Bitterkaltes Land - Regine Seemann - E-Book

Bitterkaltes Land E-Book

Regine Seemann

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Beschreibung

Auf dem Heimweg von einer Feier kommen Banu Kurtoğlu und Stella Brandes zufällig an einem brennenden Waldhäuschen vorbei. Die Journalistin Viktoria Beck kommt darin um. Der erste Verdacht fällt auf Becks Ex-Mann. Doch auch ihre Arbeit gerät in den Fokus der Ermittlungen, denn diese führte sie ins Alte Land zu einer Familie, die glaubt, von Dämonen heimgesucht zu werden. Als sich ein Zusammenhang zwischen dem Flammentod und der Familie abzeichnet, müssen die Kommissarinnen erkennen, dass das Grauen erst begonnen hat.

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Regine Seemann

Bitterkaltes Land

Kriminalroman

Zum Buch

Hexenjagd In der Walpurgisnacht feiert die Mordbereitschaft 5 die Hochzeit ihres Chefs Thorsten Fock mit der Polizeipsychologin Katharina Meyer-Paretzki. Auf dem Rückweg von der Party müssen Banu Kurtoğlu, Stella Brandes und ihre Kollegen einen Umweg nehmen und stoßen im Wald auf ein brennendes Haus. Es gibt ein Todesopfer: die Journalistin Viktoria Beck. Obwohl die Mitarbeiter der M5 eigentlich am nächsten Tag frei haben, bestehen sie darauf, den Fall zu übernehmen. Der erste Verdacht fällt auf Becks Ex-Mann, denn er wurde am Abend des Brandes in der Nähe gesehen. Doch auch eine andere Fährte ist interessant. In den Aufzeichnungen der Journalistin gibt es Hinweise auf eine Familie, die sich von Hexenzauber verfolgt fühlt. Und auch eine Kinderpflegerin, die einem Dutzend Kindern das Leben gerettet hat, war Ziel ihrer Recherchen. Beide Geschichten verbindet ein Schauplatz: das Alte Land. Und so tauchen die Ermittlerinnen ein in die Atmosphäre dieser einzigartigen Landschaft, deren Vergangenheit ein grauenvolles Geheimnis birgt.

Regine Seemann, 1968 in Hamburg geboren, lebt mit Ehemann, Sohn und einem Rudel Katzen nahe der Fischbeker Heide, dem südwestlichsten Teil Hamburgs. Sie hat Deutsch und Biologie auf Lehramt studiert und arbeitet seit mehreren Jahren als Schulleiterin einer Hamburger Grundschule, was ähnlich spannend ist wie Krimis schreiben. Ihr Interesse an der Geschichte ihrer Heimatstadt spiegelt sich in ihren Krimis wider, die neben der Handlung in der Gegenwart auch immer ein Stück Hamburger Vergangenheit aufgreifen.

Mehr Informationen zur Autorin finden Sie auf der Facebook-Seite: Regine Seemann Autorin

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

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Alle Rechte vorbehalten

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung der Fotos von: © imageBROKER / stock.adobe.com und Dirk Buse / shutterstock.com

ISBN 978-3-8392-7834-5

Widmung

Für Christoph und Leander, meine Lieblingsmänner, mit denen ich Tränen lachen kann, die mir bei Bedarf aber auch immer eine Ausweinschulter bieten. Was wäre ich ohne euch?

Prolog

Sie erwachte mit dem Gesicht auf dem unebenen Steinboden. Langsam lichtete sich der Nebel der Benommenheit und machte einer schrecklichen Erkenntnis Platz. Sie tastete sich an der klammen Wand entlang und versuchte aufzustehen. Ihre Beine gaben jedoch unter ihr nach, und ihr Körper sackte wieder in sich zusammen.

Sie traute sich nicht, die Augen zu öffnen, da sie wusste, dass sie da waren. Ihr Jammern klang heiser in der Dunkelheit. Ihr Atem waberte durch den Raum. Er roch nach Verwesung. Sie blinzelte mit einem Auge. Die Tür, Grenze zwischen Licht und Dunkelheit, schien meilenweit entfernt. Dennoch stand ihr Entschluss fest: Sie würde alle ihre Kräfte mobilisieren, um hier herauszukommen.

Als sie sich von der Wand abstieß und auf den Knien landete, streifte etwas ihre Wange. Zunächst war es fast, als würde ein Käfer über ihre Haut krabbeln, ein zarter Kontakt nur, kaum wahrnehmbar. Dann begann etwas an ihrem Gesicht zu ziehen. Und an ihren Haaren. Die spröden Knochenhände griffen nach ihr. Sie waren überall, kauernde Gestalten in der Dunkelheit.

Sie begann schneller zu kriechen, aber mit einem Ruck wurde ihr Kopf nach hinten gerissen und ihr Haarknoten löste sich. Der Verwesungsgestank wurde immer bestialischer. Sie wollte nur noch durch die Nase atmen, aber spitze Finger stachen in ihren Mund und zwangen sie, ihn weit zu öffnen. Der Schweiß lief ihr in Rinnsalen über das Gesicht, und sie wischte ihn mit ihrem Ärmel weg. Sie roch, dass es Blut war. Und auf einmal kam auch der Schmerz. Sie machte ihre Augen auf, denn sie wusste, dass sie verloren hatte. Eine Flucht war unmöglich. Sie blieb einfach auf dem Boden liegen und fühlte die Kiefer, die sich in ihr Fleisch gruben. Die Bewohner des Verlieses stillten ihren Hunger an ihr, und bald war auch sie nur noch ein Haufen Knochen ohne Erinnerung.

Montag, der 30. April 2018

Kriminalkommissarin Stella Brandes legte ein Küchlein auf ihren Teller und stach mit der Gabel hinein. Sofort ergoss sich ein See geschmolzener Schokolade aus seinem Inneren. Stella konnte nicht anders, als den Finger hineinzutauchen und ihn genüsslich abzulecken. Von der rechten Seite hörte sie das missbilligende Schnalzen ihrer Kollegin Banu Kurtoğlu.

»Eigentlich dachte ich, dass ich heute davon verschont bleiben würde, jemanden auf Tischmanieren hinweisen zu müssen, aber ist wohl Fehlanzeige.«

»Du meinst, weil du deinen Sohn gerade nicht damit nerven kannst, nervst du mich?«

Banu grinste. »Was soll’s?«, sagte sie, nahm ihre Gabel, teilte ein kleines Stück von Stellas Schokokuchen ab und steckte es sich in den Mund. »Einen ganzen Kuchen schaffe ich nicht.«

»Das glaube ich dir sogar. Du bist nur noch ein Strich in der Landschaft.« Stella musterte ihre Kollegin amüsiert. Trotz ihrer fast täglichen und langjährigen Zusammenarbeit hatte sie Banu bisher selten auf feierlichen Anlässen gesehen. Im Alltag hatte ihre Kollegin kein sicheres Händchen für das Kombinieren von Farben. Bestenfalls konnte man viele ihrer verwegenen Farbzusammenstellungen als Colour Blocking durchgehen lassen. Geschminkt war sie hingegen meistens eher schlicht.

