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Vorstandsposten, Parteiposten, Vollpfosten: von Menschen, die an Schalthebeln sitzen und dabei reichlich blöd dastehen
Sie müssen Entscheider sein und haben doch keine Ahnung, was sie tun sollen. Sie haben sich bis fast ganz oben auf der Karriereleiter hochgeboxt und fallen dann doch wegen Leichtfertigkeiten der Liebe. Sie wollen die Welt aus den Angeln heben und holen sich dabei nur einen Leistenbruch. Männer und Frauen wie die, die sich der große Kabarettist Bruno Jonas für seine Geschichten aus dem Leben gegriffen hat, füllen täglich die großen und kleinen Schlagzeilen, werden bewundert oder belächelt. Und was sie auch anfassen, irgendjemand sorgt schon dafür, dass es in die Hose geht und alle davon erfahren.
„Wem das Wasser bis zum Hals steht, der kann den Kopf nicht mehr in den Sand stecken.“
Der große Kabarettist Bruno Jonas als wandlungsreicher Erzähler. In zehn hintergründigen Geschichten bringt er seine mitten aus dem Leben gegriffenen Figuren in Situationen, die ihr Leben verändern. Jonas erzählt von Menschen, die glaubten, ihr Leben im Griff zu haben – in der Politik und der Wirtschaft in der Familie und im Beruf. Bis zu dem Moment, an dem das Schicksal gnadenlos zuschlägt und damit alles in Frage stellt: Der Reporter Timo Reinfeldt kam zu Geld und Ruhm, indem er Prominente in die Pfanne haute. Doch nachdem ihn beim Beckenbauer-Cup am 7. Loch ein Herzinfarkt ereilte, muss er sich in die Hände eines Arztes begeben, dem er einst die Fälschung seines Doktortitels nachweisen wollte. Ein pensionierter Steuerprüfer, der seine Klienten von Amts wegen bis auf die Unterhosen durchleuchtete, beobachtet seine Frau beim flirten mit dem Mann, der ihm einst seine größte Niederlage beibrachte. Der Altenpfleger Andreas begegnet auf der Demenzstation einem geheimnisvollen Mann, der behauptet in seinem früheren Leben als Profikiller hohe Politiker ins Jenseits befördert zu haben. Ein CSU-Karrierist starrt am Wahlabend fassungslos auf die ersten Hochrechnungen. Ein griechischer Wirt wird mitten in der Krise unverhofft zum Staatspräsidenten. Ein Busfahrer überlegt, wie er seiner Familie schonend beibringt, dass er Lottomillionär ist. Bei einem alten Mann, der sich zum Sterben hingelegt hat, klopfen plötzlich Geburtstagsgratulanten an die Tür.
Verpasste und verpatzte Chancen liegen unter der scheinbar glatten Oberfläche dieser deutschen Musterleben, in die Bruno Jonas überraschend vielstimmig, komisch und nachdenklich eintaucht.
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Seitenzahl: 302
BRUNO JONAS
BIS ZUM HALS
Karl Blessing Verlag
Auflage 2012
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe 2012
by Karl Blessing Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: Hauptmann und Kompanie Werbeagentur, Zürich
unter Verwendung eines Fotos von Ralf Wilschewski
Satz: Leingärtner, Nabburg
ePub-ISBN 978-3-641-09704-2
www.blessing-verlag.de
www.bruno-jonas.de
Für meine Familie
Inhalt
HerzLos
Der Nachrücker
Traumkarriere
Der Attentäter
Warten auf
Mir wurscht
Am Finkenfelsen
Getroffen
Gewinnen und Verluste
Vor dem Urteil
Danksagung
HerzLos
Mein Leben hing an einem seidenen Faden. Atropos hatte die Schere schon angesetzt. Ich lag auf der Intensivstation des Herzzentrums. Ich fühlte mich miserabel, elendig schwach, ich lag darnieder, so muss man das wohl nennen.
Alle, die mich besuchten, konnten ihr Entsetzen über meinen beklagenswerten Zustand nur unzureichend verbergen. Der Schrecken stand ihnen ins Gesicht geschrieben, als sie mich auf dem Krankenbett liegen sahen, angeschlossen an alle möglichen Apparate, ohne die ich längst verschieden wäre. Verschieden? So sagt man, wenn einer tiefer gelegt wird. Also Erdbestattung, Feuerbestattung, Seebestattung.
