Bitter Wash Road - Garry Disher - E-Book

Bitter Wash Road E-Book

Garry Disher

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Beschreibung

In der Nähe von Tiverton, einer Kleinstadt in Australiens Nirgendwo, wird ein Mädchen tot am Straßenrand gefunden. Constable Paul Hirschhausen, genannt Hirsch, übernimmt den Fall. Er glaubt nicht an einen Unfall mit Fahrerflucht. Einsam und isoliert durchquert der Constable die unwirtliche Landschaft, vorbei an mageren Schafen, schäbigen Höfen, stellt unbeirrt seine Fragen und lernt eine Kleinstadt kennen, unter deren Oberfläche Enttäuschung und Wut, Rassismus und Sexismus brodeln. Hirsch rüttelt an der trügerischen Stille und wirbelt nicht nur den Staub der ausgedörrten Straßen auf.

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Seitenzahl: 464

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Über dieses Buch

In der Nähe von Tiverton, einer Kleinstadt in Australiens Nirgendwo, wird ein Mädchen tot am Straßenrand gefunden. Constable Paul Hirschhausen, genannt Hirsch, übernimmt den Fall. Er glaubt nicht an einen Unfall mit Fahrerflucht. Hirsch rüttelt an der trügerischen Stille und wirbelt nicht nur den Staub der ausgedörrten Straßen auf.

Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.

Garry Disher (*1949) wuchs im ländlichen Südaustralien auf. Seine Bücher wurden mit mehreren Preisen ausgezeichnet, darunter der wichtigste australische Krimipreis, der Ned Kelly Award, dreimal der Deutsche Krimi Preis sowie eine Nominierung für den Booker Prize.

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Peter Torberg (*1958) studierte in Münster und in Milwaukee. Seit 1990 arbeitet er hauptberuflich als freier Übersetzer, u. a. der Werke von Paul Auster, Michael Ondaatje, Ishmael Reed, Mark Twain, Irvine Welsh und Oscar Wilde.

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Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Garry Disher

Bitter Wash Road

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Peter Torberg

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 1 Dokument

Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel Bitter Wash Road bei The Text Publishing Company, Melbourne.

Originaltitel: Bitter Wash Road

Die erste Ausgabe dieses Werks im Unionsverlag erschien am 15.2.2016

© 2013 by Garry Disher

© by Unionsverlag, Zürich 2019

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: krizb/photocase.com

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30918-0

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

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Version vom 08.04.2019, 17:10h

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

Impressum

Unsere Angebote für Sie

Inhaltsverzeichnis

BITTER WASH ROAD

1 – Eines Montagmorgens im September, drei Wochen nach seinem …

2 – Als er sich die Bilder auf dem Handy …

3 – Hirschs erster Gedanke war: Pullar und Hanson …

4 – Das Haus der Donovans war typisch Kleinstadtarchitektur der …

5 – Kurz vor achtzehn Uhr. Hirsch parkte den HiLux …

6 – Was war denn nur los mit ihm …

7 – Hirsch heftete seine Handynummer an die Haustür und …

8 – Früher Nachmittag

9 – Gegen halb fünf war Hirsch wieder in Redruth …

10 – Hirsch stand am Mittwoch um 6 Uhr irgendwas …

11 – Freitag, die erste gerichtliche Untersuchung in der Gemeinde

12 – Am Samstagvormittag nahm Hirsch an Melia Donovans Beerdigung …

13 – Wart ihr heute Morgen in der Kirche?«

14 – Nachdem er das Päckchen geholt hatte, traf er …

15 – So vergingen Montag und Dienstag

16 – Hirsch, der fand, er habe sich genug amüsiert …

17 – Hirsch fuhr noch am selben Abend zurück aufs …

18 – Sonntagmorgen. Sein Wecker klingelte um acht. Hirsch lag …

19 – Kropp traf als Erster ein, verlangte einen kurzen …

20 – Am Montag war Kropp am Telefon und tobte …

21 – Am Nachmittag klopfte Hirsch in der kleinen Straße …

22 – Freitagmorgen hielt Hirsch vor Redruth Automotive

23 – Es gab auch ländliches Essen: Lammkoteletts und Gemüse

24 – Der Oktober nahm die Beine in die Hand …

25 – Coulter, der Untersuchungsrichter, drehte alle paar Wochen die …

26 – Hirsch kam zu einer brachliegenden Weide diesseits der …

27 – Hirsch verließ das Haus der Latimers und fuhr …

28 – Hirsch fuhr nach Vimy Ridge zurück. Kropp war …

29 – Eines Sonntagnachmittags Ende November wusch Hirsch, der vom …

30 – Hirsch schüttelte den Kopf. »Eins nach dem anderen …

31 – Es war Nachmittag geworden. Hirsch brachte Sam zu …

32 – Während der dreieinhalbstündigen Fahrt zurück nach Tiverton legte …

33 – Es war später Nachmittag geworden, Hirsch hatte es …

34 – Zwei Tage später sprachen Hirsch und Wendy Street …

35 – Ohne großes Aufsehen tauchte Gemma Pitcher wieder in …

36 – An einem Donnerstagabend im Dezember fuhr Hirsch Wendy …

37 – Am Montag kehrte Hirsch von seiner Streife zurück …

Mehr über dieses Buch

Über Garry Disher

Garry Disher: Gedanken über die Arbeit am Schreibtisch

Über Peter Torberg

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1

Eines Montagmorgens im September, drei Wochen nach seinem Dienstantritt, nahm der neue Polizist in Tiverton einen Anruf seines Sergeants entgegen: Schüsse an der Bitter Wash Road.

»Wissen Sie, wo das ist?«

»Ungefähr, Sergeant«, sagte Hirsch.

»Ungefähr. Sie sollten sich doch umsehen. Oder sitzen Sie sich die ganze Zeit den Hintern platt?«

»Hab mich umgesehen, Sergeant.«

»In der Zeit müssten Sie doch schon einiges gesehen haben.«

»Jawohl, Sergeant.«

»Ich brauche keine Faulenzer, hatte ich Ihnen doch gesagt, nein?«

»Laut und deutlich, Sarge.«

»Ich dulde keine Faulenzer«, mahnte Sergeant Kropp, »und keine Klugscheißer.«

Dann schaltete er einen Gang zurück und berichtete Hirsch, dass eine Autofahrerin den Vorfall gemeldet habe. »Eine Touristin, hat keinen Namen genannt, wollte sich nur die Blümchen ansehen. Sie hat angehalten, wollte die alte Wellblechhütte fotografieren und hat Schüsse gehört.« Kropp schwieg. »Haben Sie verstanden, die alte Hütte?«

Hirsch hatte nicht die leiseste Ahnung. »Jawohl, Sarge.«

»Also bewegen Sie Ihren Hintern und melden Sie mir, was da los ist.«

»Sarge.«

»Wir sind hier auf dem Land«, fuhr der Sergeant fort, nur für den Fall, dass Hirsch noch nicht selbst draufgekommen war, »da ballern die Schafschänder gern mal auf Kaninchen. Aber man weiß ja nie.«

Hier draußen, drei Stunden nördlich von Adelaide, gab es tatsächlich nichts außer Weizen und Wolle. Hirschs neuer Posten war ein Ein-Mann-Revier in einem Kaff am Barrier Highway. Tiverton. Einmal geblinzelt, schon war man durch. Es gab noch ein paar von diesen kleinen Dienststellen im Bundesstaat South Australia, die Polizei war peinlich darauf bedacht, sie nicht Ein-Mann-Reviere zu nennen, nicht heutzutage, nicht in aller Öffentlichkeit, dennoch schickte sie keine Kolleginnen dorthin, vorgeblich aus betrieblichen und sicherheitstechnischen Gründen. Also besetzte man sie nur mit alleinstehenden Männern (die Frauen der verheirateten Kollegen hätten ohnehin sofort abgewinkt), am liebsten mit Kollegen, die Dreck am Stecken hatten.

Wie Hirsch.

Die Wache befand sich im Vorderzimmer eines kleinen Backsteinhauses direkt am Highway; Fliegen brummten, vergilbte Bekanntmachungen bewegten sich im trägen Wind. Hirsch wohnte dahinter: Bad, Wohnzimmer mit Kochnische, Schlafzimmer. Er kam zudem in den Genuss einer ausgedörrten Vorgartensteppe und einer schmalen Zufahrt für seinen eigenen klapprigen Nissan und den Dienstwagen der South Australia Police, einen Toyota HiLux mit Allradantrieb und Heckaufbau. Hinter dem Haus gab es einen Lagerraum, dessen vergittertes Fenster und verstärkte Tür aus den guten alten Tagen vor den Untersuchungen über ungeklärte Todesfälle in Haft stammten, als der Raum noch als Zelle gedient hatte. Für diese Luxusausstattung zog ihm sein Arbeitgeber eine horrende Miete vom Gehalt ab.

