Verhängnisvoll - Markus Kleinknecht - E-Book

Verhängnisvoll E-Book

Markus Kleinknecht

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Beschreibung

Eine ganze Familie verschwindet spurlos aus einem Haus am Hamburger Stadtrand. Als der Vater tot in der Elbe treibt, geht die Polizei davon aus, dass er erst seine Familie und dann sich selbst getötet hat. Doch war es wirklich ein erweiterter Selbstmord? Was bewegt einen Menschen zu solch einer Tat? Während Hamburg einen ungewöhnlichen Kälteeinbruch erlebt und zu erstarren scheint, bleiben die Frau und beide Kinder verschwunden. Liegen sie auf dem Grund eines Sees, oder wurden sie vor dem Dauerfrost im Wald begraben? Bald sehen sich der Journalist Jan Fischer und die Fotografin Charlotte Sander durch ihre Recherchen mit einem abgrundtief bösen Gegner konfrontiert. Kleinknecht ist seit fast 20 Jahren als TV-Journalist für verschiedene Sender und Agenturen tätig. Polizeigeschichten und die Berichterstattung aus den Gerichten gehören zu seiner täglichen Arbeit. So finden reale Kriminalfälle immer wieder Eingang in seine Romane.

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Das Buch

Eine ganze Familie verschwindet spurlos aus einem Haus am Hamburger Stadtrand. Als der Vater tot in der Elbe treibt, geht die Polizei davon aus, dass er erst seine Familie und dann sich selbst getötet hat. Doch war es wirklich ein erweiterter Selbstmord? Was bewegt einen Menschen zu solch einer Tat? Während Hamburg einen ungewöhnlichen Kälteeinbruch erlebt und zu erstarren scheint, bleiben die Frau und beide Kinder verschwunden. Liegen sie auf dem Grund eines Sees, oder wurden sie vor dem Dauerfrost im Wald begraben? Bald sehen sich der Journalist Jan Fischer und die Fotografin Charlotte Sander durch ihre Recherchen mit einem abgrundtief bösen Gegner konfrontiert.

Der Autor

Markus Kleinknecht schreibt von Orten und Menschen, mit denen er sich auskennt. Er arbeitet in Hamburg seit fast 20 Jahren als TV-Journalist für verschiedene Sender und Agenturen. Polizeigeschichten und die Berichterstattung aus den Gerichten gehören zu seiner täglichen Arbeit. So finden reale Kriminalfälle immer wieder Eingang in seine Romane.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Epilog

PROLOG

Er betrat das Haus kurz nach zwei Uhr morgens. Den Schlüssel steckte er zurück in die Jacke. Alles war ruhig, als Oleg Komarow den Flur entlang zu den Schlafzimmern ging. Das Licht ließ er ausgeschaltet, begnügte sich mit dem, was von den Straßenlaternen durch die Fenster fiel. Da lagen sie und schliefen. Der Junge und das Mädchen. Alexander war sechs und Katja schon zwölf. Nächstes Jahr hätten beide ihr eigenes Zimmer bekommen sollen. Noch teilten sie sich einen Raum und ein Stockbett. Am einfachsten wäre es, ein Kissen erst auf das Gesicht des Jungen, er war noch so klein, dass er sich kaum wehren würde, und dann auf das des Mädchens zu drücken. Schon wäre alles erledigt und vorbei. Für die beiden jedenfalls. Dann noch Christina, die Frau mit der er verheiratet war und die im Zimmer nebenan schlief. Sie würde sich vermutlich auch nicht wehren. Oleg hatte sie schon lange so weit.

Falten gruben sich in seine Wangen, als er die Zähne aufeinander biss. Wie lange er so verharrte, wusste er nicht. Nun saß er am Küchentisch, hatte die Ellenbogen auf die Tischplatte und das Gesicht in die Hände gelegt. Das war es also – sein Leben. Sechsunddreißig Jahre hatte es gedauert, um in diese Situation zu kommen. Bisher hatte er sich aus allem wieder herauswinden können, aber nun ...

Oleg Komarow hatte seine Jugend in Woronesch verbracht, einer russischen Millionenstadt unweit der ukrainischen Grenze. Bis dorthin waren es keine drei Autostunden, bis Moskau immerhin sechs. Woronesch galt für die Wirtschaft als ein Drehpunkt, der den europäischen Teil Russlands mit dem jenseits des Urals verband. Doch Oleg hatte in seiner Jugend nicht viel davon mitbekommen. Er schlug sich mit den Erträgen aus Kleinkriminalität durch und behauptete sich bei den Banden, die die heruntergekommenen Siedlungen, in denen sich sein Leben abspielte, beherrschten. Oleg war nicht kräftig gebaut, dafür schnell und zäh. Seines Nachnamens wegen nannte man ihn »Stechmücke«. Ein Spitzname, der ihm gefiel, denn Stechmücken sind zwar klein, können einem aber ziemlich den Tag und noch mehr die Nacht vermiesen. So war es auch fast nur dieser Name, den er aus der Stadt am gleichnamigen Fluss, der Woronesch, mit an die Elbe brachte. Sein älterer Bruder war durch einen tschetschenischen Bombenanschlag ums Leben gekommen. Und so hatte Oleg nicht lange überlegt, als Dmitrij ihm anbot, mit nach Deutschland zu kommen. Dmitrij war kein echter Freund, aber sie kamen aus demselben Viertel. Ein besseres Leben sollte in Deutschland warten, behauptete Dmitrij. Arbeit, Geld und Frauen.

Es war alles eingetroffen, was Dmitrij gesagt hatte. Zwar anders als geplant, aber es war passiert. Oleg hatte sich angepasst, wo er sich anpassen musste. Und er hatte den Stachel der Stechmücke gezeigt, wo es nötig war. Seit zwei Jahren lebte er jetzt mit Christina und den Kindern in diesem Haus. Sie waren nicht glücklich miteinander, nein, das wäre das absolut falsche Wort. Aber es ließ sich aushalten. Besonders für ihn. Christina tat, was er ihr sagte. Die Kinder gehorchten auch und verhielten sich in der Schule unauffällig. Nach außen hin schien somit alles gut zu laufen. Doch das tat es nicht.

Niemand ahnte, was in Oleg vorging. Der Zwiespalt in ihm wurde immer größer. Er begann ihn von innen zu zerreißen. Die Nachbarn hatten längst aufgehört, die Familie Komarow zum Grillen oder zur Silvesterparty einzuladen. Sie wären sowieso nicht gekommen. Doch was in diesem Haus in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft vor sich ging, ahnte keiner von ihnen. Sie waren alle viel zu sehr mit sich beschäftigt. So waren sie, die Deutschen. Nach außen freundlich, aber grundsätzlich alle nur mit sich beschäftigt.

Was würde man über ihn und Christina und die Kinder erzählen, wenn er das getan hatte, was er sich vor dem Nachhausekommen vorgenommen hatte? Was konnten die Nachbarn überhaupt sagen? Sie wussten doch nichts über die Komarows. Gar nichts.

Olegs Kiefer begann zu schmerzen. Wieder hatte er die Zähne aufeinander gebissen; viel zu stark und viel zu lange. Er hätte die Kinder gleich töten sollen und dann Christina. Jetzt hörte er bereits Geräusche aus dem Schlafzimmer. Christina musste wach sein. Auch auf der Straße rührte sich schon was. Ein Auto fuhr am Haus vorbei. Der erste Nachbar auf dem Weg zur Arbeit. Oleg hatte zu lange gewartet. Es war nicht mehr nur das Laternenlicht, das durch die Fenster fiel. Es dämmerte bereits da draußen. Die Siedlung erwachte zum Leben. Als Oleg dies bemerkte, wurde der Schmerz in ihm nur noch stärker, denn er wusste, dass das Leben für ihn und die seinen zu Ende war.

Oleg Komarow hatte sich getäuscht, als er glaubte, Christina habe geschlafen. Sie hatte den Schlüssel in der Tür gehört und seine Schritte auf dem Flur. Ihr Schlaf war leicht, wenn sie überhaupt geschlafen hatte. Sofort hatte sich ihr Pulsschlag erhöht, wusste sie doch, was gleich passieren würde. Es passierte fast immer, wenn er so spät nach Hause kam. Er wollte Sex. Und er bekam Sex. Erst wenn er seinen dürren Körper von ihr herunter gerollt hatte und kurz darauf zu schnarchen begann, konnte auch sie beruhigt einschlafen. Dann war normalerweise alles vorüber. Niemandem im Haus würde dann noch etwas passieren.

Doch das war in dieser Nacht anders. Sie hörte ihn auf dem Flur. Dann nichts mehr. Keine Dusche und keine Toilettenspülung. Er saß allein im Dunkeln. Vielleicht im Wohnzimmer, vielleicht in der Küche. Sie hätte zu ihm gehen können, um es hinter sich zu bringen, doch dazu fehlte ihr die Kraft. Unbeweglich blieb sie im Bett liegen und lauschte in die Nacht. Schließlich kroch der Morgen heran, und sie stand doch auf.

