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Eine Bombe explodiert auf dem Hamburger Hafengeburtstag. Panik bricht aus. Als ein Brandanschlag auch noch die Redaktion der Journalisten Jan Fischer und Charlotte Sander trifft, nehmen es die beiden persönlich. Eine Spur führt sie nach Berlin, eine andere ins Hamburger Frauengefängnis. Dort sitzt die geheimnisvolle Rebekka ein. Weiß die Domina mehr, als sie zugibt? Für ihre Neugier zahlen die Journalisten einen hohen Preis. Denn ihr Gegner ist auf einer Mission, die weiteren Blutzoll fordert.
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Seitenzahl: 520
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Markus Kleinknecht
Hamburg im Zorn
Thriller
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © K_Rahn / Photocase.de
ISBN 978-3-8392-7302-9
Trotz seiner 38 Meter Höhe gehörte das Riesenrad zu den sichersten Fahrgeschäften des Hamburger Hafengeburtstags, wären dieses Jahr nicht an beiden Achsaufhängungen Sprengkörper angebracht gewesen. Ein Mann schob auf dem Display seines Smartphones eine virtuelle Sicherung zur Seite und stellte damit den Fernzünder scharf. Der Button zum Auslösen der Minibomben wechselte von Schwarz auf Rot. Grün hätte sich auch angeboten, doch wollten die Programmierer der App mit der roten Signalfarbe vermutlich darauf hinweisen, dass eine Berührung des Buttons den entscheidenden Befehl übermitteln würde. Ob es nun um den Start eines Raketenbausatzes für Hobbybastler ging oder um etwas Größeres.
Es war Samstagmittag. Neben den Freunden der Seefahrt, die durch Großmaster, historische Dampfschiffe und Matrosen in Uniform angelockt wurden, waren auch viele Kinder mit ihren Eltern, Großeltern, Onkeln oder Tanten auf dem Volksfest. Der ganze Bereich zwischen den Landungsbrücken und dem Fischmarkt war vollgestopft mit Fress- und Süßigkeitenbuden. Tausende Besucher schoben sich durch die Gassen zwischen den Ständen. Wo sich Musiker mit ihren Instrumenten aufgebaut hatten oder Straßenkünstler ihre Programme aufführten, bildeten sich immer wieder Menschentrauben und führten zu Staus. Minutenlang schien dann nichts mehr vor oder zurück zu gehen. Ganz langsam begannen sich die Feiernden dann wieder in Bewegung zu setzen, nur um kurz danach erneut ins Stocken zu geraten. Kurz: Hier gab es den idealen Ort für eine Massenpanik.
Ein junges Pärchen eroberte gerade eine Gondel des Riesenrads für sich allein. Die beiden waren froh, der hinter ihnen stehenden Familie mit einem quengelnden Geschwisterpaar entkommen zu sein. Peer half Linda in die Gondel, obwohl sie es auch allein geschafft hätte, und hielt dabei ihre Hand etwas länger als nötig. Peer war im März 16 geworden, Linda bereits 18 Jahre alt. Das ältere Mädchen reizte Peer und schüchterte ihn zugleich ein. Auf dem höchsten Punkt der Rundfahrt plante Peer, der Rothaarigen mit dem frechen Pagenschnitt einen Kuss zu geben. Dazu waren Riesenräder schließlich da. Wen reizte schon die Aussicht? Peer jedenfalls nicht. Obwohl er vom Riesenrad aus nicht nur den Hafen mit den Schiffen zu sehen bekam, sondern auch den Michel als Wahrzeichen der Stadt und in der Ferne das geschwungene Dach der Elbphilharmonie. Peer rutschte auf dem Sitz hin und her, blickte über die Schulter und tat so, als berühre seine Hand nur zufällig Lindas Bein. Als er den Blick wieder drehte, lächelte sie ihn an. »Toll, was?«, sagte er und überlegte, sie schon jetzt zu küssen, obwohl sie noch nicht ganz oben waren und der nervtötende Streit zwischen den Geschwistern in der Gondel hinter ihnen weiterging. Sein Kopf neigte sich ein Stück in Lindas Richtung. Sie lächelte noch immer. Nicht nur mit dem Mund, sondern auch mit den Augen. Vielleicht dachte sie etwas Ähnliches wie er. Jedenfalls hoffte Peer dies.
Der Mann mit dem Smartphone merkte, wie die Innenflächen seiner Hände feucht wurden. Auf die beiden Explosivkörper war Verlass, daran lag es nicht. Er hatte den Sprengstoff mehrfach in einer nicht mehr genutzten Kiesgrube getestet und wusste, dass er sich auf die Explosionskraft verlassen konnte. Die Rohrbombe hatte einen beachtlichen Krater in eine Abbruchkante des ehemaligen Tagebaus gerissen. Dazu hatte es nicht einmal viel vom Vorrat des Mannes bedurft. Die Detonationsgeschwindigkeit des Plastiksprengstoffs betrug fast 10.000 Meter pro Sekunde bei einer Explosionstemperatur von rund 4.500 Grad Celsius. Die hierbei entstehende Druckwelle aus Gasen setzte eine Wucht frei, die ausgereicht hätte, Eisenbahnschienen oder Schiffsplanken in Stücke zu reißen. Deshalb war sich der Bombenbauer sicher, dass die Achse und die Bolzen des Riesenrads keinen nennenswerten Widerstand bieten würden.
Sobald er den Fernzünder betätigte, würde das Riesenrad aus seiner Verankerung springen. Was dann geschah, war nicht exakt vorhersehbar. Es kam auf den Neigungswinkel an, mit dem das Rad sich bewegte. Im ungünstigsten Fall würde es direkt aufs Wasser zurollen, über die Kaimauer fallen und samt Fahrgästen in der Elbe versinken. Die Bilder, die sich anschließend der Polizei und den Medien bieten würden, wären gut, aber nicht herausragend. Viel besser wäre es, wenn das Rad eine Kurve nach links nähme und sich dann wie eine riesige Fliegenklatsche auf die Seite legen würde. Allein die Zahl der unter dem Stahlkoloss zermalmten Körper würde erheblich sein. Dazu kämen noch die Opfer der zu erwartenden Massenpanik. Menschen waren ja so empfindlich, ihre Körper nahezu schutzlos und ihre Psyche so zerbrechlich.
Schon den ganzen Tag donnerten die Kanonen der ein- und ausfahrenden Dreimaster. Sie schossen zwar nur mit Knallmunition ohne Treibkörper, dennoch würden die Menschen auf der Partymeile den Unterschied zum Plastiksprengstoff zunächst vermutlich gar nicht bemerken. Einige würden zusammenzucken, andere den Kopf einziehen, doch das große Geschrei und Gejammer würde erst einsetzen, sobald die Detonation das Riesenrad aus der Verankerung riss.
Die Reifen des Flugzeugs aus Mallorca quietschten beim Aufsetzen. Charlotte Sander stand zur selben Zeit auf der unteren Ebene des Hamburger Flughafens vor dem Ausgang für die ankommenden Passagiere. Sie musterte die Menschen im Wartebereich. Ein Mann hatte ein Kleinkind auf dem Arm. Ob die beiden auf die Mutter des Kindes warteten? Vielleicht war sie eine erfolgreiche Geschäftsfrau und kam mit dem Lufthansa-Flug aus Frankfurt um 21.30 Uhr nach Hause. Ein anderer Mann saß auf einer der fünf Stuhlreihen aus Metall und starrte immer wieder auf sein Handy. Ein kleines Mädchen lief aufgeregt an der Absperrung zum Zollbereich auf und ab, während sein Vater einen Blumenstrauß in der Hand hielt und die Frau neben sich lächelnd ansah. Entweder warteten sie gemeinsam auf die Großmutter der Kleinen, die zu Besuch kam, oder auf eine große Schwester des Mädchens, die vielleicht von einem Auslandsjahr in den USA oder Australien zurückkehrte, überlegte Charlotte. Charlotte Sander war ein durch und durch visualisierender Mensch. Sie beobachtete ihre Mitmenschen, wann immer es ihr möglich war. Das lag vermutlich an ihrem Beruf. Als Fotografin war Charlotte darauf trainiert, in Perspektiven zu denken. Oder, was auch möglich war, sie hatte den Beruf gerade wegen dieser Fähigkeit zur Visualisierung gewählt. Ihr Blick wanderte nun über eine große Werbetafel, die die Sicht zu den Gepäckbändern einschränkte. Zum wiederholten Mal las Charlotte die Werbebotschaft. Dann fiel ihr Blick, ebenfalls zum wiederholten Male, auf die Anzeigentafel mit den erwarteten Flugzeugen. Die Maschine aus Frankfurt war noch im Anflug. »Gelandet«, stand dafür neben der Maschine aus Mallorca. Nervös trat die große Frau mit den grünen Augen und dem blonden Lockenkopf von einem Fuß auf den anderen. Ja, sie war eindeutig nervös. Denn in wenigen Minuten würde Lucia Moreno aus der Gepäckabfertigung kommen und von ihr eine angemessene Begrüßung erwarten.
Doch wie sollte diese aussehen? Charlotte holte tief Luft und vergaß für eine Weile, wieder auszuatmen.
Die beiden Frauen hatten sich im vergangenen Winter auf Mallorca kennengelernt.
Ein Winter auf Mallorca.