Aber heute, auf der Hochzeitsfeier ihres Chefs, hatte Banu mit Sicherheit völlig unbewusst ihr figurbetontes dunkelrotes Paillettenkleid stilsicher mit einem schlichten schwarzen Bolero kombiniert. Zudem hatte sie alles aufs Gesicht getan, was die Schminktasche hergegeben hatte. Und das zeigte Wirkung. Stella war aufgefallen, dass einige ihrer männlichen Kollegen Banu verwundert ansahen und vor allem Theo vom Verfassungsschutz einen so langen und verzückten Blick auf Banus Dekolleté warf, dass seine Frau ihm mit dem Ellenbogen in die Rippen stieß. Banu allerdings schien von alledem nichts mitzukriegen. Sie hatte neuerdings aufgehört, ihre streichholzkurzen Haare zu färben, und der silbrige Grannylook hob ihre großen braunen Augen mit den dichten Wimpern äußerst vorteilhaft hervor.

Seit ungefähr einem Jahr joggte Banu regelmäßig und hatte vor einigen Monaten auch mit Krafttraining begonnen. Stella kam nicht umhin zu bemerken, dass dies einiges für den Körper ihrer Kollegin getan hatte. »Ach was, ich mache nur Spaß«, sagte sie. »Du siehst toll aus.«

Langsam ging die Sonne unter und warf ihr orangenes Licht auf die Pflanzen des Gartencenters. Thorsten Fock und Katharina Mayer-Paretzki, die seit ziemlich genau zehn Stunden verheiratet waren, hatten eine gemeinsame Leidenschaft: ihr Garten und alles, was in ihm grünte und blühte. Und so war es nur folgerichtig, dass sie ihre Hochzeit in einem Gartencenter kurz hinter der nördlichen Stadtgrenze Hamburgs feierten, das Katharinas Cousin gehörte. Zwischen den Pflanzen im Außenbereich waren Tische unter Pavillons mit transparenten Dächern aufgestellt worden, und Hunderte von Strahlern würden die Szenerie erleuchten, wenn das Tageslicht ganz verschwunden war. Schon jetzt bei Sonnenuntergang hatte das Ganze etwas von einem Märchenwald. Stella fand es sehr praktisch, dass Thorsten alle Gäste, die er von seiner Polizeiarbeit kannte, an einen Tisch gesetzt hatte. Denn sie hatten noch etwas vor. Sie gab ihrem Kollegen Dario Wilks ein Zeichen, dieser bückte sich und griff nach der großen Reisetasche, die er unter dem Tisch versteckt hatte. »Ich verteile die Accessoires, und dann geht’s los«, flüsterte er verschwörerisch.

Es gab Menschen, die Angst hatten, sich nachts im Wald aufzuhalten. Für Viktoria galt das nicht. Gerade im späten Frühjahr war der nächtliche Wald ein Fest für die Sinne. Im Mondlicht schimmerten die verschiedenen Grüntöne der Blätter und Moose und das Unterholz knackte unter dem Gewicht der tierischen Waldbewohner, die nachts auf Beutezug gingen oder vor ihren Jägern flohen. Viktoria sog den erdigen Geruch des vom gestrigen Regen noch nassen Waldbodens ein und stand dann von ihrer Yogamatte auf, um ihre heutige Meditation zu beenden. Es gab noch einiges zu tun und sie hatte das Gefühl, dass ihr die Zeit davonlief. Spätestens Ende der Woche wollte sie ihre Notizen in die richtige Reihenfolge gebracht haben, um einen strukturierten Rahmen für ihre Arbeit zu schaffen. Viktoria griff nach ihrer Wasserflasche, ging die rund fünfzig Schritte zu dem kleinen windschiefen Häuschen und stieß die Tür auf, die nur lose angelehnt war. Während der letzten Stunde war sie vollends in ihr inneres Selbst versunken gewesen und hatte Kraft daraus gezogen. Nun war sie bereit, die Nacht durchzuarbeiten.

*

»Im Präsidium nachts um halb eins«, säuselte Stella und legte ihren Kopf auf die Schultern des Rechtsmediziners Thies Seligmann. Banu bremste scharf, um den Feldhasen zu verschonen, der gerade sehr unbesonnen über die Landstraße hoppelte. Da sie keinen Alkohol trank, musste sie bei jeglichen Festivitäten als Autofahrerin herhalten. Und so natürlich auch heute.

»Wir waren toll«, bemerkte ihr Kollege Gunnar und klopfte Stella auf den Oberschenkel. Und auch Banu war ein kleines bisschen stolz auf ihren Auftritt bei der Hochzeit ihres Chefs. Singen war eigentlich gar nicht ihr Ding. Aber gemeinsam mit den anderen elf Mitarbeitern aus dem Präsidium und drei Kollegen von der Rechtsmedizin hatten sie einen ganz passablen Chor abgegeben und das umgedichtete Hamburger Liedgut recht stimmig präsentiert. Um halb zwei Uhr morgens schien es Banu, als wäre sie die einzig nüchterne Person auf der Feier. Da sie versprochen hatte, ihren Sohn Can am nächsten Mittag zum Flughafen zu bringen, hatte sie um kurz nach zwei rigoros angefangen, ihre Mitfahrer einzusammeln.

Die Landstraße kam ihr endlos vor, und es steigerte nicht gerade ihre Stimmung, als Dario sie bat, rechts ranzufahren, weil er sich übergeben musste. Ein Blick in den Rückspiegel zeigte eine schlafende Stella, die leise vor sich hin schnarchte. Die Kapitänsmütze, die sie nach ihrem Auftritt nicht mehr hatte absetzen wollen, war ihr vom Kopf gerutscht und auf den Schoß von Thies Seligmann gefallen. Dieser grinste angeheitert, versuchte jedoch, möglichst wenig Körperkontakt zu Stella zu halten. Banu vermutete, er fürchtete die Missbilligung seiner Frau, wenn jemand ihr berichtete, dass er einen Arm um eine der attraktivsten Polizistinnen Norddeutschlands geschlungen hatte. Der Rechtsmediziner hielt seine eigenen Knie umklammert und drückte sich gegen die linke Tür des Autos. Rechts neben Stella saß ihr Kollege Gunnar, dem gerade buntes Konfetti aus dem Haar rieselte. Er schien Banu der Nüchternste von allen ihren Fahrgästen zu sein. Interessant war, dass fast alle Kolleginnen und Kollegen ohne Anhang zu der Feier gekommen waren.

Stellas Lebensgefährte, der Schauspieler Jupiter Jones, drehte gerade eine Folge der Serie »Im Namen der Ahnen« auf einer kleinen nordfriesischen Hallig und war dort nicht abkömmlich. Dario hatte ihnen bereits vor einiger Zeit mitgeteilt, dass er momentan einen männlichen Partner hatte und nicht wusste, wie fortschrittlich das Hamburger Polizeiwesen im Bereich der sexuellen Orientierung sei. Er wollte dies nicht unbedingt auf der Hochzeitsfeier seines Chefs erforschen. Von Thies Seligmann wusste Banu nur, dass er gerade erst aus den USA zurückgekommen war, wo er ein Jahr auf der berühmten Body Farm in Tennessee verbracht hatte, um Leichen in ihren verschiedenen Verwesungszuständen zu studieren. Sie meinte sich allerdings zu erinnern, dass er einige Monate vor seiner Abreise in die Staaten eine deutlich jüngere Frau geheiratet hatte. Aber auch sie fehlte heute auf der Hochzeitsfeier. Und Banu hatte weder Lust gehabt, ihren Ehemann Tim mitzunehmen, noch hatte er sich dafür interessiert, seine Frau zu begleiten. Schon vor längerer Zeit hätten sie sich eingestehen müssen, dass ihre Ehe mittlerweile nicht mehr war als eine Eltern-WG. Banu mochte vieles an Tim und das würde mit Sicherheit immer so bleiben. Aber von der früheren leidenschaftlichen Liebe war nichts geblieben. Sie hatte das Gefühl, dass er ebenso dachte, sie hatten jedoch bisher nicht miteinander darüber gesprochen. Banu war jetzt Mitte fünfzig. Sie war sich nicht sicher, ob ihr ein Leben als sexuell inaktive Mitbewohnerin in einer zugegebenermaßen schönen Altbauwohnung im angesagten Stadtteil Eimsbüttel für den Rest ihres Lebens reichen würde. Gerade in der letzten Zeit, in der sie sich selbst zunehmend attraktiver fand, wuchsen die Zweifel daran.

