hatten, war meine Mutter kein »Profi«. Sie hatte einfach nur eine schöne Stimme, und auf ihre alles andere als rebellische, eher schüchterne Art ließ sie ihre Stimme ausbilden.
Die Entscheidung meiner Mutter, ihre Ausbildung abzukürzen, konnten ihre Eltern noch eher akzeptieren als ihre Schwester; Tante Martha war nicht nur dagegen – nein, meine Tante (eine wunderbare Frau übrigens) beneidete meine Mutter, wenn auch nur ein ganz klein wenig. Meine Mutter hatte die bessere Stimme, und sie war hübscher. Als die beiden in dem großen Haus in der Front Street heranwuchsen, brachte Tante Martha Jungen von der Gravesend Academy mit nach Hause, um sie meinen Großeltern vorzustellen – Martha war die ältere und somit die erste, die »Beaus«, wie meine Mutter sie nannte, mit nach Hause brachte. Doch sobald sie meine Mutter sahen – auch, als sie noch viel zu jung war, um mit ihnen auszugehen – bedeutete das normalerweise das Ende ihres Interesses an Tante Martha.
Und jetzt das; eine Schwangerschaft, noch dazu eine, zu der sie jede Auskunft verweigerte! Wie Tante Martha sagte, bekam mein Großvater »schon nichts mehr mit«; er war dem Tode so nahe, daß er nie erfuhr, daß meine Mutter schwanger war, »obwohl sie sich kaum bemühte, es zu verstecken«. Mein armer Großvater, so sagte Tante Martha zu mir, »starb in Sorge darüber, warum deine Mutter so dick geworden war.«
Zu der Zeit, als Tante Martha noch zu Hause war, hieß es für die Heranwachsenden aus Gravesend, Boston sei ein sündiges [30] Pflaster. Und obwohl meine Mutter in einer durchaus ehrbaren Pension für Frauen übernachtete, wo sie ständig überwacht wurde, hatte sie ein kleines »Techtelmechtel« gehabt, wie Tante Martha es nannte, und zwar mit dem Mann, den sie im Boston & Maine getroffen hatte.
Meine Mutter war so still, und Kritik und Verleumdung konnten ihr so wenig anhaben, daß sie gegen das Wort »Techtelmechtel«, das ihre Schwester dafür benutzte, nichts einzuwenden hatte – im Gegenteil, ich habe sie selbst dieses Wort liebevoll aussprechen hören.
»Mein Techtelmechtel«, so nannte sie mich gelegentlich voller Zärtlichkeit. »Mein kleines Techtelmechtel!«
Von meinen Vettern hörte ich zum ersten Mal, daß man meine Mutter für »ein wenig einfältig« hielt; das mußten sie von ihrer Mutter – von Tante Martha – aufgeschnappt haben. Als ich diese Worte zum erstenmal hörte – »ein wenig einfältig« – regte sich niemand mehr darüber auf; meine Mutter war schon mehr als zehn Jahre tot.
Doch meine Mutter war mehr als nur eine natürliche Schönheit mit einer herrlichen Stimme und fragwürdigen intellektuellen Fähigkeiten; Tante Martha hatte gute Gründe anzunehmen, daß meine Großeltern meine Mutter verwöhnt hatten. Nicht nur, daß sie das Nesthäkchen war, es war ihr Naturell – nie war sie beleidigt oder mürrisch, sie bekam auch keine Koller oder Anfälle von Selbstmitleid. Sie war ein so gutmütiges Wesen, man konnte ihr einfach nicht lange böse sein. Wie Tante Martha sagte: »Sie wirkte nie so bestimmt, wie sie in Wirklichkeit war.« Sie tat einfach, was sie wollte, und sagte dann auf ihre einnehmende Art:»Oh! Es tut mir schrecklich leid, daß ich dich damit aufgeregt habe, und ich werde dich jetzt so sehr mit meiner Liebe überschütten, daß du mir verzeihst und mich genauso liebst, wie wenn ich das nicht gemacht hätte!« Und das klappte!
Es klappte jedenfalls so lange, bis sie starb – und da konnte sie [31] nicht versprechen, alles wiedergutzumachen; es gab keine Möglichkeit, das wiedergutzumachen.
Und selbst als sie mich bekam, ohne ein Wort der Erklärung, und mich nach dem Gründervater von Gravesend nannte – selbst nachdem sie es fertiggebracht hatte, daß ihre Mutter und ihre Schwester damit leben konnten, und auch die Stadt (ganz zu schweigen von der kongregationalistischen Kirche, wo sie weiter im Chor mitsang und auch bei vielen Gemeindeveranstaltungen mithalf)… selbst nachdem sie sich mit meiner unehelichen Geburt durchgesetzt hatte (zu jedermanns Zufriedenheit, so schien es zumindest), fuhr sie immer noch jeden Mittwoch nach Boston, verbrachte immer noch jeden Mittwochabend in dieser gefürchteten Stadt, um für ihre Sprech- und Gesangsstunde am frühen Morgen frisch und ausgeruht zu sein.