Charlotte hatte von einem Verlag den Auftrag bekommen, einen Bildband zum gleichnamigen Reisebericht von George Sand mit Fotos zu illustrieren. Als Geliebte Frédéric Chopins hatte die französische Schriftstellerin im Jahr 1838 insgesamt 98 kalte und nasse Tage auf Mallorca verbracht. Ein bleibender Eindruck, den George Sand sich mit stimmungsvollen und witzigen Aufsätzen von der Seele geschrieben hatte, während Chopin fleißig Stücke komponierte. Charlotte hatte viele Plätze besucht, die zu den Beschreibungen George Sands passten, und nahezu unzählige Motive mit der Kamera eingefangen. Begleitet wurde sie dabei zunächst von Javier Moreno, dem jungen Mitarbeiter einer Lokalzeitung. Der Verlag hatte den Kontakt vermittelt, damit Charlotte nicht einfach so über die große Insel irrte.
Javier Moreno war ein gut aussehender Mann. Er war charmant und aufmerksam. Seine Mutter hatte viele Jahre in einem Hotel mit überwiegend deutschen Gästen gearbeitet. Deshalb hatte sie Wert darauf gelegt, dass ihre Kinder neben Englisch auch ein gutes Deutsch lernten. Dies setzte Javier sehr gekonnt ein, wenn er mit Charlotte im Jeep über die Insel fuhr. Doch Charlotte konnte den Reizen des Spaniers mühelos widerstehen, auch wenn sie während ihres Aufenthalts mit ihm und seiner Schwester unter einem Dach schlief. Immerhin war Charlotte zu dieser Zeit wieder fest mit Jan zusammen. Doch irgendwann hatte dann Javiers Schwester den Job als Location Scout übernommen, und die Sache begann, kompliziert zu werden.
Es passierte nach einem gemeinsamen Abendessen mit den beiden Geschwistern. Ja, vielleicht hatten alle etwas zu viel Rotwein getrunken. Jedenfalls führte Lucia die kühle Norddeutsche noch einmal hinunter zum Strand. Beide Frauen zogen ihre Schuhe aus und spazierten barfuß über den kühlen Sand. Irgendwann blieb Charlotte stehen und ließ sich den vom Meer kommenden Wind ins Gesicht wehen. Die Dunkelheit verschluckte die Umgebung nahezu. Nur das Geräusch der Brandung und gelegentliche Lichtreflexe verrieten ihr, dass sie am Ufer des Mittelmeers stand.
In diesem Moment trat Lucia zu ihr und umarmte sie von hinten. Charlotte spürte die Wärme der Spanierin durch den dünnen Stoff und dann, wie sie von ihr in den Nacken geküsst wurde. Scheinbar selbstverständlich schob Lucia eine Hand unter Charlottes leichte Jacke. Als sie Charlottes Brust berührte, wusste diese nicht mehr, was hier passierte. Und das lag nicht nur an dem, was Lucia tat. Es war Charlotte selbst, die in ein Gefühlschaos stürzte. Sie merkte, wie ihre Brustwarzen auf die Berührung der anderen Frau reagierten. Hitze schoss in Wellen durch ihren Körper. Noch mehr Küsse in den Nacken. Und ein Gedanke, der alles bestimmte: bitte nicht aufhören!
Die beiden Frauen gingen zurück zum Haus und liebten sich heimlich in Lucias Schlafzimmer, während Javiers Schnarchen durch die dünnen Wände drang. Als eine kleine Pause zwischen den Schnarchern eintrat, horchten beide auf. Dann ging das Konzert weiter, und Lucia musste so lange kichern, bis Charlotte ihr eine Hand auf den Mund legte.
Bei Charlottes Rückkehr nach Hamburg war für sie dann nichts mehr, wie es vor ihrer Abreise gewesen war. Zunächst fand sie Jan gar nicht in der Stadt vor und musste ihm bis nach Sylt folgen. Erst dort konnte sie ihm erzählen, was auf Mallorca passiert war, wenn auch nicht in allen Details. Jans Reaktion war anders als erwartet gewesen. Denn außer eines Nickens bei ihren Worten reagierte er gar nicht. Es war nicht so, dass er sich anschließend nicht weiter um Charlotte bemüht hätte, aber ganz offensichtlich wollte er sie nicht bedrängen. Und weil sie sowieso schon wieder längere Zeit in getrennten Wohnungen lebten, reduzierten sich ihre privaten Kontakte fortan wie von selbst. Sie trafen sich weiter in der Redaktion des Lauffeuers, tranken zusammen Kaffee und redeten über die Arbeit, doch schliefen sie seit Charlottes Mallorca-Reise nicht mehr miteinander.
Charlotte war das ganz recht, brauchte sie doch die Zeit, um ihre Gedanken zu ordnen. Ursprünglich hatte sie geplant, gleich nach ihrer Beichte noch einmal nach Mallorca zu reisen und somit zurück in Lucias Arme. Doch dann verzögerte Charlotte das Vorhaben immer weiter. Sie tat vor sich selbst so, als sei sie zu sehr mit der Buchveröffentlichung und ihrer anderen Arbeit beschäftigt. Dabei wusste sie ganz genau, dass diese Gründe vorgeschoben waren. Die Gestaltung des Bildbandes hätte sie auch problemlos von Mallorca aus über das Internet begleiten können. Aber sie wollte es nicht. Bald erschien Charlotte das erotische Abenteuer mit Lucia nur noch wie eine Fantasie. Doch dann kündigte die Spanierin unerwartet an, selbst nach Hamburg zu kommen. Charlottes Puls beschleunigte jedes Mal, wenn sie daran dachte. Denn es wurde gar nicht erst diskutiert, ob Lucia im Hotel schlafen sollte.
»Gepäckausgabe«, stand nun auf der Ankunftstafel hinter der Maschine aus Mallorca.
Charlotte sah auf ihre leeren Hände. Hätte sie auch einen Blumenstrauß kaufen sollen? Noch schien es nicht zu spät zu sein. Der Blumenstand befand sich nur ein Stück den Korridor hinunter zwischen Buchladen und Coffee Shop.
Die Schiebetür zum Zollbereich öffnete sich und gab den Blick auf die im Kreis laufenden Gepäckbänder frei. Eine junge Frau schob einen Gepäckwagen in die Wartehalle. Das kleine Mädchen lief ihr lachend entgegen. Auch die Eltern lächelten sich an und gingen auf die Heimkehrerin zu.
Weiter hinten glaubte Charlotte, Lucia zu erkennen. Doch bevor sie sich sicher sein konnte, schloss sich die Schiebetür schon wieder. Erneutes Warten. Dann ging die Tür wieder auf.
Ja, das war Lucia. Sie trug ein für Hamburger Verhältnisse zu dünnes Kleid. Ein Kurzmantel lag auf dem Rollkoffer, den sie hinter sich herzog. Charlotte lächelte, als sich ihre Blicke trafen. Schnell hob sie die Hand. Und nun endlich freute sie sich auch. Es war schön, Lucia wiederzusehen.
»Hola!«, sagte Lucia mit einer für eine Frau von ihrer Größe ungewöhnlich tiefen Stimme.
»Hola!«, erwiderte Charlotte. Die über einen Kopf größere Blondine breitete die Arme aus und umschloss Lucia damit. Bis zur Drehtür am Ausgang zog Lucia ihren Koffer selbst. Ab dort übernahm Charlotte, während Lucia in ihren Kurzmantel schlüpfte. Charlotte zahlte am Parkautomaten, dann fuhren sie die spindelförmige Ausfahrt hinunter. Die Fahrt nach Harburg würde je nach Verkehrslage vor dem Elbtunnel etwa 30 Minuten dauern. Lucia erzählte von ihrem Flug und von Javier, Charlotte von den Fortschritten bei der Illustration des Bildbandes. Als das Container Terminal von Waltershof kurz nach der Elbtunnelausfahrt auftauchte, stellten die beiden Frauen ihr Gespräch ein. Schiffe waren Lucia durch das Inselleben mehr als vertraut. Aber hier lagen die wirklich großen Containerriesen auf Reede. Nebel wallte über dem Wasser, während mächtige Scheinwerfer das Hafenbecken ausleuchteten. Es war ein Abbild menschlicher Ingenieurskunst und Technik, doch mit etwas Fantasie hätten die riesigen Hafenkräne und Schiffsrümpfe auch eine Szene mit Ungetümen aus der Urzeit darstellen können.
»Wunderschön«, stellte Lucia fest.
»Ja, Hamburg ist wunderschön«, erwiderte Charlotte mit einem Blick durch das Seitenfenster, dann sah sie wieder auf die Straße. »Wenn du willst, zeige ich dir den Hafen mal in aller Ruhe. Hier gibt es wirklich viel zu sehen.«
»Das wäre toll.«
Charlotte nickte zu Lucias Worten. Nur die Altenwerder Kirche würde sie bei der Besichtigungstour aussparen. Das stand jetzt schon fest. Denn dort würde sie vermutlich nie wieder hingehen. Schnell versuchte Charlotte, den Gedanken zur Seite zu schieben. Zu schlimm waren die Erinnerungen, die sie mit der Kirche und dem daneben liegenden Rangierbahnhof verband. Bereits das Befahren der Autobahn, die als Brückenkonstruktion an der Kirche und den Gleisanlagen vorbeiführte, bereitete Charlotte innere Schmerzen. Sie wollte nicht mehr daran denken, was dort vor zwei Jahren passiert war. Ohne es zu merken, umklammerten ihre Finger das Lenkrad, bis ihre Knöchel weiß hervortraten.
Charlottes Wohnung lag in der obersten Etage eines Mehrfamilienhauses. Sie hatte einen französischen Balkon und große Fenster zur Straße. Trotzdem wurde es im Sommer unter den Dachschrägen schnell heiß. Auch jetzt war noch eine Restwärme der Abendsonne zu spüren, als Charlotte die Tür öffnete und Lucia den Vortritt in den Wohnungsflur ließ. Sie zeigte ihrem Gast das Bad und das Wohnzimmer mit dem Tresen, der die offene Küche vom Rest des Raums trennte. Zuletzt öffnete Charlotte die Tür zum Schlafzimmer. Gemeinsam sahen sie das Bett an.
