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Von wegen Besinnlichkeit im Kerzenschein. „O du fiese Weihnachtszeit“ erzählt zwölf Geschichten zum Fest der Feste, in denen es vor kleinen Gemeinheiten und hinterhältigen Morden nur so strotzt. Krimi, Grusel und Seemannsgarn aus Hamburg stecken im Geschenkesack. Die Geschichten sind einzeln abgeschlossen und können in beliebiger Reihenfolge gelesen werden, doch wer die Querverweise untereinander entdeckt, hat gleich noch mehr Vergnügen bei diesem makabren Lesespaß unterm brennenden Weihnachtsbaum.
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Seitenzahl: 177
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Markus Kleinknecht
O du fiese Weihnachtszeit
Böse und makabre Geschichten aus Hamburg
Mörderische Weihnacht Von wegen Besinnlichkeit im Kerzenschein. „O du fiese Weihnachtszeit“ erzählt zwölf Geschichten zum Fest der Feste, in denen es vor kleinen Gemeinheiten und hinterhältigen Morden nur so strotzt. Krimi, Grusel und Seemannsgarn aus Hamburg stecken im Geschenkesack. In den Hauptrollen unter anderem das Hamburger Nationalgericht Labskaus, ein unheimliches Wrack vor Blankenese, die historische Speicherstadt an der Elbe, „fliegende“ Tannenbäume, die auf Schiffe geworfen werden, eine Burgruine in Miniaturformat an der Alster und der Hamburger Hafen im Nebel. Die Geschichten sind einzeln abgeschlossen und können in beliebiger Reihenfolge gelesen werden, doch wer die Querverweise untereinander entdeckt, hat gleich noch mehr Lesespaß. Ein makabrer Nervenkitzel für die Bahn, im Bett oder natürlich auch unterm brennenden Weihnachtsbaum.
Markus Kleinknecht ist ein Hamburger Fernsehjournalist. Polizeigeschichten und Gerichtsprozesse gehören seit über 20 Jahren zu seiner Arbeit. Das Leben scheint ihm deshalb oft viel wahnsinniger, als er es sich ausdenken kann. Bekannt wurde er durch seine Thriller rund um das Hamburger Journalistenpaar Charlotte Sander und Jan Fischer. Kleinknecht lebt mit seiner Familie und einem Border Collie im Hamburger Speckgürtel.
Mehr auf der Homepage: markus.kleinknecht.de
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Illustration Lutz Eberle mit Elementen von KatyaKatya / stock.adobe.com
ISBN 978-3-7349-3028-7
»Ich wünsche allen Kindern nah und weit eine schöne Weihnachtszeit.« Mit diesen Worten fuhr ein Weihnachtsmann auf seinem Schlitten am Turm des Hamburger Rathauses vorbei. Das an extra dicken Stahlseilen aufgehängte Spezialgefährt war mit Geschenken vollgepackt und etwas größer als ein Autoscooter. Mechanische Rentiere zogen es in luftiger Höhe quer über den Weihnachtsmarkt am Rathaus. Kinder und Erwachsene lauschten ergriffen, als der Weihnachtsmann mit dem Schlitten auf halber Strecke stehen blieb und seine Rentiere namentlich vorstellte. Nur eine Gestalt weit und breit schien dies nicht zu interessieren. Sie steckte ebenfalls in einem rot-weißen Weihnachtsmannkostüm und stapfte achtlos über den Platz. Ihr Blick streifte das Spektakel zwar, aber nur, um auf die Rathausuhr zu sehen. Verdammt, noch immer viel zu früh für die Bescherung.
Den Job als Santa Claus hatte der Mann seiner Schwester zu verdanken. Mehrfach hatte sie ihn darum gebeten, fast schon angebettelt, diesen nicht auch wieder zu vermasseln. »Und sei bloß pünktlich!«, waren ihre Worte gewesen. Deshalb war er extra früh zum Kostümverleih in einer Seitenstraße unweit des Rathauses gegangen, hatte sich dort in Montur geworfen und war dann mit seinen schwarzen Stiefeln auf einen feucht glitzernden Fußweg getreten. Vergeblich versuchte er zu ignorieren, dass der falsche Bart kratzte und sein Kopf unter der roten Mütze juckte. Santa Claus ging hinüber zu den Haltestellen und suchte sich im Bus einen freien Platz. Schaukelnd setzte sich das Fahrzeug in Bewegung. Der Weihnachtsmann spürte Kinderaugen auf sich ruhen. Lächelnd winkte er einem Mädchen mit seinen schwarzen Handschuhen zu und bekam ein schüchternes Winken zurück.