Als ich etwas älter wurde, störte es mich – manchmal. Einmal, als ich Mumps hatte, und ein anderes Mal, als ich mit Windpocken im Bett lag, sagte sie die Stunde ab und blieb bei mir zu Hause. Und noch ein anderes Mal, als Owen und ich im Kanal, der in den Squamscott führte, Maifische fingen und ich ausrutschte und mir das Handgelenk brach; in dieser Woche fuhr sie nicht mit dem Zug nach Boston. Doch sonst – bis ich zehn war und sie den Mann heiratete, der mich adoptieren und mir wie ein Vater werden würde – fuhr sie über Nacht nach Boston. Bis dahin sang sie. Nie hat mir jemand gesagt, ob sie Fortschritte machte.
Deshalb wurde ich im Haus meiner Großmutter geboren, einem riesigen Ziegelsteinklotz aus dem letzten Jahrhundert. Als ich noch klein war, wurde das Haus mit einem Kohleofen beheizt; die Rutsche für die Kohlen befand sich im L-förmigen Anbau des Hauses, genau unter meinem Zimmer. Da die Kohlen immer frühmorgens angeliefert wurden, war das Rumpeln, mit dem sie in den Keller hinabrutschten, oft das Geräusch, das mich aufweckte. Wenn, was gelegentlich vorkam, die Kohlen an einem [32] Donnerstagmorgen gebracht wurden (wenn meine Mutter in Boston war), wachte ich beim Rumpeln der Kohlen auf und stellte mir vor, daß meine Mutter genau in diesem Moment zu singen anfing. Im Sommer, wenn die Fenster offenstanden, wachte ich auf und hörte die Vögel im Rosengarten meiner Großmutter. Und da gab es noch so eine feste, unumstößliche Meinung meiner Großmutter, die neben der über Steine und Bäume wurzelte: Jedermann konnte Blumen oder Gemüse in seinem Garten haben, doch ein richtiger Gärtner hatte Rosen; meine Großmutter war eine richtige Gärtnerin.
Das Wirtshaus ›The Gravesend Inn‹ war das einzige andere Ziegelsteinhaus, dessen Größe sich mit dem Haus meiner Großmutter in der Front Street vergleichen ließ; und oft verwechselten Reisende das Haus meiner Großmutter mit dem Wirtshaus, weil sie den üblichen Anweisungen, die man ihnen in der Stadtmitte gegeben hatte, gefolgt waren: »Wenn Sie an der Schule vorbei sind, sehen Sie linker Hand das große Ziegelsteinhaus.«
Das fuchste meine Großmutter – es schmeichelte ihr nicht im geringsten, daß man ihr Haus mit einem Wirtshaus verwechselte. »Das hier ist kein Wirtshaus«, informierte sie die verdutzten Reisenden, die jemand Jüngeres erwartet hatten, um ihr Gepäck hineinzutragen. »Dies ist mein Haus«, verkündete Großmutter. »Das Wirtshaus ist noch ein Stück weiter«, sagte sie und machte eine vage Handbewegung. »Noch ein Stück weiter« ist schon ziemlich genau, verglichen mit anderen Wegbeschreibungen in New Hampshire; in New Hampshire zeigt man nicht gern jemandem den Weg – wer nicht weiß, wo er hinwill, der gehört auch nicht dahin, wo er ist, findet man. In Kanada sind wir viel großzügiger, wir zeigen jedem den Weg, egal wohin.
In unserem alten großen Haus in der Front Street gab es auch einen Geheimgang – ein Bücherregal, das in Wirklichkeit eine Tür war, hinter der eine Treppe hinunterführte in einen Kellerraum mit Lehmboden, der keinerlei Verbindung zu dem Kellerraum [33] hatte, in dem die Kohlen lagen. Und das war alles: ein Bücherregal, das eine Tür war, die zu einem Ort führte, wo absolut nichts passierte – man konnte sich lediglich darin verstecken. Wovor? fragte ich mich immer. Daß es so einen Geheimgang in unserem Haus gab, fand ich nicht gerade beruhigend; im Gegenteil, er ließ mich immer wieder darüber nachdenken, was wohl so bedrohlich sein könnte, daß man sich davor verstecken mußte – und sich so etwas vorzustellen ist nie beruhigend.
Einmal zeigte ich dem kleinen Owen Meany diesen Geheimgang, und ich ließ ihn da unten, ganz allein, im Dunkeln, und er hat eine Höllenangst ausgestanden; das habe ich natürlich mit all meinen Freunden gemacht, aber Owen Meany Angst einzujagen war immer etwas anderes, als anderen Angst einzujagen. Es war seine Stimme, seine kaputte Stimme, die seine Angst so einzigartig machte. In den letzten dreißig Jahren habe ich immer wieder versucht, Owen Meanys Stimme nachzuahmen, und diese Stimme verhinderte auch, daß ich jemals glaubte, über Owen schreiben zu können, denn auf dem Papier kann man dieser Stimme einfach nicht gerecht werden. Und ich konnte mir genausowenig vorstellen, daß ich Owens Geschichte mündlich wiedergeben könnte, denn der Gedanke, seine Stimme nachzuahmen – in der Öffentlichkeit – ist geradezu peinlich. Ich brauchte mehr als dreißig Jahre, ehe ich es fertigbrachte, Owens Stimme mit Fremden zu teilen.
