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Seb Calloway hat kein Interesse an Wandlern. Nachdem sein bester Freund mit einem Wandler verbunden ist, vermeidet er sogar weitestgehend den Kontakt. Denn das Risiko, plötzlich an einen Wandler gebunden zu sein, ist ihm viel zu groß. Tim Walters ist der Arzt des Regents Park Rudels. Er ist stolz auf seine Selbstbeherrschung und sein für Wandler-Verhältnisse zurückhaltendes Wesen. Und auch, wenn er sich nach einem Bund mit Seb sehnt, so ist ihm klar, dass er stets die Kontrolle über sich behalten wird. Als Seb in Gefahr gerät, müssen die beiden eine Beziehung vortäuschen, um Sebs Sicherheit zu gewährleisten. Doch bald wird daraus mehr, und Tim wird klar: Wenn er nicht mit gebrochenem Herzen enden will, muss er Seb beweisen, dass ein Bund zwischen Wandlern und Menschen nicht bedeutet, dass man sich dafür aufgeben muss. Das Regents Park Rudel Band 2
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Seitenzahl: 454
Das Regents Park Rudel
Band 2
von Annabelle Jacobs
© dead soft verlag, Mettingen 2019
http://www.deadsoft.de
© the author
Titel der Originalausgabe: Bitten by Design
Übersetzung: Mia Rusch
Cover: Irene Repp
http://www.daylinart.webnode.com
Bildrechte:
© Pat Lauzon – shutterstock.com
© Neon Shot – shutterstock.com
1. Auflage
ISBN 978-3-96089-350-9
ISBN 978-3-96089-351-6 (epub)
Wenn das, was du am wenigsten willst, das ist, was du am meisten brauchst …
Seb Calloway hat kein Interesse an Wandlern. Nachdem sein bester Freund mit einem Wandler verbunden ist, vermeidet er sogar weitestgehend den Kontakt. Denn das Risiko, plötzlich an einen Wandler gebunden zu sein, ist ihm viel zu groß.
Tim Walters ist der Arzt des Regents Park Rudels. Er ist stolz auf seine Selbstbeherrschung und sein für Wandler-Verhältnisse zurückhaltendes Wesen. Und auch, wenn er sich nach einem Bund mit Seb sehnt, so ist ihm klar, dass er stets die Kontrolle über sich behalten wird.
Als Seb in Gefahr gerät, müssen die beiden eine Beziehung vortäuschen, um Sebs Sicherheit zu gewährleisten. Doch bald wird daraus mehr, und Tim wird klar: Wenn er nicht mit gebrochenem Herzen enden will, muss er Seb beweisen, dass ein Bund zwischen Wandlern und Menschen nicht bedeutet, dass man sich dafür aufgeben muss.
Gerade als das Taxi vor Sebs Wohnhaus hielt, begann sein Handy zu klingeln. Das war sicherlich Jared, der sich erkundigen wollte, ob er gut nach Hause gekommen war. Ein rascher Blick auf das Display bestätigte Sebs Vermutung. Er hatte außerdem eine Nachricht von seiner Schwester verpasst. Während der Fahrer mit dem Taxameter beschäftigt war, öffnete er sie.
Hab ganz vergessen, dir Bescheid zu geben, dass wir gut angekommen sind. Sorry. Das Hotel ist super, das Nachtleben auch. Ich melde mich bald! Küsschen.
Seb musste unwillkürlich grinsen. Er war zwar ein bisschen neidisch, doch andererseits freute er sich, dass sie Spaß hatte.
»Das macht zweiundzwanzig fünfzig.« Der Fahrer deutete auf das Taxameter, drehte sich um und sah ihn erwartungsvoll an.
Seb schob sein Handy zurück in die Hosentasche und zog seine Brieftasche hervor. Er brauchte zwei Versuche, um die richtigen Scheine zu finden; alles drehte sich um ihn herum. Verdammter Jared. Er hatte darauf bestanden, nur noch einenDrink zu bestellen. »Hier, bitte schön.« Seb reichte dem Taxifahrer einen Zwanziger und einen Fünfer. »Der Rest ist für Sie.«
Sein Handy klingelte erneut, als er aus dem Taxi stieg. Beinahe verlor er auf dem nassen Bürgersteig das Gleichgewicht. Es hatte gerade erst zu regnen aufgehört und der Asphalt war gefährlich rutschig. Blöde britische Sommer. Gut, im Nachhinein musste er zugeben, dass er sich für die falschen Schuhe entschieden hatte. Die Sohlen hatten so gut wie kein Profil. Das hatte überhaupt nichts damit zu tun, dass er betrunken war.
»Geht es Ihnen gut?« Der Fahrer musterte Seb durch das halb geöffnete Fenster und grinste, als er zögerlich einen weiteren Schritt machte.
Seb lachte und winkte ab. »Ja, danke.«
Solange er es bis zu seiner Wohnungstür schaffte, ohne sich den Hals zu brechen, war alles gut. Er wartete lieber, bis das Taxi weg war, bevor er versuchte, die Stufen hinaufzusteigen. Es war wirklich nicht nötig, sich noch weiter zu blamieren. Wenn er schon auf seinem Hintern landete, sollte es bloß niemand mitbekommen.
Mit einem erleichterten Seufzen schloss er die Tür auf. Zum Glück musste er sich den Eingang mit niemandem teilen; er führte nur zu seiner eigenen Wohnung. Das war wohl besser so, wenn man bedachte, in welchem Zustand er war. Seb fiel mehr nach drinnen, als dass er ging. Gerade, als er die Tür hinter sich mit dem Fuß zutrat, begann sein Handy schon wieder zu klingeln.
»Shit.« Es war wieder Jared. Wahrscheinlich drehte er schon komplett durch. Seb hob nach dem dritten Klingeln ab. »Sorry«, unterbrach er Jared, bevor er etwas sagen konnte. »Ich bin jetzt zu Hause. Reg dich bitte nicht auf.«
»Oh, halt die Klappe«, schnaubte Jared. »Du weißt genau, warum ich anrufe.« Dann seufzte er.
Seb ließ sich auf den Treppenabsatz sinken und schloss die Augen. Damals war es ihm wie eine wundervolle Idee erschienen, Jareds Wohnung zu übernehmen. Doch nun, nach zwei Monaten, war er sich nicht mehr so sicher. Sie lag ziemlich nah am Revier des Rudels von Primrose Hill. Diese Tatsache machte Jared, und bis zu einem gewissen Grad auch Nathan, nervös. Der Alpha des Primrose-Rudels, Steven Newell, war nicht gerade für seine Freundlichkeit bekannt.
Jared seufzte am anderen Ende der Leitung erneut. »Warum bist du dann verdammt noch mal nicht rangegangen? Ich wollte schon zu dir fahren, um nach dir zu sehen.«
Seb verdrehte die Augen. Genau das brauchte er jetzt noch. Jared, Nathan und vielleicht sogar noch Luke, die hier auftauchten und ihm eine Szene machten. »Als du angerufen hast, bin ich gerade aus dem Taxi gestiegen. Und dann bin ich ausgerutscht. Ich bin nur betrunken, Jay, nicht in tödlicher Gefahr. Du musst nicht gleich alle zusammentrommeln und mir zu Hilfe eilen.« Er stand auf und griff rasch nach dem Treppengeländer, als der Flur sich um ihn herum drehte. »Shit. Ich muss echt ins Bett.« Oder vielleicht lieber ins Badezimmer … Das letzte Bier rumorte in seinem Magen und es fühlte sich so an, als würde es ihm gleich wieder hochkommen. »Ich rufe zurück, okay?« Äußerst vorsichtig wandte er sich um und begann die Stufen zu seiner Wohnung hinaufzusteigen. Das Handy hielt er immer noch ans Ohr gedrückt.
»Ja, okay. Aber …«, begann Jared.
Seb erklomm weiter schwankend die Stufen und wartete darauf, dass Jared endlich zum Punkt kam, damit er auflegen konnte.
Ein Geräusch ertönte. Es klang wie ein Kratzen … Und es kam eindeutig von der Eingangstür. Seb erstarrte. Plötzlich fühlte er sich um einiges nüchterner. Das Geräusch erklang erneut, diesmal lauter.
»Was war das?«, schallte Nathans Stimme aus dem Handy.
Seb starrte auf das Display. Für einen Moment war er abgelenkt von dem, was auch immer da draußen vor sich ging. »Wo ist Jared hin?«
»Sitzt neben mir. Wir haben dich auf Lautsprecher geschaltet.«
»Ich hasse es, wenn ihr das macht, ohne mir Bescheid zu sagen«, beschwerte sich Seb. »Das wisst ihr doch.«
»Ja, entschuldige. Aber im Ernst, was zur Hölle war das?«
Jared klang für Sebs Geschmack viel zu beunruhigt.
