Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Charlotte Sander hat ihren ersten Tag als Fotografin bei der ältesten Zeitung Hamburgs und tritt dem erfahrenen Reporter Jan Fischer direkt auf den Schlips. Das ungleiche Paar kommt sich bei den Recherchen zu einer vermissten Sängerin näher - und fragt sich bald, ob Anna Horn wirklich bei einem Segeltörn von Bord gefallen und ertrunken ist. Gemeinsam gelingt es ihnen, einem Frauenfänger auf die Spur zu kommen, der einen perfiden Plan verfolgt. Doch den Frischverliebten bleibt nicht viel Zeit. Jan muss schnell sein, wenn er Charlotte nicht gleich wieder verlieren will …
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 454
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Markus Kleinknecht
BIST DU NICHT WILLIG
Thriller
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Immer informiert
Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie
regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.
Gefällt mir!
Facebook: @Gmeiner.Verlag
Instagram: @gmeinerverlag
Besuchen Sie uns im Internet:
www.gmeiner-verlag.de
© 2024 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © moritz kindler / Unsplash
ISBN 978-3-8392-7908-3
Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt;
Und bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt.
Der Erlkönig – J. W. v. Goethe
Sie merkte sofort, dass sie nicht zu Hause war. Dass sie ihre Beine nicht richtig bewegen konnte, merkte sie kurz darauf. Im Halbdunkel fasste sie an sich hinunter. Eine Fußfessel lag um ihren linken Knöchel. Im fahlen Licht konnte sie Metall schimmern sehen. Ihr Mund fühlte sich trocken an. Es schmerzte hinter den Augen. Lieber wieder zumachen. Noch etwas schlafen.
Sie erinnerte sich, dass sie den Klub allein verlassen hatte. Mehr geflüchtet als einfach nur gegangen. Dieser Typ, Volker Soundso, hatte sie den ganzen Abend genervt. Doch sie konnte ihn einfach nicht loswerden. Als er zur Toilette ging, nutzte sie die Gelegenheit, selbst zu verschwinden. Benebelt von der stickigen Luft und einer nicht unbeträchtlichen Menge Alkohol, stolperte sie aus der Tür auf die Straße hinaus.
Taxi! Wo waren denn die Taxen?
Ihre Beine fühlten sich taub an. Ihr Gehen wurde mehr zu einem Stolpern. Jemand griff ihr von der Seite unter die Arme.
Geht schon. Geht schon.
Aber es ging nicht. Sie wurde zu einem großen weißen Wagen geführt, eine Schiebetür geöffnet. Was für ein komisches Taxi, hatte sie noch gedacht. Vielleicht ein Sammeltaxi. An dieser Stelle setzte ihre Erinnerung aus.
Das kann doch nicht nur vom Alkohol kommen, dachte sie nun mit geschlossenen Augen auf der Pritsche. Jemand hat mich betäubt. Das waren K.-o.-Tropfen.
Sie drehte den Kopf zur Seite, konnte nun etwas mehr im Dämmerlicht erkennen. Der Raum, in dem sie sich befand, war nicht sehr groß. In der Mitte stand ein dunkler Gegenstand. An der gegenüberliegenden Wand gab es eine Tür. Darüber ein Oberlicht. Es schimmerte gelblich.
Sie richtete sich vorsichtig auf. In ihrem Kopf hämmerte der Schmerz. Ungeniert stöhnte sie auf. Dann schob sie die Beine vom Bett, stellte die Füße vorsichtig nebeneinander. Etwas klirrte bei der Bewegung.
Eine Kette.
Ihre Füße waren nackt. Sie spürte einen kalten Bodenbelag. Nicht kalt genug für Fliesen. Vielleicht ein Linoleumboden. Sie versuchte aufzustehen. Beim ersten Versuch plumpste sie gleich wieder nach hinten. Der zweite glückte. Vorsichtig machte sie einen Schritt vorwärts.
In der Mitte des Raums standen ein Tisch und ein Stuhl. Sie griff nach der Stuhllehne und ruhte sich einen Augenblick aus. Übelkeit griff nach ihr. Totale Erschöpfung wollte sich ausbreiten. Sie erlaubte es ihr nicht. Noch nicht. Erst musste sie wissen, was sich hinter der Tür verbarg.
Langsam schritt sie weiter. Auf halber Strecke begann sich die Kette zu straffen. Sie merkte es schon, bevor es in den Kettengliedern ruckte. Danach konnte sie den Fuß nicht weiter nach vorn bewegen. Zur Seite ja. Nach vorne nein.
Sofort kehrte die Erschöpfung zurück. Und mit ihr die Übelkeit. Verzweifelt streckte sie die Arme nach vorn. Bis zur Tür waren es mindestens noch zwei Meter. Sie ließ sich auf die Knie sinken, schob den Oberkörper mit den Händen ein Stück vorwärts und streckte den Arm aus.
Sie begann zu zittern, krampfte sich zusammen. Dann hörte sie Geräusche. Es war ein Wimmern. Erschrocken stellte sie fest, dass sie selbst es war, die das Wimmern erzeugte, und die Wahrheit wurde ihr mit aller Gewalt bewusst: Sie war gefangen.
Angekettet lag sie auf dem Fußboden eines Raums, den sie mit absoluter Sicherheit nicht kannte. Die Tür zur Freiheit war vor ihr, aber sie konnte sie nicht erreichen. Nicht einmal mit ausgestreckten Armen. Frierend kroch sie zurück zum Bett. Wer auch immer sie gefangen hatte, sollte sie nicht länger so sehen. Den Gefallen wollte sie ihm nicht tun.
Am Fußende des Bettes stieß sie auf einen Korb, den sie zuvor nicht bemerkt hatte. Darin lagen eine Wasserflasche, ein Paket Kekse und eine Plastikdose. Etwas Rundes in ihrer ausgestreckten Hand musste ein Apfel sein. Auch drei Bananen lagen im Korb.
Gierig griff sie nach der Flasche, verschluckte sich, hustete und nahm gleich noch einen Schluck. Das Wasser vertrieb die Bitterkeit des Alkohols der vergangenen Nacht aus ihrem Mund. Es war doch letzte Nacht gewesen, als sie den Klub verlassen und man sie entführt hatte? Sie vermutete es zumindest. Doch den genauen Zeitverlauf kannte sie nicht. Ihre Entführung konnte auch schon zwei Tage her sein. Das künstliche Licht hinter der Tür verriet ihr nicht einmal, ob Tag oder Nacht war. Erschöpft legte sie sich zurück aufs Bett und zog die Beine an den Oberkörper.
Charlotte Sander pflügte im Hallenbad durch das Wasser, als gelte es, eine neue Welt zu erobern. Und das stimmte auch. Der Fotografin stand ihr erster Arbeitstag beim Harburger Tageblatt bevor. Bisher hatte sie hauptsächlich Fotos für eine Werbeagentur gemacht und mit viel Herzblut einige großformatige Bildbände mit Hamburg-Motiven veröffentlicht. Ihre neueste Arbeit sollte diese Serie mit einem Buch über Lost Places fortsetzen. Von der Werbefotografie hatte sie schon lange die Nase voll. Immer nur künstliche Bilder von künstlichen Objekten, zu denen Charlotte irgendwann auch die entsprechenden Models zählte, hatten bisher zwar erfolgreich ihr Portemonnaie gefüllt, aber nicht ihr Herz. Da erschien ihr die Jobausschreibung der Tageszeitung viel spannender. Neben einer Liste mit gewünschten Qualifikationen hieß es, dass man durch die Themenvielfalt bei einer Lokalzeitung an Orte gelangen würde, von denen andere nicht einmal wussten. Besser ging’s nicht.
Nach ihrer letzten Bahn zog sich Charlotte an den Beckenrand und schob ihre Schwimmbrille auf die Stirn. Da das Schwimmbad früh öffnete, hatte sie die Gelegenheit genutzt, noch vor der 9-Uhr-Konferenz ihr tägliches Pensum zu erfüllen: zwei Kilometer schwimmen oder wenigstens eine halbe Stunde im Wasser sein. Motiviert stemmte sie sich in die Höhe, duschte kurz und bändigte ihre Haare beim Föhnen. Die blonden Korkenzieherlocken machten sonst mit ihr, was sie wollten.
Um 8.30 Uhr rollte sie mit ihrem alten Renault vom Harburger Ring auf den Redaktionsparkplatz hinter einem Geschäftsgebäude. Das Personal benutzte hauptsächlich den Hintereingang, während die Schaufensterfront des Harburger Tageblatts mit der jeweils neuesten Ausgabe nach vorn zur Fußgängerzone zeigte. Im Erdgeschoss war die Anzeigenannahme untergebracht, zur Redaktion führte eine Wendeltreppe in den ersten Stock. Eine quietschende Wendeltreppe, wie Charlotte bereits bei ihrem ersten Besuch im Gebäude festgestellt hatte. Automatisch hatten ihre grün schimmernden Augen, die bei vielen Gesprächspartnern eine gewisse Unruhe auslösten, die Treppenaufhängung geprüft. Doch mit der schien alles in Ordnung zu sein. Es quietschten offenbar nur die auf ein Metallskelett geschraubten Holzstufen.