Auf der Reeperbahn stieg der Weihnachtsmann am Spielbudenplatz aus. Er war auf dem Weg nach Hause, erkannte dann aber die Gefahr, auf dem Sofa einzuschlafen. Dieses Risiko wollte er nicht eingehen. Stattdessen wartete er an der Ampel artig auf Grün und wechselte die Straßenseite, um über den dortigen Weihnachtsmarkt zu bummeln. Anders als auf dem Rathausplatz, wo es geschnitzte Figuren aus dem Erzgebirge und leuchtende Weihnachtssterne gab, fanden sich in den Buden von Santa Pauli ganz besondere Gaben. Immerhin befand man sich hier auf der sündigsten Meile der Welt. Hier wurde Unterwäsche feilgeboten, die so gar nicht nach Baumwollschlüpfer aussah. Es gab Einhornpunsch und fein gedrechselte Holzdildos. Am Wochenende fanden sogar Stripshows statt, doch ausgerechnet jetzt natürlich nicht.
Der Weihnachtsmann ließ sich einen Punsch mit Schuss geben und bewunderte das frivole Motiv auf seinem Becher. Endlich wurden seine Gliedmaßen warm. Der Effekt gefiel ihm. Deshalb ließ er sich nachschenken. Nicht nur ein- oder zweimal. Irgendwann bemerkte er dann fragende Blicke in seine Richtung. Erwachsene tuschelten und lachten. Die wenigen Kinder, die hier waren, wurden von Eltern oder Onkel und Tanten am Weihnachtsmann vorbeigezogen. Was denn, dachte er und schob seinen verrutschten Bart wieder zurecht. Das Ding hatte sich mit Punsch vollgesogen und klebte wie Zuckerwatte an seinem Kinn.
»Wie spät ist es?«, lallte Santa Claus die hübsche Bedienung hinter dem Tresen an. »Was? So spät schon? Verfluchter Mist. Na, bleib mir treu, mein Zuckermäuschen. Ich komme bald wieder.«
Der Weihnachtsmann zwinkerte der Bedienung zu, schwankte dann vom Glühweinstand Richtung Ausgang und erbrach sich neben einer Waffelbude. »Gibt’s doch nicht«, hörte er jemanden sagen. Ein charakteristisches Klicken verriet, dass er mit einem Smartphone fotografiert wurde. Vielleicht filmte ihn sogar jemand. So schnell wie möglich taumelte Santa Claus weiter.
Reiß dich zusammen, murmelte er in seinen Bart, als sich das Bild eines derangierten Weihnachtsmanns in einem Schaufenster spiegelte. Er atmete tief durch und wandte sich der nächsten Bushaltestelle zu. Man wartete bestimmt schon auf ihn. Die Zeit bis zur Bescherung, die er vorhin noch zu viel gehabt hatte, war auf Santa Pauli nur so dahingerast.
Wieder nahm der Weihnachtsmann den Bus. Diesmal ging es am Hauptbahnhof vorbei zur Außenalster. Die Fahrt dauerte länger als die vorige. Endlich sagte der Busfahrer die richtige Straße an, und der Weihnachtsmann schaffte es aus der Tür, ohne auf die Knie zu fallen. Das nahm er als gutes Zeichen. Nur kurz die Geschenke dort in der teuren Villa abliefern und dann ab nach Hause. Wird schon gut gehen, Schwesterherz. Ich kriege das hin. Wirst sehen.
