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Auf der kleinen Elbinsel Neßsand werden zwei stark verweste Leichen gefunden. Die Untersuchung des Mordfalls gestaltet sich schwierig, denn in dem vornehmen Hamburger Stadtteil Blankenese stoßen die Kommissarinnen Stella Brandes und Banu Kurtoğlu auf eine Mauer des Schweigens und der Gleichgültigkeit. Als die Ermittlungen endlich vorankommen, geschieht ein weiterer Mord. Dieser führt Stella und Banu zu einem Geheimnis, das nie ans Licht der Öffentlichkeit hätte kommen sollen.
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Seitenzahl: 322
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Regine Seemann
Elbleichen
Kriminalroman
Betreten verboten Die Insel Neßsand ist ein einzigartiges Naturschutzgebiet vor den Toren Hamburgs. Nur einmal im Jahr dürfen Interessierte die langen Sandstrände betreten, um die seltenen Pflanzen und die artenreiche Tierwelt zu bewundern. Im August 2012 finden die Teilnehmer der Exkursion darüber hinaus zwei stark verweste Leichen. Die Hamburger Kommissarinnen Banu Kurtoğlu und Stella Brandes glauben zunächst an eine Beziehungstat. Doch als die Identität der Toten feststeht, bekommen ihre Ermittlungen im wohlhabenden Stadtteil Blankenese eine völlig neue Wendung. Ein Zeuge ist sich sicher, die ermordete Frau nach ihrem Ableben gesehen zu haben. Und von dem kleinen Sohn der Mordopfer fehlt jede Spur. Als ein weiterer Mord geschieht, führen die wenigen Indizien zum ehemaligen jüdischen Kinderheim, der Warburg-Villa. Es verdichten sich die Hinweise, dass die Herkunft der Toten etwas mit dem Mord zu tun haben könnte. Banu und Stella bleibt nicht viel Zeit, die Puzzleteile der Vergangenheit zusammenzufügen.
Regine Seemann, 1968 in Hamburg geboren, lebt mit Ehemann, Sohn und einem Rudel Katzen nahe der Fischbeker Heide, dem südwestlichsten Teil Hamburgs. Sie hat Deutsch und Biologie auf Lehramt studiert und arbeitet seit mehreren Jahren als Schulleiterin einer Hamburger Grundschule, was ähnlich spannend ist wie Krimis schreiben. Ihr Interesse an der Geschichte ihrer Heimatstadt spiegelt sich in ihren Krimis wider, die neben der Handlung in der Gegenwart auch immer ein Stück Hamburger Vergangenheit aufgreifen.
Mehr Informationen zur Autorin finden Sie auf der Facebook-Seite: Regine Seemann Autorin
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Sven Lang
Herstellung: Julia Franze
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Christian Horz / stock.adobe.com
ISBN 978-3-8392-6180-4
Für Flora und Fauna, die gemeinsam gekommen und gemeinsam gegangen sind.
»Erst wenn einer strahlenden Maid es gelingt,
Die Lippen des Sünders zum Beten sie bringt –
Die einst stumme Glocke ertönt.
Das Kinderaug’ längst keine Trän’ mehr vergießt,
Der Mandelbaum, tot zwar, voll Leben ersprießt –
Dann sind alle versöhnt.
Dann ist’s im Schlosse endlich still,
Und Friede herrscht auf Canterville.«
Die Prophezeiung
»Das Gespenst von Canterville«
Bühnenfassung von Markus Wiegand nach der Novelle
von Oscar Wilde »The Canterville Ghost«
Die sterbende junge Frau war ein trauriger Anblick. Ihr lief Speichel aus dem linken Mundwinkel und ihr rechtes Augenlid zuckte. Anna Witting beugte sich zu ihr herunter und wischte ihr mit dem einzig sauberen Taschentuch, das sie noch besaß, über die schweißverklebte Stirn. Das Mädchen glühte. Sie musste mehr als vierzig Grad Fieber haben.
Der Krieg war vorbei und das Lager überfüllt. Diese namenlose Frau war nur eine von vielen, die dem Typhus zum Opfer fallen würden. Anna hatte schon viele Menschen an dieser Krankheit sterben sehen. Sie wusste, dass ihr nur noch wenig Zeit blieb. Als sie den zerschlissenen Mantel hochzog, der dem Mädchen als Decke diente, sah sie, dass sich ein kleines Kind dicht an den Körper der Sterbenden schmiegte. Anna wollte das Kind greifen und wegziehen, aber die Kleine klammerte sich wie ein Äffchen an dem Bein des kranken Mädchens fest und kreischte.