Dario ließ sich schwer auf den Beifahrersitz fallen, und Banu reichte ihm ein Taschentuch. »Jetzt fühle ich mich auf einen Schlag wieder nüchtern«, sagte er. »Ich weiß genau, den letzten Jägermeister hätte ich nicht mehr trinken sollen.« Er zuckte mit den Schultern. »Na ja, nachher ist man immer schlauer. Ich frage mich nur, warum man dieselben Fehler immer wieder macht.«

Banu startete den Wagen, und eine Weile fuhren sie schweigend die regennasse Landstraße entlang. Der plötzlich gegen Mitternacht begonnene Sturm hatte Zweige und Laub auf die Fahrbahn geweht, und Banu musste phasenweise sehr konzentriert fahren, um Hindernissen in Form von dicken Ästen auszuweichen.

»Liegt da hinten etwa ein Baum auf der Straße?«, fragte Dario und kramte sein Smartphone aus der Tasche.

Banu verdrehte genervt die Augen. »Na toll, das hat gerade noch gefehlt. Was sagt Maps denn zu einer Umleitung?«

»Wir könnten umkehren und dann einen Bogen um das Waldgebiet machen. Das würde die Fahrt allerdings um etwa eine Stunde verlängern.« Banu hielt direkt vor dem Baumstamm, der sie am Weiterfahren hinderte. Leider gab es weder links noch rechts eine Möglichkeit, an dem Hindernis vorbeizukommen, da die Straße beidseitig von Gräben eingefasst war. Sie überlegte. Ihre Tochter Merve hatte einmal für eine sehr kurze Zeitspanne bei den Pfadfindern mitgemacht. Im Rahmen ihrer Freizeiten hatte die Gruppe auch am Rande des Naturschutzgebietes Wohldorfer Wald gecampt. Banu konnte sich noch an die Abkürzung erinnern, die sie direkt, allerdings ein kleines bisschen illegal, mitten durch den Wald geführt hatte. Da aber weit und breit kein weiteres Auto zu sehen war, entschied sie, das Wagnis einzugehen.

*

In dieser Nacht würde Martin Grabbe keinen Schlaf finden. Viele Jahrzehnte lang hatte er erfolgreich verdrängt, was ihnen vor ziemlich genau achtundsechzig Jahren widerfahren war. Es war nicht mal ein halbes Jahr her, da hatten Betty und er die alten Fotoalben durchgesehen und an vielen Stellen herzlich gelacht. Denn letztlich hatte das Leben es doch gut mit ihnen gemeint.

»Auch wenn du dich lieber um eine eigene Familie hättest kümmern sollen«, hatte er zu seiner Tochter gesagt, die vom Sofa aufgestanden war, um den Tee aufzugießen. Natürlich wusste er, dass Betty nie wie eine Nonne gelebt hatte. So viele Schatten hatte er in den letzten Jahrzehnten durchs Haus huschen sehen und unterdrückte Stimmen in den Fluren flüstern hören. Nicht zu selten hatten auch die Bettfedern in Bettys Zimmer rhythmisch gequietscht. Aber unter den zahlreichen Verehrern war offensichtlich nicht der Mann fürs Leben gewesen.

»Tja, Papa, und nun bin ich zu alt, um dich zu verlassen. Ich fürchte, du wirst auch den Rest deines Lebens mit mir verbringen müssen.«

Martin hatte das Fotoalbum zugeklappt und den Tee entgegengenommen. Das war einer der letzten entspannten Abende gewesen, denn alles wurde anders, nachdem die schwarzen Katzen kamen. Als er sie gesehen hatte, wusste er, dass sich das Grauen wiederholen würde. Da sie sehr gläubig waren, hatten sie sich in ihrer Verzweiflung an Erwin Donner, den pensionierten Pastor, gewandt, der noch immer in dem kleinen Haus neben der Kirche wohnte. Aber er hatte ihnen nicht helfen können.

Martin war nicht verwundert, als Betty morgens um halb zwei in sein Schlafzimmer kam. »Irgendetwas stimmt mit Lotte nicht«, sagte sie. »Ich rufe den Tierarzt an.« Martin griff nach seinem Stock und humpelte vor seiner Tochter her. »Vor achtundsechzig Jahren war es die Kuh und jetzt ist es das Pferd«, flüsterte er angespannt. »Du musst nicht mit rauskommen, Papa. Dr. Petersen wohnt ja gleich um die Ecke. Ich habe ihn zwar geweckt, aber er ist in einer Viertelstunde da.« Martin hörte seiner Tochter an, dass sie Angst hatte. Sie war noch nicht geboren gewesen, als die bösen Mächte ihnen ihren Sohn genommen hatten. Aber sie hatten unzählige Male über die dunklen Wochen im Jahr 1950 gesprochen. Und so war das Grauen mittlerweile für sie fast ebenso real wie für ihn.

Der kleine Auslauf mit Unterstand, in dem die beiden Shetlandponys Lotte und Franz lebten, war nur hundert Meter von der Tür des Wintergartens entfernt. Martin leuchtete mit der Taschenlampe durch den Regenschleier und erkannte, dass eines der Ponys auf der Seite lag. »Nicht so schnell, Papa«, rief Betty von hinten. »Sonst fällst du wieder.«

Die kleine Stute stöhnte und verdrehte die Augen. Alle paar Sekunden hob sie ihren Kopf und schaute zu ihrem Bauch, als wolle sie zeigen, wo es wehtat. Martin blieb neben ihr stehen, da er wusste, er würde nicht wieder hochkommen, wenn er in die Knie ging. Schon nach wenigen Minuten wurde er sanft von Dr. Mark Petersen weggeschoben. Auf Bettys Arm gestützt, sah er bei der Untersuchung der kleinen Ponystute zu.

»Sie hat eine schwere Kolik«, sagte der Tierarzt. »Lotte muss dringend in die Klinik. Ich rufe dort schon mal an, damit sie alles für eine Operation vorbereiten.«

Betty nickte. »Ich fahre sie hin.« Fragend blickte sie ihren Vater an.

»Ich komme mit. Um nichts in der Welt bleibe ich in dieser Nacht allein zu Hause.« Dass sie das arme Pony krank gemacht hatten, war eine Sache. Martin wusste aber, dass sie zu noch viel Schrecklicherem imstande waren.

*

»Es ist schon irgendwie paradox, bei einem Sturm den Wald aufzusuchen«, bemerkte Dario, der für Banus Geschmack schon wieder zu munter geworden war.