Meine Großmutter regte sich so sehr über Owen Meanys Stimme auf, mit der er gegen den Mißbrauch seiner Person im Geheimgang protestierte, daß sie mich zur Rede stellte, nachdem Owen aus dem Haus gegangen war. »Du sollst mir nicht beschreiben – niemals, hörst du! – was du dem armen Jungen angetan hast, daß er solche Geräusche von sich gegeben hat; aber wenn du es noch einmal tust, dann halt ihm bitte den Mund zu«, sagte Großmutter. »Hast du schon mal eine Maus in der Falle gesehen?« fragte sie mich. »Ich meine, wenn sie gefangen ist, und ihr kleiner [34] Hals ist gebrochen – ich meine, wenn sie wirklich mausetot ist«, sagte Großmutter. »Also, dieser Junge«, fuhr meine Großmutter fort, »könnte mit seiner Stimme solche Mäuse wieder lebendig machen!«
Und mir drängt sich jetzt der Gedanke auf, daß Owens Stimme tatsächlich die Stimme aller ermordeten Mäuse war, die wieder zum Leben erwachten – beseelt von Rachegedanken.
Ich möchte meine Großmutter keineswegs als gefühllos darstellen. Sie hatte ein Hausmädchen namens Lydia, das jahrelang für uns kochte und den Haushalt führte. Als Lydia an Krebs erkrankte und ihr das rechte Bein amputiert wurde, stellte meine Großmutter zwei neue Hausmädchen ein – eines kümmerte sich um Lydia. Lydia brauchte nie mehr zu arbeiten. Sie hatte ein eigenes Zimmer und ein paar Lieblingswege, auf denen sie in ihrem Rollstuhl durch das große Haus fuhr, und sie wurde die aufopfernd umsorgte Invalidin, die meine Großmutter, wie sie immer gedacht hatte, eines Tages auch werden könnte – und jemand wie Lydia hätte sich dann um sie gekümmert. Botenjungen und Gäste, die in unser Haus kamen, verwechselten Lydia oft mit meiner Großmutter, denn Lydia wirkte recht majestätisch in ihrem Rollstuhl und war etwa so alt wie meine Großmutter; jeden Nachmittag trank sie mit meiner Großmutter Tee, und sie spielte jetzt im Bridge-Club meiner Großmutter Karten – mit genau denselben Damen, denen sie früher den Tee serviert hatte. Kurz bevor Lydia starb, war selbst meine Tante Martha überrascht, wie ähnlich sie doch meiner Großmutter war. Dennoch sagte Lydia immer den Botenjungen und Gästen – mit einem indignierten Tonfall, den sie meiner Großmutter abgeschaut hatte – »Ich bin nicht Mrs.Wheelwright, ich bin Mrs.Wheelwrights ehemaliges Hausmädchen.« Es war genau die gleiche Art, in der meine Großmutter sagte, ihr Haus sei nicht der ›Gravesend Inn‹.
Meine Großmutter war also nicht bar jeder Menschlichkeit. [35] Und wenn sie im Abendkleid im Rosengarten arbeitete, dann war es in einem Abendkleid, das sie nicht mehr zum Ausgehen anzog. Selbst im Rosengarten wollte sie standesgemäß aussehen. Wenn diese Kleider bei der Arbeit zu schmutzig geworden waren, warf sie sie fort. Als meine Mutter ihr vorschlug, sie doch reinigen zu lassen, erwiderte meine Großmutter: »Wie bitte? Daß sich die Leute von der Reinigung fragen, was ich wohl mit diesem Kleid gemacht habe, daß es so schmutzig ist?«
Von meiner Großmutter lernte ich, daß Logik nur relativ ist.
Doch diese Geschichte dreht sich um Owen Meany, darum, welchen Einfluß er und seine Stimme auf mich hatten. Seine Zeichentrickfilmstimme beeindruckte mich nachhaltiger als die gebieterische Weisheit meiner Großmutter.
Zum Schluß wurde Großmutter von ihrem Gedächtnis im Stich gelassen. Wie viele alte Menschen konnte sie sich besser an ihre eigene Kindheit erinnern als an das Leben ihrer Kinder oder das ihrer Enkel oder das ihrer Urenkel. Je näher die Ereignisse an der Gegenwart lagen, desto lückenhafter war ihre Erinnerung daran. »Ich weiß noch, wie du als kleiner Junge ausgesehen hast«, sagte sie vor nicht allzu langer Zeit zu mir, »aber wenn ich dich jetzt so ansehe, weiß ich nicht, wer du bist.« Ich sagte ihr, daß es mir bei meinem Anblick manchmal genauso ginge. Und in einem Gespräch über ihr Gedächtnis fragte ich sie, ob sie sich noch an den kleinen Owen Meany erinnere.
»Der Gewerkschafter!« sagte sie. »Meinst du den?«
»Nein, Owen Meany!« wiederholte ich.