Oleg saß am Küchentisch. Den Kopf hatte er auf eine Hand gestützt. Christina sah zuerst nur seinen dunkelblonden Hinterkopf. Was für ein struppiger Mistkerl. Alles an ihm schien drahtig und widerspenstig. Da gab es so gut wie nichts Weiches. Nur ganz selten hatte Christina ein Lächeln bei ihm gesehen. Bis vor einem Jahr war es, soweit sie sich erinnerte, nie vorgekommen. Erst in letzter Zeit bemerkte sie gelegentlich, dass er die Kinder freundlicher ansah und selbst ihr ab und zu freundlich gesonnen schien. Was diese langsame Veränderung bewirkt hatte, wusste sie nicht. War es doch möglich, dass dieser Mann so etwas wie Gefühle hatte?

Christina ging zur Küchenzeile, wollte einen Kaffee kochen, auch, um Oleg bei Laune zu halten. Sie sagte nicht »Guten Morgen.« - »Kaffee?«, war das einzige Wort, das sie aussprach. Als er nicht antwortete und sie sich nun doch zu ihm umdrehte, erschrak sie über seinen Gesichtsausdruck. Der übliche Zorn in seinen Augen war verschwunden. Sie sah nur Verzweiflung. Der Anblick erschütterte sie. Alles in diesem Haus schien allmählich aus den Fugen zu geraten. Auf nichts konnte sie sich verlassen.

Dass Oleg sich in letzter Zeit fast schon nett verhielt, war überraschend genug. Aber jetzt diese Zerbrechlichkeit und offensichtliche Müdigkeit bei ihm. Wo kamen die her? Was passierte hier? Er schien der zäheste und äußerlich am wenigsten zu beeindruckende Mensch, den sie kannte. Was konnte diesen Mann so verändern, dass sie, ohne es zu wollen, plötzlich Mitleid für ihn empfand?

»Möchtest du einen Kaffee?«, fragte sie ihn freundlicher, so, wie es vermutlich die anderen Frauen in den Nachbarhäusern bei ihren Männern taten. Als er den Blick hob und sie eine Weile damit zu durchbohren schien, bekam Christina Angst. Etwas Schreckliches würde passieren. Sie spürte es ganz genau. Als er sich bewegte und der Stuhl ein Stück über den Steinboden kreischte, zuckte sie zurück. Schnell machte sie ein paar Schritte nach hinten, brachte den Küchentresen zwischen sich und diesen Mann. Sofort dachte sie an das Brotmesser in der Schublade vor sich. Doch Oleg hatte nicht vor, sich zu erheben. Er wollte ihr auch nichts tun. Er sagte nur: »Ja.« Und es brauchte eine Weile, bis Christina begriff, dass er damit ihre Frage nach dem Kaffee beantwortete.

Schweigend saßen sie sich gegenüber. Er hielt den Kaffeebecher in beiden Händen, obwohl dieser schon lange leer war. Sie wagte nicht zu fragen, was los war. Zum einen, weil Oleg bei solchen Fragen sehr unangenehm werden konnte, zum anderen aber, weil Christina die Antwort fürchtete. Es war etwas geschehen, das Oleg Komarow in seinen Grundfesten erschüttert hatte. Was immer das war, es konnte nichts Gutes bedeuten. Als Christina die Stille nicht länger ertrug, sagte sie, dass sie die Kinder wecken und für die Schule fertig machen müsse.

»Sie gehen heute nicht in die Schule«, sagte Oleg mit leiser Stimme, sprach mehr zum Kaffeebecher als zu ihr.

Christina hielt in der Bewegung inne. Eine Hand hatte sie auf den Küchenstuhl gelegt, um ihn wieder an den Tisch zu rücken. Ordnung war wichtig in diesem Haus. Oleg hatte ihr beigebracht, wie alles ordentlich zu sein hatte.

»Wir machen einen Ausflug«, sprach Oleg weiter und beantwortete damit die Frage, die unausgesprochen im Raum stand.

»Wohin?«

»Wird eine Überraschung. Und nun mach. Wir wollen rechtzeitig los.« Der Blick, mit dem er sie bei diesen Worten ansah, sagte ihr, dass es besser war, nicht nachzufragen. Aber diesmal konnte sie nicht anders.

»Es wird die Kinder beunruhigen, wenn wir ihnen nicht sagen, wo es hingeht. Und es war doch abgemacht, dass sie regelmäßig zur Schule gehen dürfen.«

»Dann sag ihnen, dass wir zu Miriam fahren.«

»Fahren wir denn zu Miriam?«

»Ja.«

Oleg log. Sie wusste es sofort. Was wäre das auch für eine Überraschung? Miriam war Christinas beste Freundin. Das war sie schon in der Ukraine gewesen. Bevor sie nach Deutschland kamen. Damals in dem kleinen Dorf, in dem sie zusammen aufgewachsen waren. Nur dreißig Kilometer von Donetsk entfernt. Als sie noch gemeinsame Träume hatten. Die Kinder mochten Miriam zwar, aber ein Besuch bei ihr wäre kein Grund gewesen, nicht zur Schule zu gehen.

Wortlos ging Christina zu den Kindern. Sie weckte zuerst Alexander, streichelte seinen Kopf. Die kleinen, zarten Hände, die seine Decke festhielten, berührten ihr Herz. Christina konnte nicht widerstehen, stellte sich auf die Zehen und küsste seine Stirn. Als sie sich Katja im Bett darunter zuwandte, sah diese sie bereits mit offenen Augen an. Christina versuchte zu lächeln. »Aufstehen«, sagte sie nur.

Im Schlafzimmer nahm sie frische Unterwäsche aus dem Schrank. Die vom Vortag lag in der Wäschetonne im Badezimmer. Auch das hatte Oleg ihr beigebracht. Als Christina sich noch eine Wohnung mit Miriam teilte, hatte sie ihre ausgezogenen Sachen einfach auf dem Boden verteilt. Genauso wie Miriam es tat. Hier im Haus hatte Christina es deshalb zuerst auch getan, aber Oleg gefiel das nicht. Er hatte ihr zwar gesagt, dass dafür die Wäschetonne sei, aber sie hatte nicht sofort gewusst, dass er es ernst meinte. Das begriff sie erst, als sie sich mit schmerzenden Rippen und einem brennenden Gesicht auf dem Schlafzimmerboden wiederfand, er mit einem Bein auf ihrer Brust kniete und ihr die herumliegenden Unterhosen und Socken in den Mund stopfte, bis sie daran zu ersticken glaubte. Danach hörte sie besser hin, wenn er meinte, dass er es ordentlich im Haus haben wollte. Zu den Küchenstühlen, die sich beim Aufstehen automatisch ein Stück nach hinten schoben, hatte er nur gesagt, dass es doch schöner sei, wenn man sie gleich wieder an den richtigen Platz rücken würde. Christina hatte den Hinweis verstanden und richtete sich seitdem danach. Und zum Glück folgten die Kinder ihrem Beispiel. Allerdings würde Katja nächstes Jahr dreizehn werden. Wie lange sie noch einfach alle Regeln befolgen würde, die Oleg aufstellte, musste sich dann zeigen.

Im Badezimmer schminkte Christina sich, legte Parfum auf und setzte die Klappe für ihr blindes, linkes Auge auf. Das sah ein wenig verwegen aus, erregte aber bei den Leuten weitaus weniger Aufmerksamkeit als der Anblick, der sich unter der Klappe verbarg. Dann deckte sie den Frühstückstisch für die Kinder. Sie hörte Katja im Badezimmer verschwinden, als sie durch das Küchenfenster etwas sah, was sie noch mehr verstörte als alles andere an diesem Morgen. Oleg hatte die Heckklappe des SUVs offen gelassen. Nun kam er aus dem Schuppen, in dem sich der Rasenmäher und das Gartenwerkzeug befanden. In einer Hand hielt er einen Spaten und in der anderen ein aufgerolltes Stück Seil. Er legte beides in den Kofferraum und drückte auf den Knopf, der dafür sorgte, dass sich die Heckklappe des Geländewagens langsam schloss. Als er den Kopf Richtung Haus drehte, trat Christina automatisch einen Schritt nach hinten. Er sollte nicht wissen, dass sie den Spaten gesehen hatte.

1

Für Jan Fischer war es ein merkwürdiges Gefühl, vor dem Hintereingang der Redaktion zu stehen und nicht hinein zu kommen. Seinen Schlüssel hatte er wie alle anderen Angestellten und freien Mitarbeiter am letzten Arbeitstag abgeben müssen. Am nächsten Tag war die letzte Ausgabe vom HT, dem Harburger Tageblatt, erschienen. Das war nun schon einige Monate her. Jan hatte sich in der Zwischenzeit um die Veröffentlichung seines Buches über Serienmörder gekümmert. Von Tätern und Opfern hatte er es gemeinsam mit dem Verlag getauft. Ein halbwegs gelungener Titel, wie Jan fand, ebenso wie die Verkaufszahlen der letzten sechs Wochen.

Jan sah an der Häuserfassade seines ehemaligen Arbeitgebers hinauf. Es war ein grauer und nasser Januartag. Schnee und Frost hatte es diesen Winter noch nicht gegeben. Dafür Temperaturen um die sieben Grad und immer wieder Regen. Kein angenehmer Start in das neue Jahr.