»Notfalls musst du aussteigen und umgefallene Bäume aus dem Weg räumen«, sagte sie und drückte auf die Hupe, da ein Reh auf dem Waldweg stand und bewegungslos ins Scheinwerferlicht blinzelte.

»Wo sind wir?«, fragte Stella, die durch das laute Geräusch aufgewacht war.

»Im Märchenwald«, murmelte Gunnar.

»Dann will ich ein Einhorn streicheln.« Schlaftrunken rieb sich Stella die Augen.

»Das wird wohl nichts. Es weiß doch nun wirklich jeder, dass Einhörner sich nur Jungfrauen zeigen, die zudem noch reinen Herzens sind.« Dario grinste. »Ich würde sagen, bei beiden Kriterien Fehlanzeige.«

Banu blendete das Gekabbel ihrer Kollegen hinter sich aus, da sie meinte, zwischen den Bäumen ein Licht zu sehen.

»Seht ihr das auch?«, fragte Thies von der Rückbank. »Oder habe ich Halluzinationen?«

»Nein«, gab Banu zurück, »dort hinten brennt etwas.« Sie versuchte zu beschleunigen, was aber aufgrund der vielen Schlaglöcher fast unmöglich war.

»Jetzt kann man es auch riechen.« Es hatte zwar ein wenig gedauert, aber nun hatte auch Stella die meisten ihrer Sinne wieder.

Ungefähr hundert Meter vor dem brennenden Haus hielt Banu das Auto an, da es etwas abseits des Waldwegs lag. Sie zog ihre hochhackigen Schuhe aus und lief auf Nylonstrümpfen über Tannennadeln und durch Blaubeerbüsche, bis sie vor der Hütte stand, aus deren Dach die Flammen loderten.

»Ich rufe die Feuerwehr«, hörte sie den Rechtsmediziner in ihrem Rücken sagen.

Fast zeitgleich machte Stella ein lautes Geräusch und Banu drehte sich um. Ihre Kollegin war bereits zur linken Seite des Hauses gelaufen, denn dort lag etwas im Gras.

»Scheiße, ist das ein Mensch?«, stöhnte Gunnar.

Thies Seligmann fand als Erster seine Sprache wieder, nachdem sie alle für einige Sekunden sprachlos auf das verkohlte Bündel gestarrt hatten. »Nun ist es auf jeden Fall ein toter Mensch.« Er kniete sich ins Gras und zog Einmalhandschuhe aus der rechten Tasche seiner Anzugjacke. »Ich bin immer gern für alles gewappnet«, sagte er, als er die erstaunten Blicke seiner Kollegen bemerkte. »Es handelt sich vermutlich um eine Frau. Näheres kann ich erst sagen, wenn die Kleidung ausgezogen ist. Was nicht ganz einfach sein dürfte, denn die Kunstfaser des Shirts ist teilweise mit der Cutis verschmolzen. Rein von der Ansicht her würde ich sagen, dass sie Verbrennungen dritten bis vierten Grades erlitten hat.«

Banu bewunderte die Metamorphose von einem angetrunkenen Partygast zu einem glasklar denkenden Rechtsmediziner, der mit Fachbegriffen um sich warf. Und das innerhalb nur weniger Minuten.

Dario gesellte sich zur Gruppe seiner Kollegen. »Ich habe in der Zentrale angerufen. Die M3 ist unterwegs. Und auch die Spurensicherung.«

»Der Körper soll gleich in die Rechtsmedizin gebracht werden. Ein weiterer Rechtsmediziner kann hier gar nichts ausrichten«, sagte Thies. Dario nickte und holte nochmals sein Handy aus der Tasche.

Stella seufzte. »Das kann ja jetzt eine Weile dauern. Ich schaue mich mal um.« Banu folgte ihr. Sie gingen schweigend um das Haus herum. Stella hatte die Augen auf den Boden gerichtet, um eventuelle Spuren im Feuerschein auszumachen. Banu leuchtete mit der Maglite-Taschenlampe, die sie immer im Auto mit sich herumfuhr.

»Meinst du, dass es ein Unfall gewesen sein könnte?«, fragte Stella und ging in die Hocke, um sich den Schlamm näher anzusehen.

Banu zuckte mit den Achseln. »Das kann man jetzt unmöglich sagen. Mal abwarten, was die Feuerwehr sagt.« Sie machte eine Pause. »Und was Thies morgen bei der Obduktion herausfindet. Er lässt sich bestimmt nicht nehmen, sie selber zu machen.«

»Ich glaube, ich habe hier einen ganz passablen Schuhabdruck entdeckt.« Stella fotografierte ihren Fund, stand auf und griff nach einem großen Stein, der ungefähr einen Meter entfernt auf dem Boden lag. »Das ist jetzt meine provisorische Markierung.«

»Ich bin zwar nicht vom Fach, was Kriminaltechnik angeht, aber dafür, dass es noch in der letzten halben Stunde stark geregnet hat, sieht der Abdruck gut aus.«

Stella nickte. »Es könnte also sein, dass hier draußen vor nicht allzu langer Zeit jemand gestanden hat.« Banu fröstelte auf einmal. Sie schloss den Reißverschluss ihrer kurzen Steppjacke. Natürlich hatte sie in ihrer Karriere als Kriminalkommissarin schon so allerhand schreckliche Dinge gesehen. Aber die Vorstellung, dass ein möglicher Täter dieses gruselige Szenario eventuell erst kurz vor ihrem Eintreffen verlassen hatte, verursachte ihr Gänsehaut.

Und ein bisschen war sie auch verärgert. Wenn die ganzen Schlaglöcher nicht gewesen wären, wären sie vielleicht so viel schneller am Tatort gewesen, dass sie zumindest, falls nicht gar den Täter, einen Zeugen gehabt hätten.

»Bestandsaufnahme!«, rief Gunnar, ihren Chef Thorsten imitierend, und klatschte in die Hände. Und wie Stella und sie sonst auch immer im Präsidium ihren Weg von der Kaffeemaschine ins Besprechungszimmer fanden, gingen sie gemeinsam zu der kleinen Lichtung, die etwa fünfzig Meter von der noch immer brennenden Hütte entfernt war.

»Was haben wir?«, fragte Gunnar.

»Eine tote Frau mit massiven Verbrennungen«, sagte Thies. »Ein Haus, das trotz starker Regenfälle lichterloh brennt«, ergänzte Dario. »Ich tippe auf Benzin.«

Stella zeigte auf den Stein, den sie eben platziert hatte. »Und einen Schuhabdruck in schätzungsweise Größe zweiundvierzig. Was sowohl auf einen Mann als auch auf eine Frau hindeuten könnte.«

»Für mich schreit hier alles nach Tötungsdelikt«, sagte Dario. »Wir haben die arme Frau gefunden, weil ein Baum auf die Straße gefallen ist und wir eine andere Strecke nehmen mussten. Vielleicht wollte jemand von ganz oben, dass wir den Fall übernehmen. Wollen wir sie wirklich der M3 überlassen?«

Banu sah, dass Stella mit den Augen rollte. Tatsächlich hatte ihr Kollege Dario einen unbestreitbaren Hang zur Theatralik, den er gern unter Zuhilfenahme von haltlos übertriebener Mimik und Gestik auslebte.