»Nein«, erwiderte sie. »Bestimmt nicht.«
»Die Granitfamilie?« versuchte ich es weiter. »Die Meanys hatten den Granitsteinbruch. Erinnerst du dich daran?«
»Granit«, schnaubte sie. »Bestimmt nicht!«
»Vielleicht erinnerst du dich noch an seine Stimme?« fragte ich meine Großmutter, als sie fast hundert Jahre alt war.
Doch sie hatte keine Geduld mit mir; sie schüttelte den Kopf. [36] Und da begann ich meinen Mut zu sammeln, um Owens Stimme nachzuahmen.
»Einmal hab ich das Licht im Geheimgang ausgemacht und ihm Angst eingejagt«, fuhr ich fort.
»Das hast du doch ständig gemacht«, sagte sie gleichgültig, »du hast es doch sogar mit Lydia gemacht – als sie noch beide Beine hatte.«
»MACH DAS LICHT AN!« sagte Owen Meany. »IRGENDWAS LECKT AN MEINEM GESICHT RUM! MACH DAS LICHT AN! ES HAT EINE ZUNGE! IRGENDWAS LECKT AN MIR!«
»Es ist nur eine Spinnwebe, Owen«, sagte ich ihm damals.
»ES IST ZU NASS FÜR EINE SPINNWEBE! ES IST EINEZUNGE! MACH DAS LICHT AN!«
»Hör auf!« unterbrach mich meine Großmutter. »Ich erinnere mich, ja, ich kann mich erinnern – grundgütiger Himmel«, seufzte sie. »Mach das nie wieder!« schimpfte sie. Doch es war meine Großmutter, die mir zum ersten Mal die Gewißheit vermittelte, daß ich Owen Meanys Stimme tatsächlich nachahmen konnte. Obwohl ihr Gedächtnis weg war, erinnerte sich Großmutter an Owens Stimme; ob sie sich auch daran erinnerte, daß er das Werkzeug zum Tod ihrer Tochter gewesen war, sagte sie nicht. Zum Schluß erinnerte sich Großmutter nicht einmal mehr daran, daß ich Anglikaner geworden war – und Kanadier.
Für Großmutter waren die Meanys keine Mayflowernachkommen. Sie waren keine Nachfahren der Gründerväter, es fand sich kein Meany zur Zeit des John Adams. Sie stammten von späteren Einwanderern ab, von Iren aus Boston. Die Meanys kamen von Boston, das nie zum englischen Kolonialgebiet gehört hatte, nach New Hampshire; es gab auch Meanys in Concord, New Hampshire und in Barre, Vermont – das waren klassischere Arbeitergegenden als Gravesend. Dort lagen die wirklichen Granitkönigreiche von Neuengland. Meine Großmutter hielt die Arbeit in [37] Minen und Steinbrüchen für Kriecharbeit – sie war der Meinung, Steinbruch- und Bergarbeiter hätten mehr mit Maulwürfen als mit Menschen gemeinsam. Was die Meanys anbelangte: keiner der Familie war besonders klein, ausgenommen Owen.
Und all die üblen Streiche, die wir ihm spielten, zahlte er uns nur ein einziges Mal heim. Wir durften in einem der Baggerseen seines Vaters schwimmen, immer nur einer, und auch nur dann, wenn wir ein dickes Seil um den Bauch hatten. Wir schwammen eigentlich nie richtig in diesen Baggerseen, von denen es hieß, sie seien so tief wie das Meer; sie waren so kalt wie das Meer, selbst im Spätsommer; sie waren so schwarz und ruhig wie Seen aus Öl. Es lag nicht an der Kälte, daß wir sofort wieder herauswollten, sobald wir hineingesprungen waren; es lag an der unergründlichen Tiefe – wir hatten Angst davor, was unten am Grund war, und davor, wie tief unter uns der lag.
Owens Vater, Mr.Meany, bestand darauf, daß wir das Seil benutzten – bestand darauf, daß wir immer nur einzeln ins Wasser gingen. Es war eine der wenigen elterlichen Regeln aus meiner Kindheit, die nicht gebrochen wurde, nur ein einziges Mal – von Owen. Es war eine Regel, die keiner von uns zu brechen wagte; niemand wollte das Seil losbinden und sich dieser unbekannten Tiefe ohne Hoffnung auf Rettung entgegenstürzen.
Doch an einem schönen Tag im August befreite Owen sich von dem Seil, unter Wasser, und er schwamm unter Wasser auf eine versteckte Spalte am felsigen Ufer zu, während wir darauf warteten, daß er wieder auftauchte. Als er das nicht tat, zogen wir am Seil. Da wir Owen für beinahe gewichtslos hielten, glaubten wir nicht, was uns unsere Arme sagten – daß er nicht am Ende des Seils hing. Wir glaubten nicht, daß er weg war, bis wir den dicken Knoten am Ende des Seils in Händen hielten. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können! Das einzige Geräusch war das des Wassers, das vom Seil herabtropfte.