Santa Claus versuchte, sich an die Beschreibung zu erinnern, die er von seinem Mittelsmann bekommen hatte, und suchte trotzdem eine ganze Weile vergeblich im Garten nach den Geschenken. Zum Glück war es schon dunkel, sonst hätten ihn neugierige Kinder aus den großen Fenstern der Villa sehen können. Dann merkte er, dass er auf der falschen Hausseite unterwegs war. Natürlich, am Pavillon beim Alsterkanal war der Geschenkesack versteckt. Ganz schön schwer war das Ding. Es mussten sehr artige Kinder in diesem Haus wohnen, dachte Santa Claus, warf sich den Jutesack mit den Geschenken über die Schulter und klingelte endlich an der Eingangstür. Als diese geöffnet wurde, sah ihn ein Mann, groß wie ein Gebirge, mit angeschwollener Ader auf der fliehenden Stirn an. »Wissen Sie, wie spät es ist? Die Kinder drehen fast durch. Verdammt, Mann.«
»Verdammt, Weihnachtsmann!«, korrigierte der Angesprochene. »So viel Zeit muss sein. Darf ich mal vorbei? Man erwartet mich.«
Santa Claus war stolz auf seine Schlagfertigkeit, musste dabei aber hoffen, dass die ausgesprochenen Worte annähernd so deutlich wie in seinem Kopf klangen. Den Stolperer über den teuren Teppich versuchte er dann als gewollte Witzeinlage zu verkaufen. Als einen Gag, um den beiden staunenden Kindern im Wohnzimmer die Angst vor dem bärtigen Mann zu nehmen, der möglicherweise eine Rute in seinem Sack dabeihatte.
Neben dem Weihnachtsbaum, der das ganze Jahr Bodybuilding gemacht haben musste, um all den Schmuck auf seinen Ästen tragen zu können, stand ein Sessel, auf den sich der erschöpfte Weihnachtsmann fallen ließ. »Ihr Kinderlein«, lallte er. »Ich komme von weither und bin dankbar für ein kleines Päuschen. Wer kennt ein Gedicht?«
Die Geschwister, ein Junge um die zehn und ein etwas jüngeres Mädchen, starrten ihn an, als sei er ein Weltwunder. Dann meldete sich der Junge. Seine Haare waren streng nach hinten gekämmt. Er trug ein weißes Oberhemd und eine blaue Fliege um den Hals. Kurz wechselte er einen Blick mit seinem Vater und begann dann vor den Augen von Mutter und Schwester ein paar Reime von Theodor Storm aufzusagen. »Von drauß’ vom Walde komm ich her, ich muss euch sagen, es weihnachtet sehr!«
Schon neigte sich der Kopf des Weihnachtsmanns leicht zur Seite und suchte Kontakt mit den weichen Backen des Ohrensessels.
»Die Rute, die ist hier«, säuselte die Knabenstimme. »Doch für die Kinder nur, die schlechten, die trifft sie auf den Teil, den rechten.«
Um möglichst konzentriert auszusehen, schloss Santa Claus die Augen.
»He«, wurde er angestupst. Es war die kleine Schwester, die sich an ihn herangewagt hatte. »Du schläfst ja.«
»Nein, nein. Hab alles gehört. Jedes Wort. Sehr schön«, erwiderte der Weihnachtsmann. »Dann guckt doch mal, was ich alles mitgebracht habe. Da im Sack. Nehmt euch jeder was Schönes raus.«
»Aber so geht das nicht. Du musst uns die Geschenke doch geben«, protestierte das kleine Mädchen. Dabei sah es furchtbar niedlich in seinem roten Kleidchen aus.
»Stimmt«, gab der Weihnachtsmann zu und streckte ein Bein aus, um den Jutesack mit dem Stiefel zu angeln. Denn ans Aufstehen war im Augenblick nicht zu denken.
»Du hast doch auch noch etwas vorbereitet, Sophie«, mischte sich die Mutter in diesem Moment ein. Sie trug ein ärmelloses schwarzes Kleid, auf dem silbernes Glitzern an den Sternenhimmel denken ließ. Ein ganzes Stück jünger als ihr bulliger Gatte war sie die Zierde des Hauses.
»Muss ich wirklich?«, fragte das Mädchen und schien zu hoffen, dass das aufgesagte Gedicht ihres Bruders reichen würde, um an die Geschenke zu kommen.
»Musst du nicht«, antwortete Santa Claus, der ebenfalls auf keine weitere Darbietung erpicht war. Doch damit kamen er und das Mädchen nicht durch. Die hübsche Mutter beharrte auf das Vorspielen eines Flötenstücks.
»Großartig«, meinte der Weihnachtsmann, als auch der letzte Ton von Stille Nacht verfehlt worden war. »Nun her mit dem Sack.«
Das Mädchen ließ die Flöte sinken, während der große Bruder den Jutesack zum Ohrensessel trug. Dabei bewegten sich seine Nasenflügel auffällig. Er schnüffelte an Santa Claus und sah seine Mutter fragend an. Doch dann zauberte der Weihnachtsmann für jedes Kind drei große Geschenke aus dem Sack und holte sich so deren Wohlwollen zurück. Selbst der Zorn des Erzeugers schien sich langsam zu legen. Statt bullig und böse wie zuvor wirkte er nun altväterlich und gnädig. Sein Blick ging zur weitaus jüngeren Gattin. Wenn sie zufrieden mit der Show war, war er es offensichtlich auch.