Was würde er bloß sagen, wenn er wüsste, dass das nicht das erste Mal war? Wenn er erfährt, dass ich dieses Geräusch schon öfter gehört habe?
»Nichts. Wahrscheinlich nur der Wind.«
»Wirklich? Denn Nathan sagt, das klingt wie …«
Ein tiefes Knurren erklang, so deutlich, dass Seb für einen Moment dachte, es wäre aus dem Handy gekommen. Doch ein weiteres Grollen folgte gleich darauf, dann wieder das Kratzen an der Tür, wahrscheinlich von Krallen. Seb drehte sich langsam um.
»Seb?«, zischte Jared.
»Ja?«, flüsterte er so leise wie möglich zurück. Wer auch immer da draußen war, er konnte ihn wahrscheinlich hören.
»Wir fahren jetzt zu dir.«
Gott sei Dank.
Normalerweise hätte Seb gesagt, dass das nicht nötig wäre, dass er schon zurechtkäme. Er wusste ziemlich genau, wer da draußen war. Nun ja, ganz genau wusste er es nicht, aber es waren sicher dieselben wie sonst auch. Normalerweise ignorierte er es einfach. Es passierte ja weiter nichts. Aber aus irgendeinem Grund fühlte es sich diesmal anders an. Vielleicht lag es am Alkohol oder daran, dass es schon zwei Uhr nachts war und ansonsten Totenstille draußen auf der Straße herrschte. Seb wusste es nicht. Aber er war bereit, sich einzugestehen, dass er eine Scheißangst hatte.
Wie gebannt starrte er die Eingangstür an. Er konnte einfach nicht wegsehen. Das kleine, halbkreisförmige Glasfenster oben an der Tür hatte noch nie so furchteinflößend gewirkt. Als ein Schatten für einen Moment das Fenster verdunkelte, sog Seb scharf die Luft ein, kam ins Taumeln und verlor auf den Stufen das Gleichgewicht. Hastig griff er nach dem Treppengeländer, doch seine Koordination war durch das Bier beeinträchtigt und er verfehlte es. Zumindest dämpfte der Alkohol den Schmerz, als er die Stufen hinunterfiel und unten auf dem Boden aufprallte. Das Handy hielt er immer noch fest in der Hand, mit dem Bildschirm auf dem Teppichboden. Nun war er um einiges näher an der Tür. Er ignorierte den Schmerz, hob den Kopf und lauschte. Sein Herz raste. Eine Sekunde verging, zwei, drei. Nichts.
Fuck.
Seb wartete noch einen Moment, dann richtete er sich stöhnend auf.
Aua.
Als er das Handy wieder ans Ohr hob, erklangen Jareds Schreie, nun nicht mehr durch den Teppich gedämpft.
»Seb! Sebastian! Verdammte Scheiße, Nathan, er antwortet nicht. Wir …«
»Nenn mich nicht so, wenn du willst, dass ich dir antworte.« Seb lehnte seinen Kopf gegen die Wand und konzentrierte sich auf Jareds erleichtertes Seufzen, nicht auf den pochenden Schmerz, der sich nun überall in seinem Körper ausbreitete. Darum konnte er sich später kümmern.
»Gott sei Dank.«
Seb schloss die Augen. Sicher lief Jared gerade auf und ab und zerraufte sich das Haar. Außer natürlich, sie waren schon unterwegs.
»Bist du okay? Sind sie weg?«
Seb ignorierte die erste Frage und sah wieder zur Tür. Noch immer nichts. Es fühlte sich irgendwie so an, als wäre da draußen niemand mehr. »Ja, ich glaube, sie sind weg.«
»Und bist du okay?«, wiederholte Jared.
»Bin die Treppen runtergefallen.«
»Scheiße.«
Nathan knurrte im Hintergrund. Es klang merkwürdig beruhigend. Seb wusste ja, dass Nathan auf seiner Seite war. Bei dem Gedanken musste er grinsen. Die Kälte, die von der Wand ausging, kroch langsam durch sein T-Shirt. Abrupt begann er zu zittern. Es war erst September, verdammte Scheiße. Nun, da das Adrenalin nachließ, wurde ihm alles andere mehr als deutlich bewusst. Der harte Boden, der zugige Flur, die Nachwirkungen von zu viel Bier. Er fühlte sich hundeelend und wollte sich auf keinen Fall bewegen. Andererseits konnte er die Nacht wohl kaum auf dem Treppenabsatz verbringen. Trotzdem schloss er einfach die Augen und döste langsam weg.
Nur noch eine Minute.
»Seb?« Jareds nervtötend blecherne Stimme riss ihn wieder in die Realität zurück.
»Hm?« Seb blinzelte den Schlaf weg und hob das Handy wieder ans Ohr. »Sorry.«
»Hör mal, wir sind fast da. Ich habe meinen Zweitschlüssel mit, also musst du nicht nach unten kommen.«
Seb lachte, hatte aber keine Lust, zu erklären, dass er es gar nicht bis nach oben geschafft hatte. »Ja, okay.«
Es musste länger gedauert haben, aber es fühlte sich an, als wäre kaum eine Minute vergangen, bis Jared die Tür öffnete und sich neben ihn kniete. »Jesus, Seb.« Jared strich ihm das Haar aus der Stirn.
Seb lehnte sich gegen seine Hand. »Aua«, murmelte er, als Jared eine schmerzende Stelle erwischte.
»Das ist eine fiese Beule, die du da hast.« Jared strich erneut darüber, diesmal sanfter.
Seb verzog trotzdem das Gesicht und hob die Hand, um ihn wegzuschieben. Als ihm bewusst wurde, dass auch sein Handgelenk wehtat, ließ er sie wieder sinken.
Jared fluchte leise und stand auf. »Ich rufe Tim an.«
Oh, der heiße Arzt. Zu dumm, dass er ein Wandler ist.
Seb wedelte mit der Hand, die nicht wehtat, in Jareds Richtung. »Nicht … nicht nötig. Mir geht’s … prima.«
Jared schnaubte. »Aber natürlich.«
»Bin nur betrunken.«
»Mhm.« Jared drehte sich zur immer noch offenen Eingangstür. »Nathan, jetzt komm schon her und hilf mir, ihn nach oben zu bringen.«
Seb begann erneut zu zittern, als der kalte Wind durch den Flur fegte und unter sein T-Shirt drang. Er runzelte die Stirn. Kein Wunder, dass ihm kalt war, wenn die Eingangstür offen stand.
Nathan war im nächsten Moment neben ihm und ehe Seb es sich versah, hievte er ihn vom Boden hoch.
»Ich kann selbst gehen«, murmelte er.
Sowohl Jared als auch Nathan ignorierten ihn.
»Ist die Luft da draußen rein?«, fragte Jared.
Nathan knurrte zustimmend. Er rückte Seb in seinen Armen zurecht und schaffte es, ihn die Treppen hinauf und bis zu seinem Schlafzimmer zu manövrieren. »Niemand mehr da, aber ihr Geruch ist hier überall. Ich bezweifle stark, dass sie heute das erste Mal hier waren.«
Seb stöhnte, als sie ihn aufs Bett legten. Er wusste genau, was jetzt kommen würde.
»Ja, das hast du ganz richtig erkannt«, grollte Jared. Sein Tonfall war scharf, aber er gab sich offensichtlich Mühe, Sebs Schnürsenkel sehr vorsichtig zu entknoten. »Ich habe ein Hühnchen mit dir zu rupfen.«
Als Jared Seb den linken Schuh auszog, schoss Schmerz durch seinen Knöchel. Er zischte auf.
»Fuck, entschuldige. Wir besprechen das, wenn du wieder nüchtern bist.«
Apropos …
Seb öffnete ein Lid und jaulte auf. Das helle Licht im Schlafzimmer stach in seinen Augen. Jared seufzte, stand auf und schaltete es aus. Er schaltete stattdessen die schwächere Nachttischlampe an.
»Wieso bist du nicht so betrunken wie ich?«, fragte Seb. »Wir hatten beide gleich viel.«
Jared zuckte mit den Schultern. »Vielleicht liegt es an der Wandler-DNA, die ich zurückbehalten habe. Möglich, dass es deshalb schneller wieder nachlässt.« Kurzerhand öffnete er Sebs Gürtelschnalle und dann den Knopf seiner Jeans. »Oder vielleicht liegt es daran, dass ich einen Wandler vor der Tür meines besten Freundes gehört habe, gefolgt von einem schmerzerfüllten Schrei und einem Knall, als dir das Handy aus der Hand gefallen ist.« Er zerrte ungeduldig am Reißverschluss von Sebs Hose.