Niemand rief seinen Namen; niemand tauchte nach ihm. In [38] diesem Wasser konnte man nichts sehen! Ich ziehe es vor, zu glauben, daß wir hinuntergetaucht wären, um ihn zu suchen – wenn er uns nur ein paar Sekunden länger Zeit gelassen hätte, unseren Mut zusammenzunehmen – doch Owen entschied, daß unsere Reaktion insgesamt zu langsam und lieblos war. Er kam aus der Spalte am gegenüberliegenden Ufer herausgeschwommen; flink wie ein Wasserfloh bewegte er sich über dieses fürchterliche Loch, das ganz bestimmt bis zum Mittelpunkt der Erde reichte. Er schwamm auf uns zu, wütender, als wir ihn jemals gesehen hatten.
»IHR SEID MIR VIELLEICHT FREUNDE!« schrie er. »WORAUF HABT IHR DENN GEWARTET? AUF BLASEN? DENKT IHR, ICH WÄRE EIN FISCH? WOLLTE NICHT WENIGSTENS JEMAND VERSUCHEN, MICH ZU FINDEN?«
»Du hast uns einen Schreck eingejagt, Owen«, sagte einer von uns. Wir waren zu verstört, um uns zu verteidigen, wenn wir uns Owen gegenüber überhaupt jemals verteidigen konnten.
»IHR HABT MICH ERTRINKEN LASSEN!« sagte Owen. »IHR HABT NICHT EINEN FINGER GERÜHRT! IHR HABT EINFACH NUR ZUGESEHEN, WIE ICH ERTRUNKEN BIN! ICH BIN BEREITS TOT!« sagte er zu uns. »MERKT EUCH: IHR HABT MICH STERBEN LASSEN!«
Am besten kann ich mich an die Sonntagsschule in der Episkopalkirche erinnern. Owen und ich waren dort beide neu. Als meine Mutter den zweiten Mann, den sie im Zug traf, heiratete, wechselten sie und ich die Konfession; wir verließen die Kongregationalisten und traten über zum Glauben meines Adoptivvaters – er gehörte, so sagte meine Mutter, der Episkopalkirche an, und obwohl er mir nie als besonders frommer Anhänger der Episkopalkirche auffiel, bestand meine Mutter darauf, daß wir beide zu seiner Religionsgemeinschaft übertraten. Dieser Schritt bestürzte meine Großmutter, denn wir Wheelwrights gehörten zu den Kongregationalisten, seit wir den Puritanismus überwunden hatten (»seit [39] wir beinahe keine Puritaner mehr sind«, sagte meine Großmutter immer – das Puritanische hat uns Wheelwrights ihrer Meinung nach nie ganz losgelassen). Einige Wheelwrights – nicht nur unser Gründervater – waren sogar Geistliche gewesen; im letzten Jahrhundert, in der Gemeinde der Kongregationalisten. Und der Schritt bestürzte auch den Geistlichen der Kongregationalkirche, Reverend Lewis Merrill; er hatte mich getauft, und der Gedanke, die Stimme meiner Mutter im Chor zu verlieren, machte ihn zutiefst betroffen – er hatte sie schon als Mädchen gekannt, und (so sagte meine Mutter mehr als einmal) er hatte sie immer ganz besonders unterstützt, wenn sie ruhig und freundlich darauf bestand, daß mein Ursprung ihre Privatangelegenheit sei.
Auch mir paßte – wie sich noch zeigen wird – dieser Schritt nicht. Doch Owen Meanys Art, einer Sache etwas Rätselhaftes zu verleihen, war, etwas anzudeuten, das zu dunkel und zu schrecklich war, um es offen auszusprechen. Er hatte die Kirche gewechselt, so sagte er, UM DEN KATHOLIKEN ZU ENTKOMMEN – oder besser: Es war sein Vater, der den Katholiken entkommen und ihnen trotzen wollte, indem er Owen zur Sonntagsschule und zum Konfirmandenunterricht in die Episkopalkirche schickte. Wenn Kongregationalisten zur Episkopalkirche übertraten, meinte Owen, sei daran nichts Besonderes; es war einfach nur ein Schritt nach oben, was das Zeremoniell in der Kirche anbelangte, – den HOKUSPOKUS, wie Owen es nannte. Aber wenn Katholiken zur Episkopalkirche übertraten, war das nicht nur ein Schritt weg von diesem Hokuspokus, es war ein Schritt, mit dem man die ewige Verdammnis riskierte. Owen sagte immer mit bedeutungsschwangerer Stimme, daß sein Vater sicherlich verdammt werden würde, weil er diesen Schritt eingeleitet hatte, aber die Katholiken hätten ihnen eine EMPÖRENDE SCHANDE angetan – sie hätten seinen Vater und seine Mutter entehrt, und das könne nicht wiedergutgemacht werden.
Als ich mich über das Knien beschwerte, das mir neu war – ganz [40] zu schweigen von der Fülle der Litaneien und Glaubensbekenntnisse, die in der Episkopalkirche im Gottesdienst gesprochen werden – meinte Owen nur, ich hätte ja keine Ahnung. Die Katholiken knieten nicht nur und murmelten eine Litanei und ein Glaubensbekenntnis nach dem anderen herunter, sie hatten jede Hoffnung, Kontakt zu Gott zu bekommen, derart ritualisiert, daß Owen nicht mehr richtig beten konnte – DIREKT mit Gott sprechen konnte, wie er sagte. Und dann die Beichte! Ich beschwerte mich über ganz banales Knien, aber was wußte ich schon von der Beichte? Owen meinte, der Druck, zur Beichte zu gehen, sei, für einen Katholiken, so stark, daß er sich oft Sünden ausdachte, nur damit sie ihm vergeben werden konnten.