Läuft doch ganz gut, dachte der Weihnachtsmann und ließ den Sack zurück auf den Boden fallen. Dort gab es für alle hörbar ein deutliches »Klong«.
»Er ist noch gar nicht leer«, quiekte das Mädchen aufgeregt. »Es gibt noch mehr.«
»Noch mehr?«, fragte der Junge mit der hübschen Fliege am Hals.
»Noch mehr?«, fragte Santa Claus, der genauso überrascht wie die Kinder war. Langsam hob er den Sack noch einmal an und streckte seinen Arm hinein. Die Hand mit dem schwarzen Handschuh zog ein Geschenk heraus, mit dem die Kinderaugen offenkundig nichts anzufangen wussten. Und es war auch gar nicht eingepackt. Nur eine rote Schleife zierte den Holzdildo, den der Weihnachtsmann nun in der Hand hielt. Er sah vom Vater zu den Kindern und war ratlos. Kann schon sein, dass dieses besonders hübsche Stück der Handwerkskunst auf Santa Pauli ohne zu bezahlen in einer seiner Manteltaschen verschwunden war, aber wie war es von dort in den Geschenkesack gelangt? Moment, natürlich … beim Klingeln an der Haustür hatte er es in seiner Tasche entdeckt, fiel es dem Weihnachtsmann nun wieder ein, und in der Eile hatte er nicht gewusst, wohin damit.
»Was ist das?«, fragte das kleine Mädchen.
»Das ist für deine Mutter«, erwiderte der Weihnachtsmann, um die Situation zu retten.
Die Sterne glitzerten am Himmelszelt, und der Anblick war wunderschön in dieser hochheiligen Nacht, doch leider war es auch saukalt. Der Weihnachtsmann wandte den Blick über die Schulter und sah einen Stapel Geschenke hinter sich. Dann entdeckte er, dass er in einem großen Schlitten saß, mit vier Rentieren davor. Ein Windstoß traf ihn ins Gesicht, während neben ihm die Rathausuhr zum ersten Weihnachtstag schlug. Vorsichtig blickte Santa Claus nach unten. Sein Blick fiel auf Dächer und schmale Gassen. Es schien unmöglich, aber er flog tatsächlich mit einem Schlitten durch die Luft. Obwohl es leicht schwankte, beschloss der Weihnachtsmann aufzustehen, um sich besser umsehen zu können. Erst da bemerkte er, dass seine Arme mit Gewebeband am Schlitten festgebunden waren. Mit eben jenem Klebeband, das auch seine Beine zusammenschnürte.
Der Weihnachtsmann erinnerte sich an die halbwegs gelungene Bescherung in der Villa. An die Geschenke für die Kinder.
An das Geschenk für die Mutter …
An die geschwollene Ader auf der Stirn des Hausherrn.
Dann an seinen überstürzten Abschied aus der Villa, das Stolpern auf der Außentreppe, den Weg, den er auf der Suche nach der nächsten S-Bahnstation zunächst in die falsche Richtung gelaufen war, und an die zwei netten Männer, die ihn schließlich bei den Armen gegriffen und in ihrem Auto mitgenommen hatten. Zunächst war es still im Wagen gewesen. Also versuchte es der Weihnachtsmann mit einem Witz, und die Stimmung wurde besser. Er durfte von seinem Job erzählen und seinem Besuch in der Villa. Am besten gefiel den Männern die Geschichte vom Holzdildo und der roten Schleife drumherum. »Irgendwie ganz schön mutig, solch ein Ding aus Holz zu schnitzen«, beendete Santa Claus seine Erzählung. »Schon mal jemand an mögliche Splitter gedacht?«
Die Männer bogen sich vor Lachen. Und sie lachten noch immer, als sie den Weihnachtsmann auf dem Rathausplatz aus dem Auto zerrten. Die Kletterpartie an einem Pfeiler hinauf zum Schlitten war etwas mühsam, doch weil die Männer nett waren, gab Santa Claus sich Mühe mitzukommen.