Noch lebe ich. Aber wie lange noch? Mir fiel ein, dass ich die Letzten Dinge bisher nicht geregelt hatte. Wie soll mit meinen sterblichen Überresten verfahren werden? Ich finde es schon komisch, dass der Mensch in der Lage ist, sich vorzustellen, wie das ist, wenn er nicht mehr ist. Ich habe mir meine Beerdigung ausgemalt, natürlich in den schönsten Farben. Ich habe alle Reden schon gehört, die Nachrufe gelesen, die Trauer der Hinterbliebenen gesehen. Die Gebinde und Gestecke, die Kränze, die Blumen, die Tränen. Die Trauermienen. Die verstohlenen Seitenblicke. Die Verlogenheiten.
Sehr ergreifend das alles.
Über ein Testament hatte ich nie nachgedacht. Warum sollte ich? Mit 42 Jahren, was gab es da schon erbrechtlich zu regeln? Die Dachgeschosswohnung, die Wertpapiere, das Ferienhaus in den Marken. Es würde sowieso alles meine Frau Teresa bekommen. Teresa, eine Witwe! Wie das klingt! Ich sah schon die Schlagzeile: Timo Reinfeldt – Tod beim Golfen!
Sie haben vielleicht schon einmal von mir gehört. Ich bin Gesellschaftsreporter beim Münchner Abend. Zumindest war ich das bis zu dieser Herzattacke, die mich aus heiterem Himmel niederstreckte. Die Sonne stand hoch, und es war ein heißer Tag im Juli, als ich von einer Minute auf die andere umfiel. Beim Golfen am siebten Loch anlässlich des Beckenbauercups, der einmal jährlich zugunsten der gleichnamigen Stiftung in Griesbach in Niederbayern stattfindet.
Alle waren sie da. Ganz großes Aufgebot. Ein Auflauf wie selten. Die Wichtigen und die Unwichtigen. Alles, was Rang und Namen hat, hatte sich aufgemacht ins Rottal, um für die Beckenbauer-Stiftung Gutes zu tun. Vorstandsvorsitzende, Rennfahrer und ehemalige Spitzensportler, Medaillengewinner einer am anderen, dazu Schauspieler, Musiker, Künstler und Schönheitschirurgen, die mit den Verschnittenen, Gestrafften und Geglätteten und den »Noch-nicht-Verschönten« schäkerten und plauderten. Alles, was ein Eisen halten konnte, bewegte sich über den Platz. Natürlich auch der Franz! Die Lichtgestalt. Es waren auch noch ältere Herren im Wettbewerb, solche, bei denen nicht sicher war, ob sie das Ende des Turniers überhaupt noch erleben würden. Der Boandlkramer ist auch da, hab ich noch im Scherz gesagt. Der Tod hält sich mit Golfen fit! Ich wollte wissen, welches Handicap er hat. Hat der überhaupt die Platzreife? So einen Blödsinn redet man. Man will ja komisch sein. Aber dass der Gevatter Tod bei diesem Turnier auf Sieg spielte, damit hatte niemand, ich am allerwenigsten, gerechnet. Ich hätte es wissen müssen, Witze provozieren ihn. Und er reagierte sofort. Er streckte mich hin aufs Green. An einem hellen Sommertag. Im Fallen entwarf ich schon die Schlagzeilen: Vor dem Loch verreckt! Den letzten Ball ließ er liegen. – Man ist ja Profi.
Ich muss ziemlich tot ausgesehen haben, wie man mir später berichtete. Leichenblass und mit blauen Lippen sei ich im Gras gelegen, kein schöner Anblick. Viele der Anwesenden wollten es einfach nicht wahrhaben – was ich verstehen kann, weil das ja nicht so oft vorkommt, dass bei einem gesellschaftlichen Event wie dem renommierten Beckenbauercup einer stirbt. Journalistisch betrachtet eine Superstory, nur hätte ich sie nicht mehr schreiben können. Das wäre schade gewesen.