Bevor Jan die Klingel an der Hintertür drücken konnte, meldete sich sein Handy. Frieda Engel stand auf dem Display. Frieda war kein Engel, sie war aber auch kein Teufel. Sie war die Ansprechpartnerin des Verlages, bei dem Jan veröffentlicht hatte. Lektorin und Marketing-Spezialistin in einer Person. An den Buchvertrag war Jan über den Zeitungsverlag gekommen, der das Harburger Tageblatt herausgegeben hatte. Die mühsame Suche nach einem Verleger war ihm damit erspart geblieben. Eine Luxussituation, wusste Jan. Aber er hatte ja auch etwas zu bieten. Der Fall, den er für sein Buch als Aufhänger genommen hatte, war ausgiebig durch den Medienwald gegeistert und vielen noch in Erinnerung. Vielleicht hätte er deshalb auch ohne die Hilfe von Petersen, seinem ehemaligen Chefredakteur, einen Verlag für das Buch gefunden. Aber so war es natürlich einfacher gewesen. Außerdem steckte Frieda Engel voller Energie. Sie platzierte Artikel über sein Buch in der Lokalpresse und setzte alle Hebel in Bewegung, damit es ein Erfolg wurde. Als Jan das Telefongespräch entgegennahm, schaffte er es nicht einmal seinen Namen zu nennen. Die Frau am anderen Ende war schneller.

»Jan, ich bin's, Frieda. Hör zu. Tolle Nachrichten. Kennst du Klartext von Klara Brandt? Läuft vierzehntägig im Abendprogramm. Die sucht sich immer besonders brisante Themen heraus, zeigt Einspieler und lässt dann Experten dazu Stellung beziehen. Viel Gerede, besonders fürs Fernsehen, aber spannend. Klartext eben. Und die braucht für morgen, halt dich fest, einen Ersatzexperten. Es geht um Kapitalverbrechen an Frauen und Kindern. Ein Kripomensch ist ihnen weggebrochen. Und weil ich da jemanden aus der Redaktion kenne, haben sie bei mir angefragt, ob du nicht einspringen könntest.«

Jan schoss der Schreck in die Knochen, als er sich verkabelt in einem Fernsehstudio sitzen sah. »Aber ich bin kein Experte.«

»Von Tätern und Opfern hat sie wahnsinnig begeistert. Serienmörder sind immer ein Thema, weißt du doch selbst. Das passt schon irgendwie. Und für den psychologischen Background haben sie eine andere Expertin. Da musst du dir keine Sorgen machen.«

»Morgen? Geht nicht. Ich bin völlig unvorbereitet. Ich weiß gar nicht, was ich da erzählen soll.«

»Deshalb stellt Klara Brandt ja auch Fragen.« Ein helles Lachen zeigte, dass Frieda es ernst meinte. »Das ist ein Volltreffer, Jan. Kapierst du das nicht. Hallo, Fernsehen. Jan Fischer als Experte. Der Buchtitel wird mehrfach eingeblendet. Dafür sorge ich. Kannst dich drauf verlassen. Und du hast doch schon Übung durch deine Vorträge.«

»Zwei Vorlesungen in winzigen Buchhandlungen. Zwei, Frieda!«

»Genau. Und in Lüneburg habe ich auch schon wieder was für dich. Toll was?«

»Ich bin kein Experte.«

»Willst du Bücher verkaufen?«

Jans Antwort kam tonlos. Er musste ja sagen, auch wenn er es nicht wollte. Seine Füße waren mittlerweile eiskalt. Und das kam nicht allein durch die niedrigen Temperaturen.

»Ich freu' mich so für dich, Jan. Das ist eine echte Chance, wird den Titel noch mal so richtig pushen. Du bist ein echter Glückspilz, Jan Fischer, weißt du das? Ja, du weißt es.«

»Also hast du sowieso schon für mich zugesagt, richtig?«

Wieder dieses helle Lachen. Mit den Worten, dass er noch die genauen Eckdaten bekäme, beendete Frieda das Gespräch. Irgendwas von morgens Aufnahmen für einen Einspieler als Kurzporträt von ihm, hatte sie gesagt. Damit die Zuschauer etwas über den Experten erfahren. Nachmittags Briefing über den Ablauf der Sendung. Und abends dann schon die Liveshow. Jan ließ das Telefon sinken und starrte wortlos darauf, bis das Display von allein erlosch.

Das mit den Buchhandlungen konnte er noch verstehen. Aber warum ins Fernsehen? »Ich bin doch Journalist«, stieß er laut aus, »und kein Zirkuspferd.«

Erst dann drang das Umfeld wieder in sein Bewusstsein. Stimmen und Autolärm drangen von der Straße auf den Hinterhof. Zum Glück war niemand da, der ihn fluchen hörte. Schließlich trat Jan zur Hintertür des Gebäudes und klingelte energisch. Es dauert etwas, bis er sah, wie sich etwas hinter der Milchglasscheibe bewegte. Grinsend empfing Christian Freitag ihn. Der ehemalige Volontär des Harburger Tageblatts trug ein rosa Hemd auf einer blauen Jeans und ein breites Grinsen im Gesicht. Eine ordentliche Portion Pomade bändigte seine Haare. Das war neu. So herausgeputzt sah sein Gegenüber früher nicht aus.

»Jan.«

»Chris.«

Der junge Mann stürmte auf Jan zu und nahm ihn unerwartet in den Arm.

»Da staunst du, was? Hab' einfach 'nen eigenen Laden aufgemacht.«

»Ich staune.« Jan unterstrich die Aussage mit einem Nicken.

»Komm rein, komm rein. Ist ja arschkalt hier draußen.«

Neugierig schaute Jan sich im Erdgeschoss um. Es gab eine mit Papier zugeklebte Schaufensterfront zur Fußgängerzone. Der Tresen der Anzeigenaufnahme, der dort gestanden hatte, solange Jan zurückdenken konnte, war verschwunden, wodurch der Raum unerwartet groß und unpersönlich wirkte. Jan sah alles eine Weile schweigend an, ging dann zurück zu Christian Freitag, der im Durchgang gewartet hatte. Die Wendeltreppe in den ersten Stock quietschte wie ehedem. Christian ging vorweg.

Die Überraschung für Jan setzte sich fort, als er mehrere junge Leute an Computerschreibtischen sitzen und arbeiten sah. Die Tische standen völlig anders als früher. Es gab keine Zweierkonstellationen mehr, die kleine Inseln bildeten. Genau genommen konnte Jan gar keine Ordnung bei der Aufstellung erkennen.

»Komm mit in mein Büro!«, meinte Christian grinsend.

»Sag nicht, du hast dir Petersens Heiligtum geschnappt«, meinte Jan, während sie durch den Raum gingen. Er merkte, wie ihm einige Blicke folgten. Wer ihn direkt ansah, dem nickte er freundlich zu. Es waren vier Männer und drei Frauen, die an den Computern arbeiteten. Keiner von ihnen über dreißig. Jan war in diesem Moment eindeutig der Dinosaurier in diesem Raum. Auch das war anders als früher.

Die Tür zum Büro des ehemaligen Chefredakteurs stand offen. Fast erwartete Jan, Petersen hinter seinem Schreibtisch sitzend zu erblicken, als er Christian in das Zimmer folgte. Das Büro war vollgestopft mit Sitzgelegenheiten. Es gab ein Sofa und mehrere Sessel. Der an die Wand gerückte Schreibtisch mit einem geöffneten Notebook schien nur eine untergeordnete Rolle zu spielen.

»Ich habe mich von Petersens Couch inspirieren lassen«, meinte Christian. »Leider war sie schon weg, als wir hier eingezogen sind. Genauso wie alles andere. Hast es unten ja selbst gesehen. Aber es ist einfach, gebrauchte Büromöbel auf dem Markt zu bekommen. Für 'nen Appel und 'n Ei. Gar kein Problem. Klar, alles an den Ecken abgestoßen, aber na und? Und das andere Zeug hier drinnen haben wir privat gesammelt. Jeder hat mitgebracht, was er entbehren konnte.

»Also pennen hier auch einige?«, wollte Jan wissen.

»Selten«, antwortete Christian. »Dient mehr der Entspannung und dem Austausch. Unser spezieller Thinktank sozusagen. Unsere Gedanken befruchten sich hier gegenseitig.«

»Wirklich nur die Gedanken?«

Christian Freitag grinste erneut. »Sie sind wirklich gut in dem, was sie machen. Auch wenn sie noch jung sind. Martinez kümmert sich um den Sport. Sybill und Claudette machen Wetter und Boulevard. Stefan Politik. Mark und Inez machen Wirtschaft. Aaron Polizeigeschichten. Das läuft. Und wir haben noch mehr Leute im Hintergrund. Homeoffice, Alter. Aber mehr Power hat das Ganze, wenn wir hier zusammen arbeiten. Ich habe dir ja schon am Telefon erzählt, wie alles läuft.«

»Und du bist der Stratege dahinter.«

»Ich halte die Fäden in der Hand. Ich sorge für die Sponsoren und kümmere mich um Werbekunden. Noch sind wir keine bekannte Marke. Aber das kommt. Der Dschungel im Netz ist groß. Da müssen wir noch auf uns aufmerksam machen, aber dann kann es etwas werden.«

»Sie haben dir doch eine Stelle im Haupthaus angeboten. Hast du das Volontariat nicht beendet?«

»Doch. Bin seit dem 15. Dezember fertig.«

»Und kein Angebot als Jungredakteur?«

»Doch.«

»Aber?«

»Das hier ist besser.«

Jan ließ seinen Blick über die alten Sessel und Sofas wandern. Sein Gegenüber lächelte, während er ihn dabei beobachtete.