Charlotte winkte in das Büro des Chefredakteurs, bei dem sie ihr Vorstellungsgespräch gehabt hatte. Der Raum war vom Rest der Redaktion durch eine Glasfront getrennt, die sich mit einem Vorhang blickdicht schließen ließ. Petersen saß an seinem Schreibtisch und winkte kurz zurück. Der Chefredakteur wirkte beschäftigt, also ging Charlotte zur kleinen Küche. Dort versorgten sich Redakteure, Volontäre und Fotomitarbeiter wahlweise mit Kaffee oder Tee. Besonders vor den Konferenzen war hier das Gedränge groß. Charlotte lächelte in verschiedene Gesichter, tauchte einen Beutel Schwarztee in einen Becher mit heißem Wasser und ging dann wieder in die Redaktion. Am ersten Tag gedachte sie, vorbildhaft pünktlich zu sein. Sobald sie sich eingewöhnt hatte, würde eine Dose mit echtem Tee in einen der Hängeschränke wandern, damit es in der Redaktion zukünftig etwas zivilisierter zugehen konnte.
Ein Kollege hob den Blick vom Schreibtisch, als sie sich im Raum nach einer Sitzmöglichkeit umsah. Der Mann trug ein ordentlich gebügeltes blaues Hemd und eine Bundfaltenhose mit dünnem Gürtel, dazu braune Lederschuhe. Eine senkrecht verlaufende Falte auf der Stirn ließ ihn zunächst mürrisch aussehen, doch der Eindruck verschwand sofort, als er zu lächeln begann und dabei eine kleine Lücke zwischen den beiden oberen Schneidezähnen entblößte. Mit einem Kopfnicken deutete er auf den freien Drehstuhl an einem Schreibtisch, mit dem sein eigener Tisch eine kleine Insel bildete. Es gab hier fünf Gruppen mit je zwei Schreibtischen, die mit den Stirnseiten zusammenstanden und deren Computermonitore, Tastaturen und Telefone sich somit spiegelten. »Danke«, sagte Charlotte, bevor sie sich mit ihrem Tee auf dem freien Stuhl niederließ. »Charlotte Sander«, fügte sie dann noch hinzu.
»Schultheis«, entgegnete der Redakteur, den Charlotte auf Mitte 40 schätzte. Da er offenbar genauso wenig wie sie zur Quasselstrippe taugte, blieb es bei der kurzen Begrüßung.
Ein Blick nach rechts durch eine Panoramascheibe zeigte Charlotte zwischen zwei hohen Gebäuden hindurch, wie der Verkehr auf dem Harburger Ring dahinfloss. Dann bemerkte sie, dass jemand neben ihr stand.
Charlotte musste nach oben gucken, um die Augen des Mannes zu finden, der sie sichtlich etwas ratlos ansah. Es war ein dünner Kerl mit einem Kaffeebecher in der Hand. Er war mindestens ein Meter 90 groß und damit sogar noch größer als Charlotte selbst, sein Gesicht kantig und unrasiert. Sein Körper wirkte eher zäh, als durch Sport gestählt, trotzdem wohnte seiner Haltung eine Lässigkeit inne, die Charlotte gefiel.
»Mein Platz«, sagte er nun.
Charlotte sah zu Schultheis hinüber, dem sie den Sitzplatz zu verdanken hatte, doch dieser versteckte sich hinter seinem Monitor und tat so, als habe er nichts damit zu tun. Ihr erster Impuls war es, den Stuhl kampflos zu räumen. Immerhin war dies ihr erster Tag. Da wollte sie nicht gleich mit den internen Gewohnheiten brechen. Doch dann entschied sie sich anders.
»Wo kann ich sonst während der Konferenz sitzen?«, fragte sie den langen Kerl.
Der sah sich nun selbst suchend um, hob fragend die Augenbrauen. »Schon gut«, sagte er dann, trat an Charlotte vorbei und setzte sich auf einen niedrigen Heizkörper vor der Panoramascheibe. Da die Heizung nur etwa 30 Zentimeter hoch war, musste er seine langen Beine aufwendig sortieren. Auch danach sah die Sitzhaltung nicht besonders bequem aus, aber es schien ihrem Kollegen zu genügen. Charlotte roch den Kaffee in seiner Hand und den Hauch eines angenehmen Herrenparfüms. »Charlotte. Die Neue fürs Foto«, sagte sie.
»Jan«, erwiderte Jan Fischer und prostete ihr mit dem Kaffeebecher zu. Im selben Moment begann ein Pager auf der Schreibtischoberfläche zu rappeln. Er war auf lautlos gestellt, trotzdem verursachte sein Vibrieren ein alarmierendes Geräusch.
»Gib mal«, bat Jan und streckte die Hand aus.
Charlotte reichte ihm das Gerät und sah dabei die Meldung auf dem Display.
»Person in Wasser. Lotsekanal«, las Jan vor. »Sollte vielleicht jemand hin. Schultheis, was ist mit dir?«
Der Mann im blauen Oberhemd versteckte sich noch immer hinter seinem Monitor und schien sich nicht angesprochen zu fühlen. Dafür schob Petersen seinen übergewichtigen Körper aus dem Büro des Chefradakteuers und sah Jan erwartungsvoll an.
»Person in Wasser. Gleich um die Ecke«, sagte Jan. »Kann aber alles Mögliche sein.«
»Dann guck mal nach. Was Aktuelles können wir noch gebrauchen«, entgegnete der Chefredakteur. Petersens Alter ließ sich wegen seiner Körperfülle nur schwer schätzen. In seinem runden Gesicht wurden die Falten von innen geglättet. Dafür machte ihn ein Vollbart wieder etwas älter. Charlotte hatte ihn schon beim Bewerbungsgespräch Mitte 50 bis Mitte 60 geschätzt.
»Ich höre erst mal, was der Lagedienst sagt. Vielleicht liegen da wieder nur Klamotten am Kai.« Jan stellte den Kaffee ab und griff zum Telefon, während Charlotte mit dem Stuhl ein Stück zurück rollte, um ihm Platz zu machen. Für den Lagedienst der Feuerwehr gab es eine Kurzwahltaste. Jan meldete sich, als säße am anderen Ende der Leitung ein guter Bekannter, nickte dabei und legte dann wieder auf.
»Könnte tatsächlich einer im Wasser sein«, sagte er zu Petersen. »Da treiben Kleidungsstücke im Hafenbecken.«
»Dann los. Und nimm Charlotte mit. Sieht sie gleich, wie es hier läuft.«
So viel zu einer entspannten Vorstellungsrunde bei der Redaktionskonferenz, dachte die Neue im Raum. Eine Aufwärmzeit gab es bei der Zeitung offenbar nicht.
»Kommst du?«, fragte Jan.
»Hole nur meine Sachen«, entgegnete Charlotte und lief zu der Tasche mit ihrem Fotoequipment, die sie in Sichtweite an einer Wand abgestellt hatte. Ihre Schritte waren lang und ausholend. Charlotte trug Cowboystiefel, Jeans und eine Jeansjacke über einer roten Bluse. Auffallend große Ohrringe wippten auf Höhe ihrer Kieferknochen, als sie Jan bei der Wendeltreppe einholte. Wieder quietschten die Stufen unter ihren Schritten.
Um zum Lotsekanal zu gelangen, mussten Jan und Charlotte die Bahnstrecke zwischen Hamburg und Bremen überwinden, deren Schienenstrang die Harburger Innenstadt vom Hafengebiet trennte. Charlotte steckte sich eine Zigarette in den Mundwinkel und kurbelte das Fenster runter.
»Was?«, fragte sie, als sie Jans Blick auf sich spürte.
»Brauchst nicht nervös zu sein«, antwortete er und begann, wie schon in der Redaktion, seine Beine zu sortieren. »Wir drucken sowieso keine Fotos von Toten. Wenn da was ist, reichen Bilder von den Tauchern oder einem Feuerwehrboot mit Hafenpanorama. Alles ganz entspannt. Wir sind nicht von der Boulevardpresse. Unsere Leserschaft ist im Schnitt über 50. Da darf es nichts allzu Aufregendes mehr sein.«
Charlotte blies Rauch aus dem Fenster. »Wer sagt, dass ich nervös bin? Bin ich nämlich nicht.«
»Musst du auch nicht.«
Charlotte fragte sich, ob der Typ sie verschaukeln wollte, konnte aber kein verstecktes Grinsen entdecken. Dann war seine Bemerkung vielleicht einfach nur nett gemeint.
»Schon lange dabei?«
Jan schien endlich eine passende Position für seine Beine gefunden zu haben. »Schon ewig«, antwortete er.
Für ewig sah Jan zu jung aus. Charlotte schätzte ihn auf Mitte 30. Damit war er auch nicht älter als sie.