Vor den Ereignissen am siebten Loch hatten mich alle auf von Klauberg angesprochen. Jeder wusste Bescheid. Alle hatten die Serie gelesen. Seit dieser Geschichte war die Auflage täglich gestiegen. Es war die alles beherrschende Story dieser Tage. Von Klaubergs tiefer Fall! Baron Nikolaus von Klauberg. Von Klauberg überstrahlte alles in der Medienlandschaft. Er hatte eine Blitzkarriere hingelegt. Ruckzuck war der in höchste Positionen aufgestiegen. Und schließlich war er eines Tages Wirtschaftsminister, Verteidigungsminister und Außenminister, und manche sahen ihn schon im Kanzleramt. Natürlich erinnern Sie sich. Jeder war davon berührt. Von Klauberg, die neue Lichtgestalt! Bis dieser hässliche, kinderpornografische Verdacht auf ihn fiel. Ich habe die Geschichte in den Medien – wie soll ich sagen – angestoßen. Mehr nicht!
Obwohl es nicht sehr freundlich war, was ich über Klauberg schrieb, schien es der Wahrheit ziemlich nahe zu sein. Ich war ein hungriger Journalist, immer auf der Suche nach heißen Storys. Mein Gott, ich hatte einen Ruf zu verlieren! Schließlich galt ich als besonders gemein und hinterhältig, eine sogenannte Edelfeder in der Branche, boshaft zwar, aber stilistisch geschliffen. Ästhetische Hinterfotzigkeiten waren meine Spezialität.
Mein Chefredakteur Jerry Zenker hat mich jedenfalls gelobt. Also Timi, sagte Jerry Zenker, ich kann es nicht oft genug sagen, da ist dir ein Meisterstück gelungen. Timi, nannte er mich, wenn er mir zeigen wollte, dass mir etwas besonders gut gelungen war. Was mir in dieser Form immer unangenehm war, weil ich nie ein Timi war und auch nie sein wollte. Timi klingt in meinen Ohren immer kindlich, und ich sehe sofort einen kleinen Jungen von höchstens fünf Jahren vor mir, der liebevoll einen Collie mit Namen Lassie streichelt. Ich fühlte mich als Timo Reinfeldt immer sehr wohl, als »der Reinfeldt«, der als Kolumnist für den Münchner Abend der Gesellschaft zurückgab, was sie bot. Geschichten aus der Gesellschaft für die Gesellschaft in leicht ironischem Ton.
Timo ist eine Abkürzung für Timotheus, und genauso steht es auch in meinem Pass. Diesen altehrwürdigen Namen gab man mir, weil mein Großvater auch schon so hieß und es in der Familie meines Vaters Tradition war, den Enkel nach dem Großvater zu benennen. Allerdings hieß der Großvater Fürchtegott, was wiederum meiner Mutter nicht gefiel. Und so einigte man sich in der Familie auf Timotheus, was auf Lateinisch so viel heißt wie Fürchtegott. Ich selbst habe mir um die Bedeutung meines Namens nie viele Gedanken gemacht. Wenn man mich allerdings gefragt hätte, welchen der beiden Vornamen ich selbst bevorzugt hätte, so wäre meine Wahl ebenfalls auf die lateinische Variante Timotheus gefallen. Mit Fürchtegott hätte ich mich nie anfreunden können. Es wäre mir zu altmodisch, zu christlich und zu religiös gewesen. Außerdem habe ich mich in meinem Leben nie viel für Gott interessiert. Aber so, wie sich die Dinge entwickelt haben, scheint sein Interesse an mir größer gewesen zu sein, als meines an ihm.
Ich gab nicht viel auf Jerrys Lobhudeleien. So was war nie von Dauer, konnte sich schnell wieder ins Gegenteil verkehren, und dann war ich wieder ein blutiger Anfänger. Nun war es also ein Meisterstück! Ehrlich gesagt, die Fakten waren dürftig. Die Geschichte lag schon Jahrzehnte zurück. Von Klauberg soll in der Pubertät homosexuelle Anwandlungen gehabt haben, behauptete ein junger Mann, der mit ihm im gleichen Fußballverein gespielt hatte. Unter der Dusche soll es zu Berührungen gekommen sein. Es war eigentlich nichts. Wir haben eine kleine Geschichte daraus gemacht. Aber von Klaubergs politische Gegner haben im Wahlkampf immer wieder Anspielungen auf seine angebliche Neigung gemacht. Von Klauberg würde sich verstärkt um die frühkindliche Förderung kümmern. Wie gesagt, viel dran war wohl nicht, und wir haben die Sache zunächst eher als anekdotische Anmerkung geplant, als lustiges Spiel. Aber in solchen Situationen zeigt sich, was einen guten Journalisten ausmacht. Aus wenig viel zu machen, das kann nicht jeder. Aus einigen wenigen Gerüchten habe ich eine spannende Story gestrickt. Es war ein echter Aufreger. Las sich gut, und die Auflage des Münchner Abends stieg. Jerry Zenker war voll des Lobes für mich. Mensch Reinfeldt, Timi, das hast du großartig gemacht. Du hast deine Chance genutzt.