Anna blinzelte verwundert. Die Sterbende war noch ein Mädchen, höchstens sechzehn Jahre alt, gerade an der Grenze zur Frau. Aber das Kind hatte sie eben »Mutter« genannt.
»Keiner tut dir etwas, mein Schatz. Die Frau ist hier, um zu helfen.« Das Mädchen strich dem Kind, ihrer Tochter, über das Haar. Sie strahlte dabei eine entrückte Gelassenheit aus, wie Anna sie bisher nur bei Sterbenden gesehen hatte. Sie hatte sich damit abgefunden, dass die jenseitige Welt auf sie wartete und es kein Zurück mehr gab. Ihre Bewegungen waren langsam und mühevoll.
Das kleine Mädchen musste ungefähr zwei Jahre alt sein. Die ganze Gestalt war von oben bis unten mit Dreck verklebt. Das fettige Haar stand in borstigen Strähnen vom Kopf ab. Anna vermochte nicht zu sagen, welche Haarfarbe das Kind hatte. Aber es schien gesund zu sein, wenn auch sehr abgemagert.
Sie warf einen Blick aus dem Loch in der Barackenwand, das so groß war wie ein mittleres Fenster. Wahrscheinlich würde die junge Frau in wenigen Stunden tot sein. Anna konnte das kleine Mädchen in Obhut nehmen. Es würde wohl noch Wochen dauern, bis die Entscheidung kam, wohin die unzähligen Waisenkinder umgesiedelt würden. Bis dahin konnte sich die Organisation um das Kind kümmern. Es wäre unmenschlich, sie hier zwischen den Bergen von Leichen und Kranken zu lassen.
Anna spürte ein zaghaftes Zupfen am Ärmel.
»Würden Sie sich meiner Kleinen annehmen? Es gibt hier sonst keinen, den ich fragen kann.« Anna drückte die kalte Hand der Sterbenden und nickte. »Bitte nehmen Sie sie jetzt gleich mit. Sie soll nicht sehen, wie ihre Mutter stirbt.« Sie wandte sich an ihre Tochter und sprach beruhigend auf sie ein. Anna konnte die Worte nicht verstehen, aber das Kind wurde sehr ruhig. Dann ließ sie das Bein ihrer Mutter los, stand auf und schob ihre kleine Hand in die von Anna. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, verließen die beiden die schäbige überfüllte Baracke und die sterbende junge Frau.
Meike Liebermann legte den Arm um die Schultern ihres kleinen Sohnes Lukas. Die Elbe war heute glatt wie ein Spiegel. Lukas lehnte sich über die Reling und zeigte begeistert auf die Wasservögel, die offensichtlich eine Art Willkommensgruß für die Barkasse »Deichbraut« bildeten. »Mama, wie heißen die?«
»Vögel«, gab Meike leicht genervt zurück. Der Fachmann für gefiedertes Getier aller Art, Lukas’ Vater, lag heute leider mit einer Magen-Darm-Grippe im Bett. Meike war in einer Hochhaussiedlung aufgewachsen und kannte sich mit der Natur nicht besonders gut aus. Sie konnte ein Rotkehlchen von einer Amsel unterscheiden, aber bei allem, was darüber hinausging, musste sie passen.
Timo war begeistert gewesen, als er den Flyer mit dem Programm zum »Langen Tag der Stadtnatur Hamburg« vor sie auf den Tisch gelegt hatte. »Es ist ein Highlight für jeden Ornithologen, sich die Vogelwelt auf Neßsand anzusehen.«
»Dann fahr doch mal am Wochenende dorthin«, hatte Meike vorgeschlagen.
Timo hatte aber heftig mit dem Kopf geschüttelt. »Neßsand ist Naturschutzgebiet und überhaupt nicht zugänglich. Nur an diesem Tag«, er zeigte mit dem Finger auf das Datum in der Ankündigung, »dürfen angemeldete Teilnehmer übersetzen und bekommen auch noch eine Führung vom Inselwart. Schatz, das wird toll für Lukas.« Und Meike hatte gelächelt. Wenn er sich freute, war die Ähnlichkeit zwischen Timo und seinem Sohn noch deutlicher zu erkennen.