Sie fuhren an Einfahrten zu tristen Industrieanlagen vorbei, bevor sie in ein Gebiet gerieten, das mit restaurierten Fachwerkbauten und sichtlich teuren Wohngebäuden protzte. In roten Backstein geschnittene Fenster und ein Aufbau aus Glas und Metall hatten die runden Silos eines über 100 Jahre alten Getreidespeichers in ein Bürogebäude der Luxusklasse verwandelt. Aus alt mach neu. Die Straße schien in beide Richtungen gesäumt von Geschäften und Lokalen.
»Da vorn links«, sagte Jan.
Rund um den Binnenhafen schien ein Luxusquartier zu entstehen. Das hatte Charlotte angesichts der offenkundig ausblutenden Harburger Innenstadt nicht erwartet. Leer stehende Geschäfte in der Fußgängerzone wurden hier von einer neuen Heimat für gefüllte Brieftaschen kontrastiert. Charlotte sah rechts das Hafenbecken liegen. Die Reifen ihres Renaults wechselten von Asphalt auf Kopfsteinpflaster. Jan ließ Charlotte unweit der alten Fischhalle halten. Wo einst frischer Fang feilgeboten wurde, befanden sich jetzt ein Bistro und ein Veranstaltungsort für Konzerte und Lesungen. Jan ging vorneweg, während Charlotte ihre Fototasche aus dem Fußraum hinter ihrem Sitz angelte. Von der Rückseite des Gebäudes aus konnte sie bereits ein Boot der Feuerwehr auf dem Wasser sehen. Auf dem gegenüberliegenden Kai stand ein rotes Fahrzeug der Tauchergruppe. Eine auf die Seite gemalte Figur mit Taucherbrille und Sauerstoffflasche schien ihre Harpune auf Charlotte und Jan zu richten.
Der Tod ist eine Möglichkeit, dachte Jan, während der glänzend schwarze Kopf eines Tauchers unter der Wasseroberfläche verschwand und Luftblasen aufstiegen. Der Geruch von Schiffsdiesel stieg Jan in die Nase. Er war froh, nicht selbst in diese Brühe zu müssen. Einige Kleidungsstücke trieben auf dem Wasser. Der Bewohner eines unweit liegenden Hausboots hatte die Sachen entdeckt und daraufhin einen Notruf abgesetzt. Wie Jan und Charlotte verfolgte der ältere Mann nun das Geschehen auf dem Wasser, schüttelte stumm den Kopf, während sich ein Feuerwehrmann aus dem kleinen Boot lehnte und mit einem Haken einen Stofffetzen aus dem Wasser zog. Der Verschluss der Kamera klickte, als Charlotte auf den Auslöser drückte.
Am Kai gegenüber stand ein Sicherungsmann der Tauchergruppe mit einer Leine. Sein Job erforderte in der Regel genauso viel Geduld wie die des Froschmanns. Doch diesmal ging alles sehr zügig. Ein Boot der Wasserschutzpolizei legte sich nach kurzer Zeit neben das kleinere Feuerwehrboot. Seile wurden herabgelassen. Der Taucher zeigte sich an der Oberfläche, sprach kurz mit der Bootsbesatzung und verschwand dann wieder. Offenbar hatte er etwas gefunden.
Die Polizisten auf dem größeren Boot zogen gemeinsam mit der Besatzung des Feuerwehrbootes an den Seilen. Als der Tote an die Oberfläche kam, klickte Charlottes Kamera erneut. Jan sah die neue Kollegin an. Ein Lichtstrahl wurde auf der Linse ihres Teleobjektivs reflektiert.
Der Tote hätte er selbst sein können, das spürte Jan Fischer in seinem Inneren, als er den Blick vom Wasser hinauf zu einem Museumskran hob, bei dem neben der Leiter zum Aufstieg ein Paar teure Lederschuhe gefunden worden waren. Nur dass Jan hier an der Kaimauer stand, während der Tote im kalten Wasser lag. So müde, wie Jan sich schon das letzte halbe Jahr fühlte, so müde schwappte auch die Elbe gegen die glitschigen Steine des Hafenbeckens. Vermutlich war der Mann gestern Nacht auf den historischen Verladekran geklettert und in der Dunkelheit abgestürzt. Ein falscher Griff, ein falscher Tritt. Der Ausleger des Krans ragte bis über das Hafenbecken. Der Mann musste auf diesem Arm sehr weit hinausgeklettert sein, sonst wäre er auf den Anleger statt ins Wasser gefallen. Jan schlug den Kragen seines Kurzmantels hoch und sah zu, wie der Taucher im trüben Wasser zur Kaimauer zurückkehrte. Dann ging Jan zum Einsatzleiter der Feuerwehr hinüber.
Der Mann in Feuerwehruniform war beinahe zwei Meter groß und befand sich mit Jan auf gleicher Augenhöhe. Er begrüßte den Journalisten mit einem festen Händedruck. Nach einigen verbalen Freundlichkeiten begann Jan, sich Notizen zum Unglück zu machen. Viel wusste der Einsatzleiter noch nicht. Beide guckten zum Kran, guckten auf das Hafenbecken und sich dann wieder gegenseitig an. »Hochmut kommt vor dem Fall.«
Jan nickte, wusste er doch, dass Feuerwehrleute ebenso wie Polizisten und die Mitarbeiter von Rettungsdiensten häufig schwarzen Humor benutzten, um mit den menschlichen Dramen, denen sie täglich begegneten, zurechtzukommen. Reichte dies nicht, fand nach dem Einsatz eine seelische Nachsorge in den Feuerwachen oder auf dem Polizeirevier statt. Entweder im Gespräch mit den Kollegen oder mit einem ausgebildeten Notfallseelsorger. Jan hatte für das Tageblatt einmal einen Bericht über das Thema geschrieben.
»Männlich, weiblich?«, fragte er nun, um sich seinen eigenen Eindruck bestätigen zu lassen.
»Männlich. Allein schon wegen der Schuhe.«
»Alter?«
»Bei einer solchen Aktion?«, entgegnete der Einsatzleiter mit einer Kopfbewegung zum Kran. »Der war garantiert noch jünger. Aber um die Identität kümmert sich wie immer die Pol.«
»Okay, danke.« Jan steckte den Notizblock ein und blieb beim Einsatzleiter stehen, bis dieser über Funk vom Feuerwehrboot gerufen wurde. Die Hände in den Taschen ging Jan dann zurück zu Charlotte, die ihm mit gesenkter Kamera entgegensah.
»Tut mir leid für diesen Einstand, aber wir können uns das nicht immer aussuchen«, sagte er zu der Fotografin.
Ohne es zu wollen, dachte Jan an seine erste Wasserleiche. Da die Person damals schon länger im Wasser gelegen hatte, ließ sich beim Auftauchen weder Alter noch Geschlecht erkennen. Kein schöner Anblick. Und zur Nachricht wurden solche Einsätze auch nur dann, wenn es sich um keinen Suizid handelte. Denn über Selbstmord berichtete die Zeitung im Normalfall nicht. Dann hätte es schon ein Prominenter sein müssen, der sich das Leben genommen hatte. Doch die meisten Suizide wurden in stiller Einsamkeit von völlig Unbekannten begangen.
»Kannst du ja nichts für«, erwiderte Charlotte. »Abgestürzt oder gesprungen? Was denkst du?«
»Schwer zu sagen. Aber was macht man im Dunkeln auf einem Kran?«
»Vielleicht einen zu viel gehoben und sich dann wie der König der Welt gefühlt …«, schlug Charlotte nach kurzem Schweigen vor.
»Wenn sie einen Abschiedsbrief finden, wissen wir es genau. Bis dahin steht’s fifty-fifty.«
Aus angemessener Entfernung beobachteten beide, wie der Tote in einen Leichensack gesteckt wurde. Dann transportierte man ihn mit einer Rolltrage zum bereitgestellten Rettungswagen. Dieser würde ihn nach Eppendorf zur Rechtsmedizin bringen. Charlotte machte ein paar Fotos vom abfahrenden Rettungswagen, dann blickte sie wieder zum Kran.
»Unnötig«, stellte Jan nüchtern fest, der ihrem Blick gefolgt war.
»Aber so was von«, stimmte Charlotte zu.
Als die Pressestelle der Polizei Jan am kommenden Tag auf Nachfrage erzählte, wer der Tote aus dem Lotsekanal war, schickte Chefredakteur Petersen ihn und Charlotte erneut gemeinsam los. Die beiden sollten etwas Persönliches über den Mann in Erfahrung bringen und wenn möglich ein Foto des Verunglückten besorgen. Denn mittlerweile war klar, dass Martin Frey nicht nur ein nächtliches Bad genommen hatte, sondern tatsächlich vom Kran gestürzt war. Die Untersuchungen an den Stahlstreben förderten Blutspuren zutage, die mit einer Platzwunde am Kopf des Mannes zusammenpassten. Auch wegen eines fehlenden Abschiedsbriefs ging die Polizei von einem Unfall aus. Martin Frey schien in der Dunkelheit aus einer Laune heraus auf den Kran geklettert und dann abgestürzt zu sein. Ein Alkoholwert von 1,2 Promille erklärte das Vorhaben teilweise. Doch Petersen wollte es genauer wissen. Deshalb sollte Jan sich im Umfeld des Mannes umhören. Eine tragische Geschichte machte sich immer ganz gut in der Zeitung.