Er meinte damit, dass man alle Quellen zum Sprudeln bringen muss. Von Klauberg und ich kannten uns aus gemeinsamen Internatszeiten. Und ich konnte ein paar Geschichten aus unserer Jugend beisteuern, die eine gewisse pädophile Neigung zwar nicht bewiesen, aber auch nicht ganz entkräfteten. Jungen in einem gewissen Altern, in einem katholischen Internat zusammengepfercht, probieren einiges aus in sexueller Hinsicht. In einem gewissen Alter ist das normal. Nun war der Pädophilieverdacht aber mal im medialen Raum. Von Klauberg sah sich plötzlich den kritischen Fragen von Journalisten ausgesetzt. Man war gespannt, wie sich der junge Politstar damit schlug. War er in der Lage, eine mediale Schlacht zu gewinnen, sie souverän durchzustehen? Und wenn ja, dann war er für höhere Ämter auf jeden Fall geeignet. Aber von Klauberg war nicht der starke Mann, den er uns vorspielte. Er war dünnhäutig und dem Spektakel nicht gewachsen. Er nahm Tabletten zur Beruhigung. Und so kam eins zum andern. Immer neue Anekdoten schienen sich ins Bild zu fügen. Psychisch muss ihn die Geschichte sehr mitgenommen haben. Er musste von allen Ämtern zurücktreten, seine Parteifreunde haben ihn fallen lassen. Karriere beendet. Es war wohl sehr unschön, wie man parteiintern mit ihm umging. Man munkelte, dass die Ehe zerbrach, die Familie wendete sich ab. Schlimm, wenn man erfahren muss, dass man sich auf niemanden verlassen kann.
Auch mich hat die Entwicklung dieser Geschichte ziemlich mitgenommen. Man ist ja doch Mensch. Und Niko und ich kannten uns lange. Kann sein, dass diese Geschichte auch bei mir das Fass zum Überlaufen brachte.
Was meine Situation hier auf der Station besonders prekär macht, ist der Chef des Herzzentrums, Professor Boris Kalkov. Den müssten Sie eigentlich kennen. Er ist eine Kapazität mit internationalem Renommee. Hoffnungslose Fälle bekommen bei ihm ihre letzte Chance. Wer Geld und was am Herzen hat, der geht zum Kalkov. Nun war das in meinem Fall etwas anderes. Ich habe nie im Leben daran gedacht, dass ich mal was am Herzen haben könnte. Und wenn man mich gefragt hätte, wohin man mich bringen soll, ich hätte gesagt, überallhin, nur bitte nicht zu diesem Kalkov. Es gibt da nämlich eine gemeinsame Geschichte, die Kalkov und mich auf eine schicksalhafte Weise verbindet. Aber nicht freundschaftlich. Im Gegenteil. Kalkov pflegt seitdem eine herzliche Ablehnung meiner Person. Wenn sich unsere Wege irgendwo in dieser Stadt einmal zufällig kreuzten, gingen wir wortlos aneinander vorbei, doch mir war klar, dass er für mich nichts als Verachtung übrighatte. Deshalb war mir gar nicht wohl, als ich bemerkte, wo man mich eingeliefert hatte. Das passt ja, schoss es mir durch den Kopf. Ausgerechnet bei diesem Kalkov auf der Intensivstation muss ich landen. Mein Gott! Es ist Jahre her, aber er wird es nicht vergessen haben. Nein! Dafür war die Geschichte zu verletzend. Jedenfalls wird Kalkov sie als verletzend empfunden haben. Er wollte verletzt sein! Objektiv betrachtet – war’s so schlimm nicht. Böses Spiel, dachte ich bei der ersten Visite, ein ganz böses Spiel ist das hier! Ich wich seinem Blick aus und versuchte meine Gedanken zu sortieren. Er fixierte mich und ließ seinen Blick lange auf meinem Bett verweilen. Was ging in ihm vor? Wie schaute der denn? Eher freundlich oder eher feindlich? Ich konnte ihn nicht richtig sehen. Er stand im Gegenlicht. Man trifft sich im Leben immer zwei Mal. Auch so ein Satz, der sich immer wieder bewahrheitet.