»Es gibt auch noch das Sofa«, sagte Charlotte.
Lucia blickte überrascht. »Soll ich auf dem Sofa schlafen?«
»Nein, ich …«, erwiderte Charlotte erschrocken. »Also, nur wegen der Reise. Vielleicht brauchst du etwas Ruhe …«
Eine senkrechte Linie bildete sich zwischen Lucias schwarzen Augenbrauen. »Stimmt was nicht, Charlotte? Das habe ich schon am Flughafen gedacht.«
»Doch, doch. Alles gut!«, entgegnete Charlotte. »Willst du dich etwas frisch machen? Ich habe Wein da und Pizza im Ofen. Sie muss nur noch durchbacken.«
»Du hast Pizza gemacht? Für mich?«
»Ja, na klar. Ich kann so was.«
»Dann essen wir Pizza und trinken Wein. Ich freue mich darauf.«
Charlotte nickte, während Lucia ihren Koffer ins Schlafzimmer rollte. Als der Pizzageruch die Wohnküche erfüllte, kam Lucia wieder aus dem Badezimmer. Sie hatte ihre hochhackigen Schuhe ausgezogen und ging barfuß über den Holzboden. Charlotte reichte ihr ein gefülltes Glas. Der Wein perlte durch die Bewegung ölig an der Innenwand herab.
»Willkommen in Hamburg!«
»Gracias.«
Die Gläser berührten sich mit einem tiefen Ton. Beide tranken. Dann sah Charlotte Lucia in die Augen und beugte sich, einem plötzlichen Impuls folgend, zu ihr hinunter. Doch bevor sie die Spanierin küssen konnte, klingelte Charlottes Smartphone. Als sie Jans Nummer erkannte, wusste Charlotte sofort, dass etwas nicht stimmte. Denn er hatte schon lange nicht mehr bei ihr angerufen.
Die Scheinwerfer des kleinen Renaults mühten sich nahezu vergebens, die Wand aus weißem Nebel zu durchdringen. Das Auto schlängelte sich den Deich am Ufer der Süderelbe entlang. Durch die Lüftungsschlitze kroch Rauch ins Wageninnere. Charlotte kannte den Geruch sehr gut. Oft genug war sie für Fotos zu abgebrannten Reetdachhäusern, Lagerhallen und anderen Überbleibseln von Gebäuden gefahren, in denen Flammen gewütet hatten. Als Fotografin für das mittlerweile eingestellte Harburger Tageblatt hatten die Bilder skelettierter Häuser oder Lagerhallen zum Job gehört. Auch wenn das Harburger Tageblatt nun selbst ein Teil der Historie war und Charlotte schon lange keine Brandruinen mehr abgelichtet hatte, wusste ihre Nase sehr genau, wenn sie es mit einem Feuer zu tun hatte.
»Wird schon nicht so schlimm sein«, versuchte Lucia, Charlotte zu beruhigen. Lucia war mit ihrem roten Kleid und dem Kurzmantel für einen Brandort viel zu schick angezogen. Doch Zeit zum Umziehen war nicht mehr geblieben.
Charlotte starrte geradeaus durch die Frontscheibe, als könne sie den Nebel allein mit ihrem Willen durchdringen. Der kleiner Renault fuhr nur Schritttempo, während er den Vorhang aus schwebenden Wasserteilchen zerteilte, die von der Elbe landeinwärts trieben.
Jan hatte nicht viel am Telefon gesagt. Es waren eher zusammenhanglose Wörter gewesen. Trotzdem hatte Charlotte sofort begriffen, dass sie zum Lauffeuer kommen musste. Jan so konfus reden zu hören, hatte ihr Angst eingejagt. Feuer? Polizei? Christian verletzt?
Irgendwann sahen beide Frauen das Blaulicht im weißen Nichts zucken. Sie mussten der ehemaligen Freikirche also schon sehr nahe sein, in der Jan wohnte und in deren umfunktioniertem Gemeindesaal die Redaktion des Lauffeuers untergebracht war. Zuvor war das Internetmagazin in den Räumen des abgewickelten Harburger Tageblatts zu Hause gewesen. Doch die Miete für zwei Geschosse unweit des Harburger Rathauses und direkt an der Fußgängerzone konnte Christian Freitag als Gründer, Eigentümer und Chefredakteur des Start-up-Unternehmens nicht lange berappen. Deshalb hatte Jan dem ehemaligen Volontär der Zeitung angeboten, den großen Saal des lange leerstehenden Kirchengebäudes für einen Betrag zu mieten, der lediglich den Heiz-, Strom- und Wasserkosten entsprach. Jan brauchte den Saal nicht. Ihm reichte die Einliegerwohnung des einstigen Küsters im ersten Stock.
Nun also sollte dieses Kirchengebäude brennen. Charlotte sah in Gedanken ein Inferno aus Rauch und Flammen vor sich. Sie glaubte, aus dem Nebel einen in sich zusammengesackten Dachstuhl und die somit zur Sinnlosigkeit verdammten Grundmauern herausragen zu sehen. Ein surreales Kunstobjekt, umgeben von weißer Watte.
Doch dies entpuppte sich als Trugbild. Stattdessen tauchte ein Löschgruppenfahrzeug der Freiwilligen Feuerwehr Harburg vor ihnen auf. Charlotte fuhr noch langsamer und hielt dann an. Generatoren brummten, ein ausgefahrener Lichtmast war auf den Kircheneingang gerichtet, während ein Belüfter direkt vor der offenen Tür stand. Ein Glück, das Gebäude existierte noch.
Die Zufahrt zum Parkplatz neben der Kirche war durch weitere Feuerwehrfahrzeuge versperrt. Deshalb parkte Charlotte schräg hinter einem Streifenwagen, der mit eingeschaltetem Blaulicht vor der Kirche stand. Beide Frauen stiegen aus, und Lucia fasste nach Charlottes Hand.
Wegen des diffusen Lichts sahen die herumhuschenden Menschen alle gleich aus, waren nur Silhouetten vor dem Hintergrund der Kirche. Dann trat eine Person auf Charlotte und Lucia zu. Charlotte rechnete mit einem Polizisten, der auf sie aufmerksam geworden war. Manchmal ließen sich die Gesetzeshüter von Neuankömmlingen den Ausweis zeigen und schrieben Namen auf. Denn oft genug stellte sich später Brandstiftung als Ursache für brennende Gebäude heraus. Da war es für die Ermittlungsbehörden gut zu wissen, wer sich während und nach den Löscharbeiten in der Nähe herumgetrieben hatte. Deshalb notierten sich Polizisten bei Bränden auch gerne die Nummernschilder der im Umfeld abgestellten Fahrzeuge. Charlotte kannte das Spiel.
Doch es war kein Polizist, der Charlotte entgegenkam. Sie erkannte Jan ziemlich schnell an Größe und Gang. Dann traf das Licht des Feuerwehrscheinwerfers sein Gesicht. Vorübergehende Erleichterung schlug bei Charlotte erneut in Sorge um. Jan war über und über rußgeschwärzt, seine Jacke am rechten Ärmel und an der Schulter aufgerissen. Die dunklen Flächen auf seinen Händen erinnerten nicht nur an getrocknetes Blut, es war Blut.
»Jan!«, rief Charlotte aus, ließ Lucias Hand los und lief ihm entgegen. Schützend versuchte sie, ihn in die Arme zu schließen. Ein nicht besonders leichtes Unterfangen, war er mit seinen annähernd zwei Metern doch so viel größer als sie.
»Ich durfte nicht mitfahren«, sagte er leise. »Sie haben ihn ins Krankenhaus gebracht. Aber ich durfte nicht mit …«
Charlotte fühlte ein Zittern, während sie Jan umarmte. Sie streichelte seinen Rücken und stellte dabei überrascht fest, dass vielleicht sie es war, die zitterte, und nicht er.
»Was ist passiert?«, presste sie heraus.
»Der ganze Laden ist zertrümmert. Alles kurz und klein geschlagen. Rechner, Monitore. Überall Scherben. Und Christian voller Blut. Alles voller Blut.« Jan machte eine Pause. »Wenn ich nicht zufällig gerade nach Hause gekommen wäre … wäre hier alles abgefackelt. Ich habe das gelöscht. Nicht die Feuerwehr. Ich war das, Charlotte. Und danach habe ich Christian gefunden. Er sah übel aus, Charlotte. Ganz, ganz übel. Und sie haben mich trotzdem nicht mit ins Krankenhaus fahren lassen.«
Charlotte sah die beschriebene Situation vor ihrem geistigen Auge. Dann drängte sich eine weitere Frage auf. »War er allein da drinnen? Ich meine, war sonst noch jemand da … von uns?«
Jan sah verständnislos zurück zum Gebäude.
»Sind alle anderen raus?«
»Ich habe sonst niemanden gesehen. Wer soll denn noch drin sein?«
»Weiß ich nicht. Ist auch schon gut«, entschied Charlotte. Dann griff sie mit beiden Händen nach Jans rechtem Arm und zog ihn mit sich. Sie wollte Abstand zwischen ihm und dem Brandort herstellen. Charlotte bugsierte Jan zur offenen Beifahrertür des Renaults und ließ ihn einsteigen. Dabei setzte er sich quer zum Armaturenbrett, sodass seine Füße noch draußen auf dem Boden standen. Charlotte ging vor ihm in die Hocke und griff nach seinen Händen. Eine Weile sahen sie sich nur schweigend an.
»Alles wird gut«, sagte sie dann, weil ihr nichts Besseres einfiel und weil sie hoffte, dass es stimmte. Mit einem Blick zur Seite stellte sie fest, dass Lucia nur ein Stück neben ihnen stand. Die Spanierin hatte die Arme vor der Brust verschränkt und guckte abwechselnd zur Kirche und dann wieder zu Jan und Charlotte.