Nachdem Hirsch aufgelegt hatte, schaute er auf der Wandkarte nach der Bitter Wash Road, schloss ab, heftete seine Handynummer an die Vordertür und fuhr los. Kurz nach der Polizeistation, gegenüber der Grundschule mit dem verwaisten Spielplatz (es waren Ferien), kam er an dem Gemischtwarenladen vorbei. Dann kamen ein paar alte Steinhäuser, das Mechanics Institute mit der uralten Kanone und dem Gedenkstein für die Gefallenen der beiden Weltkriege, noch mehr Häuser, zwei Kirchen, ein Landwirtschaftsfachmarkt, ein Hinweisschild auf den Getreidehändler in einer Nebenstraße … das war schon ganz Tiverton. Keine Bank, keine Apotheke, kein Arzt, Anwalt, Zahnarzt oder Steuerberater und keine Highschool.

Hirsch fuhr südwärts durch ein flaches Tal, links von ihm sanfte, teils bestellte Hügel, rechts eine imposantere Landschaft. Vereinzelt warfen knorrige Bäume ihre Schatten auf die zerklüftete Felslandschaft und durchbrachen das Blau der Berge, die heute in der Ferne erstrahlten, erste Vorboten auf die Flinders Ranges, drei Stunden weiter. Ganz nach einheimischer Sitte hob Hirsch einen Finger vom Lenkrad, um die entgegenkommenden Autos zu grüßen. Beide. Sonst rührte sich nichts, dabei fuhr er durch eine Landschaft, die geradezu danach lechzte, dass sich etwas bewegte. Vögel, die wie aus Blech gestanzt wirkten, beobachteten ihn von den Stromleitungen aus. Farmhäuser kauerten stumm hinter Zypressen, Landmaschinen warteten reglos auf Koppeln, bis er vorbeigefahren war.

Fünf Kilometer südlich von Tiverton bog Hirsch links in die Bitter Wash Road ein und fuhr nach Osten in die Hügel; endlich bewegte sich etwas. Steine schlugen gegen den Unterboden. Ausgemergelte Schafe flohen, an einem Zaun knurrte ein Hund, Krähen ließen aufgeschreckt von einer platt gefahrenen Eidechse ab. Die gewundene Straße führte ihn immer tiefer in das karge Hügelland, das bereits im Regenschatten lag. Hirsch fuhr an einer eingefallenen Steinmauer aus den 1880ern und einem Windrad vorbei. Entlang der Bachsenken hatte jemand zum Schutz vor Erosion Bäume gepflanzt. Hirsch schaute auf den Kilometerzähler, um zu sehen, wie weit er seit der Abbiegung schon gekommen war, und fragte sich, wie weit es noch bis zu dieser Blechhütte war.

Er bremste, um eine Senke in der Straße zu durchqueren, über die das Wasser vom Gewitter in der vorigen Nacht strömte, gab hügelauf Gas, überquerte die Kuppe und nahm eine unübersichtliche Kurve. Er trat mit aller Kraft auf die Bremse. Kam in einem Schotterhagel schliddernd zum Stehen.

Der Ast eines Eukalyptusbaums von der Länge eines Strommastes lag quer über der Bitter Wash Road. Hirsch schaltete mit rasendem Herzen den Motor aus. Das war knapp gewesen. Hinter dem Ast fiel die Straße wieder bis zu der Stelle ab, wo ein Bach mit seiner schwachen, schlammigen Flut eine flache Senke in die Schotterpiste gegraben hatte, dann stieg sie wieder bis zu einer unübersichtlichen Kehre hoch. Und dort stand auf einer kleinen Lichtung jenseits des Zauns, am Rand einer Bachkehre die Hütte, von der Sergeant Kropp gesprochen hatte: Wellblechwände und -dach, ziemlich verrostet, ein windschiefer Kamin. Auf einer darüberliegenden Hochfläche entdeckte Hirsch Bäume und ein Eckchen grünen Farmhausdachs.

Hirsch stieg aus. Er wollte gerade den Ast von der Straße ziehen, als eine Kugel knapp an seinem Kopf vorbeizischte.

Sein erster Reflex ließ ihn ducken, sein zweiter, auf die abgewandte Seite des HiLux zu krabbeln und seine Dienstwaffe zu zücken, eine Smith & Wesson, Kaliber .40, Halbautomatik. Erst dachte er, Kropps anonyme Anruferin habe recht gehabt. Doch als Hirsch neben dem verdreckten Hinterrad kauerte, kamen ihm Zweifel: Vor zwei Tagen hatte ihm irgendein Arschloch eine Patrone in den Briefkasten geworfen. Erst jetzt ging ihm auf, dass es sich wohl weder um einen Scherz noch um eine Drohung gehandelt hatte, sondern um eine Ankündigung.

Hirsch wägte seine Möglichkeiten ab: Verstärkung holen; sich dem Schützen stellen; so schnell wie möglich verschwinden.

Möglichkeiten? Dort, wo sich die Straße zwischen einem Rapsfeld und einem Steinhügel senkte, hockte er in der Falle. Ließ er sich blicken – versuchte er also, sich hinters Lenkrad zu setzen, den Hügel hinaufzueilen oder über den Zaun zu steigen, um durch den Raps zu entkommen –, würden sie auf ihn schießen. Verstärkung saß in Redruth, vierzig Kilometer entfernt.

Moment mal. Nichts Verstärkung. Die Schützen, das waren genau die Beamten, die er als Verstärkung hatte holen wollen. Und die waren keine vierzig Kilometer entfernt, sondern vierzig Meter, oben auf dem Hügel, so positioniert, dass sie ihn ins Kreuzfeuer nehmen konnten, Funkgeräte natürlich ausgeschaltet. Redruth war mit drei Mann besetzt, Kropp und zwei Constables; als Hirsch vor drei Wochen dort aufgetaucht war, um sich vorzustellen, hatten sie ihn als Hund beschimpft, als Verräter. Ein stummer Knall, als sie sich einen Finger an die Schläfe hielten, ein Grinsen, während sie sich den Finger über die Kehle zogen.

Sie hatten Hirsch die Patrone in den Briefkasten geworfen, als er nicht hingeschaut hatte.

Hirsch dachte noch etwas länger darüber nach. Selbst wenn er es schaffte, wieder in den HiLux zu steigen, lag der Ast immer noch auf der Straße, und wenden konnte er nirgendwo. Sie würden ihn durch die Scheibe erschießen. Einen direkten Angriff den Hügel aufwärts konnte er streichen, blieb nur noch die wilde Flucht ins Rapsfeld, ein strahlend gelber Streifen, der sich bis zu den dunstigen Hügeln auf der anderen Seite des Tals erstreckte – doch um dorthin zu gelangen, musste er die Böschung hinaufsteigen und sich durch einen Drahtzaun zwängen. Und wie viel Deckung würde der Raps ihm bieten?

Hirsch wurde von einer unruhigen Dissonanz ergriffen. Es hätte Angst sein können, doch er wusste, wie Angst sich anfühlte. Kam das von dem Windpark? Hirsch war nicht weit von einer der Turbinen entfernt. Der Mast stand auf dem Hügel, auf dem sich der Schütze versteckte, der erste in einer ganzen zackigen Reihe, die sich diesseits des Tals erstreckte; die Rotorblätter schnitten mit einem steten, rhythmischen Rauschen durch die Luft, das einem tief in die Eingeweide drang. Es schien Hirsch mehr als passend, dass er hier, wo die Welt so lieblos war, sein Leben aushauchen sollte, am Fuße eines ungepflegten, mit Grasbüscheln bestandenen Hangs voller Kaninchenlöcher und flechtenbewachsener Steinklippen.

Hirsch sah sich vorsichtig in beide Richtungen der Straße um. Er wusste nicht, wo die nächsten Farmhäuser lagen oder wie viele Autos hier wohl entlangfuhren oder …

Himmel, Autos. Hirsch spitzte die Ohren, lauschte, ob er Fahrzeuge hörte, die er warnen, vor einem Unfall bewahren, von denen er womöglich das Blut abwischen musste. Oder vor denen er um sein Leben rennen musste.

Das führte ihn zu der Frage: Warum legten sich die Mistkerle hier auf die Lauer, in Rufweite der Ansiedlung? Warum nicht irgendwo weit draußen? »Draußen im Osten«, nannten das die Ortsansässigen. Nach dem Kalender über Hirschs Schreibtisch zu urteilen, gab es draußen im Osten nur dürres Zypressengestrüpp, roten Staub, blanke geziegelte Kamine, Minenschächte und herbstliche Wildblumen. Dazu kam noch ein zerklüfteter Hügel namens Razorback.