Dr. Kalkovs falscher Doktor? Das war die Headline. In fetten, übergroßen Lettern auf der ersten Seite. Hat sich die berühmte Herzkapazität die Doktorarbeit schreiben lassen? Stand etwas kleiner darunter. Es gab einen Verdacht. Am Ende blieb wenig davon übrig. So ist das häufig in unserem Gewerbe. Zu Anfang ist die Geschichte groß, und mit zunehmender Zeit wird sie immer kleiner. Aber wir Journalisten haben die Pflicht und das Recht, an der Fassade der Berühmten zu kratzen, oder etwa nicht?
Weiße Westen blenden! Alle wollen ja immer nur makellos erscheinen in der Öffentlichkeit. Doch niemand ist makellos. Das lehrt die Erfahrung. Sein guter Ruf war angeblich lädiert. Mein Gott, was heißt das schon! Die Leute vergessen schnell. Nur er nicht! Verstehen könnte ich es, wenn er die Gelegenheit zur Rache nutzt. Mit dem Gedanken hat er bestimmt gespielt. Ein kleiner ärztlicher Fehler, der unentdeckt bleibt, und schon wäre der Fall erledigt. Aber als Arzt ist er Profi, redete ich mir gut zu, Professor Dr. Boris Kalkov hat Größe, ja, natürlich, der ist nicht kleinlich und schon gar nicht nachtragend. Oder doch? Wahrscheinlich ist er nachtragend! Ich an seiner Stelle wäre auch nachtragend. Vielleicht hat er aber auch Humor? Den chefärztlichen Humor! Diesen Ist-alles-nicht-so-schlimm-Humor, den Das-kriegen-wir-schon-wieder-hin-Humor. Kopf hoch! Hahaha. Aber ob er so viel Humor hat, um diesen Artikel wegzustecken? Jeder hat so seine persönlichen Humorgrenzen. Von wegen, Humor ist, wenn man trotzdem lacht! Die meisten haben gerade genug Humor, um über andere lachen zu können.
In den Medien tobte eine Debatte. Die Emotionen kochten hoch. Die einen meinten, wir wären zu weit gegangen, andere klagten, wir wären noch viel zu zurückhaltend gewesen, wir sollten sie ruhig noch härter rannehmen, diese Promi-Ärzte. Eine gesalzene Abrechnung mit diesen Abzockern sei überfällig. Über Wochen lieferten sich die üblichen notorischen Rechthaber auf allen Seiten eine Leserbriefschlacht, die sich sehen lassen konnte. Wir hatten einen Nerv getroffen.
Der Artikel wäre »ehrabschneidend« gewesen, schrieben manche. Es fehle an der journalistischen Sorgfalt. Ehrabschneidend? Ach was! Die Leute sind empfindlich. Falls er tatsächlich Rache an mir nehmen wollte, der Herr Chefarzt, würde ich ihm nicht dazu raten! Nein, das wird er nicht wagen. Er hat ja einen Ruf zu verlieren! Er ist ärztlicher Direktor und Leiter der Herzchirurgie, beruhigte ich mich. Der wird sich hüten, einen Fehler zu machen. Jerry wird ihn im Auge behalten und mich rächen. Jerry kennt kein Pardon, der würde ihn fertig machen im Münchner Abend.
Jerry ist ein hervorragender Blattmacher. Das muss man ihm lassen. Er hat eine Nase für Geschichten. Und die Frage, ob der »weltberühmte Professor Kalkov« bei seiner Promotion geschummelt hat oder nicht, ist doch von Interesse. Das muss man aber nicht persönlich nehmen! Was in der Zeitung steht, hat doch mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Sagt Jerry. Die Wirklichkeit ist langweilig. Die will kein Mensch lesen, weil sie traurig ist. Das wirkliche Leben erfahren die Leute Tag für Tag am eigenen Leib, das kennen sie zur Genüge. Es steht ihnen bis hier. Sie wollen etwas erfahren, was sie selbst nie erfahren werden. Das Ungewöhnliche! Das Unglaubliche! Darum brauchen sie Geschichten, die mit ihrem Leben nichts zu tun haben. Storys über die Reichen und Schönen, die Mächtigen. Ob die Geschichten wahr sind, interessiert keinen Menschen. Die wahren Geschichten sind die unwahren Geschichten. Die Wirklichkeit wird täglich von jedem von uns erfunden. Sagt Jerry Zenker. Die wirklichen Geschichten reißen uns die Leser aus der Hand, wenn sie unwirklich sind. Jerry, der Philosoph! Es ist doch völlig unerheblich, ob der Doktor die Arbeit selbst geschrieben hat. Relevant ist nur, ob er sie nicht geschrieben haben könnte. Und mehr habe ich auch nicht geschrieben.