»Auch wenn es wie ein schlechter Witz klingt, dass ausgerechnet Polizisten der Mordkommission eine möglicherweise ermordete Person nachts mitten im Wald finden, stimme ich Dario zu«, sagte Gunnar. »Ich fühle mich der armen Frau irgendwie verpflichtet.«

»Mitgehangen, mitgefangen«, sagte nun auch Thies.

»Ich hoffe, wir müssen uns nun nicht auch noch in den Unterarm schneiden und Blutsbrüderschaft besiegeln.« Stella grinste.

»Wenn ihr wollt, ich habe immer ein Skalpell dabei. Gewohnheit«, Thies griff in die linke Tasche seiner Anzugjacke und lachte dann. »War nur Spaß.«

Banu konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Sie kannte den Rechtsmediziner nun schon sehr lange. Tatsächlich hatte sie am meisten Kontakte mit ihm, da sie diejenige war, die den Obduktionen beiwohnte. Die Hochzeitsfeier ihres Chefs war jedoch ihre erste private Begegnung. Und Banu war überrascht davon, dass Thies Seligmann auch witzig sein konnte.

»Ich denke, wir sollten die M3 hier vor Ort informieren, dass wir den Fall übernehmen. Mir wäre es lieb, wenn Kollegen die ersten Spuren sichten würden, die komplett klar im Kopf sind. Und ich glaube auch, dass ich ganz entfernt schon Autoscheinwerfer sehe.«

*

Der Mann auf dem Bildschirm wand sich vor Schmerzen, als sein Bauch aufplatzte und ein reptiloider Kopf mit spitzen Zähnen erschien.

»Spaghetti alla Nostromo«, murmelte Can schlaftrunken einen der Schlüsselsätze seines Lieblingsfilms »Alien«. Lange Zeit hatte Banu versucht, ihm zu verbieten, Horrorfilme zu sehen oder Ballerspiele auf dem PC zu spielen. Aber irgendwann musste sie sich eingestehen, dass die gerade heranwachsende Generation nun mal nicht mehr mit der Sendung mit der Maus zu ködern war. Sie legte ihrem Sohn die Fleecedecke über und räumte die halb leere Chipstüte zur Seite. Dann langte sie nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus. Ihr Sohn war wie sie eher ein Nachtmensch. Außerdem war er bestimmt aufgeregt wegen des morgen beginnenden Frankreich-Austauschs und hatte deshalb nicht schlafen können. Banu warf einen Blick auf die Wanduhr. Mittlerweile war es fünf Uhr morgens. Can sollte um vierzehn Uhr am Flughafen sein. Sie mussten allerdings umdisponieren. Da sie sich selbst ihren morgigen freien Tag gestrichen hatte, musste Tim Can hinbringen. Banu hoffte, dass ihr Mann sich am Maifeiertag nichts anderes vorgenommen hatte. Sie stellte ihre Schuhe in den Flur und öffnete die Tür zu ihrem Schlafzimmer.

Dienstag, der 01. Mai 2018

Stella war erfreut, dass ihre Kollegen genau so aussahen, wie sie sich fühlte. Aufgrund der Tatsache, dass sie alle gegen fünf Uhr im Bett gewesen waren, hatten sie sich erst um elf Uhr im Präsidium verabredet. Natürlich fehlte ihr Chef, denn der hatte am Tag nach seiner Hochzeit andere Dinge zu tun, als zu arbeiten. Banu war aber durchaus kompetent, ihn zu vertreten, und konnte Besprechungen sowieso besser leiten als er. »Lieschen Müller« schrieb Banu auf das Flipchart. Dies war ihr Platzhalter für den Namen einer weiblichen Toten, die noch nicht identifiziert war.

»Das Haus im Wald gehört einer Viktoria Beck. Sie hat es vor einem halben Jahr von ihrer verstorbenen Mutter, Klara Offenheim, geerbt. Es wurde vor ungefähr achtzig Jahren erbaut. Da war der Wohldorfer Wald noch lange kein Naturschutzgebiet. Das ist er erst seit 1980.« Banu nickte Dario zu, der offensichtlich die Nacht am Laptop durchgearbeitet hatte, um sie mit diesen Informationen versorgen zu können. »Viktoria Beck ist 1944 geboren. Sie ist als selbstständige Journalistin tätig. Hat bisher für kleinere Regionalzeitungen geschrieben. Meist über Veranstaltungen. Schützenfeste, Laternenumzüge. So was in der Art. Und sie betreibt einen Yoga-Blog. Mehr konnte ich noch nicht rausfinden.«

»Wir können noch nicht sagen, ob die Tote Viktoria Beck ist, aber Thies Seligmann wird heute Mittag die Obduktion durchführen. Ich werde dabei sein.« Stella atmete auf. Das bedeutete, dass Banu den Transport ihres Sohnes zum Flughafen an ihren Mann hatte delegieren können. Für den Fall, dass Banu verhindert war, wohnte meist Stella den Obduktionen bei. Und dies gehörte definitiv nicht zu ihren Lieblingsaufgaben bei der Mordkommission. Dario hob eine Augenbraue. »Oha, das geht ja flott!«

Banu nickte und wedelte mit einem Blatt Papier. »Hier ist das Go der Staatsanwältin. Ist heute gegen zehn Uhr als Scan per Mail gekommen.«

»Weil er die Tote selber gefunden hat, ist der gute Thies wohl sehr daran interessiert, bei der Aufklärung des Falls zu helfen. Da hat er dann wohl einige andere Leichen nach hinten geschoben«, sagte Stella. »Jedenfalls hat seine aktuelle Ehefrau, als sie Abiturientin war, bei der Staatsanwältin babygesittet. Er hat mal erzählt, dass sie immer noch guten Kontakt zueinander haben. Das hat vielleicht bei der Beschleunigung geholfen.«

»Leider ist es schon wieder seine Ex-Frau.« Dario schenkte sich ein Glas Wasser aus der Karaffe ein, die auf dem Tisch stand. »Er hat mir gestern erzählt, dass sie ihn verlassen hat, weil er so lange in den Staaten geblieben ist. Sie war wohl beleidigt, dass er die Leichenfarm in den Staaten ihrem Resthof in Schleswig-Holstein vorzog.«

Stella schnalzte mit der Zunge. »Und ich dachte, Thies wäre ein absoluter Stadtmensch. Hat er nicht ein schickes Loft in Eppendorf?«

Banu schlug mit dem Edding auf das Flipchart. »Mir wäre es lieb, wenn wir aufhören würden, uns über das Liebesleben von Dr. Seligmann zu unterhalten. Wir haben hier einen Fall. Wahrscheinlich ein Tötungsdelikt. Konzentriert euch bitte wieder darauf.«

Stella sah Banu an, dass sie genervt war. Manchmal war es wirklich schwierig, die Gesprächsführung während einer Besprechung der Mordbereitschaft 5 zu führen, denn vor allem Dario war jemand, der gern vom Thema abkam und sich in zwischenmenschlichen Tratschereien erging. Häufig ließ Gunnar sich nur allzu bereitwillig davon ablenken. Außerdem waren sie alle müde. Und nach müde kam bekanntlich doof. Stella räusperte sich. »Die Spurensicherung hat den Schuhabdruck Größe zweiundvierzig bestätigt. Er stammt von einem Business-Schuh der Marke Ecco. Leider waren keine anderen Abdrücke vorhanden, denn die betreffende Person hat sich, nachdem sie beim hinteren Fenster gestanden hat, über den mit Blättern übersäten Waldboden vom Tatort wegbewegt. Sonst gab es keine Spuren.«

Banu machte Notizen auf dem Flipchart. »Hat jemand schon eine Aussagen von der Feuerwehr vorliegen über die Brandursache?«, fragte sie.