Schulferien im September, Wildblumenblüte … Hirsch lauschte weiter, bildete sich schon ein, eine Busladung Touristen die Bitter Wash Road entlangrollen zu hören.

Er riskierte einen kurzen Blick über die Fensterkante der Beifahrerseite. Auf dem Armaturenbrett steckte das Funkgerät. Sein Handy lag in der Getränkehalterung zwischen den Vordersitzen. Er war ja nicht verpflichtet, das Revier in Redruth anzufunken. Er könnte sich ja auch in Peterborough, Clare, selbst Adelaide melden …

Hirsch hörte einen zweiten Schuss.

Er erstarrte mit den Fingern am Türgriff.

Dann entspannte er sich vorsichtig. Was genau hatte er da gehört?

Keinen mächtigen Knall, sondern etwas anderes, schwach, kümmerlich. Kleinkaliber, noch gedämpft durch den weiten Himmel und das Rauschen der Windturbine. Nicht gerade die Waffe eines Heckenschützen. Es hatte auch ein schwaches Aufjaulen gegeben, als die Kugel abprallte – an einem Stein? – und über den Bach davonschwirrte.

Nicht in der Nähe.

Ein zweiter Querschläger. Wieder erstarrte Hirsch, wieder entspannte er sich. Das war überhaupt kein Querschläger. Eine Kinderstimme machte piiuuhh.

Hirsch tat, was er schon von Anfang an hätte tun sollen, er prüfte den abgefallenen Ast. Keine Schleifspuren im Schotter, keine Spuren einer Säge oder Axt, keine abgerissenen Blätter. Er besah sich den Baum und entdeckte die Bruchstelle auf halber Höhe. Hirsch erinnerte sich an Campingausflüge in seiner Jugend, auf denen die Lehrer die Kinder davor warnten, ihre Zelte unter Eukalyptusbäumen aufzustellen. Äußerlich kräftig und gesund, doch drinnen lauerte stiller Verfall.

Ein wenig so wie bei der Polizei, eigentlich.

Er steckte die Dienstwaffe ein, entspannte die Schultern, trat mitten auf die Straße und zog den Ast in den Graben. Dann stellte er den HiLux am schmalen Straßenrand ab, damit andere Fahrzeuge passieren konnten, und stieg auf den dürren Hügel, um zu sehen, wer ihn ins Grab geschickt hätte, wenn er nicht solches Glück gehabt hätte.

Der Junge und das Mädchen hörten ihn nicht: Der Wind, das rhythmische Rauschen der Turbine über ihren Köpfen, ihre völlige Versunkenheit. Ein Kind zielte mit einer .22er auf eine Blechbüchse auf einem Felsbrocken, das andere stand daneben und schaute zu.

Hirsch hätte sich sofort auf sie stürzen müssen, bevor sie noch einen Querschläger über die Straße schwirren lassen konnten, doch er hielt inne. Das Panorama vom Fuß der Turbine aus war atemberaubend. Die Bitter Wash Road war in beiden Richtungen frei, deshalb nahm er sich einen Augenblick Zeit und sah sich um. Das breite Tal, die üppigen Felder, die Straße, die den Erdfalten folgte. Und der kakifarbene Fleck dort hinten, wo sich die blassgrauen Getreidesilos in den Dunst erhoben, das war Tiverton.

Oberhalb der Blechhütte lag eine Farm, das grüne Dach war jetzt gut zu sehen; auf der anderen Straßenseite stand ein Haus mit rotem Dach. Beide waren von Zypressen umgeben, von Strauchwerk, Gartenbeeten und umzäunten Rasenflächen: die übliche Landschaftsgestaltung hier in dieser Weizen- und Wollgegend. Die Farm mit dem grünen Dach war recht ausgedehnt, eine Reihe von Schuppen, Viehhöfen, auf einem staubigen Platz neben einem Heuhaufen stand landwirtschaftliches Gerät. Die Farm mit dem rot gedeckten Haus war kleiner, verblasster, wies nur einen Carport und einen kleinen Gartenschuppen auf. Hirsch fragte sich, in welcher Beziehung die beiden Besitzungen standen. Vielleicht wohnte in dem kleinen Haus ein Vorarbeiter. Oder ein Paar, er kümmerte sich um den Garten, sie kochte und machte sauber. Die Drecksarbeit eben. Falls es solche Feudalverhältnisse überhaupt noch gab.

Hirsch beschirmte sich die Augen. Immer wieder tauchte die Sonne hinter den Wolkenfetzen auf, und ein paar Schafe trotteten eins hinter dem anderen über eine nahe Hügelflanke.

Ansonsten rührten sich nur die Kinder; Hirsch schätzte, dass sie zu einem der beiden Häuser gehörten. Zwei Wochen keine Schule, also hatten sie sich, ob nun mit oder ohne die Erlaubnis der Eltern, die .22er geholt, um auf Ziele zu schießen. Der Ort war einfach perfekt: Nichts als Gras und Stein, der Hügel senkte sich zum Bach, weit und breit nichts, das Blut in den Adern hatte. Man konnte so tun, als würde man sich mit Bösewichten duellieren, und wenn das Gewehr zu schwer wurde, konnte man den Lauf auf einen Stein legen.

Doch die Kugeln prallten auch unkontrolliert ab. Oder man vergaß, wo man war, und schoss einfach mal so auf eine Krähe oder ein Kaninchen, wenn gerade ein Polizist aus seinem Dienstwagen stieg, um einen umgestürzten Baum wegzuziehen.

Na toll! Mit ein paar Erwachsenen konnte Hirsch umgehen: Es gab klare Bestimmungen, klare Vergehen und Strafen. Aber bei Kindern … er würde mit den Eltern reden müssen; vielleicht musste er ihnen sogar mit Strafe drohen. Himmel.

Die Kinder nahmen ihn erst wahr, als er auf dem Hang ausrutschte und hinfiel. Dann hörten sie ihn fluchen, hörten die Steine purzeln. Hirsch schimpfte, weil er sich erschrocken, die Hose zerrissen und die Haut an Händen und Ellbogen abgeschürft hatte.

Die Kinder drehten sich erschrocken um, rissen Münder und Augen auf. Sie waren ertappt worden, und das wussten sie, interessant war nur, wie sie damit umgingen. Hirsch vergaß den Schmerz und schaute genau hin. Der Junge senkte den Blick wie ein geprügelter Hund, gab schon auf, aber das Mädchen wirkte angespannt. Ihr Blick schoss zu dem leeren Hügel hinüber, zu dem Jungen neben sich, suchte mögliche Fluchtwege. Sie rannte nicht los, aber das hieß nicht, dass sie es nicht versuchen würde. All das lag in dem Blick, den sie Hirsch nun zuwarf.

Er streckte die Handfläche hoch, keine richtige Warnung, kein richtiger Gruß. »Tu es nicht«, sagte er sanft.

Das Mädchen entspannte sich ein wenig. Sie war etwa zwölf, dürr, gefasst, ernst, blinzelte kaum; ihre nackten Arme und Beine in T-Shirt und Shorts waren zerkratzt, die dunklen Haare, in der Stirn kurz geschnitten, reichten ihr bis zu den Schultern. Ein wenig ungepflegt, doch eines Tages würde sie eine strahlende Erscheinung sein.

Verdutzt betrachtete Hirsch den Jungen. Dünn, ähnlich gekleidet, hätte ihr Bruder sein können, doch seine Haare waren strohblond, wuschlig und verfilzt, und seine blasse Haut war rot und sommersprossig. Das Mädchen schien nach Auswegen zu suchen, er ließ sich anscheinend gern sagen, was er zu tun hatte. Aber er hielt die Waffe in der Hand, und er konnte damit umgehen, hielt den Lauf nach unten gerichtet, ließ ihn in der Armbeuge aufliegen und hatte den Verschluss geöffnet. Hirsch zählte fünf Patronenhülsen, die matt im Gras glänzten.

»Ich bin Constable Hirschhausen«, sagte er. »Von der Polizeistation in Tiverton.«

Das Mädchen blieb reglos, doch Hirsch spürte Feindseligkeit, und er strengte sein Gehirn an, um nach dem bestmöglichen Weg zu suchen, wie er fortfahren konnte. »Und wie heißt ihr?«

Das Mädchen erhob ihre Stimme über das Rauschen der Turbinen. »Ich bin Katie, und er ist Jack.«

Katie Street und Jackson Latimer; Katie wohnte mit ihrer Mutter in dem kleineren, rot gedeckten Haus, das Hirsch gesehen hatte, Jackson mit seinen Eltern und einem älteren Bruder in dem größeren Haus mit grünem Dach. Opa Latimer wohnte auch auf dem Grundstück, in einem Haus einen halben Kilometer von der Straße entfernt. »Das kann man vor hier aus nicht sehen.«

Hirsch hatte schon von den Latimers gehört. »Ist das euer Land?«, fragte er und wies auf den Hügel, auf dem sie standen, auf das Windrad über ihnen und die anderen Masten, die sich über die Hügelkette erstreckten.