Ihr erstes Ziel war der Arbeitsplatz des Verstorbenen. Vielleicht konnten Kollegen etwas Interessantes über Martin Frey erzählen. Da es einen Stau auf der Stadtautobahn gab, riet Jan Charlotte, durch den ehemaligen Freihafen der Stadt zu fahren. Ihr Ziel war die HafenCity, ein in den letzten Jahren aus dem Boden gestampfter neuer Stadtteil Hamburgs, der wie ein großer Bruder des Harburger Hafens mit architektonischen Hinguckern offenkundig ebenfalls hauptsächlich für Wohlbetuchte gedacht war. Jan saß erneut mit angezogenen Beinen auf dem Beifahrersitz des Kleinwagens, während dieser über die Schwellen einer großen Hubbrücke rumpelte.
»Ich hasse Witwenschütteln«, stellte er fest.
»Witwenschütteln?«, fragte Charlotte und steckte sich eine Zigarette an.
»Hinterbliebene aushorchen«, präzisierte Jan. »Arbeitskollegen, Freunde, Witwen. Immer dasselbe Spiel.«
Martin Frey hatte als Anlageberater für eine Finanzagentur gearbeitet. Das stand nicht in der Pressemitteilung der Polizei. Doch bei einem Telefonat mit einem der Pressesprecher war dieser etwas auskunftsfreudiger gewesen. Selbst den Namen der Agentur hatte er Jan gegeben. Sie lag unweit der historischen Speicherstadt. Schon lange hatten dort Museen, Werbeagenturen und Bistros den klassischen Überseehandel vertrieben. Charlotte fuhr an dem futuristisch anmutenden U-Bahnhof Elbbrücken vorbei. Stahlstreben und geschwungene Glasflächen glänzten im Sonnenschein. Jenseits davon schraubten sich mehrere Prachtbauten in die Höhe. Doch die unumstrittene Königin der HafenCity war zweifellos die Elbphilharmonie. Das Konzerthaus mit der wellenförmigen Dachkonstruktion funkelte ebenfalls in der Sonne. Selbst aus dem fünf Kilometer entfernten Uhlenhorst an der Außenalster konnten die Hamburger ihr neues Wahrzeichen sehen. Die Akustik im Konzerthaus war ebenso phänomenal wie die Kostenexplosion vor der Fertigstellung des Hauses.
Die Finanzagentur, auf deren Firmenparkplatz Charlotte ihren Wagen abstellte, hatte ein glänzendes Messingschild an den Eingangsbereich des vierstöckigen Backsteingebäudes geschraubt. Riesige Fenster starrten Richtung Elbe, während Charlotte ihre Zigarette auf dem Kopfsteinpflaster austrat. Durch eine große Drehtür gelangten sie in das Gebäude und strandeten mit Schwung direkt am Tresen des Pförtners. Der Mann kompensierte fehlendes Haupthaar durch einen beängstigenden Walrossschnauzer. Man sah kaum, dass er den Mund beim Reden bewegte. Seine Worte quollen wie bei einem Bauchredner hervor. Jan stellte Charlotte und sich vor und sah anschließend zu, wie der Mann zum Hörer griff. Demonstrativ gelangweilt sagte er nach dem Telefonat, dass gleich jemand komme, um mit ihnen zu sprechen.
Fünf Minuten später erschien Peter Kempe auf der Rolltreppe am Ende der Empfangshalle. Das breite Lächeln, mit dem er auf Jan und Charlotte zuging, offenbarte einen Geschäftsmann, der die Finanzprodukte seiner Firma den Kunden zu verkaufen wusste. Er trug ein maßgeschneidertes Jackett über einem hellblauen Hemd und einer ebenso gut sitzenden Hose. Seine Schuhe waren aus auf Hochglanz poliertem schwarzen Glattleder. Ein Geruch von Erfolg und scharfem Rasierwasser begleitete Peter Kempe. Er wollte dynamisch und kompetent wirken und tat es auch. Jan und Charlotte bekamen einen Eindruck davon, wie sich Martin Frey zu Lebzeiten gegeben haben musste, inklusive der teuren Schuhe, die er vor der Kletterpartie auf den Kran ausgezogen und neben die Leiter gestellt hatte.
Peter Kempe sah Charlotte an, blickte kurz zu dem über einen Kopf größeren Jan auf und ließ seine Augen schnell wieder zu Charlotte zurückkehren. Die Blondine mit dem Lockenkopf trug hohe Stiefel und eine kurze Jacke. Offensichtlich gefiel dem Mann, was darin steckte. Kempe schlug vor, das Café ein paar Schritte die Straße hinunter zu besuchen, und führte die beiden Journalisten aus dem Gebäudekomplex hinaus. Der Shop servierte Kaffee in diversen Geschmacksrichtungen. Alle drei holten sich große, dampfende Kaffeebecher und setzten sich auf rote Sessel, die um einen niedrigen Nierentisch standen.
»Martin ist ein absoluter Siegertyp. Egal worum es geht, er will immer der Beste sein. Ob Tennis, Squash oder Kart-Rennen«, sagte Peter Kempe und machte eine Pause, um an seinem Kaffee zu nippen. »Ich meine, er wollte es sein. Jetzt ja nicht mehr. Aber er war auch wirklich bei fast allem der Beste und Schnellste. Dass er von diesem Kran abgestürzt ist … Ich meine, so hoch ist der doch gar nicht. Ich habe Fotos davon gesehen.«
»Hoch genug«, stellte Charlotte fest.
»Stimmt wohl.« Kempe nickte andächtig.
»Waren Sie, in Anführungsstrichen, nur Kollegen oder auch Freunde?«, wollte Jan wissen.
Als Antwort zog der Finanzberater ein Smartphone aus der Hose. Eine Bewegung, die so fließend vor sich ging wie das Ziehen eines Revolvers im Western. Er entsperrte den Bildschirm und öffnete einen Social-Media-Account.
»Früher waren wir häufig zusammen unterwegs. Martin hat einen richtig guten Job gemacht und war immer gut drauf. Wir waren auch oft hier. Ein totaler Kaffeejunkie.«
Der Mann legte sein Smartphone kopfüber auf den niedrigen Tisch. »Die sind von seiner Seite«, sagte er, auf das Display deutend.
Ein Bild zeigte Martin Frey auf einem Berggipfel. Er grinste mit einem zur Zahncremewerbung prädestinierten Gebiss in die Kamera. Peter Kempe grinste bei dem Anblick auch. Dann wischte er mit dem Finger über den Bildschirm. Auf dem nächsten Foto war Martin Frey von vier hübschen Frauen umringt, die sich ihm alle mit gespitzten Lippen näherten.
»Schlag bei den Mädels hatte er also auch«, meinte Jan.
Sie wussten alle drei, dass das Bild mit den vier Frauen gestellt war. Es passte Jan jedoch für den Artikel, der in seinem Kopf entstand. Ebenso wie das nächste Bild: Martin Frey beim Paragliding.
»Kann ich die Bilder haben?«, fragte Jan.
»Sind öffentlich zugänglich«, erwiderte Peter Kempe. »Martin wollte, dass alle an seinem Leben teilhaben können. Nicht nur Freunde.«
»Obwohl es ziemlich viele Freunde sind«, stellte Charlotte fest. »512.«
»Ich habe über 800. Das passiert schnell in unserem Job.«
Charlotte merkte, wie Peter Kempe sie taxierte.
»Schicken Sie mir ’ne Freundschaftsanfrage, Charlotte? Dann bin ich bald bei 900.«
Charlotte lächelte, ohne etwas zu erwidern.
»Hatte er auch eine feste Freundin?«, unterbrach Jan den Moment zwischen den beiden.
»Jutta«, erwidert Kempe spontan. »Ging irgendwann auseinander. Aber ich mochte sie.«
»Wo wohnt sie?«
»Harburg. Wenn sie nicht weggezogen ist. Ich war ein paarmal da. Schicke Wohnung.«
»Nachname?«
»Voss. Jutta Voss.«
»Hat er Schluss gemacht oder sie?«
»Na ja. So wie es meistens läuft, schätze ich.«
»Wie läuft es denn meistens?«
»Er war ein beliebter Typ. Immer unter Strom. Hat nichts anbrennen lassen.«
»Also sie«, schlussfolgerte Jan und wartete auf ein bestätigendes Nicken. Als er es bekam, machte er sich eine entsprechende Notiz.