»Du kennst unser Superhirn noch nicht. Ein Genie am Rechner. Zurzeit schreibt er an einem Code für unsere App. Wenn die erst mal läuft, wird sich unsere Leserschaft exponentiell vergrößern.«

»Ach ja?«

»Jedenfalls wenn wir den Leuten den richtigen Grund geben, uns auf ihren Geräten zu installieren. Wir müssen nur einen richtigen Hammer raushauen. Exklusiv. So dass die Leute sagen, warst du schon beim Lauffeuer auf der Seite. Wie – nein? Wo lebst du denn? Das musst du lesen.«

»Lauffeuer? Das ist euer Name.«

»Ganz genau.« Christian nickte. »Noch kennt ihn kaum jemand. Aber wenn wir einen richtigen Knaller hätten, dann ...«

»Was denn für einen Knaller?«

Der jüngere Mann blickte Jan durchdringen an. »Was Investigatives. Solche Sachen, wie du sie machst.«

»Ach, komm ...«

»Doch, im Ernst. Du kannst das. Die anderen schreiben Sachen zusammen, machen Querverweise, aber sie recherchieren nicht vor Ort. Ihre Welt ist das Netz. Und genauso brauche ich sie. Aber ich brauche auch jemanden, der sich da draußen auskennt. Der weiß, wie man Geheimnisse lüftet.«

Jan fühlte ein Kribbeln im Nacken. Natürlich wusste er, dass Christian ihm schmeichelte. Aber seine Worte taten einfach gut. Ich bin Journalist und kein Zirkuspferd, dachte er wieder. Das sollte Frieda mal verstehen. Als er an den bevorstehenden Fernsehauftritt dacht, schlug seine Stimmung sofort wieder um. Deprimiert sah Jan zum Fenster. »Da draußen ist es kalt und nass. Mehr kann ich nicht sehen. Was soll ich denn da recherchieren? Wann der Winter endlich zu Ende ist? Also das kann ich dir sagen. Am 20. März. Da ist nämlich Frühlingsanfang.«

Christian Freitag hob die Augenbrauen, dann begann er zu grinsen. »Du brauchst einen Kaffee, Jan Fischer. Ganz klar. Ohne Kaffee kann man mit dir ja nicht reden. Wie konnte ich das vergessen.«

»Kaffee?« Jan zog die Stirn in Falten. »Stimmt. Ich brauche Kaffee.«

Gemeinsam verließen sie das ehemalige Büro des Chefredakteurs und gingen durch die Redaktion zur Kaffeeküche. Diesmal drehte niemand mehr den Blick nach ihnen um. Jan fragte sich, ob irgendjemand von diesen fleißigen Schreiberlingen Geld für das bekam, was er tat. Sybill und Claudette. Aaron oder Martinez. Oder ob hier alle aus reinem Idealismus ihre Zeit verbrachten. Mit der Hoffnung, dass es sich irgendwann vielleicht mal auszahlen würde. Denn Zeit war ja das, was junge Menschen am meisten hatten. Das glaubten sie jedenfalls.

»Hast du noch jemanden aus der alten Riege gefragt, ob er mitmacht?« Jan glaubte die Antwort zu wissen. So dumm konnte Christian nicht gewesen sein. Denn garantiert hätte er sich bei den anderen nur Abfuhren eingeholt.

»Ich war bei Petersen.«

»Nein?«

»Doch.«

»Wie geht es ihm?«

»Sitzt im Wohnzimmer und raucht Pfeife.«

»So schlimm ist es?«

Christian zuckte mit den Schultern. »Ich finde es schlimm. Er hätte hier noch etwas bewegen können. Mehr jedenfalls als von seinem Sofa aus. Aber er sagt, er darf nicht. Bis zu seiner Rente steht er offiziell noch in Diensten des Verlages. Sein Vertrag als Chefredakteur ruht nur. Da darf er nichts für andere machen. Sonst riskiert er seine Bezüge.«

»Klingt ja immer schlimmer.« Jan sah den Becher skeptisch an, den Christian ihm entgegen hielt. Auch die alte Küche war verschwunden. Es gab in dem winzigen Raum, an dessen Türzarge er lehnte, nur einen Kühlschrank und eine darauf stehende Kaffeemaschine. Als Spülbecken diente eine Plastikwanne, die auf dem Boden unterhalb des Wasserhahns stand. Wie das gebrauchte Abwaschwasser von dort in den Abfluss gelangen sollte, war Jan ein Rätsel. Aber der Kaffee roch gut und die schwarze Brühe in dem Becher dampfte. Also nahm er einen Schluck. Christian trank auch. Eine Weile standen die beiden Männer schweigend nebeneinander und lauschten der Kakophonie von Mausklicken und angeschlagener Computertastaturen.

»Hast du von der Familie gehört, die letzte Woche aus Allermöhe verschwunden ist?«, fragte Christian Freitag dann und warf damit seinen besten Köder aus.

2

Jan schlug den Mantelkragen hoch und steckte beide Hände in die Taschen, als er die Redaktion des Lauffeuers verließ. Er war mit Absicht ohne Auto da. Es gab Tage, an denen ging man lieber zu Fuß. Um in den Harburger Hafen zu kommen, gab es aus Richtung Süden ein großes Hindernis: die Bahngleise. Es boten sich nur wenige Möglichkeiten, diese zu überwinden. Die meisten waren Brücken für Autos, auf denen Fußgänger nicht besonders gut aufgehoben waren. Jan wählte daher einen kleinen Tunnel, der nun schon seit einigen Jahren für den Fahrzeugverkehr gesperrt war. Durch die Harburger Schlossstraße schritt er an einigen schönen Fachwerkhäusern vorbei. Sie waren Überbleibsel aus einer anderen Zeit und wurden in den Straßen rundherum durch Industrieanlagen eingeschlossen. Weiter vorn lag das Becken des Lotsekanals und in diesem einige Hausboote. Das eine wurde bis vor einer Weile von einem Schlagerstar bewohnt. Wegen aufziehenden Nebels konnte Jan aber nicht viel davon erkennen. Nur die Konturen der Hausboote schälten sich aus dem Dunst.

Um die Frage zu beantworten, die Christian Freitag ihm gestellt hatte, musste Jan sich eingestehen, dass er bisher nicht nur nichts von einer vermissten Familie aus Allermöhe gehört hatte, sondern, dass er seit der Pleite des Harburger Tageblatts überhaupt keine Nachrichten mehr verfolgt hatte. Weder im Radio oder Fernsehen, noch in Zeitung oder Internet. Bis zur Schließung der Redaktion war es für jeden Mitarbeiter normal und unerlässlich gewesen, stets auf dem Laufenden zu sein. Das galt für alle Arten von Nachrichten, ob lokal, überregional oder international. Ob Sport, Politik oder Unterhaltung. Davon hatte Jan sich eine Auszeit genommen. Aber was Christian ihm dann in der Kaffeeküche erzählt hatte, weckte automatisch seine Aufmerksamkeit.

Eine vierköpfige Familie aus Hamburg-Allermöhe war seit vergangenem Freitag spurlos verschwunden. Das Fehlen der Kinder war zuerst in der Schule aufgefallen. Die Polizei wandte sich nach einer erfolglosen Suche vom Wochenende bereits am darauffolgenden Dienstag mit Suchbildern an die Presse. Grund für diese ungewöhnlich schnelle Maßnahme waren die ebenfalls ungewöhnlichen Begleitumstände des Verschwindens. Der PKW, der auf Oleg Komarow zugelassen war, stand im Carport. Im Haus gab es keinerlei Hinweise auf ein Reisevorhaben der Familie Komarow. In den Schränken schien keine Wäsche zu fehlen, die Ausweise des Vaters und der Mutter lagen ebenso in einer Schublade im Elternschlafzimmer wie die Kinderausweise eines Mädchens und eines Jungen. In der Schule hatten sich die Eltern auch nicht gemeldet. Eine Befragung der Nachbarn hatte ergeben, dass Oleg Komarow am Freitag noch mehrfach mit dem Auto gesehen wurde. Die einen sagten, dass die Familie mit im Wagen gesessen hätte, andere meinten, dass Beifahrersitz und Rückbänke leer waren. Später sollte Oleg Komarow noch zu Fuß in der Nähe des Neubaugebiets, in dem das Haus der Familie lag, unterwegs gewesen sein. Doch nach Freitag, siebzehn Uhr, wollte ihn niemand mehr gesehen haben. Bereits am Sonntag suchte die Feuerwehr mit Booten den nahegelegenen Westensee erfolglos ab. Am Montag wurde die Suche auf die nicht weit entfernte Dove Elbe ausgedehnt. Suchhunde wurden im ufernahen Schilf eingesetzt. Kleinboote mit Leichenspürhunden hatten das an dieser Stelle recht schmale Gewässer abgefahren. Doch von der Familie keine Spur.

»Das ist doch genau dein Ding«, hatte Christian Freitag gemeint, als er mit seinem Bericht fertig war.