Jack schüttelte den Kopf. »Mrs Armstrong.«

»Wo wohnt sie?«

Der Junge deutete auf die Stelle, wo die Bitter Wash Road hinter einer weit entfernten Kehre verschwand.

»Ist sie nicht wütend, wenn sie mitkriegt, dass ihr einfach hier herumspaziert?«

Die beiden Kinder waren überrascht, so als habe diese Vorstellung hier draußen nichts zu sagen. »Das ist die beste Stelle dafür«, erklärte Katie.

Stimmt, dachte Hirsch. »Hört mal, die Sache ist nur die, einer eurer Schüsse ist gefährlich abgeprallt und hätte mich beinahe getroffen.«

Er wies in Richtung der Straße. Er ließ seine Stimme etwas härter klingen und fügte hinzu: »Es ist gefährlich, so nahe an einer Straße zu schießen. Ihr könntet jemanden verletzen.«

Er sagte nicht, jemanden töten. Er war nicht sicher, ob so viel Härte noch gewirkt hätte. Er wusste nicht, ob er sanft, streng, stinkig, einfühlsam oder rundheraus tyrannisch sein sollte. Er ging es leicht an: »Wissen eure Eltern, dass ihr hier oben mit einem Gewehr herumschießt?«

Keine Antwort. Hirsch fuhr fort: »Ich fürchte, ich werde mit euren …«

Das Mädchen unterbrach ihn. »Sagen Sie Mr Latimer nichts.«

Hirsch legte den Kopf schräg.

»Bitte«, beharrte sie.

»Warum?«

»Mein Dad bringt mich um«, murmelte der Junge. »Er ist eh nicht zu Hause.«

»Okay, dann spreche ich mit euren Müttern.«

»Die sind auch nicht da.«

»Meine Ma ist mit Jacks Ma einkaufen«, erklärte Katie.

Hirsch schaute auf die Uhr: gleich Mittag. »Wo?«

»Redruth«, antwortete sie zögerlich.

Das hieß, dass sie nicht nach Adelaide gefahren waren und wahrscheinlich zur Essenszeit wieder zu Hause waren. »Okay, gehen wir.«

»Müssen wir jetzt ins Gefängnis?«

Hirsch lachte, erkannte, dass das Mädchen es ernst meinte, und wurde selbst ernst. »Nein, nichts dergleichen. Ich fahre euch nach Hause, und wir warten, bis jemand kommt.«

Er machte nicht viel Aufhebens darum, bewegte sich langsam, als er Jack die Waffe – eine Ruger – abnahm. Er hatte schon zuvor Menschen die Waffen abgenommen, aber noch niemals auf diese Weise. Er fragte sich, ob hier draußen in der Mitte von Nirgendwo die Polizeieinsätze jemals riskant werden konnten. Er ging mit den Kindern zurück über den Kamm und hinunter zum HiLux. Das Mädchen bewegte sich schnell, energisch; der Junge stapfte hinterher, Wirbelsäule, dürre Arme und Beine bewegten sich in einem merkwürdigen Widerspruch zueinander, wie mit angezogenen Zügeln. Hirsch bemerkte, dass der linke Schuh des Jungen klobiger war als der rechte, Sohle und Absatz waren höher.

Das Mädchen bemerkte Hirschs Blick. Ihre Augen blitzten. »Sie haben ein Loch in der Hose.«

Als die Kinder angeschnallt waren, Katie auf dem Beifahrersitz, Jack hinten, fragte Hirsch: »Also, warten wir bei Jacksons Haus?«

»Mir egal«, meinte Katie und fügte hinzu: »Statt uns zu belästigen, sollten Sie lieber nach diesem schwarzen Auto suchen.«

Zu jedem beliebigen Zeitpunkt suchte die Polizei nach Hunderten, Tausenden Wagen. Aber Hirsch wusste genau, welchen Wagen sie meinte: den Chrysler von Pullar und Hanson, der das letzte Mal gesehen wurde, als er in Richtung Longreach fuhr, über zweitausend Kilometer entfernt. »Ich bezweifle, dass er sich in unserer Gegend herumtreibt«, sagte er.

Katie warf ihm einen vernichtenden Blick zu und schaute dann weg. »Das denken Sie!«

Hirsch war fasziniert von dem Mädchen. Staubig olivfarbene Haut, ein winziger Goldreif in jedem Ohr, eine Haarsträhne, die ihr am Nacken klebte, völlig eigenständig. Eines von diesen entschlossenen, nimmermüden Kindern, die meist recht haben und einem häufig auf die Nerven gehen. Er versuchte, sich daran zu erinnern, wie er in diesem Alter gewesen war. Als klar wurde, dass Katie sich nicht weiter darüber auslassen wollte, schob er den Schlüssel ins Zündschloss.

»Wir haben ihn an der Schule vorbeifahren sehen«, sagte Jack auf der Rückbank.

Langsam nahm Hirsch die Hand vom Schlüssel. Hatte irgendjemand den Kindern seinen Pimmel gezeigt oder versucht, sie zu entführen? »An der Grundschule im Ort?«

»Ja.«

»Wann denn?«

»Gestern.«

»Ein schwarzer Chrysler?«

»Ja.«

»Was habt ihr denn am Sonntag in der Schule gemacht?«

»Ein Arbeitseinsatz. Wir haben aufgeräumt und Bäume gepflanzt.«

»Hat der Wagen angehalten?«

Katie schüttelte den Kopf. »Ist einfach weitergefahren.«

»Wann war das?«

»Kurz vor Mittag.«

Hirsch stellte sich die Szene vor. Die kleine Schule lag gegenüber der Polizeistation, ein großer Spielplatz grenzte an den Barrier Highway. Eingang, Parkplatz und Klassenzimmer gingen zu einer Seitenstraße hinaus. Die Geschwindigkeitsbegrenzung im Ort lag bei 50 km/h, da hatte ein aufmerksames Kind durchaus Gelegenheit, Einzelheiten zu erkennen. Aber welche Einzelheiten hatten denn dieses Fahrzeug von den anderen unterschieden, die sonst jeden Tag an der Schule vorbeikamen, die Farmer-Pick-ups, Familienkutschen, Getreidelaster, Interstate-Busse? Es hatte sich um einen schwarzen Chrysler gehandelt, das war der Unterschied gewesen. Ein Auto, von dem in den Nachrichten die Rede war und das von zwei Mördern gefahren wurde.

Kein gewöhnliches Auto – aber auch nicht sonderlich selten, und das sagte Hirsch auch. »Schätze, die Männer sind immer noch in Queensland.«

»Egal. Können wir einfach fahren?«

Hirsch schaute in den Rückspiegel und suchte nach dem Gesicht des Jungen. Jack rutschte weg.

»Wie ihr wollt«, meinte Hirsch, schaute in den Außenspiegel und fuhr auf die Straße.

Wo wir gerade von aufmerksamen Kindern sprachen …

»Habt ihr zufällig letzte Woche jemanden gesehen, der vor der Polizeistation rumlungerte? Und vielleicht etwas in den Briefkasten geworfen hat?«

Die beiden starrten ihn an, und gerade, als er dachte, er habe sie verschreckt, meinte das Mädchen: »Da war eine Frau.«

»Eine Frau.«

»Aber ich hab nicht gesehen, ob sie was in den Briefkasten geworfen hat.«

»Meinst du, sie hat auf mich gewartet?«

»Sie hat in Ihren Wagen geschaut.«

Hirsch wurde ganz still und hielt an. Leichthin fragte er: »Wann war denn das?«

»In der großen Pause.«

Hirsch ging jeden Morgen auf Streife, das war bekannt. »An welchem Tag?«

Katie besprach sich mit Jack und antwortete: »An unserem letzten Tag.«

»Am letzten Schultag? Freitag?«

»Ja.«

Hirsch nickte bedächtig, nahm seinen Fuß von der Bremse und lenkte langsam an dem abgebrochenen Ast vorbei. Er bemerkte, wie Katie Street ihn beobachtete, spürte, wie ihr Verstand arbeitete und sie sich die Geschichte zurechtreimte – wie er den HiLux angehalten hatte, ausgestiegen war und gehört hatte, wie ein Querschläger an seinem Kopf vorbeischwirrte. Sie sah ihn an, so als wolle sie sich vergewissern, dass er nicht doch eine Schusswunde aufwies. Er lächelte. Sie runzelte die Stirn und sah weg.