Kann schon sein, dass ihn diese alte Geschichte immer noch wurmt, aber auf seine ärztliche Tätigkeit darf sie keine Auswirkung haben. Der Kalkov kann und muss das trennen. Er hat den Eid des Hippokrates abgelegt. Natürlich, der Mann kann differenzieren. Der steht da drüber! Der ist Profi. Sagte ich mir. Vor ihm liegt nicht der Journalist Timo Reinfeldt, hier liegt der Mensch Timo Reinfeld, komplett hilflos mit all seinen Schwächen. Nachtreten wäre schäbig und grob unsportlich. Außerdem: Wer von euch ohne Sünde sei … Ist Kalkov ein gläubiger Mensch? Weiß er, was Barmherzigkeit ist? Nächstenliebe? Mein Gott, was mir in diesem Moment alles durch den Kopf ging. Stand es wirklich so schlimm um mich, dass ich Zuflucht beim Glauben suchen musste?
Kalkov besprach sich mit seinen Fachärzten. Fachmedizinische Vokabeln flogen über mich hinweg. Nekrose, Hinterwand, Auswurfleistung …? War das so was wie ein Rauswurf? Konnte das sein? Wollten die mich loswerden? Verweigerte Kalkov die Behandlung? Nein, es ging um einen Herzkatheter.
Soweit ich mich erinnern kann, haben wir die Geschichte damals ja auch nicht allzu groß gebracht. Gut, sie stand auf der ersten Seite, das schon, aber es war nicht die ganze erste Seite damit voll. Es ist nur so, wenn eine Geschichte über eine berühmte Persönlichkeit im Umlauf ist, dann besteht auch ein großes öffentliches Interesse, dass darüber berichtet wird. Es blieb uns gar nichts anderes übrig, als die Kalkov-Geschichte ins Blatt zu heben. Außerdem: Hätten wir die Kalkov-Geschichte nicht gebracht, wären uns mit Sicherheit andere zuvorgekommen. Wie hätte das denn ausgesehen? Am Ende wäre uns unterstellt worden, wir hätten aus falscher Rücksicht gehandelt. Es ist passiert und nicht mehr rückgängig zu machen. Außerdem verlief die Geschichte sowieso im Sand, hatte keinerlei Konsequenzen für Kalkov. Wahrscheinlich hat sie seinen Bekanntheitsgrad sogar noch gesteigert. Auch eine negative Geschichte ist schließlich Werbung.
Vielleicht sollte ich ihm sagen, dass nicht ich, sondern Jerry Zenker, der Chefredakteur, den Bericht über ihn unbedingt bringen wollte? Ich habe ja noch Bedenken geäußert. Wegen der dünnen Faktenlage. Außerdem wies ich darauf hin, dass Kalkov gut vernetzt sei in Politik und Wirtschaft. Jerry Zenker wischte meine Einwände vom Tisch. Wenn nichts dran wäre, würde der Professor eine Gegendarstellung schicken, sagte er kühl und grinste dabei. Jerry ist schon eine Drecksau. Aber als Zeitungsmacher bleibt ihm gar nichts anderes übrig. Zart besaitete Naturen haben auf dem Chefposten nichts verloren. Sentimentalitäten kann sich in diesen Höhen keiner leisten.
Die Geschichte passte gut in die damalige Zeit. Vielleicht erinnern Sie sich, als plötzlich wie aus heiterem Himmel ein allgemeines Misstrauen gegenüber allen promovierten Akademikern überall im Lande geschürt wurde. Man bezweifelte flächendeckend, ob bei der Erlangung des akademischen Doktorgrades immer und überall alles mit rechten Dingen zugehe in diesem schönen Lande, das unheimlich stolz ist auf seine Bildungsinstitutionen. Es fanden sich im ganzen Land Menschen, die mit großem Eifer zu Werke gingen und Doktorarbeiten, vorzugsweise solche von höhergestellten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, auf Plagiate hin überprüften. Der Wissenschaftsbetrieb an sich wurde einer Revision unterworfen. Im Zuge dieser akribischen Nachschau, die von manchen Zeitgenossen als über
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