Seb versetzte seiner Hand einen Klaps. »Ich habe das Handy nicht fallen lassen.« Für ihn ergab das absolut Sinn, doch Jareds Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war es wohl die falsche Antwort gewesen. »Und hör auf, mich auszuziehen, wenn dein Junge mit im Raum ist.«
Wie erwartet, funkelte Nathan ihn finster an. Er hasste es, wenn Seb ihn so nannte. Also nannte Seb ihn möglichst oft so.
»Benimm dich«, mahnte Jared, doch er bedeutete Nathan mit einer Geste sie allein zu lassen. Als er Seb die Jeans auszog, gab er sich Mühe, so vorsichtig wie möglich zu sein. Es tat trotzdem weh. »Bist du sonst noch irgendwo verletzt? Oder sind es nur der Kopf und der Knöchel?«
Seb zeigte auf seine rechte Hand. »Das Handgelenk tut ein bisschen weh.« Er ließ sich nach hinten in die Kissen sinken und schloss die Augen. Hoffentlich versuchte Jared nicht, ihm das T-Shirt auszuziehen. Er lag viel zu bequem, um sich zu bewegen.
»Seb?« Jemand rüttelte ihn sanft an der Schulter. »Hey, Sebastian?« Sein Kinn wurde sanft angehoben. »Kannst du bitte mal die Augen aufmachen?«
Mühsam öffnete Seb ein Auge. Er schaffte es kaum, sich auf den Mann vor ihm zu fokussieren. Irgendwie war alles so verschwommen. Er sah nur lockiges schwarzes Haar und blaue Augen. Als er blinzelte und das Bild etwas klarer wurde, musste er unwillkürlich lächeln. Dr. Tim Walters. Der Arzt des Rudels von Regents Park.
»Ah, du bist wieder bei uns.« Tim erwiderte sein Lächeln und ließ Sebs Kinn los, um die Beule an seiner Stirn zu inspizieren.
»Aua.«
»Ziemlich schlimm geschwollen, aber ich glaube, es ist nichts Ernstes. Im schlimmsten Fall eine ganz leichte Gehirnerschütterung.«
Der dumpfe, pochende Schmerz in Sebs Schläfen sagte etwas anderes. Er musste ein paarmal schlucken, weil sein Mund staubtrocken war. Igitt. Seine Zunge war pelzig. Angewidert schnitt er eine Grimasse.
Zum Glück reichte Tim ihm ein Glas Wasser. »Hier.«
Es war so kalt und erfrischend, dass er das Glas in vier Schlucken austrank.
So viel besser.
»Danke.« Seb reichte Tim das leere Glas und ließ sich mit einem Stöhnen zurück in die Kissen fallen. »Sicher, dass es nichts Ernstes ist? Mein Kopf bringt mich um.«
Jareds Stimme erklang vom anderen Ende des Raumes. »Das liegt vermutlich an dem ganzen Alkohol, den du getrunken hast.«
»Hmpf. Sie sind also auch noch da?«
Tim grinste ihn an. Unwillkürlich wanderte Sebs Blick zu seinen vollen Lippen. »Ja, sie haben sich Sorgen gemacht, als du einfach weggedöst bist.«
Seb sah nach unten zu Tims Hand, die auf der Bettdecke lag.
»Darf ich?« Tim hob die Decke ein Stück an, um zu zeigen, was er meinte. »Ich habe dein Handgelenk verbunden, während du geschlafen hast. Aber deinen Knöchel wollte ich mir erst ansehen, wenn du wieder wach bist.«
Seb nickte.
Vorsichtig zog Tim die Decke zurück. Seine Miene verfinsterte sich. »Oh, das sieht nicht so gut aus.«
In dem Moment, als er das sagte, flammte der Schmerz in Sebs Knöchel wieder auf, als hätte er auf die Erlaubnis des Arztes gewartet. Wimmernd setzte er sich auf und stützte sich auf dem Ellbogen ab, um einen besseren Blick zu bekommen. »Oh.« Sogar aus diesem unbequemen Winkel konnte er erkennen, dass sein Knöchel und sein Fuß geschwollen und leicht blau angelaufen waren. Er sah dabei zu, wie Tim ihn vorsichtig berührte. »Ist er gebrochen oder …? Au! Fuck!«
Sofort zog Tim seine Hand weg und setzte sich mit einem schiefen Lächeln auf. »Ich vermute es. Du musst ins Krankenhaus, um das untersuchen zu lassen.« Er zog sein Handy aus der Hosentasche.
Nathan und Jared erschienen im Türrahmen. Sie sahen sehr viel besorgter aus, als die Situation es erforderte. Nun, zumindest fand Seb das. »Hey.« Er winkte ihnen zu und schenkte ihnen ein schiefes Lächeln. Eine Welle der Übelkeit überrollte ihn. Hastig schloss er die Augen, biss die Zähne zusammen und atmete tief ein und wieder aus, um sie zurückzudrängen. Vor anderen ins Bett zu kotzen, stand nicht besonders weit oben auf der Liste der Dinge, die er heute Nacht noch tun wollte. Oder heute Morgen. Er hatte keine Ahnung, wie spät es war. Seine Haut fühlte sich klebrig und verschwitzt an und er hätte alles für einen kalten Waschlappen gegeben. Doch zumindest hatte die Übelkeit nachgelassen. Vorerst.
Als er wieder die Augen öffnete, stand Nathan immer noch in der Tür und grinste ihn an, doch Jared saß neben ihm auf dem Bett. »Ich habe dir einen Eimer gebracht für den Fall, dass du dich übergeben musst. Du bist plötzlich so blass geworden und ganz verschwitzt und …« Er warf Tim einen Blick zu. Dieser tippte immer noch auf seinem Handy herum. »Bist du dir sicher, dass es keine schwere Gehirnerschütterung ist?«
»Ziemlich sicher. Aber sie werden ihn ohnehin im Krankenhaus noch einmal darauf untersuchen. Wie viel hat er getrunken?« Tim hatte Jared angesprochen.
Seb schnaubte genervt. »Ich sitze direkt hier.«
»Entschuldige.« Leichte Röte breitete sich auf Tims Wangen aus. Er nestelte an seiner Tasche herum. »Wie viel hast du heute getrunken, Seb?«
»Ähm …« Seb versuchte, sich die genaue Anzahl der Drinks in Erinnerung zu rufen, aber allein beim Gedanken an Alkohol drehte sich ihm wieder der Magen um. »Sag du es ihm, Jay.« Seb ignorierte Nathans Lachen und versuchte stattdessen, sich auf Tim zu konzentrieren. Er war zwar ein Wandler und demnach uninteressant für Seb, aber trotzdem war er nett anzusehen. Seb mochte es immer, einen hübschen Anblick genießen zu können.
»Ich schätze, etwa vier Bier und vier Shots, also nicht so viel, aber …« Jared pikste Seb in die Schulter. »Hast du heute genug gegessen?«
»Ja, natürlich.« Er hatte am Morgen Frühstücksflocken gegessen, dann ein Sandwich zu Mittag und etwas Toast, bevor sie ausgegangen waren.
Nathan musterte ihn tadelnd, als wüsste er, dass Sebs Antwort nicht ganz der Wahrheit entsprach. Doch er sagte nichts.
»Du hast schon öfter so viel getrunken und dir ging es hinterher gut.« Jared zerzauste Sebs Haar. »Vielleicht wirst du langsam alt.«
»Du kannst mich mal«, murrte Seb. »Ich bin sechsundzwanzig! Genau wie du.«
Tim stand auf und räusperte sich. »Wir sollten jetzt wirklich ins Krankenhaus fahren, damit sie sich deinen Knöchel ansehen können. Ich bringe dich hin.«
Seb wischte sich den Schweiß von der Stirn und schnitt eine Grimasse. Eine Autofahrt klang gerade überhaupt nicht verlockend. »Können wir nicht morgen früh fahren, wenn nicht mehr die Gefahr besteht, dass ich alles vollkotze?«
»Nein, ich denke, wir sollten lieber gleich fahren.« Tim sah auf die Uhr. »Mein Bruder hat bis sieben Uhr Schicht, also müssen wir gar nicht warten.«
Seb hob eine Augenbraue. »Ist das nicht Begünstigung?«
»Doch«, sagte Tim und grinste. Seb war für einen Moment abgelenkt, als er bemerkte, wie weiß Tims Zähne waren. Ob sie manchmal spitz wurden wie Jareds? Im Moment sahen sie normal aus, soweit Seb das beurteilen konnte. Doch das ergab Sinn. Jared schien seine verbliebenen Wandler-Eigenschaften nicht sonderlich gut unter Kontrolle zu haben. Nathan konnte sich viel besser zusammenreißen. Wenn es bei Tim so ähnlich war, musste er wahrscheinlich wütend werden oder so, damit …
»Alles okay?«, fragte Tim und schnippte vor Sebs Nase mit den Fingern.