Dann meinte sie angespannt: »Wir lügen nicht.«

»Ihr habt eine Frau an meinem Wagen gesehen.«

Sie wurde nervös. »Nein. Ich meine, ja. Ich meine, wir haben den schwarzen Wagen gesehen.«

»Ich glaube euch.«

Das hatte sie schon mal gehört. »Es stimmt!«

»In welche Richtung?«

Katie orientierte sich und deutete mit dem Finger. »Da lang.«

Nach Norden. Was nicht viel Sinn ergab, falls Pullar und Hanson wirklich in dem Wagen gesessen waren – was Hirsch nicht glauben konnte; zwei Psychopathen, die aus der Deckung gekommen und den ganzen Weg bis hierher, nach Schafsmist City, South Australia, gefahren waren.

Katie, die Hirschs Zweifel spürte, wurde bissig: »Das Auto war schwarz, es war ein Kombi, und es hatte gelb-schwarze Nummernschilder aus New South Wales, genau wie in den Nachrichten.«

Hirsch musste wegschauen. »Okay.«

»Und es war ein Chrysler«, setzte Jack hinzu.

Wenig überzeugend meinte Hirsch: »Na, jetzt ist er schon lange fort.«

Vielleicht aber auch nicht, wenn es denn der Wagen von Pullar und Hanson gewesen war. Die Männer konzentrierten sich gern auf abgelegene Farmen an Schotterpisten. Plötzlich verstand Hirsch, was die Kinder mit der Waffe gemacht hatten: Sie hatten auf Pullar und Hanson geschossen.

Langsam fuhr er durch die Senke und wieder hinauf zur nächsten Kehre, wo die Bitter Wash Road eine Weile flach und gerade verlief; die Kinder waren stumm und angespannt. Aber als sie sich dem roten und dem grünen Dach näherten, wurde Katie wach und rief: »Das ist Jacks Zuhause.«

Ein paar Steinsäulen, auf der einen der Name Vimy Ridge, auf der anderen die Jahreszahl 1919, die geölten Torflügel standen offen. Imposant. Hirsch nahm an, dass seit 1919 einiges passiert sein musste, denn alles wirkte recht verwittert, so als sei auch das Geld ausgetrocknet. Eine geschwungene Schotterzufahrt, deren Straßenstaub durch den nächtlichen Regen gebunden war, führte ihn an mit Rosen gesäumten Grasflächen und einer Palme vorbei zu einem hübschen, steinernen Haus. Honigfarbenes Gestein aus der Gegend, ein steiles grünes Dach, das sich bis über breite Veranden zog, alles in diesem nördlichen Regionalstil, der nirgendwo sonst im Land nachgeahmt wurde; das Haus wirkte, als gehöre es genau hier hin. Hirsch betrachtete es anerkennend. Er hatte seine frühen Jahre in einem winzigen Reihenhaus in einer der sonnendurchglühten Straßen von Brompton verbracht – nicht, dass die jämmerliche kleine Vorstadt heute noch so jämmerlich war, dafür hatte schon die Gentrifizierung durch die jungen Städter gesorgt.

Er steckte sein Handy ein, stieg aus, reckte sich und betrachtete das Haus. Aus der Nähe wirkte es nicht mehr so hübsch. Verhärmt, die Farben verblasst und abgeblättert, ein Salzrand von der Feuchtigkeit in den Wänden, Rost entlang der Kanten des Wellblechdachs. In den Spalten der Veranda wuchs Unkraut. Hirsch hielt das nicht für ein Zeichen von Nachlässigkeit. Eher so, als ob die Bewohner abgelenkt seien; sie bemerkten die Schäden nicht mehr, oder sie schauten nur kurz hin und meinten: »Darum kümmere ich mich nächste Woche.«

Die Kinder schlossen sich ihm an, Jack wirkte leicht aufgeregt, so als sei er nicht sicher, wie man sich in einer solchen Situation verhielt. Hirsch dachte erst daran, eine der Mütter anzurufen, aber der Handyempfang war schlecht. Außerdem mochte niemand einen Anruf von der Polizei, und die Frauen würden eh bald zurückkommen. Also, wie die Zeit totschlagen … Hirsch hielt es nicht für angebracht, das Haus uneingeladen zu betreten, aber auf dem Hof und in den Schuppen herumstreichen wollte er auch nicht. Außerdem musste er ein Auge auf die Kinder haben.

Er trat auf die Veranda und deutete auf eine Gruppe von Regiestühlen. »Warten wir hier.«

Sie setzten sich, und Hirsch fragte: »Wem gehört denn die .22er?«

»Meinem Dad«, flüsterte der Junge.

»Wozu braucht er die?«

»Kaninchen und so.«

»Hat er noch andere Waffen?«

»Noch eine .22er, eine .303er und eine Schrotflinte.«

»Wo sind sie denn?«

»In seinem Arbeitszimmer.«

Hirsch stellte seine Fragen ganz nebenbei, sprach leise und freundlich, gleichzeitig aber suchte er den staubigen Hof ab, schaute zu den Schuppen hinüber, sah einen Stapel Benzinfässer, einen leeren Hundezwinger, Viehhöfe, auf einer Nebenkoppel einen Ackersilo. Ein Nutzfahrzeug, ein Laster, kein Auto. Pflug und Egge standen im Gras neben einem Traktorschuppen. Eine bewirtschaftete Farm, doch heute arbeitete hier keiner, zumindest nicht rings ums Haus.

»Es kann also jeder an die Waffen und damit schießen?«

»Er schließt sie in einem Schrank ein.«

Hirsch zwinkerte Jack zu. »Und ich wette, du weißt, wo der Schlüssel ist, richtig?«

Jack schüttelte heftig den Kopf. »Nein, ehrlich nicht.«

»Er lügt nicht«, betonte Katie. »Wir haben das Gewehr genommen, das im Pick-up liegt. Ist doch nur ein kleines Gewehr für die Kaninchenjagd.«

Klein, übersehen und vergessen, dachte Hirsch. Manche halten es noch nicht mal für ein richtiges Gewehr.

Die Kinder hatten das wohl schon ein paarmal gemacht, nahm Hirsch an; sie hatten gewartet, bis die Erwachsenen außer Haus waren, dann hatten sie sich die Ruger geschnappt und waren den Bach entlang verschwunden, um ein wenig zu schießen. Munition? Kein Problem. Das Zeug klapperte ebenfalls übersehen und vergessen in einem Handschuhfach herum, in einer Manteltasche, einer Schublade.

Um die Situation ein wenig zu entspannen, fragte Hirsch: »Na, zwei Wochen Ferien?«

»Ja.«

Schweigen drohte. Hirsch sagte: »Kann ich den Schrank mal sehen?«

Jack führte ihn ins Arbeitszimmer; dort gab es einen schweren Holzschreibtisch mit Bürostuhl, einen Sessel, über dem ein Overall lag, einen Aktenschrank, Computer und Drucker, Bücherregale. Es roch nach Möbelpolitur und Waffenöl. Der Waffenschrank hatte eine Glastür, war an die Wand geschraubt, abgesperrt. Eine glänzende Brno .22, eine .303er mit Zielfernrohr, eine Schrotflinte, ein paar Schachteln Munition und ein Umschlag mit der Aufschrift Waffenscheine.

Hirsch bedankte sich bei dem Jungen; als sie auf die Veranda zurückkehrten, hörten sie den Schotter knirschen. Ein kastenförmiger weißer Volvo kam aufs Haus zugekrochen, als sei er misstrauisch, dort ein Polizeifahrzeug parken zu sehen. Katies Mutter saß am Steuer, nahm Hirsch an, Jacks Mutter auf dem Beifahrersitz; er hatte nicht die geringste Ahnung, was er den beiden sagen sollte. Er nahm das Handy aus der Tasche. Das Verschlussgeräusch der Handykamera hatte er bereits ausgeschaltet, und er machte sich bereit, die beiden zu fotografieren. Reine Gewohnheit, nach allem, was passiert war.

2

Als er sich die Bilder auf dem Handy später ansah, hatte er zwei Frauen in seinem Alter vor sich, also Mitte dreißig, die sich ebenso sehr voneinander unterschieden wie ihre Kinder. Katies Mutter tauchte als Erste auf, warf die Fahrertür zu und kam aufs Haus zu. Sie trug Jeans, T-Shirt, abgewetzte Sportschuhe; sie baute sich vor Hirsch auf und warf ihm einen misstrauischen Blick zu, als sie sich der Veranda näherte. Sie war so zierlich wie die Tochter; dunkel, unbeeindruckt.

Jacks Mutter folgte ihr, stieg in mehreren Etappen aus dem Wagen, schloss sanft die Tür, drückte dagegen, bis das Schloss einrastete, glitt um die Vorderseite des Wagens herum, so als zögere sie, Luft aufzuwirbeln. Hirsch fragte sich, ob sie sich wohl die rechte Hand verletzt hatte. Sie hielt sie mit gekrümmten Fingern unter die Brust gedrückt.