Gunnar nickte. »In der Tat war ein Brandbeschleuniger am Werk. Die ganze Inneneinrichtung ist verschwenderisch mit Benzin überschüttet worden. Es ist ein Wunder, dass das Feuer nicht auf die umliegenden Bäume übergegriffen hat. Aber die waren wohl durch den Regen zu nass. Aufgrund verschiedener Marker legen die Kollegen von der Feuerwehr sich fest, dass das Feuer erst nach Mitternacht gelegt wurde. Wo im Haus es allerdings zuerst ausgebrochen ist, wird eine genaue Untersuchung zeigen.«

Stella nahm ihren Kaffeebecher vom Tisch und stand auf, um sich auf die Fensterbank zu setzen. Dies war schon seit jeher ihr bevorzugter Sitz- und Denkplatz im Besprechungsraum. »Du kleiner grüner Wicht musst jetzt Platz machen.« Sie schob die Lieblingspflanze ihres Chefs, den nicht totzukriegenden Gummibaum, zur Seite. In diesem Moment kam Thorsten Fock mit erhobenem Zeigefinger durch die Tür. »Pflanzen mögen nicht, wenn man sie immer hin- und herschiebt.«

»Ich entschuldige mich«, sagte Stella verwundert. »Was machst du denn hier?«

»Banu hat mir geschrieben, dass ihr euch auf der Rückfahrt quasi einen neuen Fall selber gesucht habt. Katharina ist zum Gartencenter gefahren, um ihrem Cousin beim Aufräumen zu helfen, und ich dachte, ich schaue dann einfach mal hier vorbei.«

»Das klingt ja romantisch«, sagte Dario. »Hier sitzen tatsächlich fünf Leute, die auf ihren freien Tag verzichten, denn heute ist ein Feiertag. Und einer davon hat selbst an dem Tag nach seiner Hochzeit nichts Besseres zu tun, als zu arbeiten. Da soll sich noch mal jemand über das Arbeitsethos von Beamten aufregen. Von wegen, wer sich als Erster bewegt, hat verloren, und so.«

Banu hielt ihrem Chef den Edding hing, aber der winkte entschieden ab. Auch nach seinem x-ten Kurs in Präsentations- und Moderationstechnik überließ Thorsten der überaus strukturierten Banu gern das Feld beim Dokumentieren.

*

Wie immer hielt Banu für einen Moment den Atem an, als die Assistentin von Thies Seligmann die Decke wegzog, die die Leiche bedeckte. Zwar war nicht wirklich damit zu rechnen, dass sie die Augen aufschlagen und sich aufrichten würde. Oder vertauscht worden war und sich ein anderer Körper darunter befand. Aber für Banu lag bei einer Obduktion immer ein wenig Spannung in der Luft. Doch auch die Leiche der unbekannten Frau verhielt sich so, wie es von ihr erwartet wurde. Sie war in einem fast unkenntlichen Zustand. Die Kopfhaut war aufgeplatzt und gab den Blick auf den Knochen frei. Vereinzelt hingen angesengte Haare und ließen den Schädel fast wie einen Schrumpfkopf aussehen. Die Fetzen, die von der Gesichtshaut übrig waren, spannten sich über die Wangenknochen. Die Lippen existierten nicht mehr, und die Zähne waren zu einem grotesken Grinsen entblößt. Die Assistentin löste mit einer Pinzette geschmolzene Reste der Kunstfaserfunktionskleidung vom Körper der Leiche.

»Wir haben es hier mit einer weiblichen Toten zu tun«, sprach Thies Seligmann in sein Diktiergerät. »Ich schätze sie auf fünfundsechzig bis achtzig Jahre. Beginnende Arthrose im linken Kniegelenk. Außerdem eine längst verheilte Fraktur des rechten Unterarms«. Er griff nach dem Arm und drehte ihn hin und her. »Sehr primitive Implantate. Muss in den Siebzigerjahren operiert worden sein. Da war sie aber schon ausgewachsen.« Er seufzte. »Immerhin gehörte sie wohl zu den wenigen Patienten, deren Knochenbrüche damals überhaupt schon operiert wurden.«

»Viele Infos über die Frau haben wir leider noch nicht«, sagte Banu entschuldigend, als der Rechtsmediziner das Skalpell in die Hand nahm, um den Y-Schnitt durchzuführen. »Das Alter würde zu Viktoria Beck passen. Sie ist 1944 geboren, ist also vierundsiebzig Jahre alt. Da heute Feiertag ist, haben wir noch nicht herausgefunden, wer ihr Zahnarzt war. Und wir haben auch keine DNA-Spuren von ihr, die wir mit unserer Toten vergleichen könnten.« Sie zuckte mit den Schultern. »Immerhin ist im Melderegister ein geschiedener Ehemann verzeichnet, mit dem sie auch auf Facebook befreundet war. Stella und Dario sind gerade auf dem Weg zu seiner Wohnung. Die Personen, die dort sonst als ihre Freunde gelistet sind, sind nicht erreichbar oder haben keine Klarnamen angegeben. Es sind aber auch nur zwölf. Wahrscheinlich sind viele am Feiertag ausgeflogen.«

»Besser als nichts«, sagte Thies, entnahm das Herz der Leiche und reichte es seiner Assistentin, die es auf die Waage legte.

*

Banus Informationen über den verheilten Knochenbruch der unbekannten Toten hatte Stella und Dario glücklicherweise rechtzeitig erreicht, dass sie den geschiedenen Ehemann von Viktoria Beck damit konfrontieren konnten.

Die Nachricht vom Tod eines Verwandten oder auch nur Bekannten zu überbringen, war immer unangenehm. Stella hatte schon die unterschiedlichsten Reaktionen erlebt. Manche Menschen schrien, manche weinten. Andere wiederum begaben sich in die innere Migration und verstummten. Und es gab solche wie Gerald Beck.

»Das ist Viktoria«, sagte er und ließ sich schwer auf einen der mit Kunstleder bezogenen Stühle fallen, die akkurat ausgerichtet rund um den Esstisch standen. »Ich habe aber nichts damit zu tun.« Er blickte von Dario zu Stella und hob die Hände. »Bestimmt hat diese dämliche alte Schrulle das behauptet.«

Stella runzelte die Stirn. »Moment, Moment, zunächst einmal möchten wir Ihnen unser Beileid aussprechen.«

Gerald Beck nickte abwesend, um dann gleich erneut alle Schuld von sich zu weisen. »Hat sie Sie gegen mich aufgehetzt?«

Dario zog sich einen Stuhl heran und setzte sich gegenüber von Gerald Beck an den Tisch. »Niemand hat uns aufgehetzt. Wir haben bei Facebook gesehen, dass Sie mit Viktoria befreundet sind«, er korrigierte sich, »waren. Und wie das nun mal so ist bei der Polizei: Jeder, der etwas mit der Toten zu tun haben könnte, wird besucht oder vorgeladen.«

»Dennoch interessiert mich, wen sie mit ›alte Schrulle‹ meinten.« Stella zog ihr Handy aus der Tasche und rief das Facebook-Profil von Viktoria Beck auf.