Seb zuckte zusammen. Oh Gott, er hatte die ganze Zeit Tims Mund angestarrt. Er schluckte die Verlegenheit herunter und wischte sich erneut den Schweiß von der Stirn. »Sorry, ich war für einen Moment weg. Mir geht es noch immer nicht so toll, um ehrlich zu sein.«
»Wir nehmen einen Eimer mit ins Auto.« Tim lachte, als Seb grummelte, und wandte sich dann an Jared. »Ihr beide könnt nach Hause fahren. Ich bin mit dem Auto da und es könnte eine Weile dauern, bis wir im Krankenhaus fertig sind.«
Jared öffnete den Mund, doch Seb erstickte seinen Protest im Keim. »Es ist in Ordnung, Jay. Ich bin bei Doktor Walters in guten Händen.« Aus irgendeinem Grund klang das ziemlich anzüglich. Jareds Grinsen nach zu urteilen, fand er das auch.
Tim lächelte. »Nenn mich bitte Tim. ’Doktor Walters’ lässt mich uralt klingen.«
»Okay. Tim wird da sein«, fügte Seb an Jared gewandt hinzu. »Es ist nicht nötig, dass ihr mitkommt.«
»Aber wir müssen noch darüber reden, was heute Nacht passiert ist. Jesus, Seb, da waren Wandler vor deiner …«
Seb seufzte. Er gab es nur ungern zu, aber sein Kopf tat weh. Nein, eigentlich tat ihm alles weh und er wollte die Fahrt zum Krankenhaus schnell hinter sich bringen. Wenn Jared und Nathan mitkämen, würden sie ihn sicher endlos lange ausfragen und das schaffte er einfach nicht. Nicht heute. »Hör mal.« Seine Stimme klang erstaunlich fest, wenn man bedachte, wie er sich fühlte. »Sie waren nicht zum ersten Mal hier.« Gut, sie waren noch nie länger direkt vor seiner Tür geblieben, aber das war ja jetzt nicht so wichtig. »Es ist noch nie irgendetwas passiert. Ich glaube, sie wollen mich nur ab und zu daran erinnern, dass sie in der Nähe sind.«
Jareds Gesichtsausdruck wechselte innerhalb einer Sekunde von sorgenvoll zu stinkwütend. Wenn Seb es genau bedachte, hätte er vielleicht doch lieber die Klappe halten sollen. Seine geistige Verfassung war im Moment nicht die beste.
»Dann ist es ja klar.« Jared sah Seb an, dann Nathan, dann wieder Seb. »Auf keinen Fall wirst du allein ins Krankenhaus fahren!«
»Jared …« In Nathans Tonfall schwang eine eindeutige Warnung mit, obwohl Seb nicht ganz klar war, wieso.
Entweder merkte Jared es nicht oder es war ihm egal. Jedenfalls fuhr er fort. »Ich kann nicht glauben, dass du mir das bisher nicht gesagt hast!«
»Es ist nichts …«
»Doch, natürlich ist es das!« Jared zerraufte sich das Haar und schloss die Augen, als müsste er seine Wut im Zaum halten. »Ist dir überhaupt klar, dass du in großer Gefahr sein könntest?«
Nathan versuchte es erneut. »Ich glaube nicht, dass sie ihm tatsächlich irgendetwas antun würden, Jay. Die Folgen wären zu …«
»Die Folgen sind mir scheißegal, Nathan! Da könnte Seb schon tot sein. Und er wird jetzt ganz sicher nicht allein diese Wohnung verlassen, wenn ihn niemand beschützt. Gott weiß, was da draußen auf ihn wartet. Es ist nicht sicher!«
Obwohl ihm immer noch der Kopf schwirrte, war Seb klar, dass Jared überreagierte. Ja, er machte sich öfter Sorgen um ihn, aber nicht so. Nicht so überbehütend und irrational.
Ein tiefes Knurren zerriss die folgende Stille. Es fuhr Seb bis ins Mark.
»Er wird nicht allein sein.« Tim lehnte an der Wand. Seine Haltung war starr, seine Hände waren zu Fäusten geballt. Er hatte die Lippen verzogen und Seb bemerkte interessiert, dass seine Zähne tatsächlich spitz wurden wie Jareds.
Immer, wenn Seb dem Doktor bei Jared über den Weg gelaufen war, hatte er freundlich gewirkt, fröhlich. Tatsächlich zeigte er fast nie eines der Merkmale, die Seb mit Wandlern assoziierte: Aggression, Arroganz, dieses ganze besitzergreifende Getue. Seb vergaß manchmal fast, dass Tim ein Wandler war. Er hatte ihn noch nie so gesehen wie jetzt: förmlich sprühend vor Kraft und Energie, selbstsicher und ziemlich wütend. Es war fast erschreckend, wie anders Tim plötzlich war. Vielleicht lag es am Alkohol, aber irgendwie fand Seb das ziemlich heiß. Sein Schwanz regte sich in seinen Boxershorts. Hastig rückte er die Decke zurecht für den Fall, dass man etwas sehen konnte. Die Bewegung schickte wieder Schmerz durch sein Handgelenk und er sog scharf die Luft ein. Das Gute daran war, dass sein beginnender Ständer wieder nachließ.
Jared riss den Mund auf. Er wirkte von den Ereignissen genauso schockiert wie Seb. Anscheinend kannte er diese Seite an Tim auch nicht. Nathan hingegen wirkte fast resigniert, als hätte er gewusst, was passieren würde.
Tim streckte die Finger aus. Ein wenig Blut an seinen Handflächen zeigte, dass er auch die Krallen ausgefahren hatte.
Oh, er ist anscheinend wirklich ziemlich wütend.
Tim warf Nathan einen schiefen Blick zu und musterte seinen durchtrainierten Körper von Kopf bis Fuß. »Ich mag zwar nicht so bedrohlich aussehen wie andere …«, begann er. Im Vergleich mit Nathan war Tim nicht so groß und breit gebaut, aber er maß sicher einen Meter achtzig und Seb hätte viel Geld darauf verwettet, dass sich unter seinem engen T-Shirt nur Muskeln verbargen. »… aber ich kann dir versichern, dass ich Sebastian so gut beschützen kann wie jeder andere im Rudel.«
Oh.Seb hasste es, wenn jemand seinen vollen Namen benutzte. Normalerweise.Aber etwas an der Art, wie Tim ihn ausgesprochen hatte, löste ein sehr merkwürdiges Durcheinander in ihm aus. Und diesmal hatte es eindeutig nichts mit dem Bier zu tun. Vielleicht lag es daran, dass Tims Stimme so rau geklungen hatte, tiefer als sonst und durch die Fangzähne auch etwas undeutlich. Was auch immer es war, Seb mochte es. Er verspürte nicht das Bedürfnis, Tim zu korrigieren.
Jared hob nur eine Augenbraue, sagte aber nichts.
Während Nathan und Jared anscheinend ein stummes, mentales Gespräch führten, ließ Seb seinen Blick über Tims breite Schultern wandern. Wenn er sich bewegte, dehnte sich der Stoff seines T-Shirts an verschiedenen Stellen und schien noch enger zu werden, wie zum Beispiel jetzt, als er sich aufrichtete und die Hände ausstreckte. Ja, Seb hatte keinen Zweifel daran, dass Tim ihn beschützen konnte. Sein Blick wanderte weiter nach oben zu Tims Gesicht. Im ersten Moment sah er nur blaue Augen, volle Lippen und seinen breiten Kiefer, im nächsten Moment war Tim durch und durch Wandler. Scharfe Fangzähne, Raubtierblick …
Verdammte Scheiße.
Seb verschlug es den Atem. In diesem Moment vergaß er ganz, dass ihm alles wehtat. Doch bevor er irgendetwas sagen konnte, war Tim wieder normal.
»War das wirklich nötig?«, ächzte Nathan. Seine Stimme war tiefer als normalerweise.
Seb entging nicht, dass er sich enger an Jared drängte.