»Kannst du kurz bei ihm bleiben?«, flüsterte Charlotte mehr, als dass sie es laut sagte.
Sofort nickte Lucia.
»Ich muss kurz mit jemandem sprechen«, erklärte Charlotte mit möglichst ruhiger Stimme, obwohl sie sich alles andere als ruhig fühlte. Jan so verstört zu sehen und nicht zu wissen, was mit Christian los war, ließ zum wiederholten Male eine eiskalte Hand nach ihr greifen. Langsam richtete sie sich auf, um im gleißenden Licht etwas mehr zu erkennen.
»Bin gleich wieder da«, sagte sie zu Jan, dann flüsterte sie Lucia zu: »Lass ihn nicht alleine!«
»Nein«, versicherte diese.
Charlotte trat wieder um das Auto herum und auf einen Polizisten zu, der neben seinem Streifenwagen stand. Unaufgefordert zeigte sie ihren Presseausweis vor und sagte, dass sie in dem Gebäude arbeite.
Der Mann nickte mit einem Blick auf das Plastikkärtchen. »Dann stimmt das mit der Zeitungsredaktion?«
»Das Lauffeuer gibt es nur online. Aber ja, sonst stimmt es.«
»Komisch. Dachte immer, das sei nur eine Kirche.«
»War es auch mal«, erwiderte Charlotte.
Der Polizist war noch jung, sein Gesicht ein wenig rundlich. In fünf Jahren würde es vermutlich markanter und männlicher aussehen. Charlotte vermutete, dass der Mann seine Ausbildung gerade erst abgeschlossen hatte und die Historie des Gebäudes deshalb nicht aus eigener Anschauung kennen konnte, selbst wenn es nun in seinem Revierbereich lag.
»Dann ist ja alles richtig so«, fügte der Mann jetzt hinzu. »Die Zentrale hat die Kripo angefordert, damit die entscheiden, ob das hier was für den Staatsschutz ist.«
»Staatsschutz?«
»Na, wegen Presse. Ist ja vielleicht eine politisch motivierte Tat, meint auch mein Kollege. Anschlag auf einen Journalisten und Brandstiftung in einer Zeitungsredaktion klingt verdächtig nach Staatsschutz. Jedenfalls ist der Tatort erst einmal beschlagnahmt. Da können Sie jetzt nicht rein, und Ihr Kollege auch nicht. Ich weiß, dass er hier wohnt. Hat er uns alles schon erzählt. Aber er kann jetzt wirklich nicht in seine Wohnung.«
»Ich soll ihn also mitnehmen?« Charlotte sah den Polizisten direkt an.
»Nicht meine Entscheidung«, entgegnete dieser. »Aber wenn Sie es wollen, spricht nichts dagegen. Wir haben seine Aussage. Mehr brauchen wir im Moment nicht.«
»Was ist mit unserem Chefredakteur?« Charlotte benutzte mit Absicht den Titel des Überfallenen und nicht Christians Namen, um es für den Polizisten wichtiger klingen zu lassen. »Wie geht es ihm?«
Der Mann krauste die Stirn, dann zuckte er mit den Schultern. »Oft sieht es schlimmer aus, als es ist.«
Dann sah Christian also wirklich schlimm aus, deutete Charlotte die Worte. Jan hatte nicht übertrieben.
»Wann kommen die Brandermittler?«, hakte sie nun weiter nach.
»Morgen früh. Wenn es hell ist. Vorher nicht.«
»Und die entscheiden dann, ob die Wohnung wieder betreten werden darf, oder ob sie unbewohnbar ist, richtig?«
Auch diese Prozedur kannte Charlotte durch ihren ehemaligen Job bei der Tageszeitung. Brandermittler, mit dem breiten Schriftzug der Polizei auf den Jacken, waren immer ein willkommenes Bild beim Harburger Tageblatt gewesen. Dann brauchte die Redaktion nicht die Flammenbilder der Nachrichtenagenturen einzukaufen und sparte somit Geld.
»Stimmt«, bestätigte der junge Polizist.
Charlotte nickte. »Dann sind wir morgen früh auch wieder hier.«
»Das können Sie gerne machen.« Der Polizist blickte gemeinsam mit Charlotte zum Eingang. Dann sah er sie wieder an. »Wie gesagt, wir haben alle nötigen Angaben Ihres Kollegen. Nehmen Sie ihn also ruhig mit.«
»Das werde ich.«
»Und fahren Sie vorsichtig. Es ist neblig.«
Auch wenn das Gesagte offensichtlich war, fand Charlotte es angenehm, dass der Mann zum Abschied etwas Persönliches hinzugefügt hatte. Sie sah noch einmal zur Kirche. Zu gerne hätte sie einen Blick in die Redaktion geworfen. Zum Glück hatte sie nichts Wichtiges dort liegen gelassen. Ihre Kamera und die Wechselobjektive hatte sie immer bei sich. Charlotte nickte dem Polizisten zu und ging zurück zu ihrem Wagen. Lucia wartete neben der offenen Beifahrertür. Jan hatte die Arme zwischen die Knie geklemmt und die Hände gefaltet. Er wirkte willenlos, als Charlotte ihm half, die Beine in den Fußraum des Kleinwagens zu bekommen. Lucia musste auf den Rücksitz rutschen, auch wenn es dort sehr eng wurde, weil nun beide Sitze weit nach hinten geschoben waren.
Charlotte startete den Motor und setzte zum Wenden vorsichtig rückwärts. Obwohl es im Wageninneren nach Rauch stank, nicht zuletzt dank Jans verqualmter Kleidung, wünschte Charlotte sich in diesem Moment nichts mehr als eine Zigarette. Ihre letzte Schachtel hatte sie vor über einem Jahr beiseitegelegt. Doch genau jetzt wäre der richtige Moment für eine Zigarette gewesen.
»Soll ich wirklich mit reinkommen?«, fragte Jan im Hausflur und wiederholte damit die Frage, die er bereits unten an der Haustür gestellt hatte.
»Wo willst du denn sonst hin?« Als keine Antwort kam, sagte Charlotte: »Siehste!«
Dann schob sie Jan durch die Tür. Lucia betrat als Letzte die Wohnung und verschwand gleich im Bad. Offensichtlich wollte sie das Schlafarrangement Charlotte und Jan allein klären lassen.
Das eingeschaltete Deckenlicht fiel auf zwei Teller und die fast nicht angerührten Pizzastücke. Daneben standen zwei gefüllte Gläser und eine geöffnete Flasche Rotwein. Beim Anblick des Arrangements fühlte Charlotte sich plötzlich müde und mit der Situation überfordert. Der Abend hätte so anders verlaufen sollen. Doch dann kam dieser Anschlag auf das Lauffeuer und auf ihren Chefredakteur. Wer steckte dahinter? Wer tat so etwas? Dazu das Gefühlswirrwarr mit Jan und Lucia. Jan stand mitten im Wohnzimmer, ohne sich zu rühren, während Lucia den Wasserhahn im Badezimmer laufen ließ. Charlotte liebte beide. Doch, um ehrlich zu sein, waren ihr die beiden in diesem Moment einfach zu viel in ihrer kleinen Wohnung. Sie sah zu Jan hinüber, beobachtete, wie er langsam Richtung Küche ging und sich erschöpft gegen den Tresen lehnte.
»Möchtest du Pizza?«, fragte sie nun und trat auf ihn zu. »Hast du Hunger?«
Jan schüttelte den Kopf.
»Trinken? Ein Bier?« Sie ging an ihm vorbei zum Kühlschrank. »Verdammt, ich habe gar kein Bier. Vielleicht Wein?«
Wieder schüttelte Jan den Kopf. Deshalb füllte Charlotte ein Glas mit Wasser und drückte es ihm in die Hand. Dann begann sie, die überflüssigen Kissen vom Sofa zu räumen. Als Lucia das Badezimmer freigab und mit einem kurzen »Buenas noches« im Schlafzimmer verschwand, schickte Charlotte Jan ins Bad.
»Du musst duschen«, hörte sie sich selbst zu ihm sagen. »Das wird dir guttun. Ich lege dir in der Zeit ein Laken aufs Sofa und beziehe die Decke.«
»Keine unnötige Mühe, bitte, Charlotte. Nicht für mich.«
»Schon klar«, gab sie zurück. »Eine neue Zahnbürste findest du im Schränkchen unter dem Waschbecken.«
Warum sagte sie so etwas? Charlotte wunderte sich über ihre Worte. Jan hatte lange genug bei ihr gewohnt, um zu wissen, wo alles war. Auch wo sie ihre Ersatzzahnbürsten aufbewahrte.
Gehorsam ging Jan ins Bad. Er war eindeutig von den Ereignissen des Abends gezeichnet. Seine herabhängenden Schultern machten aus dem großen Mann ein Häufchen Elend. Kurz darauf hörte Charlotte die Toilette rauschen, dann die Dusche. Als Jan zurück ins Wohnzimmer kam, war alles für ihn hergerichtet. Sie schloss ihn noch einmal in die Arme.
»Morgen sehen wir weiter«, sagte sie. »Ist vielleicht alles gar nicht so schlimm, wie es scheint.«
Dann rümpfte sie die Nase, denn sein T-Shirt, dass Jan sich zusammen mit der Unterhose wieder angezogen hatte, stank nach Rauch.
»Das geht so nicht«, sagte sie. »Zieh den Kram wieder aus. Ich stopfe es zusammen mit deiner Hose und dem Pullover in die Waschmaschine.«
»Aber was ist mit Lucia?«
»Was soll sein? Sie hat einen großen Bruder. Da gibt es nichts an dir, womit du sie erschrecken könntest.« Plötzlich verzogen sich Charlottes Lippen zu einem kurzen Lächeln.