»Eleanor Lütjen. Die beste Freundin von Viktoria«, murmelte Gerald Beck. »Sie hasst mich.« Er machte einen Moment Pause und fügte dann hinzu. »Das hat sie schon immer.«

Stella musterte Gerald Beck von oben bis unten. Er schien ihr um einiges jünger zu sein als Viktoria. Sein Haar war dunkelbraun und voll, sein quasi faltenfreies Gesicht aufgedunsen. Vielleicht hatte er ein Alkoholproblem. Wie viele ältere Männer hatte er einen Bauch, der über den Gürtel seiner Buntfaltenhose quoll. Auf dem Tisch vor ihm lag auf einer Tageszeitung eine Lesebrille. »Wo waren Sie gestern Abend in der Zeit von zweiundzwanzig Uhr bis zwei Uhr morgens?«

Gerald Beck blinzelte Stella ungläubig an. »Warum fragen Sie das? Ich habe meine Ex-Frau nicht umgebracht.«

»Bitte beantworten Sie einfach nur die Frage.« In Darios Stimme klang Ungeduld mit. Er war ein absolut empathischer Mensch, der sich gut in die Lage von betroffenen Angehörigen hineinversetzen konnte. Aber er war ebenso schnell genervt, wenn er merkte, dass der Zeuge ein Katz-und-Maus-Spiel anfing. Gerald Beck schob beleidigt die Unterlippe vor. »Ich war die ganze Zeit zu Hause. Gegen dreiundzwanzig Uhr bin ich ins Bett gegangen.«

»Kann das jemand bezeugen?«, hakte Dario nach. »Leben Sie hier mit jemandem zusammen?«

Viktorias Ex-Mann schüttelte traurig den Kopf. »Nein. Ich lebe schon eine lange Zeit getrennt.« Mitleid heischend sah er Stella an. »Ich bin nun mal keine dreißig mehr. Und auch kein Adonis. Da ist es nicht mehr so leicht, jemanden kennenzulernen.«

Dario versuchte, nicht auf den selbstmitleidigen Ton des Befragten einzugehen und den roten Faden wiederaufzunehmen. »Gut, Sie waren also hier. Wann haben Sie denn zum letzten Mal mit Ihrer Ex-Frau gesprochen?«

»Lassen Sie mich einen Moment nachdenken.« Gerald Beck legte den Kopf schief. Bei dieser Bewegung verrutschte das Haarteil, das er heute Morgen wohl nur sehr nachlässig oder gar nicht an der Kopfhaut befestigt hatte. Stella wunderte sich, was für eine verjüngende Wirkung ein voller Haarschopf doch hatte. Denn ohne das Toupet sah Gerald Beck nun aus wie ein unscheinbarer, alter Mann jenseits der siebzig.

Er griff nach seinem Haarersatz und zog ihn wieder gerade, ohne ein Wort darüber zu verlieren. »Jetzt fällt es mir wieder ein. Es muss ungefähr vier Wochen her sein. Sie fragte, ob ich Tassilo am Wochenende nehmen könnte.«

Dario zog eine Augenbraue hoch.

»Unseren Schäferhund. Tassilo ist sozusagen ein Scheidungshund.« Gerald Beck grinste. »Wir haben das geteilte Sorgerecht.«

Stella und Dario tauschten amüsierte Blicke aus.

»Jaja, ich weiß, was Sie denken«, sagte Gerald Beck. »Das letzte Kind hat Fell.« Und nach einer kurzen Pause fügte er wehmütig hinzu: »Und in unserem Fall auch das einzige.«

*

Banu war in den Vorraum des Sektionssaals gegangen, um mit Stella zu telefonieren, die viele interessante Informationen von Viktoria Becks Ex-Mann bekommen hatte. Morgen würden sie ihren Zahnarzt kontaktieren, um völlige Gewissheit zu haben, dass es sich bei der Leiche um die Journalistin handelte. Sie hatten ausgemacht, dass Gunnar und Dario heute Nachmittag im Präsidium alle Neuigkeiten aufbereiten und sie dann morgen früh gemeinsam die nächsten Schritte überlegen würden. Banu schaute auf ihre Armbanduhr. Mittlerweile müsste Can eigentlich in Paris gelandet sein. Sie schrieb Tim eine Nachricht, aber der hatte auch noch nichts gehört.

»Ein bisschen Hunger habe ich jetzt aber doch.«

Banu fuhr erschrocken herum, denn in Gedanken sah sie ihren Sohn auf dem riesigen Flugplatz Charles-de-Gaulle allein umherirren. Oder weit schlimmer noch in den Trümmern einer abgestürzten Maschine. Banu musste ziemlich perplex ausgesehen haben, denn Thies Seligmann grinste sie an.

»Du hast doch nicht etwa einen Geist gesehen, oder? Normalerweise kommen sie erst um Mitternacht aus ihren Schubladen.«

Banu ging über die Bemerkung hinweg und schulterte ihre Tasche. »Ja, ich habe heute auch noch so gut wie gar nichts gegessen.«

»Gegenüber hat ein neuer Burgerladen aufgemacht. Wie wär’s?«

Banu überlegte. Eigentlich wollte sie gerade nur ein wenig schlafen. Andererseits wusste sie auch, dass sie sich heute wahrscheinlich nichts mehr kochen würde. Und das war auf jeden Fall nicht gesund. Außerdem war sie noch nie mit Thies Seligmann in ein Restaurant gegangen. Ihr Kontakt hatte sich bisher auf den Akt des Leichen-Aufschneidens und Zuguckens beschränkt. Vielleicht war es ja mal ganz interessant, ihren Horizont zu erweitern.

Dem Rechtsmediziner schien ihr Zögern zu lange zu dauern. »Ich lade dich auch ein.«

Banu schüttelte entschieden den Kopf. »Burger ja. Aber ich zahle selbst.«

»Okay, dann los.« Banu folgte Thies, der schnellen Schrittes auf die Tür des Vorraums zuging. Den Rechtsmediziner umwehte stets ein Hauch von Formaldehyd. »Eau de Tod«, sagten Stella und sie immer dazu.

*

Die kleine Ponystute würde überleben, obwohl es knapp gewesen war. Betty Grabbe beendete das Gespräch und schloss ihr Handy an das Ladekabel an. Dann ging sie zur Haustür, da sie das Bremsen eines Autos in der Auffahrt gehört hatte.

»Das ist sicher die Polizei«, rief sie ihrem Vater zu, der in seinem Schaukelstuhl saß und leicht hin- und herschaukelte. Betty versuchte, unbefangen zu klingen, aber sie machte sich Sorgen um ihn. Martin ging stark auf die neunzig zu, und die Angst, dass die Vergangenheit sie wieder einholen könnte, ließ ihn fast täglich sichtbar altern.

»Heike Brehm, Polizei Neugraben«, stellte sich die junge uniformierte Polizistin vor und hielt Betty ungefragt einen Ausweis unter die Nase.

»Kommen Sie herein«, sagte Betty und zeigte auf den einzigen Stuhl in der großen Wohnküche, der nicht von Büchern, Zeitungen oder ihrem Strickzeug besetzt war.