»Was glauben Sie, was Martin Frey nachts auf dem Kran wollte?«
Kempe nahm sein Telefon und suchte auf der geöffneten Social-Media-Plattform nach älteren Beiträgen. Dann drehte er das Display wieder zu Jan. Ein Video in Hochformat startete. Einen Moment war nicht viel zu erkennen, da der Film offensichtlich bei Nacht aufgenommen wurde. Lichter huschten durch die Dunkelheit. Ein Schwenk hinterließ für einen Moment helle Streifen auf dem Display. Dann tauchte Martin Freys Gesicht auf. »Tschakka, Freunde. Ich stehe über den Dächern Hamburgs. Und alle anderen sind Loser. 125 Meter über euren Köpfen. Und ich sage euch, es ist der Wahnsinn.«
Wieder schwenkte die Kamera über die Stadt. Windlast auf dem eingebauten Mikrofon ließ das Risiko des Unterfangens erahnen. Denn Martin Frey stand auf keiner Aussichtsplattform. Er hatte ein Baugerüst erklommen, das den Turm der Sankt Jacobi Kirche in der Hamburger Innenstadt für die Dauer von Renovierungsarbeiten umschlossen hatte. Das Metallgerüst war bis über die Kirchturmspitze aufgebaut, damit am nächsten Tag die charakteristische goldene Kugel mit einem Kran angehoben werden konnte, erzählte Kempe nun.
»Wenn man da hochguckt, kann man sich das gar nicht vorstellen. Aber die Kugel hat, wie eine Perle, die man aufreihen will, in der Mitte ein Loch. Keine Ahnung, wie groß die Kugel ist. Vielleicht zwei Meter Durchmesser oder drei. Jedenfalls sollte sie runter, um gereinigt zu werden. Hat mir Martin später alles erzählt. Und auch, dass er nachts ganz allein hochgeklettert ist, um dieses Video zu machen. Noch Fragen? Er stand auf solchen Scheiß.«
Jan überlegte: »Dann könnte es auch ein Video vom Kran geben?«
»Keine Ahnung. Nicht auf dieser Seite. Vielleicht kann die Polizei was auf seinem Handy finden.«
»Und wozu das Ganze?«, wollte Charlotte wissen. »Typische Frauenfrage, ich weiß. Aber mal ehrlich, ich verstehe es nicht.«
Kemper zuckte mit den Achseln. »Martin meinte, wann immer er jetzt durch die City fährt und zur Kirche guckt, wüsste er, dass er noch oberhalb der Spitze gestanden habe. Mitten in der Luft, jetzt wo das Gerüst wieder weg ist. Und ich muss zugeben, das ist schon irgendwie geil.«
»Na ja, ich würde auch gerne mal ein paar Fotos von da oben machen, aber diese Mutprobe da ist doch verrückt. War er wenigstens angeseilt?«
»Dann macht’s doch nur halb so viel Spaß«, erwiderte Kemper lachend. »Fun Fact: Die goldene Kugel ist hohl. Man kann sie öffnen und Sachen reinlegen. Münzen zum Beispiel. Oder irgendwelche Dokumente. Die sind dann wie in einer Zeitkapsel, bis die Kugel das nächste Mal von der Spitze runtergehoben wird. Auch ganz schon crazy, was?«
»Hatte Martin Frey depressive Phasen?«, fragte Jan unvermittelt und sah Kemper in die Augen. Der zuckte wieder mit den Schultern.
»So eng waren wir auch wieder nicht.«
»Wie jetzt? Ich dachte, Sie und er wären die besten Freunde gewesen. Habe ich da was falsch verstanden?«
»Ja, doch klar, aber«, Kemper legte eine Pause ein und schaltete das Smartphone wieder aus, »ich finde das etwas zu privat.«
Jan kritzelte auf seinen Notizblock. »Wie lief es geschäftlich?«
»Tja, auch das, also … er war nicht mehr ganz bei der Sache. Jedenfalls nicht so wie früher. Wir sind sonst noch oft durch die Bars gezogen. Aber seit einem Jahr oder so … Weiß auch nicht. Hat sich irgendwie zerschlagen.«
»Wie kam das?«
»Ich sag doch, ich weiß nicht genau, wieso. Vielleicht seine neuen Freunde.«
»Was für neue Freunde?«
»Hat er mir nie vorgestellt.«
Jan presste die Lippen aufeinander, nickte langsam. »Darf ich Sie zitieren und den Namen nennen?«
»Meinetwegen«, erwiderte Peter Kempe mit gleichgültig klingender Stimme. Doch Jan wusste, dass es dem Finanzjongleur keineswegs gleichgültig war. Er wollte seinen Namen gedruckt in der Zeitung sehen. Und falls gleich noch jemand mit einem Mikrofon vorbeikäme, wäre er auch für ein Fernsehinterview zu haben gewesen. Viele Menschen winkten bei neugierigen Journalisten sofort ab, mindestens ebenso viele jedoch hofften durch sie auf einen winzigen Moment Ruhm. Und sei es nur für 15 Sekunden in einem Boulevardmagazin am Nachmittag. Peter Kempe wollte in die Zeitung. Sonst hätte er dem Treffen gar nicht erst zugestimmt, wusste Jan.
»Machst du uns noch ein Foto?«, bat er Charlotte.
Die griff zu ihrer Tasche und holte die Kamera heraus. Kurz darauf verabschiedeten sich der Reporter und die Fotografin von Peter Kempe. Jan ging im Auto seine Notizen durch, während Charlotte ausparkte.
»Schon ganz gut«, sagte er. »Dann mal weiter zum echten Witwenschütteln.«
»Jutta Voss«, stellte Charlotte fest.
»Mal sehen, ob seine Ex bei unserem Überflieger noch ein bisschen mehr am Lack kratzen kann.«
Von wegen, er hasst Witwenschütteln, dachte Charlotte. Die Sache fängt doch gerade erst an, ihm richtig Spaß zu machen. In Jan Fischer steckt ein Bluthund. Ob er es nun weiß oder nicht.
Die Wohnung von Jutta Voss lag fast auf der Grenze zwischen den Stadtteilen Harburg und Marmstorf, unweit des Friedhofs, direkt an der Bundesstraße 75. Die ersten beiden Stockwerke des Wohnblocks waren aus Backstein gemauert, die Fassade darüber weiß verputzt. Ab dem dritten Stock bis hinauf zum fünften gab es Balkone. Moosbewuchs darunter ließ die Wände stellenweise schmutzig aussehen. Das übliche Problem von nachträglich mit Polystyrolplatten isolierten Hausfassaden. Jan und Charlotte standen vor der Gegensprechanlage. Niemand reagierte auf ihr Klingeln.
»Ist bestimmt arbeiten«, vermutete Charlotte.
Die Uhrzeit sprach dafür.
»Später noch mal versuchen?«, fragte Charlotte und steckte einen Daumen hinter den Riemen ihrer Kamera. Jan zuckte mit den Schultern. Als sich beide zum Gehen wandten, sahen sie dann jedoch eine blonde Frau den gepflasterten Weg entlangkommen. Sie trug einen schwarzen Mantel und eine große Tasche über der Schulter.
Die Frau zögerte sichtlich. Janwar über einen Meter 90 groß und hager, sein Gesicht stoppelig. In der Redaktion schien es niemanden zu stören, dass er sich nur alle paar Tage rasierte. Aber bei der blonden Frau löste es offenbar ein Warnsignal aus. Charlottes gepflegter, wenngleich extravaganter Kleidungsstil schien den ersten Eindruck jedoch so weit auszugleichen, dass die Frau in ihre Tasche griff, einen Haustürschlüssel herausholte und mutig zwischen den für sie fremden Menschen hindurchschritt.
»Frau Voss?«, fragte Jan.
Die Frau verharrte, ohne zu antworten.
»Sind Sie Jutta Voss?«, setzte Jan nach.
Sie war es. Jan konnte es aus ihrem Gesichtsausdruck und der Körperhaltung schließen.
»Entschuldigen Sie, wir sind vom Harburger Tageblatt. Sie können sich denken, weshalb wir gekommen sind.«
Jutta Voss musste wissen, was mit Martin Frey passiert war. Auch wenn sie kein Paar mehr waren, würde sie natürlich von seinem Tod erfahren haben.
»Was wollen Sie?«
»Nur ein bisschen über Martin reden«, erwiderte Charlotte. Obwohl Jan für die Interviews zuständig war, übernahm sie in diesem Moment automatisch das Wort. Denn Jutta Voss sah zu ihr hinüber und vermied den Blickkontakt mit Jan.
»Wir möchten verstehen, was für ein Mensch er war.«
»Was für ein Mensch?«
»Es gibt morgen einen kleinen Artikel über ihn im Tageblatt.«
»Warum? Es war doch ein Unfall.«
»Ja. Ein tragischer Unfall«, übernahm Jan wieder das Wort und wartete, bis Jutta Voss ihn endlich ansah. »Bisher wissen wir nur, was Peter Kempe über ihn erzählt hat. Sein bester Freund, soweit wir gehört haben.«
»Peter Kempe ist sein bester Freund? Wusste ich noch gar nicht.«
»Dann hat Kempe gelogen?«
Jutta Voss steckte die Schlüssel zurück in die Manteltasche. In ihre Wohnung schien sie Jan und Charlotte nicht einladen zu wollen. »Lügen nennt man das in Kempes Kreisen nicht. Nicht mal übertreiben. Es gehört einfach dazu.«
Jan zog seinen kleinen Block heraus und notierte das.