»Witzig?«, fragte Jan, während er alles wieder auszog.
»Irgendwie schon«, entgegnete sie und streckte die Hand aus, um seine Unterhose in Empfang zu nehmen. »Außerdem hast du ja noch die Decke, um dich zu verstecken.«
Sie sah noch zu, wie sich Jan aufs Sofa setzte, und wandte sich dann ab. Im Badezimmer stopfte sie die Sachen ins Bullauge der Waschmaschine, setzte sich auf den Toilettendeckel und verfolgte, wie Wasser in die Maschine lief und sich die Trommel in Bewegung setzte. Beruhigende Geräusche umhüllten sie an einem beunruhigenden Abend. Möglichst lautlos schlüpfte Charlotte später ins Schlafzimmer und dann ins Bett. Lucia rührte sich trotzdem sofort.
»Alles gut?«, fragte diese leise.
»Weiß nicht.«
»Willst du reden?«
»Nein.«
»Darf ich dich umarmen?«
Lucia schmiegte sich von hinten an Charlotte und legte einen Arm um sie. »Deine Haare riechen noch nach Rauch.«
»Weiß ich. Wasche sie morgen früh.«
»Musst du nicht. Nicht wegen mir.«
Meinetwegen, hätte Jan jetzt als Grammatikfanatiker korrigiert, wusste Charlotte. Genitiv statt Dativ. Und Charlotte hätte ihn dann wieder als »Grammar Nazi« betitelt. Das Spielchen hatten sie schon so oft miteinander getrieben.
Aber Lucia wurde von Charlotte nicht korrigiert. Stattdessen dachte sie an Christian. Wie schwer war der Chefredakteur verletzt? Hätten sie nicht doch sofort ins Krankenhaus fahren müssen, um zu sehen, wie es ihm ging, fragte sie sich. Charlotte zuckte zusammen.
»Was ist?«, fragte Lucia erschrocken und saß im nächsten Moment aufrecht neben ihr.
»Wir haben Mario nicht Bescheid gesagt«, entgegnete Charlotte. Auch sie setzte sich auf.
»Wer ist Mario?«
»Christians Freund.« Charlotte machte eine Pause. »Ich muss ihn sofort anrufen.«
»No!«, widersprach Lucia. »Sag es ihm morgen. Lass ihn schlafen.«
»Meinst du?«
»Ganz sicher.« Die Spanierin streichelte Charlottes Kopf. »Und alles wird wieder gut.«
Nun streichelte sie auch Charlottes Wange, als würde sie eine Zehnjährige trösten. Die erste gemeinsame Nacht, seit sie sich auf Mallorca getrennt hatten, hatte Lucia sich bestimmt anders vorgestellt, dachte Charlotte. Mit dem Rotwein an der Küchentheke hatte ja auch alles vielversprechend angefangen. Aber dann …
»Ich muss schlafen«, sagte Charlotte leise. Denn sie wollte aufhören, ihre Gedanken hin und her zu wälzen. »Aber ich weiß nicht, ob ich es kann.«
Lucia legte sich wieder hin und zog Charlotte sanft zu sich herunter. Vorsichtig schob sie ihren Arm unter Charlottes Kopf und schmiegte sich eng an. Der Körper der Spanierin war runder und weicher als ihr eigener. Es fühlte sich gut an für Charlotte.
»Weck mich, wenn was ist. Okay?«
Charlotte nickte nur. Und das reichte auch. Lucia würde die Bewegung bemerken und verstehen.
Dann wanderten ihre Gedanken zu Jan. Als er noch bei Charlotte gewohnt hatte, war ihr schmaler Futon bald aus dem Schlafzimmer geflogen und durch ein französisches Bett ersetzt worden. Dessen Breite von 160 Zentimetern bot noch immer nicht Platz ohne Ende, trotzdem erschien es ihr damals so groß wie ein Ehebett. Und für eine Weile waren sie dann auch ein Paar wie alle anderen gewesen. Sie waren am Außenmühlenteich spazieren oder zusammen einkaufen gegangen, und er hatte danach, wie es sich für den Mann gehörte, die Getränkekisten nach oben in die Dachgeschosswohnung geschleppt. Doch diese Zeit war unglaublich schnell vergangen. Warum eigentlich?
Lucias Atem streichelte Charlottes Nacken. War es unfair, sich zu wünschen, dass auch Jan mit im Bett liegen würde? Dann könnte Charlotte ihn jetzt genauso von hinten umarmen, wie Lucia es bei ihr tat. So hätte Charlotte in der Mitte zwischen beiden liegen können. Denn das war genau der Platz, an dem sie sich im Augenblick am wohlsten gefühlt hätte.
Sobald Jan die Augen schloss, stürzten die Bilder auf ihn ein. Er sah Christian Freitag mit einer schweren Kopfwunde in einer Blutlache liegen. Das Bild war für Jan am eindrücklichsten, obwohl dieser grauenvolle Abend nicht damit begonnen hatte. Zuvor war Jan auf der schmalen Straße am Deich ein einzelnes Licht im dichten Nebel entgegengekommen. Einen Augenblick dachte Jan in diesem Moment an Christian, weil der Gründer und Chefredakteur des Lauffeuers meist mit dem Fahrrad zur Redaktion fuhr und es sich zur Angewohnheit gemacht hatte, diese meist auch als Letzter wieder zu verlassen. Doch bald wurde das Licht immer greller, sodass Jan auf einen Motorradscheinwerfer schloss. Schließlich entpuppte sich das Motorrad als ein Auto mit einem kaputten Scheinwerfer. Weil das defekte Licht auf der Fahrerseite war und somit bei der Fahrbahnmitte, musste Jan ein unerwartetes Ausweichmanöver vollführen. Die beiden rechten Reifen seines Volvos gerieten auf den Grünstreifen und griffen im feuchten Gras nicht mehr richtig. Jan fluchte, während er durchgeschüttelt wurde. Nur mühsam gelang es ihm, den Wagen wieder in den Griff zu bekommen. Als er in den Spiegel sah, waren die Rücklichter des anderen Autos bereits im Nebel verschwunden.
Diese Bilder verfolgten ihn die ganze Nacht. Und immer wieder tauchte Christians blutüberströmtes Gesicht vor ihm auf. Seine Haare waren verklebt, und die Wunde am Kopf wurde immer größer. Obwohl Christian in Wirklichkeit nichts mehr zu ihm sagen konnte, fragte er in Jans Träumen, ob dieser ein Aspirin für ihn habe, irgendwie fühle er sich nicht besonders gut.
Ein brodelnder Wasserkocher weckte Jan am nächsten Morgen. Sein Verstand versuchte zu begreifen, wo er sich befand, doch erst als er die Augen öffnete, erkannte er Charlottes Wohnzimmer. Der Geruch im Raum war vertraut und erfüllte ihn mit einem Gefühl der Geborgenheit. Dann fiel ihm wieder ein, was am vergangenen Abend alles passiert war.
Er hörte Schritte von nackten Füßen hinter dem Küchentresen und drehte den Kopf.
Lucia goss kochendes Wasser in einen Becher, in den sie zuvor einen Löffel gemahlenen Kaffee gegeben hatte. Die Spanierin mied Papierfilter und trank den Kaffee lieber einfach so, nachdem sich das Pulver am Boden abgesetzt hatte.
»Auch einen?«, fragte sie, ohne den Blick vom Becher zu heben.
Jan nickte. Während Lucia sich zum Geschirrschrank drehte und nach einem zweiten Becher griff, glaubte er, am unteren Ende des Nachthemds ihren nackten Hintern aufblitzen zu sehen. Ganz sicher war er sich aber nicht, drehte er den Kopf doch sofort in die andere Richtung. So hübsch Lucias Hintern auch sein mochte, er war an dessen Anblick nicht interessiert.
Kurz darauf fand Jan sich auf der Rücksitzbank von Charlottes winzigem Renault wieder. Charlottes Kameratasche stand neben ihm. Die beiden Frauen saßen diesmal vorn.
Bis zum Harburger Krankenhaus waren es nur wenige 100 Meter. Dort fanden sie Mario Keller verloren auf dem Flur zur Intensivstation vor. Mario war der Programmierer des Lauffeuers und zuständig für den technischen Betrieb der Website. Mit seinem IT-Abschluss von der Technischen Universität Harburg hätte er fast überall arbeiten können, doch es machte ihm offenbar Spaß, bei einem jungen Internetmagazin mitzumischen. Außerdem tat er es Christian zuliebe.
»Sie wollen einen nicht da drin haben«, sagte er mit Tränen in den Augen, als Charlotte auf ihn zutrat. Marios Vollbart war voluminös wie immer und stand im Kontrast zu seiner Kurzhaarfrisur. Irgendwie erinnerte er Charlotte stets an einen kampferprobten Wikinger. Die Trauer in seinem Gesicht zeigte ihr jedoch, dass auch Wikinger Schmerzen empfinden konnten. Ohne es zu wollen, nahm sie ihn in den Arm, wie sie es am Abend mit Jan gemacht hatte.
»Du kommst jetzt erst mal mit«, sagte sie.
Der Renault schien damit endgültig überfüllt. Wenn der Motor sonst schon zu keinen Höchstleistungen imstande war, so hatte Charlotte nach dem Verlassen des Krankenhausparkplatzes das Gefühl, als würde der Wagen nur noch schleichen. Beschleunigen konnte man es jedenfalls nicht nennen, was beim Durchdrücken des Gaspedals passierte. Eine strahlende Morgensonne ließ Charlotte die Sonnenblende herunterklappen und spottete mit ihrem gleißenden Licht der gedrückten Stimmung im Wagen Hohn. Da draußen erinnerte nichts mehr an den dichten Nebel der vergangenen Nacht. Als der Deich sich von der Straße verabschiedete, nach links wegdriftete und einer brachliegenden Grünfläche Platz machte, tauchte vor ihnen das Kirchengebäude auf. Überrascht bemerkte Jan, dass zwar diverse Autos auf dem Parkplatz standen, sich darunter aber keine Feuerwehrfahrzeuge oder Streifenwagen mehr befanden.