Katies Mutter war kurz vor den Verandastufen stehen geblieben und warf ihrer Tochter einen Blick zu. »Alles in Ordnung, Schätzchen?«

»Alles bestens.«

»Ausgezeichnet, ausgezeichnet.«

Hirsch nahm die volle Wucht eines bösen Blicks wahr, dachte, scheiß drauf, und streckte ihr seine Hand hin. »Hi. Paul Hirschhausen, Polizeistation Tiverton.« Grinsend fügte er hinzu: »Nennen Sie mich Hirsch.«

Die Frau starrte ihn an, seine Hand, wieder sein Gesicht; dann ließ ihr Zorn urplötzlich nach. Er war zwar noch nicht auf sicherem Boden, aber er bekam die Hand geschüttelt. »Wendy Street«, sagte sie, »und das ist Alison Latimer.«

Hirsch nickte zur Begrüßung; Latimer reagierte darauf mit einem Lächeln, das versuchte, nicht so kalt zu wirken. Sie war groß und hellhäutig; auf zurückhaltende Art hübsch, so als hege sie keine Erwartungen und kenne sich mit Enttäuschungen aus. Aber was weiß ich denn schon?, dachte Hirsch. Er hatte zu oft Leute falsch gedeutet und konnte die Narben vorweisen, um das zu belegen.

»Stimmt was nicht?«, platzte Alison heraus.

»Nichts allzu Schlimmes, aber etwas, worüber wir reden müssen.«

Bevor er weiter ausholen konnte, meinte Wendy Street: »Sie sind neu in Tiverton?«

»Ja.«

»Und Sie stehen in Redruth unter Kropps Kommando.«

»Ja.«

»Ist ja toll«, meinte sie trocken.

»Gibt es ein Problem?«

Er hatte vielleicht ein kurzes Schulterzucken wahrgenommen, dann grinste sie über seine zerrissene Hose, und ihre braunen Augen blitzten kurz warm auf. »Haben die Kinder Sie vermöbelt?«

»Ganz allein meine Schuld«, sagte Hirsch.

»Aha. Also, Sie wollten etwas bereden?«

Hirsch verharmloste die Sache ein wenig und beschloss, Kropps Anruf nicht zu erwähnen; er erklärte, dass er im Vorbeifahren Schüsse gehört und die Kinder dabei ertappt hatte, wie sie mit einem Gewehr ballerten.

Alison Latimer machte ein entsetztes Gesicht. »Ach, Jack.«

Jack sah zu Boden. Katie stand mit verschränkten Armen da und sah in die Ferne. Wendy Street sagte nur: »Sie sind also zufällig in Ihrem Allradfahrzeug vorbeigekommen und haben Schüsse gehört.«

Hirsch klang jetzt etwas strenger: »Ein Baum war über die Straße gestürzt. Als ich ausstieg, um ihn zu beseitigen, flog mir eine Kugel um die Ohren.«

Jetzt verstanden?

Es funktionierte. Die Frauen waren bestürzt. Sie drehten sich zu den Kindern um, wandten sich wieder an Hirsch und gaben einen Schwall an Entschuldigungen und Selbstvorwürfen von sich.

»Hören Sie«, sagte Hirsch, »ist ja nichts passiert. Aber ich finde, das Gewehr sollte von jetzt ab weggesperrt werden.« Er holte es aus dem HiLux und reichte es Jacks Mutter. »Haben Sie dafür eine Erlaubnis?«

Alison nickte. Sie hielt die Waffe etwas komisch, so als fehlte ihrer rechten Hand die Kraft, und nahm die linke Hand, um den Bolzen zu öffnen. Dabei blitzte ein schöner altmodischer Diamantring rot auf. Dann zeigte sie ihm, dass die Kammer leer war. Eine hübsche Frau voller Anspannungen und Entbehrungen; sie hielt sich steif, so als seien ihre Gelenke eingerastet. Leise murmelte sie: »Ich kann Ihnen den Papierkram zeigen, wenn Sie wollen.«

»Schon okay«, winkte Hirsch, obwohl er wusste, dass er das nachprüfen sollte. Aber er war ja nicht unter Gaunern. »Hören Sie, Sie betreiben eine Farm, da ist es kein Fehler, ein paar Gewehre zur Hand zu haben, aber bitte halten Sie sie unter Verschluss, damit die Kinder sie nicht an sich nehmen können. Keine Schießübungen ohne Aufsicht.«

Die ganze Zeit über sah Wendy Street ihre Nachbarin angestrengt an. Alison, die die Kraft dahinter spürte, brach in Tränen aus. »Es tut mir so leid, Wendy, ich wusste nicht …«

»Allie, du weißt, wie sehr ich Waffen verabscheue.«

Dann lenkte sie ein und berührte die andere Frau am Handrücken. »Bitte, bitte, bitte, halte sie unter Verschluss.«

»Mach ich.«

Und an die Kinder gewandt: »Und ihr beide, keine Schießereien mehr. Okay?«

»Okay«, sagte Jack.

Katie sagte nicht ja und nicht nein.

Wendy war noch nicht fertig. Sie umklammerte Hirschs Unterarm. »Unter vier Augen?«

Überrascht willigte er ein.

Sie führte ihn zu ihrem Wagen; Hirsch wartete, beobachtete das Haus, die andere Mutter, die Kinder. »Was ist denn?«

»Ich kenne Sie nicht, ich weiß nicht, ob ich Ihnen trauen kann.«

Darauf konnte Hirsch nichts erwidern.

»Ich unterrichte an der Highschool in Redruth.«

»Okay.«

»Ich habe gesehen, wie Sergeant Kropp und seine Männer die Menschen behandeln.«

Hirsch strich sich übers Kinn. »Darüber weiß ich nichts, ich bin neu hier. Was hat das mit Jack und Katie zu tun?«

»Also gut«, sagte Wendy und holte tief Luft, »ich gebe Ihnen einen Vertrauensvorschuss … Allies Gatte ist ein Grobian, müssen Sie wissen. Wenn er davon erfährt, wird das nicht gut ausgehen. Und er wird davon erfahren, weil er ein guter Kumpel von Sergeant Kropp ist.«

Soll heißen, dachte Hirsch, dass sie es gut finden würde, wenn ich den Mund halte.

»Ich nehme an, Sie werden ganz nach Vorschrift handeln müssen«, meinte Wendy verbittert.

»Nun, es gibt solche und solche Vorschriften«, wiegelte Hirsch ab.

Sie sah ihn kurz an, legte den Kopf zur Seite und nickte ganz leicht. Dann biss sie sich auf die Unterlippe, so als sei sie schon zu weit gegangen.

Hirsch sagte: »Wenn Mr Latimer gewalttätig zu seiner Familie ist, kann ich sie an eine Betreuungsstelle verweisen. Sergeant Kropp muss nichts davon erfahren.«

Wendy Streets Anspannung veränderte sich, ließ aber nicht nach. »Im Augenblick zählt nur die Sache mit dem Rumschießen. Wenn Sie das melden müssen, dann ist das wohl so – aber es wäre mir lieber, wenn nicht.«

Hirsch nickte ganz leicht zurück. »Belassen wir es bei einer freundlichen Ermahnung. Es wäre etwas anderes gewesen, wenn jemand verletzt worden wäre oder die Kugel durch das Autodach geschlagen wäre.« Er hielt inne. »Allein der Papierkram.«

Sie schenkte ihm ein knappes Lächeln, doch schon nagte sie wieder an der Unterlippe. Sie warf einen beunruhigten Blick hinüber zu den Kindern, die aufmerksam zuschauten. Sie wussten, dass hier etwas ausgehandelt wurde.

»Über die Umstände weiß ich nichts – ich weiß nicht, wo sich die Waffe befand, wo sie die Munition gefunden haben oder wessen Idee das war –, aber ich glaube, ich kenne den Grund dafür.«

Auf der Bitter Wash Road fuhr ein Wagen vorbei, Reifen zermalmten die kurzlebige Paste aus Regenwasser, Staub und Kieseln. Hirsch hörte es deutlich, und er bemerkte den Duft des Landes: Eukalyptus, Kiefer, Rosen, Gras und Pollen, ein Hauch von Dung und Wollfett. Seine aufgeschürfte Hand tat ihm weh, fiel ihm auf. Alle seine Sinneswahrnehmungen waren plötzlich hellwach.

»Pullar und Hanson«, sagte er.

Ihr klappte der Mund auf. »Haben sie Ihnen von dem Auto erzählt, das sie gestern gesehen haben?«

»Ja.«

Wendy verschränkte die Arme. »Es waren wahrscheinlich nicht Pullar und Hanson, ich weiß schon, aber der Punkt ist, sie haben Angst. Seit diesen Meldungen in den Nachrichten sammelt Katie alle Zeitungsausschnitte, und Jack hat Albträume. Die Schießübungen sind reiner Selbstschutz.«

Aus dem HiLux drangen statisches Rauschen und Knistern. »Augenblick, bitte.« Hirsch streckte die Hand in den Wagen und griff nach dem Funkgerät. Sergeant Kropp wollte wissen, wo er gerade steckte.