»Wie meinst du das?«

»Na, verschwundene Personen. Das ist doch quasi dein Spezialgebiet.«

»Blödsinn.«

»Doch, na klar. Und wenn du da etwas rausfinden würdest, was die anderen nicht haben, also eine richtig exklusive Sache, dann könnte das dem Laden hier den entscheidenden Push geben. Unsere App wird auf Handys und Tablets geladen. Werbekunden werden auf uns aufmerksam. Und ab geht's! Ich sage ja nicht, dass du die Leute vor der Polizei finden sollst, aber ein paar exklusive Hintergrundinformationen wären klasse.«

»Entweder sind die alle zusammen abgehauen, oder es ist ein erweiterter Suizid.«

»Richtig.«

»Und die Polizei hat richtig viele Leute, die nach denen suchen.«

»Aber haben sie auch den richtigen Mann?«

»Warum sagst du so was?«

»Weil du der beste bist.«

»Bin ich nicht.«

»Du hast es schon bewiesen.«

»Ich muss mich um anderes kümmern. Meine neue Wohnung ist noch nicht fertig gestrichen. Der Verlag erwartet, dass ich mich aktiv an der Vermarktung des Buches beteilige. Ich habe öffentliche Lesungen. Morgen muss ich zu einer Talkshow im Fernsehen. Da bleibt keine Zeit, um in einer Geschichte rumzustochern, die neben der Polizei auch alle anderen Zeitungen und Sender auf dem Schirm haben. Wenn all diese Leute nichts finden, was soll ich da noch machen?«

»Du findest was ...«

»Nein«, hatte Jan gesagt und den Kopf geschüttelt. Und dann noch einmal, als Christian Freitag nicht aufhörte, ihn durchdringend anzusehen. In diesem Blick hatte eine Gewissheit gelegen, an die Jan noch immer denken musste, während er das Kirchengebäude auf sich zukommen sah, das seit kurzem sein Zuhause war. Auch Christian wusste dass Jan kein Zirkuspferd war. Seine Fähigkeiten lagen woanders.

Die ehemalige Freikirche lag einsam im Nebel. Vermutlich hatte wegen der abgelegenen Gegend ein niedriger Grundstückspreis zum Bau des Gebäudes geführt. Eine Weile hatten die Kirchenmitglieder die umständliche Anfahrt mitgemacht, doch dann waren Monat für Monat immer weniger zum Gotteshaus gekommen und in andere Gemeinden ausgewichen. Die Ursache des Scheiterns war bei der Grundsteinlegung bereits Bestandteil des Baus gewesen.

Jan konnte das nur recht sein. Er hatte seine Abfindung vom Tageblatt in das Objekt gesteckt und war zusätzlich nur mit einer Darlehensrate bei der Bank verpflichtet, die nicht höher lag als der Mietpreis, den er für die Wohnung in Heimfeld gezahlt hatte. Gut, es war etwas exzentrisch, in eine seit Jahren leerstehenden Kirche einzuziehen. Aber es war auch ein erhebendes Gefühl. Das Gebäude selbst war nicht schön. Es gab den für die Gegend üblichen gebrannten Backstein und die Dachkonstruktion war mit gestanztem Blech beschlagen. Aber wenn Licht in der Kirche brannte, strahlte sie Freundlichkeit und Wärme aus.

Jan öffnete die schwere Eingangstür aus Holz und ging im Vorraum an den Möbeln und Kartons vorbei, die er vom Umzugsunternehmen dort hatte abstellen lassen, weil die Räume in der Einliegerwohnung oben noch nicht ganz bezugsfertig waren. Auch wenn das nun schon vier Wochen zurücklag, hatte sich an dem Arrangement noch nichts geändert. Farbeimer und Farbroller lagen bereit. Ebenso Abdeckfolien und Klebeband. Doch Jan konnte sich nicht aufraffen, das Vorhaben in die Tat umzusetzen. In diesem Punkt hatte er Christian Freitag also ungeniert belogen. Renovierungswut war es nicht, die ihn von Recherchen im Fall Komarow abhielt. Andererseits hätte Jan jederzeit mit der Renovierung der Wohnung anfangen können. Er tat es nur nicht.

Stattdessen hatte er sich sein Bettgestell im Gemeindesaal an eine Wand gestellt. Da der große, hohe Raum im Winter kaum warm zu kriegen war, krabbelte Jan beim Zubettgehen erst in einen Schlafsack und zog sich dann noch eine Decke über die Schultern. In der Mitte des Saals hatte er einen Sessel mit Stehlampe. Das war ideal zum Lesen und zum Filme gucken. Denn als Filmliebhaber hatte Jan auf Höhe der ehemaligen Kanzel ein weißes Leinenlaken gespannt, konnte darauf ein Beamerbild projizieren und hatte sich auf diese simple Weise ein privates Kino eingerichtet. Eine Toilette und eine kleine Küche gab es im Erdgeschoss auch. Beide Räume gingen vom Vorflur ab. Es bestand also kein dringender Grund, die kleine Wohnung im ersten Stock sofort bezugsfertig zu machen. Und noch eine weitere Sache hielt ihn davon ab. Beim Besichtigen des Objekts hatte er sich vorgestellt, wie er die Einliegerwohnung mit Charlotte einrichten und sie ihren eigenen Stil bei der Gestaltung der Räume mit einbringen würde. Als er den Kaufvertrag beim Notar unterschrieb, freute er sich heimlich darauf, Charlotte mit dem Vorführen ihres neuen Zuhauses zu überraschen. Es war ihm schwergefallen, nicht vorher schon alles zu erzählen, aber die Überraschung war ihm das Warten wert gewesen. Überrascht war Charlotte dann auch, als er sie in die abgelegene Gegend des Harburger Hafens brachte und ihr den Schlüssel zur hohen Eingangstür in die Hand gedrückt hatte. Aber Jan nicht weniger, als Charlotte während der Besichtigung ziemlich schnell und ziemlich deutlich sagte, dass sie nicht vorhabe, ihre Dachgeschosswohnung aufzugeben. Das habe sie nie gewollt. Wie er denn auf diese Idee komme?

Erst in diesem Moment hatte Jan verstanden, dass er bereits vor dem Kauf des Gebäudes mit ihr über seine Pläne hätte sprechen müssen. Vielleicht hätte er überhaupt mehr mit ihr sprechen sollen. Denn ohne es direkt zu wollen, hatten sie sich in den vergangenen Monaten immer mehr voneinander entfernt. Und das zu Jans Bedauern nicht nur räumlich. Dass er durch den Kauf der Kirche nun viel weiter weg von ihr wohnte als vorher, war da nur äußerlicher Ausdruck der Misere. Angefangen hatte es am Tag, als der Geschäftsführer des Verlages in einer Betriebsversammlung das Ende vom Harburger Tageblatt verkündet hatte. Damals setzte die Fotografin ihn mit dem Wagen vor seiner Wohnung ab, anstatt ihn mit zu sich zu nehmen. Dabei hatte er die vergangenen Monate so oft bei ihr geschlafen, dass es sich für ihn angefühlt hatte, als lebten sie zusammen. Wenn er seitdem mit ihr telefonierte, hatte er stets das Gefühl, das Falsche zu sagen. Und wenn sie sich sahen, war da eine unsichtbare Distanz zwischen ihnen, die es vorher nicht gegeben hatte.

Ja, es stimmte. Es hatte kurzzeitig eine weitere Frau in seinem Leben gegeben. Aber Jan hatte Charlotte anschließend alles erklärt. Es war aus der Situation heraus entstanden. Die andere Frau hatte seine Hilfe gebraucht. Und Charlotte hatte sich in dieser Zeit so völlig widersprüchlich verhalten, dass Jan einfach nicht mehr wusste, woran er mit ihr war. Kurz darauf hatte Jan die Verbindung zu der Anderen gelöst, aber Charlotte konnte er dadurch nicht zurückgewinnen. Wie er auf die Idee gekommen war, dass sie mit ihm zusammen in die alte Kirche ziehen würde, wusste er nach ihrem mehr als deutlichen »Nein« auch nicht mehr. Er hatte wohl gehofft, dass mit dem Umzug in die Kirche auch in seinem Verhältnis zu Charlotte eine neue Zeitrechnung anbrechen würde. Aber das tat sie nicht. Der Schmerz hierüber war manchmal unerträglich. Genau solch einen Moment erlebte Jan, als er nun allein auf seinem Sessel saß und das weiße Laken vor sich anstarrte. Seine Einsamkeit wurde ihm unmittelbar bewusst. Weil er jedoch keine Lust hatte, in Trübsal zu verfallen, erhob er sich wieder aus dem Sessel und holte einen neuen Film aus seiner Manteltasche. Er hatte ihn gekauft, bevor er zu Christian Freitag in die Redaktion gegangen war. Es war eine hochauflösende Filmaufnahme von einem »Queen«-Konzert in Budapest. Aufgenommen mit Fünfunddreißigmillimeter-Kameras. Demnächst wollte Jan das Laken durch eine reflektierende Leinwand austauschen. Doch auch so freute er sich schon über das sehr gute Bild und die noch bessere Musik, die die kleine, im Nebel liegende Kirche bald erfüllte.

3

Der Nebel hüllte den Hafen die ganze Nacht ein. Auch am nächsten Morgen lagen der Fischmarkt, die Landungsbrücken und die gegenüberliegenden Werftanlagen noch im Trüben. Charlotte Sander hatte ihre Tasche mit den Objektiven auf das Kopfsteinpflaster gelegt. Sie stand mit ihrer Kamera hinter der Fischauktionshalle. Ein Geländer säumte den Kai. Träge schwappte die Elbe ein Stückchen tiefer gegen die Mauer. Die Kamera war auf ein leichtes Stativ montiert. Sonnenaufgang sollte gegen kurz nach acht Uhr sein. Charlotte war gespannt, was passieren würde. Die Chance, dass die Sonne sich gegen den Nebel durchsetzen würde, stand etwa fünfzig-fünfzig. Auch konnte Charlotte in der Dämmerung nicht sehen, ob Wolken am Himmel waren. Wenigstens erkannte sie etwas weiter den Fluss hinauf schon die Elbphilharmonie, jenen Millionenbau, der die Gemüter der Hamburger wegen der stetig gestiegenen Kosten ganz besonders berührt hatte. Ein neues Wahrzeichen der Stadt sollte das Musikhaus sein. Irgendwie war es das sogar. Aber ob als Prachtstück oder Symbol von Verschwendungssucht, darüber ließ sich noch immer vortrefflich streiten.