Tim zuckte ungerührt mit den Schultern. »Anscheinend schon.« Er stand hoch aufgerichtet da, die Schultern nach hinten gezogen und das Kinn angehoben. Jared hatte ihn anscheinend ziemlich verärgert. »Ja, ich bin der Arzt des Rudels. Und, ja, das heißt, dass ich normalerweise Leute heile, statt jemanden zu verletzen. Aber ich bin immer noch in erster Linie Mitglied des Rudels. Als solches werde ich jeden aus dem Rudel mit meinem Leben verteidigen. Es war unglaublich beleidigend, dass du etwas anderes impliziert hast, Jared. Und das ist noch stark untertrieben.«
Jared hatte noch nie gewusst, wann es besser war, die Klappe zu halten. »Aber Seb gehört nicht zum Rudel«, platzte es aus ihm heraus.
Seb zuckte zusammen. Irgendwie hatte ihn das gerade verletzt. Er wusste nicht einmal, wieso, denn Jared hatte recht: Er gehörte nicht dazu.
Nathan schnaubte.
Tims Lippen zuckten, als würde er ein Lächeln zurückhalten. »Du hast unserem Alpha doch gesagt, dass Seb für dich wie deine Familie ist. Oder liege ich da falsch?«
Jared lief rot an und sah zu Boden.
Seb grinste, als sich ein warmes Gefühl in seiner Brust ausbreitete. Es ersetzte den Schmerz, den er gerade noch verspürt hatte.
»Ja«, sagte Jared so leise, dass Seb ihn kaum hören konnte.
»Nun, da du Nathans Gefährte bist, steht deine Familie automatisch auch unter dem Schutz des Rudels von Regents Park«, sagte Tim langsam, als würde er es einem Kind erklären.
Sebs Grinsen wurde breiter. Jared tat gerne so, als wüsste er inzwischen alles über Wandler, doch das hatte er offensichtlich nicht gewusst.
»Warum hast du mir das nicht gesagt?«, fragte Jared. Er starrte Nathan finster an und versetzte ihm einen Klaps auf den Arm. »Verdammte Scheiße.«
Nathan starrte zurück und zuckte nicht einmal zusammen. »Ich dachte, das wäre klar.«
»Nun, mir war es nicht klar.« Jared seufzte und rieb sich über die Augen. Seine Müdigkeit war ansteckend und Seb konnte ein Gähnen nicht unterdrücken. Endlich ließ Jared die Schultern sinken. Er setzte sich aufs Bett, wobei er darauf achtete, Sebs verletzten Fuß nicht zu berühren. »Es tut mir leid, Tim. Ich wollte nicht implizieren, dass du Seb nicht beschützen kannst. Und ich weiß, dass ich überreagiert habe. Aber ich habe auch Erfahrung aus erster Hand, wenn es darum geht, was Wandler Menschen antun können.« Er rieb sich die Schulter.
Sofort fühlte Seb sich schuldig. Wie hatte er das nur vergessen können? Es war völlig logisch, dass Jared so reagiert hatte.
»Der Gedanke, dass ein Wandler oder mehrere aus einem anderen Rudel Seb belästigen, jagt mir eine Scheißangst ein.«
Tims Körperhaltung änderte sich innerhalb einer Sekunde. Mit einem kurzen Nicken lehnte er sich wieder gegen die Wand hinter ihm. »Ich verstehe. Aber du kannst mir vertrauen. Ich passe auf ihn auf.«
Seb lag da und fühlte sich wie die Prinzessin in einem Märchen, die vor irgendetwas gerettet werden musste. Ein Funken Ärger erwachte in seiner Brust. »Leute, noch einmal: Ichbin direkt hier. Ich mag zwar keine Wandler-DNA in meinem Blut haben, aber ihr könnt nicht einfach über mich entscheiden, als würde meine Meinung nicht zählen. Es geht hier schließlich ausnahmsweise um mich.« Das Funkeln in Tims Augen, als er Sebs Blick erwiderte, war viel zu anziehend. Seb sah rasch weg und konzentrierte sich auf den Verband um seinen Arm, als Tim zu sprechen begann.
»Also, Seb, ist es für dich in Ordnung, wenn ich dich ins Krankenhaus fahre? Oder willst du, dass Jared und Nathan auch mitkommen?«
»Es ist sinnlos, wenn wir alle fahren«, sagte Seb, ohne aufzusehen. Schließlich sah er doch auf und schenkte Jared das beste Lächeln, das er sich abringen konnte. »Fahrt nach Hause. Ich rufe später an.«
»Das will ich dir auch geraten haben«, grummelte Jared. »Und diese Diskussion ist noch lange nicht zu Ende. Du musst mir alles erzählen, was …«
Seb hob die Hand. »Ja, ja, schon gut. Aber nicht jetzt, okay?«
»Wundervoll. Sehr schön, dass wir das klären konnten.« Tim klatschte in die Hände. Seb hatte irgendwie das Gefühl, dass er Nathan und Jared gerne aus der Wohnung gescheucht hätte, aber er tat nichts dergleichen. Stattdessen zeigte er auf Sebs nackte Beine. »Ziehen wir dir was an, dann können wir losfahren.«
»Warte, ich helfe dir.« Tim schlang einen Arm um Sebs Taille und zog ihn hoch.
Seb lachte. »Ich vergesse immer, wie stark ihr Wandler seid.«
Tim lächelte zurück und stützte Seb, als er zur Schlafzimmertür humpelte. Nun, da Seb ihm so nahe war, war es unmöglich, seinen Geruch nicht einzuatmen. Obwohl er immer noch den Alkohol wittern konnte, den Seb vorher getrunken hatte, lag darunter Sebs Duft. Er sog ihn tief in seine Lungen. Eigentlich sollte er das nicht tun. Jared hatte schon öfter unmissverständlich klargestellt, dass Seb nicht an Wandlern interessiert war aus Gründen, die Tim nicht kannte. Aber er konnte sich nicht beherrschen, Seb roch einfach zu gut.
Jared und Nathan waren vor fünf Minuten endlich gegangen. Wenn Nathan noch hier gewesen wäre, hätte er ihm jetzt zweifellos einen warnenden Blick zugeworfen. Seb bemerkte wohl nicht, dass Tim gerade an ihm schnupperte, aber Nathan hätte es bemerkt. Jared vielleicht auch. Rasch wandte er den Kopf von Sebs Hals ab, um der Versuchung zu entgehen. Dann führte er ihn aus dem Schlafzimmer.
Am Treppenabsatz blieben sie stehen. Seb lehnte an seiner Seite. Er hatte seinen unverletzten Arm etwas ungelenk um Tims Schulter geschlungen und seinen Fuß von sich gestreckt. Die Treppe war nicht breit genug, um nebeneinander hinunterzugehen.
Tim seufzte. »Ich könnte dich hinuntertragen.« Er erwartete, dass Seb eine Grimasse schneiden oder ihm antworten würde, dass er sich diesen Vorschlag sonst wo hinstecken konnte. Aber er sagte nichts. »Sebastian?«, fragte Tim unsicher.
»Das sieht echt weit aus bis nach unten und mein Knöchel bringt mich um …« Seb seufzte entmutigt. Sein warmer Atem strich über Tims Hals. Fast hätte er zu zittern begonnen, konnte es aber in letzter Sekunde noch unterdrücken. Jesus, er musste sich zusammenreißen. Sebs Verletzungen und die Tatsache, dass er zum Rudel gehörte, denn das tat er, egal, was Jared und Seb dachten, weckten Tims Beschützerinstinkt. Der Gedanke, ihn die Treppe hinunterzutragen, war so verlockend, dass er ihn am liebsten gleich hochheben würde, ohne überhaupt nach seiner Zustimmung zu fragen. Aber er hielt still und wartete, ob Seb einverstanden war.
»Gott, also schön, mach schon.« Seb zeigte mit seiner verbundenen Hand nach unten. »Aber könnten wir das bitte niemandem sagen? Wenn Nathan das herausfindet, vergisst er das nie wieder.«
Ich auch nicht.
»Das bleibt unser kleines Geheimnis.«
Seb schenkte ihm ein ehrliches, breites Lächeln. »Danke.«
Tim lächelte zurück und versuchte, nicht allzu eifrig zu wirken, als er sich nach vorne beugte, um seinen anderen Arm unter Sebs Knie zu legen. Mühelos hob er ihn hoch und korrigierte seinen Griff, bis Seb sicher in seinen Armen lag und sich an Tims Nacken festhielt. Seb sah etwas ängstlich drein und Tim lachte leise. »Ich werde dich nicht fallen lassen, keine Angst.«
»Ich weiß. Es ist nur ziemlich ungewohnt.« Seb sah hinunter auf Tims Hände, die er um ihn geschlungen hatte. »Es ist komisch und ich fühle mich wie die Heldin in einem Schnulzenroman.«
Tim lachte laut auf. Er dachte nicht wirklich darüber nach, als er grinste und flüsterte: »Willst du damit implizieren, dass ich gewisse Hintergedanken hege?« Sein Blick fiel auf Seb, der, statt zu antworten, die Augenbrauen hob. Schon wurden Tims Wangen heiß, doch bevor er zurückrudern konnte, deutete Seb auf seinen Knöchel.