»Ich schau mich um, Sarge«, antwortete Hirsch und sah Wendy Street hinterher, die zur Veranda zurückging. »Keine Spur von einem Schützen.«

»Na gut, bewegen Sie Ihren Arsch nach Muncowie. Setzen Sie sich dort mit einem Mr Stewart Nancarrow in Verbindung, der ist irgendwo dort in der Gegend in einem weißen Pajero mit New-South-Wales-Nummernschild auf dem Weg von Broken Hill nach Adelaide.«

Hirsch machte sich Notizen. »Und aus welchem Grund?«

»Neben der Straße liegt eine Leiche.«

3

Hirschs erster Gedanke war: Pullar und Hanson, die Kinder hatten recht, und er spürte, wie sich Entsetzen in seine Aufregung mischte. »Verdächtig?«

»Wahrscheinlich Unfall mit Fahrerflucht.«

Hirsch ordnete seine Gedanken neu: also nicht Pullar und Hanson. »Nancarrow?«

»Nein. Er behauptet, er habe angehalten, weil er mal musste, und eine tote Frau im Staub liegen sehen.« Nach einer kurzen Pause fügte Kropp an: »Dr McAskill ist schon auf dem Weg.«

»Ich auch, Sarge.«

Hirsch hängte das Funkgerät wieder ein. Die Frauen und ihre Kinder beobachteten ihn von der Veranda aus. »Ich muss los«, rief er und kletterte hinters Lenkrad. Für seine Mühen bekam er ein leichtes Kopfnicken und ein paar halbherzige Handbewegungen zum Abschied.

Hirsch hielt am Tor an und gab Muncowie in das Navi ein. Das dirigierte ihn keineswegs zurück zum Highway, wie er gedacht hätte, sondern weiter die Bitter Wash Road entlang, die schließlich einen Bogen in Richtung Norden schlug und sich in kleinere Straßen verzweigte. Eine davon führte westwärts zum Barrier Highway, nur eine kurze Strecke nördlich von Muncowie.

Die Strecke war kürzer, wie Hirsch an der Karte sehen konnte. Der Großteil der Strecke war nicht asphaltiert.

Nach zwanzig Minuten umkurvte er Razorback, kam durch eine Gegend voller rotem Staub und Mallee-Buschland, und die Straße war dort, wo kein steiniger Unterbau vorhanden war, zerfahren und pudrig. Hier war letzte Nacht nur sehr wenig Regen gefallen; so als sei ein Schalter umgelegt worden, konnte man den Übergang von landwirtschaftlich nutzbarem Land zu Halbwüste erkennen. Pachtland auf hundert Jahre, erkennbar an durchhängenden Drahtzäunen, sandigen Fahrspuren und Bachläufen voller Kiesel, die aussahen wie verformte Kricketbälle. Mit Glück fand man in diesen Bachläufen einen Brocken Gold, mit Pech verstauchte man sich den Knöchel. Früher oder später verließ man die Gegend wieder: Hirsch sah ein Dutzend gemauerter Kamine und augenlose Hütten im Busch stehen, mühsam einem Fleck roter Erde abgerungen, in den sie nun wieder versanken.

Ameisenhügel, sandige Auswaschungen, an Toren baumelnde Fuchsschwänze, ein paar verrottende Merinoschafkadaver, ein alter Austin-Laster ohne Ladefläche unter einem großen Eukalyptusbaum. Verwitterte Zaunpfosten und müde, rostige Drahtschlaufen, die sie miteinander verbanden. Hirsch sah einen Adler, ein Emu, ein paar Schwarzottern. Gedämpft rosa, braun und grau lag das Land da, geisterhaft umstanden von den blassblauen Hügeln am Horizont.

Das alles konnte er sehen. Was er nicht sah, nur spürte, waren aufgelassene Goldgräberfelder, Schächte, ockerfarbene Hände, auf Felswände schabloniert. Eine drängende Landschaft, die Hirsch Angst machte. Der Himmel lag drückend über allem, und das Gestrüpp duckte sich. »Es ist hübsch da draußen«, hatte ihm einer der Ortsansässigen versichert, während er darauf wartete, dass Hirsch eine eidesstattliche Erklärung bezeugte.

Er durchfuhr Bachläufe und entdeckte auf einer Anhöhe eine winzige Kirche. Was zum Henker machte diese winzige steinerne Nussschale von Kirche dort? Nun predigte sie anderen Nussschalen, nahm er an, aufgegeben worden von den Männern und Frauen, die sich hier niedergelassen hatten, gescheitert und weggegangen waren.

Hirsch kämpfte mit der Lenkung, mit Gangschaltung und Kupplung. Der Fuß tat ihm weh. Selbst der HiLux hatte seine Mühe, sprang und scherte störrisch aus, brachte ihn nur im Schritttempo durch das Hinterland. Das musste man der neuen Technik schon lassen, das Navi führte ihn auf dem kürzesten Weg zum Ziel, kümmerte sich aber nicht weiter um die örtlichen Gegebenheiten. Bei diesem Tempo würde Hirsch ewig brauchen, bis er nach Muncowie kam, noch länger, wenn er sich die Ölwanne aufriss oder einen Platten holte.

Dann war er endlich wieder auf dem Highway. Muncowie 7 km stand auf dem Schild. Er bog ein und fuhr nach Süden; das Tal war hier weniger deutlich zu erkennen, und die Straße zog einen Strich über eine breite, flache Ebene. Hirsch hatte das Gefühl, als würde er weit über dem Meeresspiegel fahren, der Himmel ausgedehnt und nicht mehr drückend, die Hügel zu beiden Seiten nur ein weit entfernter Schimmer. Felder, Vieh und Zäune waren in etwas besserem Zustand als in der Gegend, aus der er gerade kam, das Gras üppiger und grüner, weniger Staub, so als sei er wieder durch den Regenschatten gekommen, hinter sich das unfruchtbare Land, vor sich das bessere.

Dann entdeckte er in der Leere ein anderes Fahrzeug. Schwarz. Es kam näher.

Kein Chrysler. Ein Falcon, wie er im Vorbeifahren sah.

Hirsch dachte an Pullar und Hanson. Was Zeit, Ort und Logik anging, ergab es keinen Sinn, dass sie hierhergekommen sein sollten. Wozu zweitausend Kilometer in einem auffälligen Wagen zurücklegen und die Gegend verlassen, in der sie sich auskannten? Hirsch konnte sich das nicht vorstellen. Was er sich allerdings vorstellen konnte, war, wie die Männer in einer Gegend wie dieser hier auf Jagd gehen würden. Bislang hatten sie sich auf die Kellnerinnen in Rasthäusern gestürzt, auf Hausfrauen und Teenagerinnen auf einsamen Landstraßen.

Begonnen hatte das alles als lokale Randnotiz, eine Queensland-Story – eine zugegeben grausame –, die sich rasend schnell verbreitet hatte, als Channel Nine groß darüber berichtete und den Killern Raum gab. Im August hatten ein vierzigjähriger Junkie aus Mount Isa namens Clay Pullar und ein achtzehnjähriger Kokser aus Brisbane namens Brent Hanson innerhalb von zwei Wochen drei Kellnerinnen vergewaltigt und ermordet. Die Polizei hatte die Männer auf einem Campingplatz im nördlichen New South Wales aufgespürt, war aber zu spät gekommen. Dort fanden sie die an ein Bett gefesselte Leiche einer kanadischen Tramperin. Später wurden die Männer in Cairns gesichtet, in Bourke, Alice Springs, Darwin … nichts Konkretes, bis sie auf einer Farm bei Wagga einbrachen, dort die junge Tochter vor den Augen der gefesselten Eltern vergewaltigten und mit der jungen Frau nordwärts auf eine Farm jenseits der Staatsgrenze am Fluss bei Dirranbandi flohen.

Von dort aus rief Pullar selbstzufrieden auf dem Handy bei Channel Nine an. Er hatte gerade jemanden davon überzeugt, wer er war, als das Signal abbrach, also schickte Channel Nine einen Reporter und einen Kameramann mit einem Hubschrauber los, der lang genug auf dem Hinterhof landete, um ein Satellitentelefon abzuwerfen, wieder abhob, um dann über dem Haus zu kreisen. Pullar tauchte auf. Selbst durch das Teleobjektiv wirkte er noch groß, hager, hart, irre. Er grinste und winkte, zeigte Zahnstummel, schnappte sich das Telefon, ging wieder ins Haus und gab eine Erklärung ab. Exklusiv, ein Live-Interview, was Besseres gab es doch nicht. Scheiß auf die ethischen Grundsätze, die Öffentlichkeit hatte ein Recht auf Information. Scheiß auch auf Sinn und Verstand; Pullar gab nicht ein vernünftiges Wort von sich, war völlig durchgeknallt.