Charlotte ließ den Verschluss der Kamera klicken. Immer wieder sah sie zum Horizont. Mit einem hellen Fleck hob sich die Stelle am sonst bläulichen Himmel ab, wo hoffentlich bald die Sonne zu sehen sein würde.

Die Fotografin ging ein paar Schritte weiter, um die beste Position zu finden. Sie wollte einen der großen Kräne auf der anderen Elbuferseite als Vordergrund für ihre Fotos haben. Einige Pendler stiegen am Anleger Altona von einer Linien-Fähre, kamen eine Brücke herauf und gingen an der Fotografin vorbei. Seit Charlotte im vergangenen Herbst von einem fremden Mann bei einem Fotoshooting angegriffen und fast umgebracht worden war, suchte sie sich für ihre Aufnahmen möglichst belebte Plätze. Wo ihr Angreifer damals hergekommen war, oder was ihn angetrieben hatte, wusste sie nicht. Die Verletzungen, die sie bei der Flucht vor ihm davongetragen hatte, waren aber so schwer, dass sie später im Krankenhaus eine Fehlgeburt erlitt. Das hatte Narben nicht nur an ihrem Körper hinterlassen. Seit jenen Tagen verfolgte die Angst sie. Immerhin war der Kerl nicht der erste Mann, der sie überfallen hatte. Schon im Jahr zuvor war ein Fremder in ihre Wohnung eingedrungen. Auch wenn ihre Gegenwehr erfolgreich endete, war sie nicht mehr dieselbe wie früher. Und das wusste sie. Irgendwelche harmlosen Geräusche ließen sie seitdem zusammenzucken und Bewegungen, die sie nur aus den Augenwinkeln wahrnahm, machten sie nervös.

Charlotte warf einen Blick auf ihre Kameratasche, bemerkte dabei ganz genau die schmächtige Gestalt, die nicht weit entfernt an der Kaimauer stand. Der Kerl sah irgendwie unheimlich aus. Sofort verspürte sie den Impuls, ihre Tasche zu holen und zu verschwinden. Als dann aber die Sonne mit gleißendem Licht über den Horizont kroch, vergaß sie die Angst um ihre Ausrüstung und konzentrierte sich auf die Fotos. Egal wie viele Sonnenaufgänge Charlotte schon fotografiert hatte, sie empfand es immer wieder als überraschend, wie schnell das Naturschauspiel vonstatten ging und wie schnell sich dabei die Lichtverhältnisse änderten. Eben noch guckte der Feuerball nur ein kleines Stück über den Rand der Erdkugel, tauchte alles in ein goldgelbes Licht, schon stieg er schnell höher und das Lichtspektrum verschob sich zu einem immer greller werdenden Weißgelb.

Mit dem Farbspiel und ihren ersten Fotos sehr zufrieden, hob Charlotte das leichte Stativ an und ging damit zurück zu ihrer Ausgangsposition. Die eben noch vom Nebel verschleierte Elbphilharmonie wurde jetzt gänzlich vom Sonnenlicht erfasst, wodurch sich eine fantastische Spiegelung auf den Fenstern ergab. Das Glas schimmerte auf der ansonsten grauen Fassade karminrot. Charlotte wollte die Kamera auf das neue Motiv einrichten, als sie merkte, dass ihre Tasche mit den Wechselobjektiven verschwunden war. Erschrocken über den Verlust des teuren Equipments drehte sie sich suchend um die eigene Achse. Sofort sah sie den Burschen, der ihr vorher schon aufgefallen war. Er stand jetzt hinter ihr, lehnte sich gegen das Mauerwerk der alten Fischauktionshalle. Der Kerl trug Chucks, eine löchrige Jeans und eine Kapuzenjacke. Da die Temperaturen in der Nacht auf fast null Grad gefallen waren, erschien Charlotte diese Kleidung als viel zu dünn. Sie selbst hatte einen dicken Mantel und dünne Handschuhe an. Dann sah Charlotte noch etwas. Über der Schulter der jungen Manns hing ihre Ausrüstungstasche.

»He«, rief Charlotte, griff sich die Kamera mit dem Stativ und ging mit kurzen, schnellen Schritten auf den Mann zu. Wenn der dachte, sie würde sich die Tasche einfach wegnehmen lassen, dann hatte er sich getäuscht. »Das sind meine Sachen.«

Der Mann rührte sich nicht. Er schien keinen Moment an Flucht zu denken. Ungerührt ließ er die Fotografin auf sich zukommen.

»Das ist meine Tasche!«, sagte Charlotte, als sie ihm direkt gegenüber stand.

»Ich weiß«, erwiderte dieser.

Einen Moment war Charlotte wegen dieses Eingeständnisses erleichtert, dann begann sie sich zu fragen, was das hier für ein Spiel werden sollte. Erwartete der Bursche etwa einen Finderlohn? Irgendetwas musste er doch wollen. Warum hätte er die Tasche sonst genommen?

Da sie in diesem Moment nur zu zweit am Kai standen und ein nächstes Fährschiff mit Pendlern nicht in Sicht war, überlegte Charlotte, ob sie fordernd oder besser defensiv mit der Situation umgehen sollte. Früher hätte sie über so etwas nicht nachgedacht. Da hätte sie ihrem Gegenüber die Tasche einfach weggenommen. Wie alt mochte der Bursche schon sein. Von so einer halben Portion hätte sie sich vor den Überfällen auf sie nichts gefallen lassen. Aber wer weiß, vielleicht hatte der Kerl irgendwo in der Nähe ein paar Verbündete. Kriminelle Jugendgangs konnten sehr unangenehm werden. Schnell suchte Charlotte die Gegend mit Blicken ab, konnte aber niemand anderen entdecken.

»Ich habe die Tasche nur genommen, damit sie niemand klaut«, sagte der junge Mann. Seine hochgeschlagene Kapuze machte es schwierig, aber Charlotte schätzte ihn auf etwa sechzehn Jahre ein.

»Na klar«, erwiderte sie ungläubig.

»Ich passe auch noch länger auf. Mach nur in Ruhe deine Fotos.«

»Bin schon fertig. Kann ich sie also wieder haben?«

Der Bursche nahm den Riemen von der Schulter und streckte Charlotte die Tasche mit ausgestrecktem Arm entgegen. »Ist ja deine.«

Sie war noch immer misstrauisch. Auf alles gefasst, hängte sie sich die Tasche um. »Ich gebe dir einen Fünfer, weil du so ehrlich warst.« Im Mantel suchte Charlotte nach ihrem Portemonnaie und fragte sich sofort, ob sie damit den nächsten Fehler beging. Schnell sah sie sich wieder um. Der Junge bemerkte es, sagte aber nichts dazu. Schweigend nahm er den Geldschein entgegen. Dann war das Portemonnaie wieder in Charlottes Tasche verschwunden. Als der Junge kurz grinste, lächelte sie automatisch zurück. Dass er nicht friert, dachte sie, während sie ihn in seinen dünnen Sachen und den ausgelatschten Chucks davonschleichen sah. Fünf Minuten später, als ihre Ausrüstung sicher im Auto lag und sie hinter dem Lenkrad sitzend das Radio einschaltet, hatte sie den Jungen schon wieder vergessen.

4

Die Fernsehaufzeichnung war beendet. Jan konnte die Klemme lösen, mit der ein Mikrophon an seinem Hemdkragen befestigt war, und den verkabelten Sender aus der Tasche nehmen. Die Moderatorin gegenüber tat es ihm gleich und bot dann der anderen Expertin ihre Hilfe an. Beide waren nett und angenehm im Umgang. Trotzdem konnte Jan sich kaum an die vergangenen anderthalb Stunden erinnern. Er wusste, dass er auf Fragen geantwortet und viel erzählt hatte, aber nicht mehr genau, was das war. Große Schweißflecken hatten sich unter seinen Achseln gebildet. Zum Glück trug er ein Jackett über dem Oberhemd. Er fühlte sich wie in Watte gepackt.

Der Tag hatte früh begonnen. Ein Team aus Kamerafrau, Kameraassistent und Redakteur war um acht Uhr morgens bei der ehemaligen Freikirche eingeflogen. Für einen einminütigen Einspieler, der Jan Fischer den Zuschauern der Abendsendung vorstellen sollte, verbrachten sie den ganzen Vormittag mit Dreharbeiten. Szenen im Gemeindesaal entstanden und ließen das Bild eines exzentrischen Schriftstellers entstehen. Danach ging es in den Harburger Hafen. Am Lotsekanal musste Jan sich auf eine Brücke stellen und mit dem Wasser im Hintergrund aus seinem Buch vorlesen. Zirkuspferd, Zirkuspferd.