»Aber das ist doch Blödsinn!« entgegnete ich.
Owen stimmte mir zu. Und was war der Grund für den Konflikt zwischen den Katholiken und Mr.Meany? fragte ich immer. Owen sagte es mir nie. Der Schaden sei nicht wiedergutzumachen, das betonte er immer wieder; er sprach nur von der EMPÖRENDEN SCHANDE.
Vielleicht war es teilweise auf meine Unzufriedenheit darüber zurückzuführen, die kongregationalistische gegen die Episkopalkirche eingetauscht zu haben (noch dazu, wo Owen so zufrieden war, den Katholiken ENTKOMMEN zu sein), daß mir das Spiel, Owen Meany in die Luft hochzuheben so viel Spaß bereitete. Heute kommt es mir vor, als hätten wir damals gedacht, Owen existiere nur zu unserem Vergnügen; doch in meinem Fall – besonders jetzt in der Episkopalkirche – kam wohl auch noch hinzu, daß ich ihn beneidete. Ich glaube, meine Teilnahme an dem üblen Spaß, den wir in der Sonntagsschule mit ihm trieben, war in einer, wenn auch nur vagen, Feindseligkeit begründet, und in dem Gefühl, daß wir uns in einer Sache gründlich voneinander unterschieden: Er hatte einen stärkeren Glauben als ich, und obwohl mir das im Grunde immer bewußt war, so wurde es mir doch in der Kirche am deutlichsten bewußt. Ich mochte die Episkopalen nicht, weil [41] sie einen stärkeren Glauben zu haben schienen – oder einen Glauben an mehr Dinge – als die Kongregationalisten; und weil ich nicht allzu gläubig war, hatte ich mich bei den Kongregationalisten wohler gefühlt, die nur ein Minimum an Teilnahme von ihren Gläubigen forderten.
Owen mochte die Episkopalen auch nicht, doch er lehnte sie weniger entschieden ab als die Katholiken; seiner Meinung nach glaubten beide Gruppen an weniger als er – doch die Katholiken hatten sich viel mehr in Owens Glauben und seine Gebete eingemischt. Er war mein bester Freund, und bei seinen besten Freunden sieht man über vieles hinweg; doch erst als wir in derselben Sonntagsschule, in der gleichen Kirche waren, war ich gezwungen zu akzeptieren, daß der Glaube meines besten Freundes viel fester (wenn auch nicht immer dogmatischer) war als alles, was ich jemals bei den Kongregationalisten oder den Episkopalen gesehen hatte.
An die Sonntagsschule bei den Kongregationalisten kann ich mich überhaupt nicht mehr erinnern, obwohl meine Mutter mir erzählte, daß ich dort immer eine Menge gegessen hätte, sowohl in der Sonntagsschule als auch bei verschiedenen Gemeindeveranstaltungen. Ich kann mich noch dunkel an Apfelsaft und Kekse erinnern; doch äußerst lebhaft – mit der klirrenden Klarheit eines strahlenden Wintertages – kann ich mich an die mit weißen Holzschindeln verkleidete Kirche erinnern, an die schwarze Kirchturmuhr, und an die Gottesdienste, die immer im ersten Stock in einer nüchternen, hellerleuchteten Atmosphäre abgehalten wurden. Man konnte durch die hohen Fenster auf das Geäst der riesigen Bäume hinausschauen. Im Vergleich dazu wurden die Gottesdienste in der Episkopalkirche in einer düsteren Kelleratmosphäre abgehalten. Es war eine steinerne Kirche, die muffig war wie viele ebenerdige oder unterirdische Räume und überladen mit dunklen Holzverzierungen, die düster wirkte mit ihren mattgoldenen Orgelpfeifen und grell mit den merkwürdig [42] zusammengesetzten Buntglasscheiben, durch die man keinen einzigen Zweig der Bäume draußen sehen konnte.
Wenn ich mich über die Kirche beklagte, dann über Dinge, über die sich ein Kind normalerweise beklagt: Platzangst und Langeweile. Doch Owens Klagen waren religiöser Natur: »DER GLAUBE EINES MENSCHEN HAT SEIN EIGENES TEMPO«, sagte Owen Meany. »DAS PROBLEM AN DER KIRCHE IST DER GOTTESDIENST. EIN GOTTESDIENST WIRD FÜR EIN MASSENPUBLIKUM ABGEHALTEN. IMMER, WENN MIR EIN LIED ZU GEFALLEN BEGINNT, PLUMPSEN ALLE AUF DIE KNIE ZUM BETEN. IMMER, WENN ICH DEM GEBET GERADE FOLGEN KANN, SPRINGEN ALLE HOCH UND FANGEN AN ZU SINGEN. UND WAS HAT DIE BLÖDEPREDIGT MIT GOTT ZU TUN? WER WEISS, WAS GOTT VON DEN AKTUELLEN EREIGNISSEN HÄLT? WER SCHERT SICH DARUM?«
Auf diese und ähnliche Klagen konnte ich nur reagieren, indem ich Owen Meany hoch über meinen Kopf emporhob und ihn in der Luft hielt.