Die Polizei brauchte eine halbe Stunde bis zu dem Ort. Sie umstellten das Haus, unterbrachen den Funkverkehr, scheuchten den Hubschrauber davon – und warteten. Es wurde Nacht. Sie versuchten, mit Pullar und Hanson zu reden. Nach ein paar Stunden des Schweigens kam den Männern die Idee, das Haus zu stürmen …

Sie fanden ein bewusstloses älteres Ehepaar und die nackte, traumatisierte junge Frau aus Wagga vor. Keine Spur von Pullar und Hanson, die waren zu Fuß zu einem Nachbarhaus geflohen, wo sie einen fetten schwarzen Chrysler 300C Kombi stahlen. Bei Tagesanbruch waren sie schon Hunderte Kilometer weiter nördlich, offenbar auf dem Weg nach Longreach. Jedes andere Vergewaltiger-Mörder-Gespann hätte den Chrysler bei erster Gelegenheit gegen etwas Unauffälligeres getauscht, doch wie Pullar erneut am Telefon zu Channel Nine sagte: »Mann, diese Karre ist richtig geil.«

Hirsch drückte die Augen zu. Die Sonne brannte vom Himmel, und die Straße schimmerte nur so von Spiegelungen. Dann tauchte zweihundert Meter neben dem Highway eine Ansammlung baufälliger Häuser auf. Muncowie stand auf dem Schild, ein Pfeil deutete auf die kleine Abzweigung, die zu dem Ort führte, der keinerlei Funktion zu haben schien. Rostige Dächer, müde Bäume, Sonne, die sich schwach in einer Fensterscheibe brach.

Dann hatte Hirsch die Siedlung schon hinter sich. Einen Kilometer weiter tauchte ein weißer Pajero auf, der am Highway stand. Ein Mann lehnte daran; im Fahrzeug waren hinter getönten Scheiben undeutlich Köpfe zu sehen. Hirsch hielt an, stellte den Motor ab, stieg aus und reckte sich. Er konnte die Insassen des Pajero jetzt deutlicher erkennen: eine Frau auf dem Beifahrersitz, hinten zwei Kinder, wie es aussah. Gepäck auf dem Dachgepäckträger festgezurrt.

Der Fahrer kam um das Fahrzeug herum und streckte ihm eine mächtige Pranke hin. »Nancarrow, ich habe angerufen.«

Kräftige Unterarme, Fassbrust, sonnenverbrannte Haut, Sonnenbrille auf eine hohe, glänzende Stirn geschoben. Aus Broken Hill, hatte Kropp gesagt. Minenarbeiter? »Auf dem Weg nach Süden in den Urlaub?«, fragte Hirsch. »Die ganze Familie?«

»Zwei Wochen«, sagte Nancarrow.

Hirsch ging zur Front des Pajero, besah sich Stoßstange und die beiden Kotflügel. Staub, Fliegendreck, keine Dellen, kein Blut. »Sie haben eine Leiche gefunden?«

Nancarrow beobachtete ihn und sagte dann: »Da unten.«

Die Asphaltdecke lag ein paar Meter über dem narbigen Boden und den Auswaschungsrinnen. Grasbüschel und ein paar traurige Maleebäumchen klammerten sich in der Nähe an den Rand einer kleinen Einbuchtung. Wenn man als Mann Wasser lassen wollte, dann wohl dort. Zwei feuchte Flecken nebeneinander im Staub. Vater und Sohn?

Wie zur Antwort sagte Nancarrow: »Mein Sohn und ich sind zum Pinkeln da runtergegangen, da haben wir sie gefunden.«

Hirsch warf einen besorgten Blick zum Wagen hinüber. »Schon in Ordnung«, wiegelte Nancarrow ab, »er ist noch klein. Ich hab ihm gesagt, die Dame ist hingefallen, und gleich kommt ein Krankenwagen und bringt sie ins Krankenhaus.«

»Haben Sie sie angefasst?«

»Himmel, nein. Ich hab mich nur darum gekümmert, dass der Junge in den Wagen kommt, bevor er zu neugierig wird.«

»Wie haben Sie den Notruf erreicht? Gibt es hier Handyempfang?«

»Nein, tot. Null. Ich hab vom Pub aus angerufen.« Er wies nach hinten die Straße entlang.

Hirsch nickte und schob eine andere Frage ein. »Wer ist sie?«

Nancarrow blinzelte. »Was? Wer …? Woher soll ich das wissen?«

»Vielleicht ist sie mit Ihnen gefahren? Nachbarin, Babysitter, Nichte? Eine Anhalterin?«

»Ich weiß, was Sie andeuten wollen, und die Antwort lautet nein. Ich hab nur angehalten, um mal am Straßenrand zu pinkeln, da habe ich die Frau da liegen sehen, das wars.«

Hirsch nickte verdrießlich. Vielleicht kannten sie sie ja in dem Pub. »Danke, dass Sie Meldung gemacht und gewartet haben.«

Nancarrow lächelte traurig und ein wenig schief. »Zum Glück nicht mehr mein Problem, Mann«, hieß das, und: »Tut mir leid, dass ich nicht weiter helfen kann«, und »Gott sei Dank kann ich endlich weiterfahren.« Vielleicht sogar noch: »Arme Frau, wer immer sie auch ist.«

Hirsch notierte sich Nancarrows Adresse und Telefonnummer. Als er allein war, nahm er die Canon aus dem Handschuhfach und trat vorsichtig an den Rand der Vertiefung, um nicht die Schichten aus Staub, Kieseln und Schotter aufzuwirbeln. Die Tote lag nicht weit vom Rand entfernt. Hirsch sah sich auf dem Boden um. Die Schauer der letzten Nacht hatten eine gesprenkelte Kruste hinterlassen, Abdrücke wären also deutlich zu sehen gewesen. Hirsch sah keinen Stiefel- oder Schuhabdruck, keine Schleifspuren, nur die feinen Fährten von Bodentieren und Vögeln, die die Leiche umkreist hatten. Ein Fuchs oder Wildhund hatte an ihrem Unterarm geknabbert, eine Krähe ihr das sichtbare linke Auge ausgehackt. Ameisen machten sich über sie her. Fliegen. Die Frau war offenkundig tot, aber Hirsch war verpflichtet, das zu überprüfen.

Erst schoss er eine Reihe von Fotos, den Fundort von allen Seiten, dann die Perspektiven: Die Leiche in Relation zur Straße, zu einem Graben, zu der Siedlung auf der anderen Seite auf einem Abschnitt ausgelaugter roter Erde. Schließlich trat er in die Senke, kauerte sich hin und suchte einen Puls. Nichts. Ihre Kleidung war noch klamm.

Hirsch stand auf und machte einen Schritt zurück.

Sie war getroffen worden, als sie am Straßenrand ging oder mitgenommen werden wollte, und fiel in die Kuhle; sie war aus einem fahrenden Wagen gefallen; sie war aus einem fahrenden Wagen geworfen worden; sie war andernorts umgebracht und dann von der Straße aus hier abgelegt worden.

Sie lag wie schlafend mit dem Gesicht nach unten, die Brust auf dem Boden, aber die linke Hüfte schräg nach oben verdreht, die Beine leicht geöffnet, ein Knie gebeugt. Der rechte Arm war unter der rechten Hüfte eingeklemmt, die rechte Wange in den Staub gedrückt, so als wolle sie am ausgestreckten linken Arm entlang schauen: Blind, dachte Hirsch, als ihm die leere Augenhöhle wieder einfiel. Vielleicht war das andere Auge noch intakt, das im Staub lag. Es gab recht wenig Blut.

Hirsch machte weitere Aufnahmen und konzentrierte sich diesmal auf die Kleidung. Enge schwarze Jeans, weißes T-Shirt, winzige beige Strickjacke, nackte Füße in Leinenschuhen. Das T-Shirt war hochgerutscht und ließ eine zarte Wirbelsäule erkennen, schmale Taille, das obere Riemchen eines schwarzen Tangas. Blaue Flecken, Abschürfungen. Ein Silberkettchen um den Hals. Keine Armbanduhr, aber kunsthandwerkliche Silberringe an den Fingern, und an ihrem sichtbaren Ohr ein Silberring mit einem Scrabblestein, dem Buchstaben M.

Ausweis? Hirsch sah nirgendwo eine Tasche oder Brieftasche. Wenn sie von einem Fahrzeug angefahren worden war oder getroffen und ein Stück weit getragen worden war, dann würden ihre Sachen noch ein Stück entfernt liegen. Dafür war später Zeit.