Den frühen Nachmittag hatte Jan frei. Der Beitrag über ihn wurde derweil im Studio geschnitten. Dann fuhr Jan selbst nach Jenfeld. Er lernte Klara Brandt und ihr Team kennen. Er wurde inhaltlich auf die Sendung vorbereitet und dann in die Maske geschickt, um abgepudert zu werden. Mehrfach kamen Kurznachrichten von Frieda Engel auf seinem Handy herein. Worauf er achten sollte. Dass er das bestimmt ganz großartig machen würde. Sie und der Verlag seien stolz auf ihn. Er war froh, als er das Handy vor der Sendung in einen Schrank einschließen musste. Damit sollten Frequenzüberschneidungen mit der Studiotechnik vermieden werden, doch es war für Jan auch eine willkommene Möglichkeit, Friedas Übergriffen zu entkommen.

Thema der Sendung, die Jans Buch hoffentlich einen weiteren Anschub bei den Verkäufen bringen würde, waren Kapitalverbrechen an Frauen und Kindern. Mit Hilfe kleiner Filmbeiträge von nicht mehr als drei Minuten Länge führte Klara Brandt die beiden Experten Jan Fischer und Linda Herrmann immer wieder an verschiedene Aspekte heran. Während Jan von seinen Recherchen über Serienmörder sprach und deren Vorlieben für schwächere Opfer zu erklären versuchte, berichtete Linda Herrmann von den Erfahrungen, die sie als Leiterin einer Organisation gesammelt hatte, die sich dem Kampf gegen sexuelle Ausbeutung verschrieben hatte. Dann war plötzlich alles schon wieder vorbei. Linda Herrmann schien zufrieden. Sie war losgeworden, was sie erzählen wollte. Lächelnd sah sie Jan an. Eine Weile standen sie noch nebeneinander und unterhielten sich, während Techniker das Studio bereits aufräumten. Erst danach holte Jan seinen Mantel aus der Garderobe, nahm Portemonnaie und Handy aus dem Schließfach. Es gab neben zufriedenen Gratulationsmitteilungen von Frieda einen verpassten Anruf. Das war aber gerade erst fünf Minuten her. Obwohl ihm die Nummer nicht sofort etwas sagte, drückte Jan den Rückruf.

Christian Freitag meldete sich. Ein starkes Rauschen verriet, dass der ehemalige Volontär mit seinem Handy irgendwo im Wind stand.

»Was, was, was?«, versuchte Jan ihn zu unterbrechen. »Wo soll ich hinkommen? Ich verstehe dich kaum. Dreh dich mal irgendwie zur Seite.«

Christian brauchte nicht viel zu sagen, bis er ein schnelles »Bin unterwegs« von Jan bekam. Denn dieser fühlte sich sofort elektrisiert, als er hörte worum es ging. Christian war da draußen. Dort wo Jan auch sein wollte. Auf der Straße. An einer Story dran. Nicht in einem Studio.

Auf dem Autobahnstück von Jenfeld nach Moorfleet war Jan plötzlich bester Laune. Er fühlte sich so lebendig, wie lange nicht mehr. Das änderte sich auch nicht, als die Windungen des Allermöher Deichs ihn jenseits der Autobahn immer weiter ins Nirgendwo führten. Eine knappe halbe Stunde nachdem er das Studiogelände verlassen hatte, erreichte er die Abzweigung zu einer Brücke, die über die Dove Elbe führte. Eine Straßensperre verhinderte jedoch das Weiterkommen. Jan stellte seinen Wagen an den Fahrbahnrand hinter einige bereits geparkte Fahrzeuge, stieg aus und ging an den Warnhütchen vorbei, die auf der Straße aufgestellt waren. Weiter vorn standen Einsatzfahrzeuge von Feuerwehr und Polizei. Ein Generator machte Lärm. Jan sah auch ein Fahrzeug der Polizeitaucher in einem Seitenweg weiter unten am Wasser parken.

Auf der Brücke froren Polizisten in zu dünnen Dienstjacken und blickten mit verschiedenen Leuten in Zivil auf das Wasser hinunter. Foto- und Fernsehkameras gaben die einen als Pressevertreter zu erkennen. Bei anderen war Jan sich nicht sofort sicher, ob es Zivilbeamte oder Neugierige waren. Ein Arm wurde gehoben, und Christian Freitag winkte ihn zu sich. Jan stellte sich neben ihn an das Brückengeländer.

»Sie haben ihn gerade rausgezogen«, sagte Christian und deutete auf den nördlichen Uferstreifen.

»Wen?«

Jan sah die weiße Plastikplane, die offensichtlich über einem menschlichen Körper ausgebreitet war. Ein Taucher stakste durchs niedrige Wasser, begleitet von einem Kollegen, der ein Sicherungsseil hielt. Drei Feuerwehrleute in voller Ausrüstung standen daneben und wussten nicht so recht, was sie noch tun sollten. Offenbar hatten sie geholfen, den leblosen Körper aus dem Wasser zu ziehen.

»Wollen wir wetten, dass das Oleg Komarow ist«, meinte Christian Freitag. Trotz des kalten Windes hatte er keine Mütze auf, und Jan musste beeindruckt feststellen, wie gut die Pomade in seinem Haar den Seitenscheitel hielt.

Wasserleichen wurden in Hamburg auf unterschiedliche Arten abtransportiert. Entweder steckte man sie in einen schwarzen Sack und fuhr sie mit einem Rettungswagen weg, sofern ein solcher parallel zum Taucher- und Feuerwehreinsatz alarmiert worden war. Sonst ließ man einen Leichenwagen kommen, der den Toten direkt nach Eppendorf ins Institut für Rechtsmedizin brachte. Anders als bei Tötungsdelikten oder Brandopfern ging dies meist sehr schnell. Jan hatte das schon einige Male miterlebt. Von der Bergung bis zum Abtransport dauerte es meist nicht länger als eine Stunde. Doch diesmal ließen sich die Verantwortlichen Zeit. Während die Sonne schnell tiefer sank und bald nur noch ein winziger Streifen blau den Himmel erhellte, packten die Leute von der Todesermittlung gerade erst ihre Fähnchen und Fotoapparate aus. Grell zuckten immer wieder Blitzlichter am Ufer auf.

»Was gibt es da denn so Aufregendes?«, wollte Jan wissen.

Christian Freitag zuckte mit den Schultern, doch ein Fotograf, der seit etwa einer Stunde neben ihnen stand und schon mindestens fünf Zigaretten in dieser Zeit geraucht hatte, kam einen Schritt dichter und hatte eine Antwort parat. »Das hier«, sagte er und ließ die beiden anderen auf den Monitor an der Rückseite seiner Kamera sehen. Die Aufnahme, die er präsentierte, war mit einem Teleobjektiv entstanden und zeigte weitaus mehr Details als man mit bloßem Auge von der Brücke aus erkennen konnte. Auch die Lichtverhältnisse waren zur Aufnahmezeit noch viel besser gewesen. Der Tote lag mit dem Gesicht nach unten im Morast. Noch hatte niemand die weiße Plastikplane über ihm ausgebreitet.

»Das da neben seinen Füßen!« Der Fotograf konnte das Foto ohne Probleme präsentieren, weil er nicht zu fürchten brauchte, dass es jetzt noch jemand nachmachen konnte. Den Moment kurz nach der Bergung des Toten hatte er exklusiv. Und bei dem nunmehr herrschenden Zwielicht waren gute Aufnahmen ohne Blitz sowieso nicht mehr möglich. Zwar hatte die Polizei einen mobilen Leuchtballon aufgestellt, um das Unterholz im Uferbereich auszuleuchten, doch wegen des unwegsamen Geländes gab es dort trotzdem weiterhin mehr Schatten als Licht.

»Was ist denn das für ein Ding da?«, wollte Christian Freitag wissen. »Sieht ja aus, wie ein Eimer.«

»Ist auch einer«, bestätigte der Fotograf recht begeistert. »Ein Farbeimer. Moment, ich vergrößere das Detail mal. Da, seht ihr. Fünfzig Liter Deluxfarbe. Matt weiß. Hochergiebig. Könnt ihr sehen?«

»Ja«, erwiderte Christan Freitag. »Na und?«

»Guck mal genau hin. Siehst du nicht, dass der an seine Beine gefesselt ist?«

»Ach du Scheiße!«

»Jip.«

»Fünfzig Liter. Wie schwer ist denn das? Ist Farbe schwerer als Wasser?«

»Keine Ahnung. Aber es hat gereicht, um ihn unten zu halten.«

»Aber nicht für immer.«

Der Fotograf nickte zustimmend. »Wegen der Faulgase. Das gibt Auftrieb.«

Christian Freitag nickte auch.

»Wenn Sommer wäre«, meinte der Fotograf, »wäre er schon viel eher oben gewesen. Vielleicht nach zwei Tagen. Das hängt allein von der Wassertemperatur ab. So hat es eben eine Woche gedauert. Wusstet ihr, dass eine Wasserleiche einen Auftrieb vom Dreifachen ihres Eigengewichts entwickeln kann? Wenn der Bursche etwa hundert Kilo gewogen hat, dann kannst du dir ausrechnen, was für einen richtigen Betonklotz es gebraucht hätte, damit er unten bleibt.«

Der kleine Monitor an der Kamera hatte sich von allein ausgeschaltet, um Strom zu sparen. Nun schaltete der Fotograf ihn wieder ein, und der Farbeimer erschien allen plötzlich ziemlich klein.