Nun saß er also hier oben, festgebunden und verschnürt, als sei er selbst ein Geschenk. Die Fahrt stoppte auf halber Strecke zur beleuchteten Weihnachtspyramide. Die Männer, die ihn hergebracht hatten, sahen zu ihm hinauf und winkten, bevor sie wieder in ihr Auto stiegen und wegfuhren. Gerne wäre er mit ihnen gefahren. Doch irgendwie hatte er das Gefühl, dass sie nicht zurückkommen würden. Als er den Blick hob, sah er, wie sich fliehende Wolken an den Sternen vorbeischoben. Es wurde eine knackig kalte Weihnachtsnacht. Wie eine dünne Rauchfahne stieg der Atem des Weihnachtsmanns gen Himmel. Seine Glieder wurden langsam taub. Trotzdem fühlte er sich wohl und geborgen. Ich wünsche allen Kindern nah und weit eine schöne Weihnachtszeit, dachte er noch. Gegen Morgen fielen dann die ersten Flocken. Da saß der Weihnachtsmann noch immer in seinem Schlitten, ganz andächtig und still. Und schon bald bedeckte ihn ein Kleid aus Schnee.
»Wasch mich!«, stand in einen Schmierfilm aus hochgeschleudertem Straßendreck auf dem ursprünglich weißen VW-Transporter geschrieben. Den Besitzer schien es nicht zu stören. Er saß in der Fahrerkabine und kraulte seinen Bart, während sich neben ihm ein zweiter Mann fröstelnd mit den Händen über die Oberschenkel rieb. Das Fahrzeug parkte in Blankenese an einer steilen Abfahrt zur Elbe. Weiter unten verlief das Falkensteiner Ufer, ein Fahrrad- und Fußgängerweg, von dem Autos schon seit Jahren verbannt waren. Auf den umliegenden Hausdächern und Wegen lag Schnee, auf der Straße bestand er dank der Streufahrzeuge der Stadtreinigung nur noch aus schmutzigem Matsch.
»Verstehe nicht, warum wir hier frieren müssen«, beklagte sich der Beifahrer.
»Bin doch kein Umweltschwein und lass die ganze Zeit den Motor laufen. Du etwa?«
»Mir egal. Hauptsache, es wird warm.«
»Schon gut. Brauchst nicht länger zu warten. Guck, da kommt er. Kannst deine Uhr nach stellen. Jedes Jahr dasselbe Spiel.«
Halb ging, halb schlitterte ein alter Mann den abschüssigen Fußweg hinunter. Sein Parka stand offen trotz der frischen Brise, die, vom Fluss kommend, den Schnee in Wirbeln aufpeitschte. Das Gesicht des Alten wurde von einer traditionellen Lotsenmütze mit Kordelband über dem kleinen Schirmchen verdeckt. Auf einer Schulter lag ein eingenetzter Tannenbaum. Nicht größer als er selbst. Trotzdem machte das unhandliche Gepäckstück dem Alten offensichtlich zu schaffen. Immer wieder versuchte er, das Gleichgewicht zu halten, und jonglierte dabei den Baum so gut es ging.
»Das ist Peet«, stellte der Fahrer des VW-Transporters vor. »Ein echtes Original. Erst Seemann, dann Hafenlotse und in seinen letzten Berufsjahren Überbringer der fliegenden Weihnachtsbäume.«
Die Stirn des Beifahrers krauste sich.