Meike holte die Sonnencreme aus ihrem Rucksack und rieb bereits zum zweiten Mal Lukas’ Nacken ein. Er hatte die empfindliche helle Haut seines Vaters geerbt und neigte zu Sonnenbrand. Dann nahm sie die Hand ihres Sohnes und begab sich mit den anderen ungefähr zwanzig Ausflugsgästen zum Ausgang der Barkasse.
»Bitte vorsichtig!«, mahnte Arndt Sieck, der amtierende Inselwart, und half einer älteren Dame von dem leicht schwankenden Schiff. Meike fand, dass er aussah wie Robinson Crusoe, bärtig und braun gebrannt. So stellte sie sich einen Aussteiger vor, der dem Alltagstrott Lebewohl gesagt und auf Neßsand sein eigenes kleines Paradies gefunden hatte. Denn paradiesisch sah es hier aus. Lukas’ kleine Füße hinterließen Spuren auf dem weißen Sandstrand und das Schilf wiegte sich sanft im warmen Sommerwind.
Auf die Frage, ob er hier auf der Insel wohnte, schüttelte der Inselwart jedoch den Kopf. »Ich bin nur an den Wochenenden auf Neßsand, um nach dem Rechten zu sehen und Leute wegzujagen, die das »Betreten Verboten«-Schild nicht akzeptieren. Vor allem im Sommer. Im Winter seltener. Ansonsten habe ich ein ganz normales bürokratisches Leben.« Er machte eine weit ausholende Bewegung. »Im Sommer ist das hier alles ein Traum. Man könnte meinen, man ist in der Karibik, aber im Winter kann man sich hier sehr verlassen fühlen.«
Ein dunkelhaariger Mann mittleren Alters, dem ein Fernglas um den Hals hing, meldete sich zu Wort. »Ich habe gelesen, dass einer Ihrer Amtsvorgänger mitsamt seiner Frau und seinem Sohn hier bei der Sturmflut von 1976 ertrunken ist.«
Arndt Sieck nickte. »Hans Fröhlich. Die Leichen wurden nie gefunden. Dafür ihr leeres Boot. Wahrscheinlich haben sie noch versucht, aufs Festland überzusetzen.« Er hob die Hand, als sei das Thema damit für ihn beendet. »Nun wollen wir uns aber der Inselnatur zuwenden. Wir gehen jetzt Richtung Auwald. Bitte verlassen Sie nicht die Wege und pflücken Sie auf gar keinen Fall etwas ab.«
Lukas hatte bereits das Interesse an den Erzählungen des großen Mannes verloren. Als er von den verschwundenen Toten gesprochen hatte, hatte sich der Fünfjährige ein wenig gegruselt. Es war nicht ganz so gruselig wie die Aufbahrung seiner Urgroßmutter gewesen, die wie eine verschrumpelte Puppe in ihrem offenen Sarg gelegen hatte, aber immerhin …
Nun allerdings ging es nur noch um seltene Pflanzen. Seine Mutter hatte Anschluss an eine Frau gefunden, mit der sie sich über Wanderschuhe unterhielt. Andere Kinder gab es keine.
Leicht mürrisch ließ Lukas sich ans Ende der Gruppe fallen. Seine Mutter schien das nicht zu bemerken. Das einzig Gute war, dass sein Vater ihm das Sandspielzeug in seinen kleinen Rucksack gepackt hatte. »Vielleicht kannst du ja ein bisschen im Sand buddeln und mir eine Muschel mitbringen«, hatte er Lukas heute zum Abschied gesagt.
Lukas hoffte, dass sie bald zum Strand zurückkehren würden, denn es war doch ziemlich langweilig hier. Außerdem pikte ihn gerade eine Baumwurzel in seine Fußsohle. Seine Mutter hatte seine Schuhe in der Hand, doch sie war ja nun einige Meter weiter vorn. Er wusste nicht, ob sie am Strand noch Zeit genug haben würden, um das Sandspielzeug zu benutzen. Aber es war ganz neu. Und es war Batman drauf! Er wollte es heute unbedingt ausprobieren. Die Wurzel, die ihn eben gezwickt hatte, sah merkwürdig aus. Eher wie ein vertrockneter Ast, der aus dem Boden ragte. Oder eine ganz seltene Pflanze. Vielleicht hatte er in diesem Moment eine Pflanze gefunden, die noch niemand zuvor entdeckt hatte, und die würde man nach ihm benennen.