Dafür waren alle Redaktionsmitglieder gekommen. Jan sah sie in kleinen Gruppen stehen. Claudette und Sybill, die sich fürs Lauffeuer um Boulevard- und Wettergeschichten kümmerten, redeten mit Stefan, ihrem Politikexperten, und Martinez, dem Verantwortlichen für alle Sportgeschichten. Ein paar Schritte weiter standen Aaron und Inez, die sich beim Lauffeuer eine Weile als Kollegen beschnuppert hatten, bevor sie auch privat ein Paar wurden. Eine Konstellation, wie sie scheinbar unterschiedlicher nicht sein konnte. Er ein mit Muskeln bepackter Fitnessjunkie, der sich nur um Blaulichtgeschichten kümmerte, und sie eine zierliche kleine Frau, beinahe noch mädchenhaft, mit blassem Gesicht und Bubikopf, die sich mit Vorliebe in Hintergrundrecherchen vergrub. Neben den beiden stand Dana, eine gebürtige Russin mit feuerroten Haaren und dem extremen Hang, so auszusehen, als wäre sie gerade auf dem Weg zur nächsten Filmpremiere. Sie kümmerte sich beim Lauffeuer um Videoinhalte. Dana finanzierte sich ihr laufendes Studium zusätzlich, indem sie fast jeden Abend als Platzanweiserin in der Elbphilharmonie arbeitete. Jan rechnete ihr daher besonders hoch an, dass sie an diesem Morgen gekommen war.
Alle Blicke drehten sich zu dem Auto, das nun auf den Parkplatz rollte. Betroffen und gleichzeitig gespannt sahen sie den Insassen entgegen. Die Frauen nahmen Jan und Mario kurz in die Arme und beteuerten, dass sie verstünden, wie schlimm das alles für sie sein müsse, während es von den Männern anteilnehmendes Schulterklopfen gab.
»Die Brandermittler sind vor einer Viertelstunde vorne rein«, brachte Aaron Jan auf den neuesten Stand. »Kripo ist vorhin weg.«
»Schon weg? Wieso das denn?«
»Die haben alles fotografiert, Fingerabdrücke genommen und alles andere gemacht, was dazugehört. Ich habe ein paar Fotos, wie sie Beutel mit Beweismitteln raustragen und zu den Fahrzeugen bringen. Was drin war, weiß ich nicht. Aber ich dachte, vielleicht können wir’s gebrauchen.«
»Was ist mit dem Staatsschutz?«, fragte Charlotte, die zu den beiden getreten war. »Sind die schon da?«
»Weiß ich nichts von. Wieso Staatsschutz?«
»Überfall auf einen Journalisten und eine zerstörte Redaktion«, stellte Charlotte fest. »So hieß es gestern Abend jedenfalls noch. Und deshalb wollten sie den Staatsschutz schicken.«
»Ich hake da mal nach«, erwiderte Aaron.
»Wie geht es Christian?«, fragte Inez in diesem Moment, und alle verstummten, um die Antwort zu hören.
Mario räusperte sich. »Es geht ihm nicht gut. So viel kann ich sagen. Gar nicht gut. Er hängt an einer Maschine. Ich habe ihn vorhin nur ganz kurz gesehen, aber die wollen Fremde nicht so lange in der Intensivstation haben.«
»Aber du bist doch kein Fremder!«, warf Sybill ein und erhielt sofort ein zustimmendes Nicken von Claudette, dann auch von den anderen.
»Für die schon«, erwiderte Mario leise. Empörte Laute wanderten durch die Gruppe.
In diesem Moment kamen drei Männer mit Stablampen aus dem Haupteingang. Jan löste sich von den anderen und ging auf die Männer zu. Alle drei waren zwischen 40 und etwa Mitte 50. Einer trug einen Fotoapparat vor sich her. Während ein zweiter den Helm absetzte und sich mit der Hand durch die Haare fuhr, stellte sich Jan als Eigentümer vor. »Können wir jetzt wieder rein?«
Der Brandermittler nickte. »Stinkt ziemlich nach Rauch, aber statisch gibt es keine Probleme. Ich würde an Ihrer Stelle ein paar Fotos für die Versicherung machen. Das beschleunigt die Abwicklung des Schadens.«
Jan bedankte sich für den Tipp. Dann winkte er die anderen zu sich. Sie folgten ihm in die Kirche, während Charlotte ihre Kamera aus dem Auto holte. An der Treppe nach oben blieb Jan stehen. »Ich komme gleich nach«, sagte er zu Aaron. Der nickte nur und ging mit den anderen weiter in die Redaktion. Jan hörte, wie jemand tief Luft holte. Auch ein »Oh, Mann!« war dabei.
Jan guckte nach oben. Die Ausdünstungen von verkohltem Holz und verschmortem Kunststoff stiegen in seine Nase. Er zog sich den Pullover über das halbe Gesicht und setzte vorsichtig einen Fuß auf die erste Treppenstufe. Wäre er am Abend nur wenige Minuten später gekommen, dann hätten sich die Flammen wohl nicht mehr mit einem Feuerlöscher eindämmen lassen. Das ließ sich auch für den Laien erkennen. Der gesamte Treppenaufgang war finster wie der Eingang zu einer unterirdischen Höhle. Vorsichtig tastete Jan sich vorwärts und benutzte dabei sein Smartphone als Taschenlampe.
»Alles klar?«, fragte Charlotte von unten.
»Jaja«, erwiderte Jan. »Gib mir ein paar Minuten allein.«
»Na klar«, sagte sie, und er sah über das Geländer hinweg, wie sie weiter zum Gemeindesaal ging.
»Nichts anfassen«, erklang ihre Stimme dann. »Aaron, komm da mal weg! Erst die Fotos für die Versicherung.«
Erleichtert darüber, dass Charlotte ihm diese Aufgabe abnahm, fummelte Jan den Wohnungsschlüssel heraus. Die Tür war ebenfalls schwarz vom Ruß, nur der Metallzylinder des Schlosses blitzte im Schein der kleinen Lampe auf. Doch Jan brauchte den Schlüssel gar nicht. Jemand hatte die Tür mit einem Brecheisen geöffnet.
Zuerst dachte Jan an die Leute, die auch Christian überfallen und das Feuer gelegt hatten. Doch dann tippte er auf die Feuerwehr selbst. Die Rettungskräfte mussten bei ihrer Arbeit nachgesehen haben, ob sich noch Menschen in der Wohnung befanden. Die Treppe war der einzige Zugang und somit auch Fluchtweg. Jan wusste von seiner Arbeit bei der Zeitung, dass die meisten Brandopfer erstickten. Viele in ihren Betten. Einige aber auch in den Badezimmern, wo sie vergeblich vor Flammen und Rauch Schutz gesucht hatten.
Jan sah schwarze Fußabdrücke auf dem Boden. Alle Räume waren abgesucht worden. Raum für Raum folgte er den Spuren. Als er feststellte, dass sonst nichts angerührt worden war, alle Festplatten und USB-Sticks noch da waren und auch das Notebook an seinem Platz lag, fühlte er sich etwas erleichtert. Nun musste nur noch Christian wieder gesund werden. Alles andere würde sich ersetzen lassen.
Kurz warf Jan einen Blick durch sein Küchenfenster in die Redaktion, dann ging er selbst wieder hinunter. Sybill fummelte am großen Flatscreen herum, der schief an der Wand hing. Ein heftiger Schlag hatte die Ecke unten links demoliert, und ein Riss lief quer über den Bildschirm, doch Sybill hatte offenbar noch Hoffnung, das Gerät wieder zum Laufen zu bekommen. Vermutlich war es eine Art Reflex, denn der Fernseher wurde immer als Erstes eingeschaltet, wenn jemand den Gemeindesaal betrat. Auf ihm lief dann ein Nachrichtenkanal, der die aktuellen Ereignisse aus der ganzen Welt in die kleine Harburger Online-Redaktion brachte.
»Geht’s?«, fragte Jan.
»Mal sehen«, meinte Sybill achselzuckend.
Inez stand derweil mit einem Besen bereit, den sie aus der Kammer neben der Küche geholt hatte. Mario hob die von den Tischen gefegten Tastaturen, Computermäuse und Bildschirme wieder auf, nachdem Charlotte ihm mit einem Nicken das Okay gegeben hatte. Schreibtisch für Schreibtisch arbeitete sie sich mit der Kamera vor.
Claudette setzte in der Küche mit Lucias Unterstützung die Kaffeemaschine in Gang. Kaffee war wichtig für die Moral, das wussten beide. Aaron trat nun von der Seite an Jan heran und begann, mit gesenkter Stimme von seinem jüngsten Telefonat zu berichten, beinah wie auf einer Beerdigung. »Habe mit der Kripo gesprochen.«
»Und? Was ist jetzt mit dem Staatsschutz?«, wollte Jan wissen.