»Nein, ich bin heute nicht in der Stimmung für so etwas.«
Peinliches Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, doch Tim sprach beherzt weiter. Er wollte unbedingt wieder zurück zu dem zwanglosen Gespräch, das sie noch vor ein paar Minuten geführt hatten. »Zum Glück kenne ich jemanden, der dir da weiterhelfen kann.«
Sie hatten den Treppenabsatz erreicht. Vorsichtig stellte Tim Seb auf seinem gesunden Fuß ab, stützte ihn aber weiterhin.
»Dein Bruder, ja?«
Tim nickte. »Ja, David.« Er wollte gerade mehr über David erzählen, als ihm der schwarze Eimer neben der Eingangstür auffiel. »Wie fühlst du dich jetzt?«, fragte er und berührte den Eimer mit der Schuhspitze. »Glaubst du, wir werden den bei der Fahrt brauchen?«
Seb schien unschlüssig zu sein. »Ich will nicht wirklich vor deinen Augen in einen Eimer kotzen.« Er fuhr sich über den Bauch und seine Schultern sackten nach unten. »Aber ich fühle mich immer noch scheiße und das ist wohl besser, als mich auf deine Autositze zu übergeben.« Den nächsten Satz murmelte er nur, während er zu Boden sah. »Ja, wir sollten ihn wohl mitnehmen.«
Tim konnte gut nachvollziehen, wie er sich fühlen musste. Statt eine große Sache daraus zu machen, hob er den Eimer und reichte ihn Seb. »Kannst du den halten, während ich die Tür aufmache?«
Seb nahm ihn und sah zögerlich in Richtung Tür.
Es brauchte ein paar Sekunden, bis Tim verstand. »Es sind keine anderen Wandler in der Nähe. Versprochen.« Er griff unter Sebs Kinn und hob es leicht an, sodass er ihm in die Augen sehen konnte. »Ich habe es ernst gemeint, als ich das vorhin gesagt habe. Ich werde auf dich aufpassen.«
Seb so nahe zu sein, ließ Tims Sinne verrücktspielen. Sogar in der dunklen Eingangshalle konnte er Sebs Augenfarbe erkennen: blaugrün wie das Meer. Er sah Tim so intensiv an, dass es ihm den Atem raubte. Sebs Geruch umhüllte ihn wie eine Wolke. Es wäre so einfach, sich nach vorne zu beugen und …
Jesus.
Abrupt schloss Tim die Augen, ließ Seb los und biss die Zähne zusammen. »Komm, gehen wir.«
Tims Auto, ein älterer Honda CVR, parkte nur ein Stück weiter die Straße runter. Dennoch zitterte Seb, als sie es erreichten. »Scheiße, sorry«, sagte Tim. »Ich habe gar nicht daran gedacht, deinen Mantel mitzunehmen.«
Als Wandler machte ihm die Kälte fast nichts aus und er hatte es einfach vergessen. Er war zu abgelenkt gewesen, um an Sebs Wohlergehen zu denken. Dabei war er doch Arzt, sowohl für Wandler als auch für Menschen. Er hätte es besser wissen sollen.
Seb zuckte mit den Schultern, als er sich ins Auto hievte. »Das ist doch nicht deine Schuld. Wer hätte gedacht, dass ich im September einen brauchen würde? Ich werde es überleben.«
Tim schloss die Beifahrertür und eilte um das Auto herum zur Fahrerseite. Er wollte so schnell wie möglich den Motor starten, damit die Heizung zu laufen begann. Als er zu Seb hinübersah, hatte dieser den Eimer auf seinem Schoß platziert, bereit für den Einsatz.
Seb fing seinen Blick auf und schnitt eine Grimasse. »Ich behalte den hier lieber gleich in Reichweite. Nur zur Sicherheit.« Die ganze Sache schien ihm peinlich zu sein, denn er wandte sich ab und sah aus dem Fenster.
Tim parkte aus und fuhr los.
Das Krankenhaus lag etwa zwanzig Minuten Autofahrt entfernt. Nach etwa zehn Minuten stöhnte Seb und lehnte seinen Kopf gegen die Kopfstütze.
»Bist du okay?« Tim musterte ihn flüchtig von der Seite. Er war blass und kleine Schweißtropfen sammelten sich auf seiner Stirn.
»Nicht wirklich«, antwortete Seb durch zusammengebissene Zähne. Er klammerte sich an dem Eimer fest. »Kannst du vielleicht Musik anmachen oder irgendetwas erzählen?« Er atmete angestrengt durch den Mund. Seine Fingerknöchel liefen weiß an. »Dann musst du nicht mit anhören, wie …« Im nächsten Moment beugte er sich über den Eimer und übergab sich.
Tim drehte das Radio laut auf und konzentrierte sich auf die Straße. Die ganze Sache war Seb sicher schon peinlich genug, auch ohne dass er zusah. Er war es gewohnt, dass Leute sich übergaben. Aber an den Geruch würde er sich nie gewöhnen. Er öffnete die Fenster auf beiden Seiten einen Spalt, damit frische Luft reinkam.
Seb stöhnte erneut, aber zum Glück ließ er sich dann zurück in seinen Sitz sinken. Offensichtlich war es vorbei. »Fuck«, sagte er. »Das tut mir so leid.«
Tim sah aus dem Augenwinkel zu ihm rüber. Seine Wangen hatten wieder ein bisschen Farbe bekommen. Doch es war schwer zu sagen, ob er sich besser fühlte oder ob es ihm einfach peinlich war.
Wahrscheinlich ein bisschen von beidem.
Seb drehte den Kopf zu dem leicht geöffneten Fenster und seufzte.
»Wie fühlst du dich jetzt?«, fragte Tim. Er bog rechts ab und sah schon das große Krankenhausgebäude vor ihnen. »Besser?«
»Viel besser. Das kannst du dir gar nicht vorstellen.« Seb rutschte in seinem Sitz hin und her. »Sorry wegen des Gestanks. Du kannst das Fenster noch weiter aufmachen, wenn du willst. Kalte Luft ist mir lieber als der Geruch von Kotze.«
Tim öffnete das Fenster noch etwas weiter. Die frische Luft tat unglaublich gut. »Wir sind sowieso gleich da.«
Seb richtete sich ein wenig auf und wischte sich das Gesicht mit dem Ärmel ab. »Hast du zufälligerweise irgendetwas zu trinken da? Wasser oder Cola oder so? Ich habe einen furchtbaren Geschmack im Mund.«
»Versuch es mal im Handschuhfach. Ich glaube, da könnte eine Flasche Wasser drin sein. Ich habe möglicherweise schon etwas davon getrunken, aber du kannst gerne den Rest haben. Das heißt, wenn es dich nicht stört.«
Seb gab eine Mischung aus Schnauben und Lachen von sich. »Nein, das stört mich nicht.« Er kramte im Handschuhfach herum und hielt schließlich eine halbvolle Flasche Wasser und eine Packung Pfefferminzbonbons hoch. »Jackpot.« Nachdem er das Wasser hinuntergestürzt hatte, schob er sich gleich ein paar Bonbons in den Mund und bot Tim auch eines an. »Hoffentlich rieche ich nicht allzu schlimm, wenn ich gleich deinen Bruder kennenlerne.« Er stellte den Eimer zu seinen Füßen ab. »Aber je schneller wir das hier loswerden, desto besser. Ich muss mich noch mal entschuldigen.«
Tim zuckte mit den Schultern. »Es ist okay, wirklich.« Er hatte schon viel Schlimmeres gesehen als das. Der Arzt eines Wandlerrudels zu sein, war nichts für Zartbesaitete. »Und mach dir keine Sorgen wegen David, er ist immerhin Krankenpfleger in der Notaufnahme.« Nachdem er auf dem Krankenhausparkplatz geparkt hatte, stellte er den Motor ab und lächelte. »Seine Freitagabende sind voll mit betrunkenen Idioten, die überall hinkotzen.«
Seb riss den Mund auf. Tim grinste breit, als er ihn halb wütend, halb amüsiert anfunkelte. »Ach, lass mich doch«, sagte Seb schließlich und lachte. »Zu meiner Verteidigung: Als ich all dieses Bier getrunken habe, dachte ich, dass ich jetzt schon längst im Bett liegen würde, um meinen Rausch auszuschlafen. Nicht, dass ich immer noch wach bin und quer durch London fahre.«
»Nun ja, jetzt sind wir da.« Tim zog sein Handy heraus und schickte David eine kurze Nachricht, um ihm Bescheid zu geben, dass sie angekommen waren. »Los, lass uns gehen.« Tim stieg aus und umrundete rasch das Auto, um Seb zu helfen. Er legte einen Arm um seine Taille und schaffte es irgendwie, ihn ohne viel Mühe aus dem Auto zu hieven.