»Du ärgerst Owen zu oft«, sagte meine Mutter immer zu mir. Doch ich kann mich nicht daran erinnern, ihn oft geärgert zu haben, vom üblichen Hochheben einmal abgesehen – es sei denn, Mutter meinte, daß ich nicht erkannte, wie ernst Owen war; Scherze aller Art verletzten ihn. Immerhin hatte er Walls History of Gravesend gelesen, ehe er zehn war; das war keine einfache Sache, in diesem Buch konnte man nicht einfach herumschmökern. Und er hatte auch die Bibel gelesen – natürlich nicht, ehe er zehn war, aber er hat wirklich das ganze Ding gelesen.
Und dann gab es das Problem mit der Gravesend Academy; diese Frage stellte sich für jeden Jungen, der in Gravesend geboren war – damals wurden noch keine Mädchen zugelassen. Ich war ein schlechter Schüler; und obwohl meine Großmutter die Gebühren für diese private Schule durchaus hätte zahlen können, mußte ich doch auf die staatliche Gravesend High-School gehen – bis [43] meine Mutter jemanden aus dem Lehrkörper heiratete, der mich dann adoptierte. Kinder der Lehrer – Paukerbalgen, wie wir genannt wurden – waren automatisch zur Gravesend Academy zugelassen.
Was für eine Erleichterung das für meine Großmutter gewesen sein muß; es hatte ihr immer zu schaffen gemacht, daß ihre eigenen Kinder nicht zur Gravesend Academy gehen konnten – sie hatte nur Töchter gehabt. Meine Mutter und Tante Martha waren auf der staatlichen High-School gewesen – sie kannten die Gravesend Academy nur durch die Jungen, mit denen sie ausgingen, obwohl meine Tante Martha dies geschickt ausnutzte: Sie heiratete einen Jungen von der Gravesend Academy (einen der wenigen, der nicht meine Mutter bevorzugte), wodurch meine Vettern die Söhne eines Ehemaligen wurden, was sich günstig auf ihre Zulassung auswirkte. (Meine Kusine hingegen profitierte nicht von dieser Ehemaligen-Verbindung – wie sich noch zeigen wird.)
Owen Meany hingegen war ein klassischer Kandidat für die Gravesend Academy; er war ein ausgezeichneter Schüler; er war einer von denen, die nach Gravesend gehörten. Er hätte die Aufnahmeprüfungen machen können und wäre angenommen worden – mit einem vollen Stipendium obendrein, da es der Meany Granite Company nie besonders gut ging und seine Eltern die Gebühren nicht hätten zahlen können. Doch eines Tages, als meine Mutter Owen und mich an den Strand brachte – wir waren beide zehn – sagte sie: »Ich hoffe, du wirst Johnny immer bei den Hausaufgaben helfen, Owen, denn wenn ihr beide auf der Academy seid, werden die Hausaufgaben viel schwerer – besonders für Johnny.«
»ICH GEHE NICHT ZUR ACADEMY«, erwiderte Owen.
»Natürlich gehst du!« entgegnete meine Mutter. »Du bist der beste Schüler in ganz New Hampshire – vielleicht im ganzen Land!«
»KINDER WIE ICH GEHÖREN NICHT AUF DIE ACADEMY«, [44] meinte Owen. »KINDER WIE ICH GEHÖREN AUF DIE STAATLICHE SCHULE.«
Einen Augenblick lang dachte ich, er meinte kleine Kinder –,daß besonders kleinwüchsige Kinder auf die staatlichen High-Schools gehörten – doch meine Mutter war mir in Gedanken weit voraus und meinte: »Du bekommst ein Stipendium, Owen. Ich hoffe, deine Eltern wissen das. Du kannst ganz umsonst auf die Academy.«
»DA MUSS MAN JEDEN TAG EINEN BLAZER UND EINEN SCHLIPS ANHABEN«, entgegnete Owen, »FÜR BLAZER UND SCHLIPS REICHT DAS STIPENDIUM NICHT AUS.«
»Das kann man regeln, Owen«, meinte meine Mutter, und mir war klar, daß sie damit meinte, sie würde das regeln – wenn es nicht anders ginge, würde sie ihm mehr Blazer und Schlipse kaufen als er jemals brauchte.
»DANN BRAUCHT MAN NOCH HEMDEN UND SCHUHE«, fuhr Owen fort, »WENN MAN MIT REICHEN KINDERN ZUR SCHULE GEHT, WILL MAN DOCH NICHT WIE IHRDIENER AUSSEHEN.« Heute vermute ich, daß meine Mutter aus dieser Erklärung die bissige Argumentationsweise von Mr.Meany, dem klassenbewußten Mann der Arbeit, heraushören konnte.