»Fliegende Weihnachtsbäume … Kennste etwa nicht?«, fragte der Fahrer kopfschüttelnd. »Wo bist du denn her? Etwa aus Pinneberg?«
»Ja, ganz genau. Und wenn dir das nicht passt, kann ich dir auch eine ballern!«
Der Fahrer grunzte amüsiert auf. »Jedes Jahr vor Weihnachten werden Nordmanntannen zu den Schiffen gebracht, die im Hafen liegen«, erzählte er dann weiter. »Wo es geht, wird der Baum einfach von einem Schiff zum anderen über die Bordwand geworfen. Deshalb fliegende Weihnachtsbäume, verstehste? Peet hat das vor seiner Rente etliche Jahre gemacht. Und danach dann auch privat. Da allerdings nur noch bei einem Schiff, nämlich der Uwe. Die ist 1975 auf der Elbe gesunken und liegt nun als Wrack da unten am Falkensteiner Ufer.« Der Fahrer wies mit dem Kinn nach vorn. »Eine Verkettung unglücklicher Umstände war das damals. Am 19. Dezember 1975, um genau zu sein. Zwei Frachter sind in der Fahrrinne kollidiert. Eines ist aus dem Ruder gelaufen und hat direkt auf die Uwe zugesteuert. Ich glaube, es kam aus Polen. Das viel niedriger im Wasser liegende Binnenschiff wurde vom Bug des Frachters mittschiffs getroffen und regelrecht in zwei Teile zerschnitten. 16 Mannschaftsmitglieder plus Kapitän mussten ins Wasser, glaube ich jedenfalls. Im Winter kein Spaß. Da hat die Elbe Kühlschranktemperatur. Kannste schnell erfrieren und dann ersaufen. Ist damals aber keiner. Wurden alle gerettet. Trotzdem eine Hammergeschichte, was? Das Schiff wurde anschließend geborgen und hierhergeschleppt. Zur Uferbefestigung. Nur noch mit dem Arsch guckt es aus dem Wasser. Verrostend und verfaulend. Die Leute stört es nicht. Die machen sogar Fotos vom Wrack. Aber das wollte ich gar nicht erzählen. Sondern, dass Peet da jedes Jahr einen Tannenbaum hinbringt. Zur Uwe, meine ich. Er fährt mit einem kleinen Boot rüber, klettert an Bord und stellt die Tanne am Heck auf. Manchmal leuchtet der Baum sogar, heißt es. Weiß nicht, wie das geht bei dem stetigen Wind. Aber die Leute schwören, dass sie die Lichter am Baum an Heiligabend brennen sehen.«
»Ist das nicht schweinegefährlich? Ich mein, da raufklettern und so?«
»Klar. Aber Peet lässt sich nicht davon abhalten. Jedes Jahr am 19. Dezember schleppt er einen Baum zur Uwe. Der Wasserschutz liegt dann mit einem Schiff auf der Elbe und passt auf. Trotzdem verrückt. Sogar im Fernsehen haben sie schon darüber berichtet. Daher weiß ich es überhaupt. Habe letztes Jahr einen Beitrag darüber gesehen. In einem dieser Regionalprogramme, weißte.«
Der Beifahrer zuckte mit den Schultern. »Mir ist noch immer kalt. Dachte, wir drehen heute ein Ding.«
»Machen wir auch. Wollte nur sehen, ob Peet dieses Jahr wieder zur Uwe geht. Denn dafür braucht er mehrere Stunden. Mit dem Boot rüber. Baum aufstellen. Der ganze Scheiß. Genug Zeit, um bei ihm in Ruhe einzusteigen.«
Das Gesicht des Beifahrers hellte sich auf. »Du weißt, wo dieser Peet wohnt, stimmt’s?«
»Bin in der Nachbarschaft aufgewachsen«, sprach der andere grinsend weiter. »Peet hat uns Kinder oft bei sich im Garten spielen lassen. Da gab es ein altes Schlauchboot, einen Fahnenmast, einen riesigen Anker und so weiter. Ein Paradies. Ich war total gerne da. Und außerdem hat er uns bei Kinderpunsch, also warmem Apfelsaft ohne Alkohol, Seemannsgarn erzählt. Von Nixen und vom Klabautermann. Meistens ganz schön unheimlich. Außerdem hat er uns von seiner Schatztruhe erzählt, in der er Andenken an seine Weltreisen aufbewahrt. Auch wertvolles Zeug darunter. Dachte mir, schadet doch nichts, wenn wir mal einen Blick in die Kiste werfen.«
Der Beifahrer lüpfte die Augenbrauen. »Während der alte Peet seinen Weihnachtsbaum auf der Uwe aufstellt«, sprach er seine Gedanken laut aus.
»Exakt.«
»Ganz schön fies. Dachte, er war früher so nett zu dir.«
»Doch nicht nur zu mir. Auch zu den anderen.«
Der Beifahrer lachte auf. »Na, dann hat er es nicht anders verdient.«
»Nun verstehen wir uns.« Zufrieden boxte der Fahrer seinem Sitznachbar gegen den Oberarm und ließ den Motor an. »Klaun, klaun, Äppel wüllt wi klaun, ruck zuck övern Zaun«, begann er zu singen, während der Wagen die steile Straße hinaufkletterte. Sein Kumpan rieb sich den Arm und setzte dann grölend mit ein: »Ein jeder aber kann dat nich, denn he mutt aus Hamburg sien.«