»Das wusste er wohl nicht, als er ihn sich an die Beine gebunden hat.«

»Du meist Suizid?«

»Was denn sonst? Sieht das nach einem Mafiamord aus? Mit einem Farbeimer?«, kicherte der Fotograf. Und Christian Freitag lachte auch kurz auf.

»Der Typ hat seine Familie umgebracht«, sprach der Fotograf weiter, »und dann ist er hier ins Wasser gesprungen. Weil es so dicht an der Brücke ist, hat man ihn mit den Suchhunden nicht gleich gefunden. Man sieht ja, die Strömung ist nicht stark. Vermutlich ist er sogar von genau hier gesprungen, wo wir jetzt stehen.«

Jan und Christan Freitag sahen das Brückengeländer an.

»Und wo sind die anderen? Seine Frau und die Kinder?«

»Irgendwo verscharrt«, antwortete der Fotograf und steckte sich eine weitere Zigarette in den Mund. »Wollen wir wetten? Hier im Wasser sind sie jedenfalls nicht.«

Jan wollte schon fragen, wieso nicht, als er begriff, dass sie dann vermutlich auch schon an der Wasseroberfläche treiben würden. »Man weiß ja nie«, sagte er dann.

Der Fotograf ließ seine Kamera sinken, so dass sie kurz darauf vor der Kugel baumelte, die trotz der dicken Jacke, die er trug, einen runden Bauch erahnen ließ. »Das ist klar. Aber spielen wir es doch mal durch.

Er liegt da im Wasser. Hat sich selbst ertränkt. Und seine Frau und die beiden Kinder sind weg. Was glaubt ihr, was da passiert ist.«

»Sie ist mit den Kindern abgehauen, und er hat sich aus Kummer ertränkt«, schlug Christian Freitag vor. Doch der Fotograf winkte gleich ab.

»Die Pressestelle spricht ganz klar davon, dass die Familie keine Reisevorbereitungen getroffen hat. Im Haus war alles noch da. Kleider, Koffer, Papiere. Ohne irgendetwas mitzunehmen, haut keiner ab.«

»Es sei denn, er hat Hilfe.«

»Und wieso dann die Heimlichtuerei?«

»Aus Angst?«

»Vor wem?«

Christian Freitag deutete mit einem Kopfnicken zum Ufer. »Oder sie hat ihn umgebracht, hier versenkt und ist dann mit den Kindern abgehauen.«

»Klingt noch unwahrscheinlicher.«

»Aber möglich ist es.«

»Man hat ihn doch noch mit dem Auto rumfahren sehen. Ohne die anderen. Das sagt die Polizei jedenfalls.«

Grinsend erwiderte Christian Freitag, dass man der Polizei auch nicht alles glauben dürfe. »Vielleicht Zeugenschutzprogramm. Wenn die Frau irgendetwas weiß, und die Polizei sie und die Kinder sicher verstecken will, wäre es doch praktisch, wenn alle glauben, dass die Familie tot ist.«

Interessiert hob der Fotograf die Augenbrauen, dann begann er auch zu grinsen. »Schon klar. Und wieso? Haben sie einen Mord beobachtet? Der Junge als Einziger Zeuge? Oder das Mädchen. Die Mutter war ja wohl nur Hausfrau. Im Job kann sie also nichts gesehen haben? Keine hochbrisanten Geschäftstransaktionen oder so. Aber die Idee war gut.«

»Danke.«

»Bleibt also dabei«, meinte der Fotograf. »Er wird sie irgendwo vergraben haben. Alle drei. Und gefunden wurden sie nur noch nicht, weil zurzeit keine Pilzsaison ist. Es sind zu wenige Leute im Wald unterwegs. Vermutlich werden sie aber irgendwann doch gefunden. Wenn es wärmer wird. Von einem Hund ausgebuddelt oder so. Dann wissen wir es genau.«

Jan hatte die Hände in die Taschen gesteckt und hörte dem Gespräch des Fotografen mit Christian Freitag weiter zu. Dabei betrachtete er das Brückengeländer, sah dann hinunter zum Ufer. Eine Gruppe von drei Leuten stand um das zugedeckte Paket herum, das nahe am Wasser lag. Wegen der einheitlichen Ganzkörperschutzanzüge und der weißen Hauben, die die Ermittler der Spurensicherung trugen, konnte Jan nicht erkennen, ob es sich bei ihnen um Männer oder Frauen handelte. Einer ging in die Knie, hob die Plane leicht an, zeigte den beiden anderen Kollegen offenbar etwas. Es gab zustimmendes Nicken der anderen Tatortermittler. Dann wurde die Plane wieder über den toten Körper gelegt. Als Jan den Blick abwendete, sah er, dass Christian ihn direkt anstarrte. Und offenbar tat er dies bereits eine ganze Weile.

»Was?«, entfuhr es Jan.

Christian begann zu grinsen. »Du hast Witterung aufgenommen. Ich kann es dir ansehen.«

5

Charlotte zog ihre üblichen Bahnen durch das Becken der Harburger Schwimmhalle. Schwimmen gehörte für sie wie das Zähneputzen seit langem zum normalen Tagesablauf. Die Fotos vom Sonnenaufgang im Hafen waren gut geworden. Sie hatte zwei für einen neuen Bildband ausgewählt, den sie in Arbeit hatte, und drei weitere in den Katalog einer Bildagentur gestellt, über die sie die Nutzungsrechte von bestimmten Fotos vermarkten ließ. Zufrieden mit sich und dem Tag stieg sie nach einer halben Stunde aus dem Wasser, duschte und föhnte sich, bevor sie sich warm einpackte und ein Tuch um den Kopf wickelte. Außerhalb der Schwimmhalle wartete ein dunkler Januarabend auf sie. Ihren kleinen Wagen hatte Charlotte nicht weit entfernt auf einem Parkplatz abgestellt. Eine Laterne bewegte sich ganz leicht im Wind und warf diffuses Licht auf den Asphalt und die Autos. Jenseits eines Häuserblocks rauschte der Feierabendverkehr durch den Harburger Ring.

Die Fotografin vermisste ihren alten Renault. Der neue Wagen war besser ausgestattet und hatte eine Zentralverriegelung, die sich per Knopfdruck öffnen ließ, trotzdem fehlte es ihm an Charme. Charlotte warf ihre Tasche mit den Schwimmsachen auf die Rücksitzbank, schlug die hintere Tür zu und wollte gerade einsteigen, als sie die Gestalt sah, die nicht weit entfernt regungslos an einem Stromkasten lehnte.

Sofort dachte Charlotte an das Küchenmesser, das sie im Fach der Fahrertür liegen hatte. Neben Verbandskasten und Warndreieck, die im Kofferraum lagen, war es nach dem Kauf das erste, womit sie den Wagen ausgestattet hatte. Doch die dunkel gekleidete Gestalt bewegte sich nicht. Nervös stieg Charlotte ins Auto und drückte den Knopf, der die Türen verriegelte. Ohne zu wissen warum, blieb sie eine Weile still im Wagen sitzen. Es war unmöglich zu sagen, ob die Gestalt neben dem Stromkasten sie beobachtete oder ganz woanders hinsah. Schließlich ließ Charlotte den Motor an, setzte aus der Parklücke, und für einen Moment streifte das Scheinwerferlicht die unheimliche Figur. Sie trug Chucks, eine Jeans und eine für die Jahreszeit viel zu dünne Kapuzenjacke.

6

Jan trocknete sich etwa zur selben Zeit zu Hause ab wie Charlotte im Schwimmbad. Der nagende Wind auf der Brücke hatte ihm zugesetzt. Beinah unbemerkt war die Kälte durch seinen Mantel gekrochen. Selbst die Autoheizung, die er auf der Rückfahrt nach Harburg auf die höchste Stufe gestellt hatte, half da nicht. In der ehemaligen Kirche war er sofort nach oben in die Einliegerwohnung gegangen und hatte sich unter die Dusche gestellt. Nur ganz allmählich kam etwas Wärme zurück in seinen Körper. Widerwillig drehte er irgendwann das heiße Wasser aus und schnappte sich das Handtuch. Weil er sich so gut wie nie in der kleinen Wohnung aufhielt, waren die Heizungen auf niedrigste Stufe eingestellt. Jan wollte damit lediglich einen Frostschaden in den Rohren vermeiden und die Einstellung war nicht dazu gedacht, die Wohnung zu wärmen. So begann Jan sofort wieder zu frösteln, als er, nur in Unterwäsche, zurück zur Treppe und nach unten gehen wollte. Ohne es zu wollen, blieb er im Flur stehen. Sein Blick war auf die Abdeckfolie, die Malerrolle und eine Teleskopstange gefallen, die dort herumlagen, um dann an einem Gegenstand daneben hängen zu bleiben. Es war ein auf dem Fußboden stehender Eimer mit weiß-matter Farbe.

Lange sah Jan den Eimer an. Sehr lange. Als er endlich wieder den Blick hob und seinen Weg nach unten fortsetzte, hätte er gleich noch einmal duschen können. So kalt war ihm beim Anblick des Farbeimers geworden.

Schnell stieg er in eine Trainingshose, zog sich warme Socken an und eine Strickjacke über den an sich schon dicken Pullover. Dann füllte er einen Wasserkocher bis zur Hälfte und schaltete ihn ein. Leise begann sich das Wasser zu erwärmen, bis das entstehende Geräusch zu einem Brodeln wurde.