»Sie haben ihm den Laufpass gegeben, richtig?«, hakte er dann nach. »Martin Frey, meine ich.«
»Er ist freiwillig gegangen.«
»Und warum?«
»Weil es eben nicht mehr passte.«
»Einfach so?«
Jutta Voss sah Charlotte an. »Er hat mir die Wohnung gelassen.«
»Großzügig«, befand Jan.
»Großzügigkeit war nie das Problem.«
»Was dann? Kempe sagt, dass Martin sich in letzter Zeit etwas verändert hat«, fügte Jan hinzu. »Haben Sie das auch so empfunden?«
Jutta Voss blickte wieder Charlotte an, so als stelle diese weiter die Fragen. »Nicht nur ein bisschen. Er war wie ausgetauscht.«
»Wieso das?«
Jutta Voss zuckte mit den Schultern. »Die falschen Freunde?«
Jan horchte auf. Kempe hatte vorhin etwas Ähnliches gesagt. »Neue Freunde oder alte Freunde? Neue, vermute ich.«
»Ja«, bestätigte die junge Frau leise.
»Und wann haben Sie sich getrennt?«
»Vor etwa einem Jahr.«
»So lange schon?«, fragte Jan, während er es auf seinen Notizblock kritzelte.
Wieder zuckte die Frau mit den Schultern.
»Haben Sie Namen von den neuen Freunden?«
»Die haben mich nie interessiert.«
»Im Internet gibt es Fotos mit Martin und anderen Frauen …«
»Interessiert mich auch nicht.«
Jan sah, wie Charlotte die Augenbrauen hob. Etwas an seinen Fragen schien ihr nicht zu gefallen.
»Was hat er neben dem Job gerne gemacht? Also, ich meine, er schien ja so eine richtige Sportskanone zu sein.«
»Wir waren oft im Skiurlaub. Den ganzen anderen Quatsch hat er erst mit seinen neuen Freunden gemacht. Aber da war ich nie mit.«
»Die Freunde, deren Namen Sie nicht kennen?«
Jutta Voss nickte. Jan lächelte plötzlich und klappte sein Notizbuch zu. »Danke, Frau Voss. Darf meine Kollegin noch ein Foto von Ihnen machen?«
Die Antwort kam spontan: »Lieber nicht.«
Erneut nickte Jan und ging die Ausbeute des Tages im Kopf durch. Er hatte das Foto, das Charlotte von Peter Kempe im Café geschossen hatte. »Bester Freund«, konnte darunter stehen. Dann gab es die Fotos vom Feuerwehreinsatz im Harburger Hafen. Und die im Internet öffentlich zugänglichen Bilder von Martin Frey. Das war mehr als genug. Sie brauchten kein Foto seiner Ex-Verlobten.
»Wäre mir lieb, wenn Sie meinen Namen auch nicht erwähnen.«
»Wir nehmen nur den Vornamen, wenn Sie einverstanden sind«, schlug Jan vor. »Keinen Nachnamen.«
Jutta Voss sah Charlotte an und nickte. »Wann erscheint der Artikel?«
»Morgen«, antwortete Charlotte.
Jan drückte kurz das Kreuz durch. »Deshalb müssen wir jetzt auch los. Es gibt eine Deadline für die Artikelabgabe.« Jan wandte sich zum Gehen, während Jutta Voss ihre Tasche mit den Einkäufen wieder aufhob. Charlotte folgte Jan mit einigen Metern Abstand zum Wagen. Ihre Stiefelabsätze erzeugten einen harten Klang auf dem Gehweg. Beim Auto holte sie ihn wieder ein, und Jan bemerkte ihren skeptischen Blick.
»Was?«, fragte er.
Charlotte schüttelte langsam den Kopf. »Deadline … Hätte nicht gedacht, dass du so ein amtliches Arschloch sein kannst.«
»Ich meinte Redaktionsschluss.«
»Ich weiß, was du meintest.«
»Ach, komm schon. War nicht so gemeint.« Demonstrativ deutete Jan auf die Autotür, damit Charlotte sie entriegelte.
»Echt jetzt. Bist du öfter so ungehobelt?«, fragte sie.
»Ich bin nicht ungehobelt«, wehrte Jan ab. »Vielleicht etwas müde. Vielleicht etwas genervt. Sie hatte doch sonst nichts zu erzählen.«
»Ihr Verlobter ist gestern gestorben.«
»Ex-Verlobter!«
Charlotte sah Jan schweigend an, während sie sich eine Zigarette zwischen die Lippen steckte und ihr Feuerzeug aufflammen ließ. So viel Zeit musste sein. Deadline hin oder her.
In der Redaktion begann Jan sofort zu tippen. Charlottes Rüge versuchte er dabei auszublenden. Im Text ließ Jan zuerst etwas Bewunderung für Martin Freys Leben und seine Arbeit durchklingen, erhob dann jedoch einen mahnenden Zeigefinger. Denn er wollte aus dem Unfall eine Geschichte über erfolgreiche Höhenflieger machen, die ihre Grenzen allmählich aus den Augen verloren. Ein Sinnbild für die Auswüchse der Spaßgesellschaft.
Das Erklettern aller möglichen Bauten sei als Nervenkitzel nach wie vor sehr beliebt, schrieb Jan. Das Phänomen sei bekannt. Studenten täten es ebenso wie erfolgreiche Jungunternehmer. Je höher das Gebäude, desto besser. Die meist jungen Männer würden an Rohbauten, Türmen oder Strommasten hochklettern, bis es nicht mehr weiterging. Dort würden sie dann Beweisfotos und Videos erstellen, um die Aufnahmen an Freunde zu schicken oder sie im Internet hochzuladen.
Neben Geltungssucht sollte das Klettern ihnen Mut machen. Wenn sie oben waren, läge die Angst hinter ihnen. Das gäbe ihnen den ultimativen Kick, schrieb Jan, und die Hoffnung, auch im Alltag mutig zu sein. Wer es schaffe, auf die Spitze eines Funkturms zu klettern, der könne problemlos auch die nächste Klausur bestehen oder einen erfolgreichen Geschäftsabschluss machen. Wenn man seinem Gegenüber in die Augen schaue und wisse, dass man die Woche zuvor ohne Seil über einem gewaltigen Abgrund gestanden habe, dann könne man alles. Alles gewinnen, jeden besiegen. Soweit die Theorie, schrieb Jan. Der Vorfall im Harburger Hafen zeige nun auf tragische Weise, was aus dieser Idee in der Realität werden könne.
Den Artikel schmückten einige Fotos von Martin Freys Social-Media-Seite. Weil Tote laut Definition keine Personen mehr waren und folglich keine Persönlichkeitsrechte hatten, wurde Martin Frey mit keinem schwarzen Balken verfremdet. Nur die Gesichter der vier Frauen mit ihren Kussmündern ließ Jan so verpixeln, dass sie nicht zu erkennen waren. Dazu kam noch mal ein Foto vom Kleinboot der Feuerwehr im Hafenbecken. Der Museumskran war deutlich im Hintergrund zu sehen. Charlotte hatte die Situation mit dieser Aufnahme gut verdichtet. Ein prima Einstand für die Neue. Auch deshalb war Chefredakteur Petersen mit dem Artikel und den Bildern sehr zufrieden.
Jan hingegen war es nicht.
Er hasste den Bericht, wie er fast alles hasste, was er in letzter Zeit geschrieben hatte. Ob Blaulicht, Lokalpolitik oder Gerichtsprozesse. Immer dieselben Muster. Charlotte hatte den Finger bei Jan ohne Absicht vorhin auf die richtige Stelle gelegt. Ihre Worte machten sich wieder breit in seinem Kopf.
Hätte nicht gedacht, dass du so ein amtliches Arschloch sein kannst.
Martin Frey war 37 Jahre alt geworden. Gerade mal zwei Jahre älter als Jan. Die beiden Männer unterschieden sich kaum, nur, dass Martin Frey tot war und Jan noch lebte. Ob das ein Vorteil für Jan war, wusste er selbst nicht mehr recht. Ihm machte es jedenfalls keinen Spaß mehr, das ewig gleiche Strampeln. Aber wie hätte er das Charlotte erklären können? Das Arschloch war nicht er, das Leben war es. Und Jan steckte mittendrin.