Die Polizistin setzte sich. »Sie möchten eine Straftat melden? Ihre Tochter sagte am Telefon etwas von Hausfriedensbruch.«

Martin schüttelte heftig den Kopf, und Betty hob die Hand, obwohl sie wusste, dass es schon zu spät war, um einzuschreiten.

»Hexenzauber«, flüsterte ihr Vater.

Die Polizistin sah verdutzt von Betty zu Martin. Bevor sie jedoch etwas sagen konnte, sprach Martin weiter.

»In der letzten Januarwoche habe ich drei schwarze Katzen gesehen, die durch mein Schlafzimmer liefen. Dann fiel im Februar einer der großen Bäume auf dem hinteren Teil des Grundstücks um. Einfach so!«

»Okay. Dann schreibe ich Sachbeschädigung auf.« Heike Brehm schien verunsichert ob der Emotionalität des alten Mannes, der nun auch noch seinen Krückstock schwang, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.

»Beruhige dich, Papa«, sagte Betty und legte ihm die Wolldecke wieder auf die Knie, die wegen der heftigen Bewegungen heruntergerutscht war. Dann wandte sie sich an die Polizistin. »Es ist schon so, wie mein Vater sagt. An einem Donnerstag Anfang April war ein Drudenfuß auf die Steine vor unserer Haustür gemalt.«

»Ein Druidenfuß?«, fragte Heike Brehm unsicher.

Betty hörte ihren Vater hinter ihrem Rücken genervt mit der Zunge schnalzen. »Das hat mit Druiden nichts zu tun. Ein Drudenfuß ist ein Pentagramm.« Als sie den verwirrten Blick der Polizistin sah, fügte sie schnell hinzu: »Also ein fünfzackiger Stern. Eigentlich ein Symbol für die Abwehr von bösen Geistern. Wenn er allerdings nur auf einer Zacke steht, ist es ein Zeichen Satans.«

»Oh. Aha«, machte Heike Brehm und tippte etwas in ihr Tablet.

»Aber das ist noch lange nicht alles«, sagte Martin. »Gestern hat jemand unsere kleine Ponystute Lotte verhext. Am Abend war sie noch putzmunter und hat normal gefressen. Und nachts wäre sie fast gestorben. Ein Schadenzauber!«

Die Polizistin hielt inne und blickte von Betty zu Martin. »Ich habe selber ein Pferd. Koliken kommen gar nicht so selten vor. Vielleicht hat sie zu hastig gefressen oder nicht genügend getrunken.«

Martin rollte mit den Augen und fuhr seine Tochter an. »Ich hatte dir doch gesagt, das bringt nichts.« Dann wandte er sich an Heike Brehm. »Was soll denn noch passieren? Das nächste Opfer ist meine Tochter oder ich.«

»Haben Sie jemanden gesehen, der nachmittags bei den Pferden herumgelungert hat?«

»Nein, aber Satans Bräute müssen auch nicht körperlich anwesend sein, wenn sie etwas verhexen. Wahrscheinlich haben sie schon, als sie das Haus mit dem Zeichen Satans markiert haben, ein paar Haare von Lotte gestohlen. Mehr brauchen sie für ihren bösen Zauber nicht.«

Betty hörte die Resignation in der Stimme ihres Vaters. Sie nickte der Polizistin zu. »Ich denke, wir lassen das mit der Anzeige. Ich bringe Sie raus.« Zögernd stand Heike Brehm auf und folgte Betty in den Flur.

Einen Moment blickte sie noch durch das runde Glasfenster in der Haustür und sah, wie die Polizistin vor Erreichen des Autos ihr Smartphone aus der Tasche zog.

»Hallo, Chef, ich komme gerade von den Grabbes. Die brauchen allerdings keine Polizei, sondern einen Exorzisten.« Heike Brehm hielt sich den Bauch vor Lachen. Betty beschloss, ihrem Vater nichts davon zu sagen, denn das würde ihn zutiefst verletzen.

*

Das Geräusch der knisternden Chipstüte lockte sofort den rot getigerten Kater Shir Khan an. Er liebte nichts mehr als salzige Krümel. Stella sagte: »Ups!«, und tat so, als würde ihr ein Chip aus der Hand fallen. Der Kater stürzte sich darauf, als hätte er den ganzen Tag noch nichts zu fressen bekommen. Sie hatte sich heute mit ihren Freundinnen Bounty und Olivia getroffen, um ein ganz besonderes Ereignis zu feiern. Zu diesem Zweck hatten alle drei sich nebeneinander auf dem Sofa vor Stellas Laptop niedergelassen und stießen auf die beiden Frauen an, die als Videoanruf zugeschaltet waren.

»Ich hebe mein Glas auf Alison und Earth, die Patinnen meiner Zwillinge. Mögen sie immer glücklich miteinander sein.« Olivia hatte heute schon so einige Gläser Champagner auf das Wohl der beiden Britinnen gehoben, und dementsprechend lustiger wurde sie, je weiter der Abend voranschritt. Earth und Alison, die sich auf der kleinen Insel Eigg im weit entfernten Schottland befanden, prosteten den Freundinnen zu, und Earth hielt einen silbernen Ring, der mit allerlei keltischen Zeichen verziert war, in die Kamera.

»Es fühlt sich gut an, verlobt zu sein«, sagte sie. »Und zur Hochzeit im Oktober müsst ihr natürlich alle nach Eigg kommen.«

Bounty leerte die zweite Flasche Champagner und lehnte sich in die Kissen zurück. Englisch war eine Sprache, die sie nie hatte lernen wollen, und so versuchte sie nur noch an den richtigen Stellen »Sláinte«, das schottische Wort für Prost, zu sagen und sich nicht weiter an der Konversation zu beteiligen.

»Was machen denn die beiden lassies?«, fragte Alison.

»Stellt euch vor, sie sind mit ihren neun Monaten schon echte Models«, sagte Olivia stolz. »Sie doubeln sich gegenseitig bei einer Fernsehwerbung für Windeln.«

Nach weiteren zehn Minuten Small Talk verabschiedeten Olivia, Stella und Bounty sich von den Verlobten, und Stella stand auf, um den Auflauf aus dem Ofen zu holen. Da sie heute Nachmittag noch zwei Stunden geschlafen hatte, fühlte sie sich fit und ausgeruht. Im letzten Sommer waren Jupiter und sie auf Eigg von einem Druiden getraut worden. Jupiters Schwester Earth und ihre Lebensgefährtin Alison, die auf der Insel ein Yoga-Zentrum betrieben, hatten die keltischen Feierlichkeiten ausgerichtet. Das war an sich schon aufregend genug gewesen. Aber dann hatten bei der hochschwangeren Olivia acht Wochen zu früh die Wehen eingesetzt. Anstatt mit den anderen zu feiern, hatten Alison und Earth sie mit Yogaübungen beschäftigt, bis der Hubschrauber gekommen war und sie ins Hospital nach Inverness geflogen hatte.

Man musste Olivia eins lassen: Wenn sie etwas tat, tat sie es gründlich. So waren die beiden Schottinnen nicht nur die ideellen Patinnen, sondern wurden auch noch Zweitnamensgeberinnen von Belana Alison und Kayleigh Earth, deren Erstnamen natürlich keltischen Ursprungs hatten sein müssen. Anscheinend dachte auch Olivia gerade an die Ereignisse des letzten Sommers zurück.