Lukas blieb stehen und packte Eimer und Schaufel aus. Die Erwachsenen waren schon ein ganzes Stück weit weg. Eifrig begann er, die Pflanze freizulegen, aber die steckte ziemlich tief im Boden. Schon nach wenigen Schaufelstichen verwarf er den Gedanken an eine Pflanze. Er hatte etwas viel Interessanteres ausgegraben. Etwas, das noch viel gruseliger war als seine tote Urgroßmutter.
»Mama«, schrie er, »ich habe was gefunden.«
Meike Liebermann erstarb der Satz auf den Lippen, als sie ihren Sohn schreien hörte. Wie hatte sie nur so unachtsam sein können. Sie drehte sich auf dem Absatz um und sprintete einige hundert Meter in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Lukas kniete auf dem Waldboden und zeigte auf etwas, das er gerade freigelegt hatte. »Das sieht aus, als wäre es aus der Serie, die Papa immer guckt.«
Meike wusste sofort, von welcher Serie Lukas sprach. Auch sie erinnerte der gräuliche Schädel, an dem noch etwas verwestes Fleisch und ein Büschel Haare hingen, an »The Walking Dead«.
Kriminalkommissarin Stella Brandes drehte sich vor dem großen Spiegel in ihrem Schlafzimmer. Ihr gefiel, was sie sah. Der Ausschnitt des ansonsten eher sportiven Kleides war vielleicht ein wenig zu tief, aber der lavendelfarbene Baumwollstoff passte perfekt zu ihrer leicht gebräunten Haut. Die Hamburger hatten in diesem Jahr einen ungewöhnlich warmen Sommer erlebt, und Stella hatte ihre spärliche Freizeit fast ausschließlich auf ihrem Balkon oder beim Laufen in der Fischbeker Heide verbracht.
»Nippelgate am Millerntor?« Stellas beste Freundin Bounty, die neben sie getreten war, hob eine Augenbraue. »Mit Olivias Dekolleté kannst du sowieso nicht konkurrieren.« Stella streckte ihr die Zunge raus, musste jedoch zugeben, dass sie recht hatte. Olivia, ein mittlerweile ziemlich gefragtes Plus-Size-Model, zog meist alle Blicke auf sich. »Macht aber nichts, schließlich ist das ja auch ihr Tag.«
Stella klappte ihren Schuhschrank auf und zog zwei Paar Pumps heraus. »Die schwarzen oder die grauen?« Bounty schüttelte den Kopf und zeigte auf ein Paar bequeme Sneaker. »Wir gehen zum Fußball und nicht in die Oper. Man merkt, dass du völlig unbeleckt bist, was das angeht. Die echten St.-Pauli-Fans stehen im Stadion.«
Stellas Interesse für Fußball beschränkte sich darauf, bei der WM und EM die Spiele der deutschen Nationalmannschaft im Fernsehen zu verfolgen. Bounty und Olivia jedoch begeisterten sich sehr für den Hamburger Verein FC St. Pauli, der nach einem Jahr in der ersten Liga bereits in der vorletzten Saison wieder in die zweite abgestiegen war. Echten Fans schien das jedoch nichts auszumachen. Nun galt es, die Mannschaft beim Start in die neue Saison anzufeuern.
Stella musterte ihre Freundin, die knappe Shorts und ein schwarzes T-Shirt mit einer buckligen Katze und der Aufschrift »Kalte Muschi« trug. Dies war nicht der Name einer Bar auf Hamburgs sündiger Meile, der Reeperbahn, sondern das offizielle Kaltgetränk des FC St. Pauli, ein Kopfschmerzen verursachender Mix aus Rotwein und Cola.
Stella bückte sich und streichelte ihre beiden Kater Caveman und Shir Khan, die wie ein orange-weiß-schwarzes Knäuel zusammengerollt in dem Wäschekorb mit der frisch gewaschenen Wäsche lagen. Dann nahm sie die Autoschlüssel aus dem Schlüsselkasten. Sie hatte heute Bereitschaftsdienst und würde nichts trinken. Deshalb hatte sie sich angeboten, Olivia und ihre Freundinnen an ihrem Junggesellinnenabschied hin und her zu kutschieren. Immerhin war ihr Team seit Wochen nicht mehr während eines Bereitschaftsdienstes angefordert worden. Warum sollte es ausgerechnet heute so sein?