Aaron krauste die Stirn. »Hatte einen Kriminalhauptkommissar Busch dran. Er sagt, es wurden Hinweise gefunden, die auf ein persönliches Motiv hindeuten.«
»Und das heißt was?« Charlotte war zu den beiden getreten und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Der Kommissar sagt, dass es allem Anschein nach jemand direkt auf Christian abgesehen hatte. Es könnte also was Privates hinter dem Überfall stecken. Und dass wir hier in einer Redaktion sind, spielt dabei keine Rolle. Also kein Angriff auf die Pressefreiheit. Und somit auch kein Fall für den Staatsschutz.«
»Bullshit«, stellte Charlotte klar. »Guck dir die Scheiße hier mal an …«
»Ich weiß … Mir brauchst du das nicht zu sagen«, stimmte Aaron zu. »Aber die Kripo bewertet das eben auf ihre Weise.«
Jan drehte die Augen zur Decke. »Und was sollen das für Hinweise sein?«
»Eine Art Bekennerschreiben.«
»Bekennerschreiben?«
»Oder nenn es einfach eine Botschaft.«
»Geht das deutlicher?«
Aaron wurde noch leiser. »Jemand hat es mit Edding auf ein Stück Pappe geschrieben.«
»Tod allen Schwanzlutschern«, sagte Jan, bevor Aaron weitersprechen konnte. Denn nun sah Jan den Schriftzug selbst wieder vor seinem inneren Auge. Wie hatte er das nur vergessen können?
»Was?«, stieß Charlotte aus.
Jan erinnerte sich, das Schild neben Christian auf dem Boden gesehen zu haben.»Tot allen Schwantzlutschern«,hatte darauf gestanden. Also ein Bekennerschreiben mit zwei Fehlern in drei Wörtern. Jemand schien in großer Eile geschrieben zu haben. Den Edding hatte er von einem der Schreibtische geklaut, die Pappe von einem Karton abgerissen. Vielleicht sogar vom Druckerkarton, dessen Rest samt Verpackungsmaterial danach an der Treppe als Brandbeschleuniger benutzt worden war.
Wieso fiel ihm das alles jetzt erst wieder ein?
Die Antwort war einfach: Alles andere war wichtiger gewesen. Jan hatte eine Hand auf Christians blutende Kopfwunde gelegt und mit der anderen sein Telefon herausgezogen, um Hilfe zu rufen. Das verdammte Pappschild war ihm dabei völlig egal gewesen.
»Also Schwulenhasser«, sagte er nun, und alle drei blickten automatisch zu Mario, der einen kaputten Monitor aufhob und auf einen Schreibtisch stellte.
Im selben Moment frohlockte Sybill, denn es war ihr gelungen, durch etwas Rütteln am Satellitenkabel ein Bild auf den nur teilweise zerstörten Flatscreen zu zaubern. »Wir sind wieder Teil der Welt«, rief sie pathetisch.
»Wir müssen es Mario sagen«, stellte Charlotte fest.
»Nicht nur ihm«, erwiderte Jan und senkte den Blick.
»Soll ich das übernehmen?«, bot Charlotte an.
»Ich wäre dir sehr dankbar.«
Also trommelte Charlotte alle unterhalb des großen Flatscreens zusammen. Claudette schleppte die große Fünf-Liter-Thermoskanne mit Kaffee aus der Küche heran und stellte diese auf einen Schreibtisch, während Lucia ein Tablett mit Bechern in die Redaktion trug. Im Halbkreis der Versammelten hob sich die dunkle Haut der Spanierin deutlich von den anderen ab. Bis auf die von Martinez vielleicht. Besonders Dana und Inez hätten mit einem Raumschiff ohne Schutzverkleidung auf halbem Weg zur Sonne sein müssen, um jemals so gebräunt wie Lucia aussehen zu können.
Als alle mit Kaffee versorgt waren, begann Charlotte zusammenzufassen, was Aaron von der Polizei in Erfahrung gebracht und was Jan am Abend beobachtet hatte. »Den Staatsschutz lässt der Fall also kalt.«
»Unfassbar«, kommentierte Sybill kopfschüttelnd.
»Wir könnten es den Kollegen vom Regionalfernsehen anbieten«, schlug Martinez vor. »So etwas darf man doch nicht totschweigen.«
»Oder wir stellen selbst Öffentlichkeit her«, erwiderte Charlotte. »Sind wir jetzt eine Nachrichtenredaktion, oder was?«
Zustimmendes Raunen.
»Dann sollten wir weitermachen«, meinte Inez kämpferisch. »Auch wenn unser Chef nicht bei uns ist!«
Niemand widersprach. Im Gegenteil. Inez’ Entschlossenheit steckte alle anderen an.
»Das ist dann allerdings eine grundsätzliche Frage«, stellte Charlotte fest. »Sollen wir einfach ohne Christian weitermachen oder nicht?«
»Natürlich. Wieso fragst du das?«, entgegnete Inez.
»Weil hier ziemlich viel kaputt ist. Die meisten von uns müssten mit ihren eigenen Rechnern oder Notebooks arbeiten. Und wie es mit der Bezahlung weiterlaufen soll, weiß auch noch keiner.«
»Das kann doch wohl nicht das Argument sein.«
»Na ja, Dana zum Beispiel braucht das Geld.«
Als ihr Name fiel, hob die Russin das Kinn. »Moment. An mir soll’s nicht liegen. Ich mache weiter mit. So oder so.«
Inez öffnete vielsagend beide Hände. »Siehste!«
Charlotte sah in die Runde, doch niemand erhob Einspruch. »Wenn das so ist, schlage ich vor, dass Jan ab jetzt die Chefredaktion übernimmt. Was haltet ihr davon?«
Auch hier kam kein Widerspruch. Im Gegenteil: »Jan hat die meiste Erfahrung«, bekräftigte Aaron den Vorschlag und sah diesen dabei an.
Der Punkt war nicht zu leugnen. Während die anderen zum Teil noch Anfänger waren, hatte Jan bereits fast zehn Jahre als Redakteur beim Harburger Tageblatt auf dem Buckel. Zudem hatte er ein Sachbuch über Serienmörder veröffentlicht, das noch immer gut in den Verkaufslisten der Buchhandlungen rangierte, und dem Lauffeuer seit dessen Gründung bei kniffligen Recherchen geholfen. Er betrachtete sich selbst zwar nur als ein halboffizielles Mitglied der Redaktion, aber das schien die anderen nicht zu stören. Sein bisheriger Abstand zum Redaktionsalltag und die Erfahrung, die er mitbrachte, schienen ihn sogar zum besten Kandidaten für den Posten des Redaktionsleiters zu machen. Wenigstens vorübergehend; solang Christian weg war. Niemand würde sich von ihm auf den Schlips getreten fühlen, wenn er etwas Redaktionelles verbesserte oder ein genaues Auge auf die Quellenlage einer Geschichte legte.
Umso enttäuschter waren die anderen, als er nun den Kopf schüttelte und die Augen auf den Boden richtete. »Das geht nicht.«
»Was? Wieso nicht?«, wollte Charlotte wissen.
»Ich werde mir die Leute greifen, die das hier angerichtet haben. Die Leute, die Christian zusammengeschlagen haben.« Jan hob wieder den Blick. Zwischen den Zähnen presste er hervor: »Der Staatsschutz mag sich für die Sache nicht interessieren. Aber ich schon.«
»Das ist doch kein Widerspruch«, stellte Inez fest. Sie war zwar nur eine winzig kleine Person mit dem Aussehen einer Manga-Figur, doch was sie sagte, hatte bei allen mehr Gewicht, als es ihr Aussehen für Fremde vermuten lassen würde. »Das wollen wir doch alle. Aber wir brauchen dich auch hier, Jan«, sprach sie weiter. »Und wenn du nicht da bist, dann kann dich doch Charlotte vertreten. Wäre vielleicht sowieso die beste Sache, so eine doppelte Chefredaktion.«
Charlotte öffnete wortlos den Mund, während die anderen zustimmend nickten. Dann zuckte sie mit den Schultern. »Ihr wisst schon, dass ich sonst nur die Fotos mache?«
»Wir wissen auch, dass du mit Jan und Christian beim Tageblatt warst«, sagte Aaron. »Im Vergleich zu dir sind wir anderen einfach nur junge unerfahrene Hüpfer.«
»Charmant«, erwiderte Charlotte.
Sofort schoss Aaron Röte ins Gesicht. »Du weißt doch, wie ich es meine …«
Grinsend ließ Charlotte ihn vom Haken. »Schon gut. Mit 35 muss ich mich wohl an solche Aussagen gewöhnen.« Dann drehte sie den Blick zu Jan. »Was sagst du? Ich würde tagsüber hier sein und die Redaktion als Anlaufstelle offenhalten. Dann ersparen wir uns stille Post und ewige Videomeetings. Wenn es fachliche Fragen gibt, sprechen wir beide uns direkt ab. Auf diese Weise brauchst du nicht immer hier zu sein. Komm, Jan, gib dir einen Ruck! Lass uns nicht im Regen stehen.«
Alle konnten sehen, wie Jan schluckte. Ihn so vor allen in die Zange zu nehmen, war nicht ganz fair, das musste Charlotte klar sein. Trotzdem nahm er es ihr nicht übel und nickte schließlich. Sofort ballte Aaron eine Faust, und die anderen atmeten kollektiv auf. Selbst Jan spürte Erleichterung, denn er hatte den Job des Redaktionsleiters und die damit verbundene Verantwortung nicht gerne abgelehnt. Mit Charlotte an seiner Seite konnte er nun beides tun. Den anderen bei ihrer Arbeit helfen und Christians Peiniger jagen. Denn es stand fest, dass die Kerle, die Christian das angetan hatten, nicht so einfach davonkommen würden. Einen Ansatz, ihnen auf die Schliche zu kommen, hatte Jan schon: den Spruch eines Schwulenhassers mit Orthografieproblemen.
»Und schuld an allem sind doch nur Penner wie der Kerl da oben«, rief Martinez, als hätte er Jans Gedanken hören können. Mit ausgestrecktem Zeigefinger deutete der Sportredakteur auf das riesige Fernsehbild über ihren Köpfen.