»Alles, was du brauchst, Owen«, beruhigte ihn meine Mutter, »das werden wir alles regeln.«
Wir fuhren gerade durch Rye, an der Kirche vorbei, und die Brise, die vom Meer her wehte, war bereits recht kräftig. Ein Mann mit einem großen Packen Dachschindeln auf einer Schubkarre hatte seine liebe Mühe, dafür zu sorgen, daß ihm die Schindeln nicht davonflogen; die Leiter, die am Dach der Sakristei lehnte, drohte umzukippen. Der Mann schien ganz gut einen Helfer gebrauchen zu können – oder zumindest ein paar Hände, die mit anpackten.
»WIR SOLLTEN ANHALTEN UND DEM MANN HELFEN«, bemerkte Owen, doch meine Mutter war noch mit ihrem [45] Gesprächsthema beschäftigt und bemerkte deshalb draußen nichts Ungewöhnliches.
»Würde es etwas nützen, wenn ich mit deinen Eltern darüber rede, Owen?« fragte sie ihn.
»DANN IST DA NOCH DAS PROBLEM MIT DEM BUS«, meinte Owen. »UM IN DIE STAATLICHE SCHULE ZU KOMMEN, KANN ICH DEN BUS NEHMEN. ICH WOHNE JA NICHT DIREKT IN DER STADT. UND WIE KÄME ICH ZUR ACADEMY? ICH MEINE, WENN ICH NICHT IM INTERNAT WÄRE – WIE KÄME ICH DANN MORGENS DAHIN? UND WIE KÄME ICH ABENDS WIEDER HEIM? UND MEINE ELTERN WÜRDEN MIR NIE ERLAUBEN, IM INTERNAT ZU WOHNEN. SIE BRAUCHEN MICH ZU HAUSE. AUSSERDEM SIND INTERNATE ETWAS SCHLECHTES. UND WIE KOMMEN DIE SCHÜLER, DIE NICHT IM INTERNAT WOHNEN, IN DIE SCHULE UND WIEDER NACH HAUSE?«
»Jemand bringt sie hin und holt sie wieder ab«, antwortete meine Mutter,»Ich könnte das ja machen, Owen – solange, bis du selbst den Führerschein hast.«
»NEIN, DAS GEHT NICHT«, SAGTE OWEN. »MEIN VATER HAT KEINE ZEIT, UND MEINE MUTTER KANN NICHT AUTOFAHREN.«
Mrs.Meany – das wußte meine Mutter ebensogut wie ich – fuhr nicht nur nicht mit dem Auto; sie verließ niemals das Haus. Und selbst im Sommer waren die Fenster ihres Hauses immer geschlossen; seine Mutter litt an einer Stauballergie, hatte Owen erklärt. Tag für Tag, das ganze Jahr über, saß Mrs. Meany drinnen hinter den Fenstern, deren Scheiben vom Staub aus dem Steinbruch blind und verschmiert waren. Sie hatte einen alten Pilotenkopfhörer auf (die Kabel baumelten lose herunter), weil sie den Krach der Meißel und Bohrhämmer nicht ertragen konnte. Und wenn gesprengt wurde, stellte sie das Grammophon ganz laut – die Big Band plärrte, und gelegentlich hüpfte die Nadel, wenn das Dynamit besonders nah und lautstark losdröhnte.
Mr.Meany besorgte die Einkäufe. Er brachte Owen zur Sonntagsschule und holte ihn wieder ab – obwohl er selbst nie an den [46] Gottesdiensten in der Episkopalkirche teilnahm. Es genügte ihm offenbar als Rache an den Katholiken, daß er Owen dorthin schickte; entweder hielt er es für unnötig, daß er selbst auch noch teilnahm, oder aber Mr.Meany war von den Katholiken so schändlich behandelt worden, daß er fortan keinen Kirchenlehren mehr Gehör schenkte.
Auch das Thema Gravesend Academy stieß, wie meine Mutter wußte, bei ihm auf taube Ohren. »Es gibt die Interessen der Stadt«, so sagte er einmal auf einer Bürgerversammlung, »und es gibt die Interessen von denen.« Womit er auf die Anfrage der Academy anspielte, den Unterlauf des Squamscott zu verbreitern und eine tiefere Fahrrinne auszubaggern, damit die Schulmannschaft dort besser rudern konnte. Einige Boote waren bei Ebbe schon im Schlamm steckengeblieben. Die Stelle, wo die Academy den Fluß verbreitern wollte, war eine Halbinsel aus sumpfigem Marschland, die an den Steinbruch von Mr.Meany angrenzte; das Land war völlig unbrauchbar; dennoch war Mr.Meany, dem es gehörte, verbittert, daß die Academy diesen Teil wegbaggern wollte – »nur damit die da rudern können!« wie er sagte.
»Wir reden über Schlamm, nicht über Granit«, hatte ein Mitglied der Academy bemerkt.
»Ich rede über uns und die!« war Mr. Meanys unbeherrschte, lautstarke Antwort in der Bürgerversammlung gewesen, die einen gewissen Berühmtheitsgrad erreichte. Damit eine Bürgerversammlung in Gravesend berühmt wird, bedarf es nur eines anständigen Streits.