Seb lehnte sich an ihn und atmete tief durch. »Gott, die frische Luft riecht so gut.«
Tim brummte zustimmend, obwohl seine Nase so nah an Sebs Hals war, dass er nur ihn riechen konnte.
»Ist es weit bis zur Notaufnahme?« Seb sah sich um und suchte wohl nach einem Wegweiser.
»Der Empfang ist da vorne in dem Gebäude, aber ich warte auf …« Tim zeigte auf die Doppeltür zu ihrer Linken. »Auf ihn.«
Sein Bruder trat im nächsten Moment aus der Tür. Er trug seinen Kittel und schob einen Rollstuhl vor sich her. Als er Tim erblickte, grinste er breit. »Wen hast du mir mitgebracht?«, fragte er.
»Das ist Sebastian Calloway, menschliches Mitglied des Rudels von Regents Park.« Tim wandte sich an Seb. »Seb, das ist mein Bruder David.«
David nickte. »Menschliches Mitglied, hm? Angestellter oder Partner?«
Seb sah Tim verwirrt an.
Tim setzte zu einer Erklärung an. »Menschliche Mitarbeiter arbeiten normalerweise für ein Unternehmen, das dem Rudel gehört, oder sie sind mit einem Rudelmitglied zusammen.«
»Wie ist das bei dir?«, fragte David und parkte den Rollstuhl vor Seb. »Ich schätze mal, der ist für dich?«
»Ja. Danke.« Seb humpelte vorwärts, hielt sich an der Armlehne des Rollstuhls fest und ließ sich darauf sinken. »Und ich bin keines von beidem.«
»Aha?« David hob eine Augenbraue, also mischte sich Tim ein, um die Sache aufzuklären.
»Seb ist Jareds bester Freund.« Würde David eins und eins zusammenzählen? Er hoffte, nicht, aber …
David begann wieder zu lächeln und warf Tim einen flüchtigen Blick zu. »Bist du derjenige, der in Jareds alter Wohnung wohnt?« Als Seb nickte, wurde Davids Lächeln noch breiter. »Aha, also bist du dieser Freund.«
»Ähm … vielleicht?« Seb sah Tim fragend an.
Tim versuchte angestrengt, nicht rot anzulaufen.
Verdammter David.
Bevor David noch irgendetwas sagen konnte, fischte Tim den Eimer aus seinem Auto und hielt ihn David hin. »Hier. Würdest du das bitte für mich entsorgen?« Er lächelte und zeigte dabei all seine Zähne. Hoffentlich würde David verstehen, dass er verdammt noch mal die Klappe halten sollte. Warum hatte er es für eine gute Idee gehalten, seinem Bruder alles über Seb zu erzählen?
Weil ich dachte, dass sich die beiden niemals begegnen würden. Deshalb.
David nahm den Eimer und knurrte leise. »Wenn du mich so nett fragst«, schnappte er.
Seb zuckte erschrocken zusammen.
Als David Sebs Reaktion bemerkte, wurde sein Tonfall sanfter. »Ups, entschuldige. Wollte dich nicht erschrecken. Ich vergesse immer, wie gereizt mein Bruder wird, wenn er müde ist.« David bedeutete Tim den Rollstuhl zu schieben und schlug den Weg in Richtung Tür ein. »Komm, es ist kalt hier draußen. Seb bibbert schon.«
Scheiße, das hatte Tim völlig vergessen. Seb hatte ja keinen Mantel. Er verfluchte sich innerlich, griff nach dem Rollstuhl und folgte David eilig zur Tür. Sie öffnete sich automatisch.
Statt den Wegweisern zur Notaufnahme zu folgen, führte David sie einen anderen Gang entlang.
»Wo wollen wir hin?« Seb drehte sich in seinem Sitz halb um und sah Tim an. »Der Empfang ist da lang.« Er deutete mit dem Daumen über seine Schulter.
»Wandler haben einen eigenen Flügel im Krankenhaus.« Tim wurde langsamer und ließ David ein bisschen vorausgehen. Er kannte sich inzwischen aus, nachdem er schon so viele Male hier gewesen war.
Seb runzelte die Stirn. »Ich dachte, Wandler können nicht krank werden. Und nur für den Fall, dass du es vergessen hast: Ich bin kein Wandler.«
»Aber du gehörst zum Rudel.« Tim lächelte ein paar Krankenschwestern an, die vorbeigingen und ihn begrüßten. »Und, nein, Wandler werden normalerweise nicht krank. Aber es gibt dort eine Geburtenstation. Und manchmal passiert irgendetwas Ernstes, das länger zum Heilen braucht. Etwas, bei dem ein bisschen Hilfe nötig ist.«
»So wie bei Nathan, nach dem Kampf mit dem feindlichen Rudel?«
»Ja, so etwas meine ich.« Tim erspähte David, der am Ende des Gangs an einer Tür lehnte. »Und sie behandeln hier auch menschliche Rudelmitglieder.«
»Bekommen die dann eine bevorzugte Behandlung? Müssen sie nicht so lange warten wie die Normalsterblichen?«
Tim gab eine Mischung aus Schnauben und Lachen von sich und lehnte sich nach unten, um Seb ins Ohr zu flüstern. »Du kannst weiterhin versuchen, es zu ignorieren, aber es ist Fakt, du gehörst zum Rudel. Versuch doch einfach, das als etwas Gutes zu sehen, zumindest während wir hier sind.«
David hob eine Augenbraue, als sie zu ihm aufgeschlossen hatten. Er hatte wahrscheinlich jedes Wort verstanden. Hoffentlich hatte es sonst niemand mitbekommen. Die Leute tratschten gerne. Und wenn Cam, der Alpha des Rudels von Regents Park, von Sebs fehlendem Enthusiasmus hörte, wäre er wahrscheinlich nicht begeistert.
David bedeutete Tim den Rollstuhl in den Raum zu schieben. Erst dann sprach er. »Wir haben hier einen speziellen Flügel, sodass jeder, der hierherkommt, die bestmögliche Behandlung kriegt. Und jeder soll hier sicher sein. Egal, ob Wandler oder Mensch.«
»Sicher?« Seb sah Tim an, dann David, dann wieder Tim.
David seufzte. »Ich bin mir sicher, du weißt, dass nicht jeder Wandler menschliche Rudelmitglieder mag. Würdest du gerne von so jemandem behandelt werden?«
Seb zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich nicht.«
»Wie auch immer.« David zeigte auf die Ecke des Raumes, wo Sebs Eimer stand, nun sauber. Zum Glück. »Wenn dir immer noch schlecht ist, dann nimm dir den Eimer. Oder das hier.« Er hob eine Art Tüte aus Karton hoch und wedelte damit unter Sebs Nase herum.
»Nein, mir geht’s gut, danke.«
David lachte, weil Seb plötzlich rot anlief, und hob die Hände. »Nun ja, für den Fall hast du alles. Jemand kommt in ein paar Minuten. Ich muss kurz weg und etwas erledigen, bin gleich zurück.« Er winkte und eilte zur Tür hinaus.
Tim blieb allein mit Seb zurück. Nun, da nicht mehr die Notwendigkeit bestand, Seb schnellstmöglich ins Krankenhaus zu bringen, wurde Tim alles an Sebs Anwesenheit unangenehm bewusst. Sein Geruch, sein Atem, die Art, wie sein Blick alle paar Sekunden auf ihn fiel. »Also«, begann er. Dann wurde ihm klar, dass er nicht wusste, was er eigentlich sagen sollte.
Seb schnaubte. »Also?« Er erwiderte für einen Moment Tims Blick, dann lehnte er sich mit einem Seufzen in seinem Rollstuhl zurück und schloss die Augen.