Wie die anderen hob auch Jan den Blick. Auf dem teilweise zerstörten Flatscreen wurde ein älterer Mann in grauem Tweedanzug gezeigt. Er stieg aus einer Limousine und klemmte sich eine dunkle Ledermappe unter den Arm. Mit seinem Lächeln hätte man ihn für einen liebenswerten Großvater halten können. Doch Jan wusste, dass der Alte das kein bisschen war. Und alle anderen in der Redaktion wussten es auch.
Der Mann hieß Hagen Baumann. Er hatte die Stimme für Deutschland gegründet, war mit seiner noch jungen Partei vor drei Jahren überraschend als Juniorpartner in die Regierung aufgestiegen und bekleidete seitdem das Amt des Innenministers der Bundesrepublik Deutschland.
Stimme für Deutschland. Hagen Baumann konnte sich noch immer jeden Tag selbst auf die Schulter klopfen, wenn er an den Namen der Partei dachte, deren Gründer er mehr aus einer Laune heraus als mit ernsten Absichten geworden war. Bei einem Sonntagsbrunch vor ziemlich genau sechs Jahren war das gewesen. Der liberale Teil der Familie hinter seinem jüngeren Bruder hatte über die Vorteile einer geregelten Zuwanderung nach Deutschland schwadroniert, ohne zu erkennen, dass hier ein Volk dabei war, sich selbst abzuschaffen. So betrachtete Hagen Baumann die Sache nämlich. Statt deutsche Familien zu fördern und politisch dafür zu sorgen, dass ehrlich arbeitende Männer ihre Frauen und Kinder ernähren konnten, setzten die verschiedenen Konstellationen der Bundesregierung immer mehr auf den Zuzug von Fremden. »Warum?«, hatte Hagen Baumann damals in die Runde geworfen. »Warum geben wir den Familien nicht so viel Geld, dass sie den Mut haben, selbst Kinder in die Welt zu setzen? Deutsche Kinder! Das Geld ist doch da. Die Konzerne verdienen sich dumm und dämlich. Deutschland ist Jahr für Jahr Exportweltmeister. Es gibt Geld im Überfluss. Gebt davon nur etwas mehr den Familien, schon bekommen wir auch wieder mehr deutsche Kinder. Die Menschen brauchen dafür nur etwas Sicherheit. Seht euch die Lehrer und Beamten an. Die bekommen noch Kinder. Und mehr als nur eines. Warum? Weil ihr Einkommen sicher ist und die Banken ihnen mit dieser Sicherheit Kredite für ihre Häuser geben. Der Egoismus der Industrie und jedes Einzelnen muss raus aus unserer Gesellschaft. Wir brauchen eine neue Partei für mehr Gerechtigkeit. Und wisst ihr, wie ich sie nennen würde? Stimme für Deutschland. Genauso, mein lieber Herr Bruder, werte Neffen. Ja, grinst nur. Vielleicht werde ich es sogar tun.«
Das Geniale am Namen war, dass er eine Doppelbedeutung hatte. Erst später ging das Hagen Baumann auf, als er sich auf dem Heimweg im Mercedes vor seiner Frau noch immer über die Dummheit seines Bruders und seiner Neffen ausließ. Stimme für Deutschland. Das hieß nicht nur, seine Stimme für Deutschland zu erheben und zu verkünden, was gut für das Land war. Gleichzeitig wäre der Parteiname selbst ein Werbeslogan und eine Aufforderung an jeden Wahlberechtigten.
Die Idee war so perfekt, dass Hagen Baumann die Parteigründung vollzog, obwohl sein Parteiprogramm da noch nicht mehr als zwei handbeschriebene DIN-A4-Blätter füllte. Viel wichtiger als ein Programm war nämlich genau dieser Name. Hagen Baumann brauchte Stimme für Deutschland nur bei Gleichgesinnten fallenzulassen, schon hatte er deren Aufmerksamkeit. Drei Vorstandsmitglieder, die zur Parteigründung notwendig waren, ließen sich schnell finden, und ein Gründungsprotokoll war rasch geschrieben. Fertig.
Die SfD war geboren. Eine Stimme für Deutschland.
Im Herbst desselben Jahres zog die Stimme für Deutschland in den Berliner Senat ein. Danach in das Niedersächsische Landesparlament, dann in Thüringen, in Sachsen, in Sachsen-Anhalt und in Bayern. Hagen Baumann betitelte diese Entwicklung schnell als eine »Bewegung«, und viele Medien folgten ihm bei dieser Formulierung. Man brauchte den Leuten eben nur die richtigen Worte anzubieten, dann mussten sie selbst nicht so viel darüber nachdenken, was sie sagen sollten.
Die Konservativen in den Ländern und im Bund wehrten sich noch gegen die neue Konkurrenz am rechten Flügel des Parteienspektrums, doch als die Stimme für Deutschland Zünglein an der Waage wurde, geschah das Unfassbare: Hagen Baumann schlitterte mit seiner Partei in die Regierungsverantwortung, und er selbst wurde zum Bundesminister für Inneres und Heimat.
Das einzige Problem war das Alter von Hagen Baumann. Wegen seiner 68 Jahre war klar, dass er die Geschicke der Partei nicht ewig würde lenken können. Deshalb hatte er, als er zum Minister ernannt wurde, beschlossen, die Parteispitze zu teilen. Und zwar mit einer Frau. Gisela Sommer sah gut genug aus, um zugleich männliche wie weibliche Wähler anzusprechen.
Einen Kronprinzen hatte Baumann auch schon auserkoren. Konstantin Kraft sollte irgendwann sein Nachfolger werden. Ein gut aussehender 40-Jähriger mit Wirtschaftsdiplom in der Tasche und mit einem natürlichen Redetalent gesegnet. Baumann selbst hatte dafür gesorgt, dass Konstantin Kraft auf der Hamburger Landesliste der Stimme für Deutschland ganz oben gestanden hatte und so als Abgeordneter mit in den Bundestag einziehen konnte. Hagen Baumann wusste, dass er es in seinem Alter selbst nicht mehr in das Amt des Bundeskanzlers schaffen würde, aber mit Konstantin Kraft hatte die Partei einen guten Mann für die Zukunft. Vielleicht in zehn Jahren, wenn der junge Kollege noch etwas souveräner und auch für den älteren Teil der deutschen Bevölkerung wählbar wurde.
Beim heutigen Parteitag wollte Hagen Baumann seinen Kronprinzen deshalb neben sich sitzen haben. In der vordersten Bank, dort, wo nun auch Gisela Sommer saß. Sein Trottel von Fahrer hatte sich jedoch im Berliner Verkehr verzettelt, sodass Konstantin Kraft an einer Großbaustelle festhing. Hagen Baumann hatte dies gerade über das Telefon erfahren.
Keine schöne Sache. Denn Hagen hatte keine Lust, noch länger mit den Parteifreunden Hände zu schütteln, nur weil Konstantin Kraft sich verspätete. Außerdem hielt Baumann Pünktlichkeit für eine deutsche Tugend, die auch beim Parteitag der Stimme für Deutschland zum Ausdruck kommen sollte. Hagen Baumann ließ deshalb auf dem Podium Gisela Sommer ganz an sich heranrücken, als der Parteifreund Stefan Vossler am Rednerpult die Versammlung um 17.10 Uhr für eröffnet erklärte. Die Presse habe jetzt noch zehn Minuten für ihre Film- und Fotoaufnahmen, erklärte dieser mit leicht verächtlichem Unterton. Die weitere Veranstaltung sei dann nur noch für Parteimitglieder.
Hagen Baumann und Gisela Sommer folgten weiter den Begrüßungsworten des Parteifreundes, während Fernsehkameras durch den Raum schwenkten und Fotografen Nahaufnahmen von der Parteiführung machten.
Um 17.15 Uhr explodierte dann die Nagelbombe.
Strategisch günstig war die Bombe unter dem schwarzen Samttuch des Rednerpults platziert gewesen. Im Prinzip bestand sie aus nicht mehr als einem dicht verschließbaren Schnellkochtopf mit etwas Plastiksprengstoff und einem Gemisch aus Nägeln, kleinen Schrauben und Tretlagerkugeln darin. Der Topf wiederum hatte sich in einem Pappkarton befunden, dessen oberste Lage mit Flyern der Partei bedeckt gewesen war. Die verheerende Wirkung der Bombe entstand durch die Ausdehnungsgeschwindigkeit des Sprengstoffs. Nägel, Schrauben und Metallkügelchen schossen wie Hochgeschwindigkeitsprojektile durch den Raum.
Stefan Vossler riss es mit dem Mikrofon in der Hand sofort in Stücke. Er hatte am dichtesten an der Bombe gestanden. Die Parteispitze rechts vom Rednerpult und die Journalisten, die sich vor ihr versammelt hatten, mähte es eine Zehntausendstelsekunde später nieder und damit ebenfalls nur eine Zehntausendstelsekunde eher, bevor auch die Parteimitglieder in den ersten vier Reihen perforiert wurden. Ab der fünften Reihe nahm die Trefferquote durch den Streueffekt schnell ab. Viele Geschosse flogen auch einfach in die falsche Richtung, zerfetzten lediglich die große Videoleinwand hinter dem Rednerpult oder schlugen in die Saalwände ein. Doch dadurch, dass die Bombe relativ hoch platziert worden war, schlugen vereinzelte Metallgegenstände sogar noch bis zur zehnten Reihe in Köpfe und Oberkörper der Parteimitglieder.
Die Stimme für Deutschland hatte um 17.20 Uhr nicht nur ihre Spitzenkräfte, sondern auch 20 weitere Parteigänger verloren. 107 wurden anschließend in Krankenhäuser eingeliefert. Zwei weitere Opfer des Bombenanschlags starben in der Nacht. Viele andere wurden, nachdem sie außer Lebensgefahr waren, zum Fall für die plastischen Chirurgen.