Ein starker Schmerz im Unterleib weckte sie. Im nächsten Moment merkte die junge Frau, dass im Zimmer Licht an war. Was sollte das bedeuten? Dass sie jetzt vielleicht Tag hatten? Sie richtete sich auf, sah sich um. Der Raum war noch kleiner, als sie ihn sich im Halbdunkel vorgestellt hatte. Sofort entdeckte sie eine zweite Tür. Diese befand sich neben dem Kopfende des Bettes. Weil es bei ihr kein Oberlicht wie bei der anderen gab, hatte sie die Tür bei ihrem ersten Wachsein übersehen.
Es war eine völlig andere Art Tür als die erste. Ein weiß lackiertes Billigprodukt aus dem Baumarkt, während das weiter entfernte Türblatt aus dunklem Massivholz zu bestehen schien. Sie brauchte sich nur vom Bett zu erheben und einen Schritt zu humpeln, um die neue Tür zu erreichen.
Die junge Frau streckte die Hand aus, glaubte nicht, dass die Tür unverschlossen war. Doch als sie die Klinke drückte, schwang ihr die Tür entgegen. Dahinter gab es eine Toilette und ein kleines Waschbecken.
Sofort setzte sie sich auf die Toilette. Einen kurzen Augenblick später ließ der Schmerz in ihrem Unterleib nach. Als sie fertig war, blieb sie noch eine Weile sitzen. Dann drehte sie den Wasserhahn auf. Nur das Rädchen mit dem blauen Punkt funktionierte. Warmes Wasser gab es nicht.
Sie ging zurück zum Bett, holte die Plastikflasche und füllte sie am Waschbecken wieder auf. Sich selbst mit Wasser versorgen zu können, war merkwürdig beruhigend. Ein erster Schritt zurück zur Selbstständigkeit.
Dann stellte sie den Korb mit dem Essen auf den Tisch und setzte sich auf den Stuhl. Neben dem Obst gab es eine Packung Vollkornkekse. Als sie die daneben liegende Plastikdose öffnete, stockte sie. Darin befanden sich zwei geschmierte Brotscheiben. Die eine Stulle mit Wurst, die andere mit Käse.
Sie blickte zur Tür mit dem Oberlicht. Wer war dahinter? Und was wollte er von ihr?
Wurstbrot und Vollkornkekse. Was war das für ein Entführer?
Eigentlich hatte sie gedacht, es sei etwas Sexuelles. Natürlich. Man kannte die Geschichten. Männer entführten Frauen und sperrten sie ein, um sie zu besitzen und zu beherrschen. Es ging um Macht und um Sex. Doch auf der Toilette hatte sie nichts Männliches an sich gerochen. Wenn ihr Entführer sie vergewaltigen wollte, dann stand das noch bevor. Während sie betäubt gewesen war, hatte er sie jedenfalls in Ruhe gelassen.
Ob er jetzt da war?
Hinter der Tür?
Ob er sie beobachtete?
Das Oberlicht war mattiert. Dort konnte niemand durchgucken. Gab es vielleicht Löcher in den Wänden oder irgendwo eine versteckte Kamera?
»Hallo?«, sagte sie heiser und war wieder erschrocken über den Klang ihrer eigenen Stimme. Seit sie aus dem Klub gestolpert war, hatte sie keine andere Stimme mehr gehört. Wenn sie nur wüsste, wie lange das her war.
Sie wiederholte das Wort. Diesmal etwas lauter. Am liebsten hätte sie dabei an die Tür geklopft. Doch die Kette war zu kurz.
Die Kette.
Sie nahm die Metallglieder in die Hand und verfolgte die Kette bis zu ihrem Ursprung. Dazu musste sie das Bett zur Seite schieben.
Die Kette hing an einem Ring, der mit vier Schrauben am Boden befestigt war. Die Schraubenköpfe waren nicht geschlitzt, sondern hatten ein Innensechsrund. Mit einem Geldstück oder Ähnlichem würde sie die Torx-Schrauben nicht aus dem Boden drehen können. Trotzdem war die junge Frau überrascht von der Konstruktion. Die Kette war stabil, doch der Ring, an dem sie hing, schien kein unüberwindliches Problem zu sein. Sie blickte sich wieder im Raum um und beschloss, über den Ring mit den vier Schrauben nachzudenken.
Jan schlich sich durch die Hintertür des Harburger Tageblatts und stieg die knarrende Wendeltreppe zu den Redaktionsräumen im ersten Stock hinauf. Er hätte auch durch den Vordereingang gehen können, doch dann hätte er durch die Anzeigenaufnahme gemusst. Die beiden Frauen hinter dem großen Tresen waren ihm zurzeit einfach zu viel. Monika Mai mit ihrem stets prüfenden Blick über den Rand ihrer Brille hinweg war das Herz der Anzeigenabteilung und hatte für jeden ein Lächeln übrig. Doch Jan war mies drauf und wollte genau diesem Lächeln entgehen.
Am Abend zuvor hatte Jan einen Termin bei einem Bürgertreffen im Gemeindesaal eines Heidedorfs besucht. Es war eine gemeinsame Informationsveranstaltung des Gemeinderats und eines Wasserbeschaffungsverbandes. Anschließende Diskussionsrunde mit Bürgern. Jan hatte 40 Zeilen zur Verfügung. Charlotte schoss zwei Fotos und machte sich dann vom Acker, während Jan einen ermüdenden Schlagabtausch altbekannter Argumente verfolgen durfte. So war das eben. Manchmal mussten die Fotografen länger bleiben, manchmal die Redakteure. Je nach Art des Artikels. Diesmal waren die Bilder schneller gemacht gewesen.
Es ging mal wieder um den unstillbaren Durst Hamburgs. Die Stadt soff Heidewasser bis zum Abwinken. Angeblich war mehr als genug von dem Zeug da. Die Menschen aus den Heidedörfern glaubten den entsprechenden Expertisen jedoch nicht. Sie vermuteten einen fallenden Grundwasserspiegel und die langsame Entstehung einer Wüstenlandschaft. Für Jan war die Heide sowieso schon eine Wüste. Also war der ganze Abend für ihn Zeitverschwendung gewesen.
Dann geschah es. Auf dem Heimweg schlug er frustriert auf das Lenkrad seines Wagens ein und warf dann einem Impuls folgend sein Telefon aus dem Fenster.
Für wenige Sekunden war die Aktion erfolgreich.
Jan fühlte sich frei.
Endlich war er vom Rest der Welt abgeschnitten.
Das Smartphone war das Instrument seiner Versklavung, hatte Jan am Steuer seines Wagens erkannt. Stets musste er erreichbar sein. Stets steckte es griffbereit in seiner Jacke. Das verdammte Ding kontrollierte sein Leben. Es sagte ihm, wann es Zeit zum Aufstehen war. Es war sein Recherchebegleiter im Hosentaschenformat. Es sagte ihm, in wie viel Stunden Redaktionsschluss war und irgendwann am Abend wieder, wann er zu Bett zu gehen hatte. Selbst nachts lag es noch auf seinem Nachttisch.
Damit sollte Schluss sein. Jan wollte das nicht mehr.
Dann bremste er, fuhr ein paar Meter zurück und sprang leicht panisch aus dem Wagen. Doch das Handy war verschwunden. Von der Seeve verschluckt, jenem sich durch den Landkreis Harburg schlängelnden Flüsschen, das er gerade überquert hatte, als ihm die großartige Idee mit dem Handyweitwurf gekommen war.
Er überlegte noch, ins murmelnde Wasser zu waten, doch in der Dunkelheit schien eine Suchaktion sinnlos zu sein. Prompt verbrachte er eine fast ruhelose Nacht, in der er sich sicher war, die Frühkonferenz am nächsten Morgen zu verpassen.
In der Redaktionsküche goss er sich nun den Rest Kaffee aus der Kanne ein und verließ den schmalen Raum, ohne neuen Kaffee aufzusetzen. Ein unverzeihliches Verbrechen für jeden Angestellten und freien Mitarbeiter der Zeitung.
Jan war das heute völlig egal.
Jan und Matthias Schultheis hatten ihre Monitore so aufgestellt, dass sie einander nur im unbedingten Notfall ansehen mussten. Schultheis war für Jan ein Idiot. Wie er es zum Festangestellten gebracht hatte, war Jan ein Rätsel. Gut, der Alte und Schultheis arbeiteten schon sehr lange zusammen, wie Jan wusste. Viele Jahre sogar, bevor Jan selbst zur Zeitung gekommen war. Aber war das ein Grund, an einem Mann festzuhalten, der nach Jans Geschmack weder Gespür für Geschichten noch für Sprache hatte?
Jan setzte sich, ohne Schultheis einen guten Morgen zu wünschen. Allerdings hatte Jan auch sonst niemanden begrüßt. Emotionslos hackte er seine 40 Zeilen über die geplante Entnahme des Heidewassers in den Rechner und legte sie im tagesaktuellen Ordner ab.
Gleich war Frühkonferenz. Charlotte sah mit ihren roten Stiefeln, den engen Jeans und der weißen Seidenbluse unter einem grobmaschigen Pullover wie auf dem Weg zu einem Fotoshooting aus. Jedoch als Model und nicht als Fotografin. Jan machte ihr freiwillig wieder Platz und zog sich auf den Heizkörper vor dem Fenster zurück. Besser als auf einer Schreibtischkante ließ es sich dort allemal sitzen.