Tim musterte Seb und bemerkte, dass er sein Handgelenk umklammert hielt. Ach ja, deshalb waren sie hier. »Diese Wandler, die heute vor deiner Wohnung waren … Waren die von der Blümchenbande?«
Seb verzog die Lippen zu einem schwachen Lächeln. »Glaube, schon.« Er tippte sich an die Nase. »Für mich ist das nicht so leicht zu sagen, aber Nathan weiß es sicher genauer.« Er sah auf. »Hast du den Geruch nicht erkannt?«
»Nein. Aber ich habe auch nicht so viel mit anderen Rudeln zu tun wie Nathan. Irgendwie kam mir der Geruch bekannt vor, aber ich kann nicht so gut zwischen den Rudeln unterscheiden wie er und die aus den anderen Einheiten.« Und er hatte auch nicht lange genug im Flur gestanden, um den Geruch ausreichend zu wittern, denn er war zu beschäftigt damit gewesen, so schnell wie möglich zu Seb zu gelangen. »Wie lange machen die von der Blümchenbande das schon?«
»Heute Nacht waren sie zum ersten Mal an der Tür. Normalerweise sehe ich nur ihren Van mit ihrem Logo, den sie irgendwo geparkt haben. Manchmal steigen sie aus und lungern vor dem Auto herum, sodass ich sie von meinem Fenster aus sehen kann.« Er hielt inne und knabberte an seiner Unterlippe.
Tim lehnte sich nach vorn. »Ist das alles?«
Seb musterte ihn für einen Moment eingehend, als würde er überlegen, ob er weitersprechen sollte. »Ich bin mir nicht ganz sicher«, fügte er schließlich hinzu. »Aber ein paarmal hatte ich das Gefühl, beobachtet zu werden. Vielleicht. Fuck, ich weiß es nicht. Vielleicht bilde ich es mir auch nur ein.« Er rieb sich mit der gesunden Hand über das Gesicht und gähnte.
Tim musste unwillkürlich auch gähnen.
Gott, bin ich müde.
Ein kurzer Blick auf sein Handy verriet ihm, warum: Es war fünf Uhr morgens. »Hast du es Jared oder Nathan gesagt?«
Seb schüttelte den Kopf.
»Warum nicht?«
»Du weißt, wieso.« Seb seufzte erneut. »Jared macht sich schon genug Sorgen nach dem ganzen Mist mit dem feindlichen Rudel. Du hast ihn ja vorhin erlebt.«
»Ja, habe ich.«
Tim glaubte, dass Jared guten Grund dazu hatte, sich Sorgen zu machen. Die Beziehung zum Rudel von Primrose Hill war derzeit nicht gut, und das war noch stark untertrieben. Es gab viel böses Blut. Das lag daran, dass Nathan nicht bestraft worden war, nachdem er Jared gebissen und es geheim gehalten hatte. Er lebte noch und war auch nicht aus dem Rudel geworfen worden. Diese Tatsache störte Newell gewaltig. Mitglieder beider Rudel hatten mitbekommen, wie wütend Newell darüber war. Er wollte Nathan unbedingt loswerden. Doch er konnte nicht die Behörden informieren oder sonst irgendwelche Forderungen an Cam stellen, weil er Cam als Alpha sein Wort gegeben hatte. Das hieß aber nicht, dass er damit glücklich sein musste. So gerne Tim Seb all das mitgeteilt hätte, es war nicht seine Aufgabe. Ja, Seb war in gewissem Sinne Teil des Rudels, trotzdem gingen ihn die Angelegenheiten des Rudels nichts an. Andererseits musste Seb verstehen, dass die Situation viel ernster war, als er dachte. Tim musste irgendetwas sagen. Er wusste nicht, was beim Treffen zwischen Cam und seinen Betas besprochen worden war. Doch Alec hatte genug Andeutungen gemacht. Ihm war klar, dass die Beziehung zwischen den Rudeln nicht gut war. »Wenn Mitglieder der Blümchenbande dich belästigen, ist es Jareds gutes Recht, besorgt zu sein. Meinst du nicht?«, fragte er schließlich.
»Ich würde es nicht unbedingt Belästigung nennen.«
»Nein?«
Die Tür schwang auf. David betrat den Raum, gefolgt vom Arzt.
Tim lächelte und stand auf. »John, es ist schön, Sie wiederzusehen!«
Dr. John Cordon musste etwa Anfang fünfzig sein. Er war groß, hatte graues Haar und war verdammt heiß. Er arbeitete schon so lange im Krankenhaus, wie Tim zurückdenken konnte, und früher war Tim ziemlich in ihn verknallt gewesen. Sogar jetzt lief ihm ein kleiner, angenehmer Schauder den Rücken hinab, als Johns Augen aufleuchteten, sobald Tim ihn anlächelte.
»Die Freude ist ganz meinerseits«, antwortete John und erwiderte das Lächeln.
Sie schüttelten sich die Hände. Dann trat Tim beiseite, sodass John mit seiner Arbeit beginnen konnte.
Zwei Stunden später hatte man Seb geröntgt, mit Nadeln gepikst, auf unzählige andere Arten untersucht und ihm einen vorläufigen Gips für seinen Knöchel angefertigt. Sie hatten ihm auch starke Schmerzmittel gegeben, zum Glück, und er hatte eine Krücke bekommen. Nur die eine, weil sein Handgelenk auch verletzt war. Der Doktor hatte erklärt, dass man sie normalerweise unter dem rechten Arm verwenden sollte, aber weil der ja verletzt war, musste er eben den linken nehmen. Wie auch immer. Seb hatte genickt und sich bedankt. Da sich herausgestellt hatte, dass er keine Gehirnerschütterung hatte, war ihm erlaubt worden, nach Hause zu gehen. Eine weitere Beaufsichtigung wäre nicht nötig. Gott sei Dank. Er war so müde, dass er fast im Rollstuhl einschlief, als Tim ihn zum Auto schob. David hatte ihm eine Decke gegeben. Seb zog sie bis an sein Kinn, um sich vor der Kälte zu schützen. »Also, ist David älter oder jünger als du?«, fragte er. Sie hatten im Krankenhaus nicht darüber gesprochen, aber er war neugierig.
»Drei Jahre älter.«
»Ich mag ihn. Er scheint nett zu sein.«
»Ja, das ist er.« Tims Tonfall klang etwas scharf.
Seb grinste. Er war sich ziemlich sicher, dass Tim ein wenig eifersüchtig war.
Sie kamen am Auto an und Tim stoppte den Rollstuhl abrupter, als es nötig gewesen wäre. »Brauchst du Hilfe dabei, ins Auto zu steigen?«
»Nein, ich glaube, das schaffe ich schon, danke.«
Tim bestand trotzdem darauf, ihn zu stützen, während er sich auf den Beifahrersitz hievte. Seb ließ es zu. Es war irgendwie ganz nett, wenn sich jemand um einen kümmerte.
Tim stieg ein, startete den Motor und drehte die Heizung auf. Dann stieg er wieder aus, um den Rollstuhl zurück in den Flügel zu bringen. Er ging zackigen Schrittes und Seb starrte ihm vollkommen unverfroren auf den Hintern.
Sobald sie unterwegs waren und die warme Luft der Heizung ihn wärmte, lehnte sich Seb mit einem Seufzen im Sitz zurück.
Tim warf ihm einen Blick zu. »Soll ich dich nach Hause bringen oder zu Jared und Nathan?«
»Wieso denn das?« Die Müdigkeit verstärkte Sebs Gereiztheit. Er hatte die Nase voll davon, dass die Wandler ihn behandelten, als wäre er aus Glas. Ja, derzeit inkludierte sein Freundeskreis eine große Anzahl an Wandlern, und es schienen immer mehr zu werden, aber er war ja vorher auch allein klargekommen.
Tim schien zu bemerken, dass sich seine Laune verschlechtert hatte. Er zögerte, bevor er weitersprach. Die ganze Zeit trommelte er mit den Fingern auf dem Lenkrad herum.
Seb wartete und sah ihm dabei zu.
Tim räusperte sich. »Jared hat mir geschrieben, während wir im Krankenhaus waren. Er meinte, du antwortest nicht.«
»Ich hab mein Handy zu Hause gelassen.« Was vermutlich nicht gut war, aber er war von den Schmerzen abgelenkt gewesen. »Was hat er geschrieben?«
»Er will, dass du ein paar Tage bei ihm und Nathan bleibst, nis…«
»Nein! Ich will nicht. Das …«
»Seb.« Tim legte eine Hand auf seinen Oberschenkel. Das stoppte Seb mitten im Satz, mehr als es sein Name vermocht hätte. »Sie machen sich Sorgen. Und um ehrlich zu sein, halte ich es auch für eine gute Idee. Zumindest, bis wir wissen, wer da draußen vor deiner Wohnung war und was zur Hölle sie dort wollten.« Tims Stimme wurde bei den letzten paar Worten harscher.