Eine halbe Stunde wurden unter Petersens Leitung Themen besprochen und Termine vergeben. Jan blickte teilnahmslos aus dem Fenster. Das wahre Leben ist da draußen, es muss dort irgendwo sein, dachte er. Doch er wusste nicht, wo genau das sein sollte.
»Also, Fischer«, sagte Petersen in Jans Richtung. »Du kümmerst dich dann um Anna Horn.«
»Heidewitzka, das Heideflittchen«, kommentierte Schultheis und schob seine Brille ein Stück den Nasenrücken hinauf.
Jan wandte den Blick vom Fenster ab.
Er hatte keine Ahnung, warum Petersen ausgerechnet ihm die olle Kamelle aufdrücken wollte. Eine fünf Jahre alte Vermisstengeschichte? Was sollte Jan dazu schreiben, was nicht schon längst geschrieben worden war?
Petersen bemerkte offensichtlich Jans fehlende Begeisterung, ging aber nicht darauf ein. Der Chefredakteur trug einen Vollbart über einem schwammigen Körper. Das viele Sitzen hatte sein Äußeres zum Stereotyp eines Schreibtischtäters werden lassen.
»Wir haben eine Zeitung zu füllen«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Fangen wir jetzt damit an.«
Jan eroberte sich seinen Stuhl von Charlotte zurück und kramte kurz in seinem Gedächtnis, dann im Internet. Das Heideflittchen wurde so genannt, weil es seine Karriere als Heideblütenkönigin begonnen und dann für ein Boulevardblatt und ein Hochglanzmagazin blankgezogen hatte. Das recherchierte Jan innerhalb von fünf Minuten. Damals war das Mädchen gerade 18 Jahre alt. Mit ganzem Namen hieß sie Annemarie, wurde aber von allen nur Anna genannt. Annas Eltern fanden die Nacktfotos vermutlich furchtbar. Wie peinlich das in einem kleinen Ort mitten in der Lüneburger Heide sein musste, konnte Jan sich unschwer vorstellen. Die Bäckerin hingegen, in deren Laden Anna Lehrmädchen war, fand es laut eines alten Interviews gar nicht so schlimm. So viele Brötchen waren schon lange nicht mehr über den Tresen gegangen. Viele Dorfbewohner und Leute aus den Nachbarorten wollten das nackte Lehrmädchen in natura sehen. Alle waren an ihrem Körper interessiert. Niemand an dem, was sie dachte oder sagte. Es sei denn, es war frivol und ließ sich irgendwie mit Sex in Verbindung bringen.
Jan begriff das, während er Zeitungsberichte aus dieser Zeit durchstöberte. Alles wie erwartet.
Das Verrückte an der Sache war dann jedoch, dass Anna eine Stimme hatte. Sie konnte singen. Auch ohne Halleffekte und andere Schummelei. Irgendein Schlauberger hatte es bei der Produktion eines Musikvideos festgestellt, bei dem sie eigentlich nur schmückendes Beiwerk sein sollte. Er ließ sie Probeaufnahmen machen und vermittelte sie gleichzeitig an eine Daily Soap im Fernsehen. Das war der Anfang ihrer Karriere.
Anna war gut. Die Serie nicht. Trotzdem musste sie bleiben. Zwar war es ihr erlaubt, weiterhin zu singen, doch in anderen TV-Shows durfte sie nicht auftreten. Der Vertrag fesselte sie vier Jahre. Danach stieg sie aus.
Endlich konnte sie die Fernsehfilme machen, zu denen sie offenbar mehr Lust hatte. Zwar auch nur Krimis oder Dramen vor dem Hintergrund historischer Ereignisse, doch mit viel höherem Budget und besserer Ausstattung. Stets spielte dabei die Liebe eine große Rolle.
Mit 25 war Anna hübscher denn je, und ein Sprung ins Kino schien unmittelbar bevorzustehen. Doch mit 26 begannen sich dann dunkle Schatten unter ihren Augen abzuzeichnen.
Die Schuld daran schob man ihrem neuen Freund zu. Max Schrader. Seines Zeichens ein drittklassiger Musikproduzent, der es irgendwie geschafft hatte, Annas Herz zu gewinnen.
Plötzlich häuften sich Skandale: Anna betrunken auf Partys oder offenbar zugekokst beim Konzertauftritt. Alkohol am Steuer. Führerschein weg. Foto ohne Slip beim Aussteigen aus einem Auto. Die Kollegen der Boulevardpresse hatten ihren Spaß daran. Sie führten Anna vor und warfen ihr gleichzeitig vor, dass sie sich vorführen ließ.
Jan wusste, wie so etwas funktionierte. Einerseits das Foto ohne Slip für moralisch verwerflich erklären und es gleichzeitig auf Seite eins drucken. So etwas steigerte die Auflage.
Dann war Anna auf einmal weg.
Es geschah kurz nach ihrem 27. Geburtstag. Sie war nach Zeugenaussagen mit dem Segelboot auf der Ostsee. Das Meer sollte unruhig, beinah stürmisch gewesen sein. Das Boot wurde am nächsten Tag gefunden. Es war abgetrieben und an der Küste auf Grund gelaufen. Im Boot fand man einen von Annas Segelschuhen und zwei leere Wodkaflaschen. Die Sache war damit für alle klar, auch wenn die Frau selbst verschwunden blieb.
Weil Anna mit 27 Jahren gestorben war, nahm der Boulevard sie in den Klub der 27er auf. Gegründet wurde dieser Klub Anfang der 1970er von Rockgrößen wie Jimi Hendrix, Janis Joplin und Jim Morrison, die alle eine Vorliebe für Alkohol und interessante Medikamentencocktails hatten und die alle mit 27 gestorben waren.
Sollte Jan diesen Aspekt in seinem Nachruf zu Annas Todestag aufnehmen? Er zog die Stirn in Falten. Okay, Anna hatte Musik gemacht und war mit 27 gestorben. Deshalb notierte er es sich.
Noch eine Notiz: Hatte Anna einen Bootsführerschein?
So einfach bekam man den nicht. Um ein Segelboot ausleihen zu können, brauchte es in der Regel den Sportbootführerschein Binnen, den offiziellen Führerschein, der zum Fahren eines Bootes bis 15 Meter berechtigte. Das bedeutete eine theoretische und praktische Prüfung. Und Anna als Heidepflanze hatte nicht gerade eine direkte Verbindung zum Wasser. Also, wann und wo hatte Anna ihren Segelschein gemacht?
Ging das schon zu weit? Jan sollte einen Artikel zu ihrem fünften Todestag schreiben. Eine Würdigung. Immerhin war sie hier in der Nähe aufgewachsen, war eine echte Norddeutsche.
Jan strich das mit dem Bootsführerschein durch und begann zu tippen. Das mit dem 27er-Klub nahm er in den Artikel mit auf. Es hob das Ganze aus dem Provinziellen.
Für eine Lokalredaktion zu schreiben, war nicht selten ein Spagat. Nationale oder gar globale Themen mussten einen Bezug zur Region bekommen, sonst hatten sie in einem Lokalblatt nichts zu suchen. Bei Anna war das jedoch einfach. Hier der regionale Bezug durch das Elternhaus, da der Duft der weiten Welt durch die Musikkarriere.
Nach zwei Stunden war Jan mit dem Schreiben fertig. Zack, an Petersen geschickt. Feierabend.
So einfach hätte das Leben sein können. Konjunktiv.
Doch Petersen gefiel der Artikel nicht. Was Jan geschrieben hatte, sei alles alt und bekannt. Petersen wünschte sich einen anderen Ansatz, einen neuen Blickwinkel.
»Recherchier doch mal vor Ort«, meinte er, nachdem er Jan in sein Büro gerufen hatte.
»Vor Ort?«, wiederholte Jan skeptisch.
»Ist doch nicht so weit weg. Fahr mal hin und sprich mit den Eltern. Gab es da nicht auch eine jüngere Schwester? Nimm Charlotte mit. Wenn das Mädchen hübsch ist und was von Anna hat, macht ihr ein paar schöne Bilder mit ihr.«
»Von der kleinen Schwester?«
»So was kommt an. Glaub mir. Oder glaub mir nicht. Egal. Ich will jedenfalls was Neues haben.«
Peterson trug scheinbar immer dasselbe Jackett. Darunter ein meist hellblaues, manchmal ein weißes Hemd. Diesmal klebte ein Rest Salatsoße vom Mittagessen auf dem Kragen. Ein gelb-weißer Klecks auf hellblauem Grund. Jan wusste nicht, warum dieser Anblick ihn so sehr fesselte. Vielleicht, weil er interessanter schien als das, was Petersen gerade von ihm verlangte.
Fotos von Annas kleiner Schwester also. Na toll!