»Allzu spät darf es heute nicht werden«, sagte sie. »Ich bin supermüde.«
»Das Gute ist ja, dass selbst die späten Samstagsspiele in der zweiten Liga bereits um fünfzehn Uhr dreißig beginnen. Wir können also danach ganz in Ruhe zum Hafen schlendern und einen Abstecher in die Tower Bar machen, so wie wir es geplant haben. Olivia tritt morgen Vormittag vor den Altar, da ist sie bestimmt auch nicht scharf auf Augenringe.« Bounty zog die Wohnungstür ins Schloss.
Stella selbst hielt sich nicht für besonders strukturiert. Deshalb bewunderte sie Personen wie Olivia und Paul, ihren zukünftigen Mann, die alles genau durchtakten konnten. Dies bedeutete in diesem Fall: Samstagvormittag letzter Garderobencheck und Probeschminken, Samstagnachmittag bis abends Junggesellinnen- und Junggesellenabschied, Sonntagmorgen standesamtliche Trauung außerhalb von Hamburg im Familienkreis, Sonntagmittag kirchliche Trauung in der Hamburger Hauptkirche St. Michaelis. Sonntagnachmittag Empfang im neuen Eigenheim in Seevetal, vor den Toren Hamburgs. Zugegebenermaßen ein etwas ungewöhnlicher Ablauf. Einige Gäste hatten sich beschwert, dass es keine abendliche Hochzeitsfeier geben würde. Aber das Ehepaar war nun mal alles andere als gewöhnlich. Außerdem musste der Bräutigam am Montagmittag schon wieder in Mailand sein, wo er als Maskenbildner an einem Filmset gebraucht wurde. An den anderen Sommerwochenenden war die Terminlage wohl noch ungünstiger.
Stella freute sich besonders auf die Zeremonie im Michel. Eigentlich konnte man sich dort nur samstags trauen lassen, da Pauls Vater jedoch den Pastor gut kannte, wurde in diesem Fall eine Ausnahme gemacht und die Trauung konnte nach dem Gottesdienst um zwölf Uhr stattfinden.
Das Stadion des FC St. Pauli am Millerntor war ausverkauft. Olivia, Bounty und weitere fünf Freundinnen der Braut feuerten ihre Mannschaft lautstark an und Stella ließ sich mitziehen. Insgeheim bedankte sie sich bei Bounty für die Anmerkungen zur Auswahl ihres Schuhwerks, denn bereits in der Halbzeitpause taten ihre Füße weh. Olivia hatte in ihren High Heels weniger Probleme. Das Stöckeln über die Laufstege Europas hatte ihre Füße anscheinend schmerzunempfindlich gemacht. Stella fand sie unglaublich sexy. Ihr figurbetontes schulterfreies Wildseidenkleid in einem hellen Grünton war von der bekannten Hamburger Designerin Frieda Scolari maßgeschneidert und schmiegte sich eng an ihren kurvigen Körper. Die roten langen Haare fielen ihr in Wellen über die Schultern. Der knallrote Lippenstift und der breite Lidstrich unterstrichen die Aura der »verruchten Reinkarnation der Venus von Botticelli«, wie ein Modejournalist sie einmal genannt hatte.
»Darf ich Sie zu einem Drink einladen?« Ein blonder Mann um die dreißig tippte Olivia auf die Schulter und lächelte quasi in den Ausschnitt ihres Kleides hinein. Die anderen Frauen schien er zu übersehen.
»Bin ich froh, dass diejenigen überstimmt wurden, die wollten, dass Olivia heute Kondome auf der Reeperbahn verkauft«, flüsterte Bounty.
»Wieso? Dann wären wir jetzt reich«, gab Stella zurück. In diesem Moment klingelte ihr Diensthandy.
Es war nun schon einige Monate her, dass Banu während des Bereitschaftsdienstes zu einem Tatort gerufen wurde. Deshalb war klar, dass es sie in naher Zukunft mal wieder erwischen würde. Und es war natürlich wie immer ein unpassender Zeitpunkt. Aber heute war es besonders ungünstig. Banu hatte gerade den Pinsel in der Hand, um die allerletzte Wand zu streichen, als der Anruf von Thorsten Fock, ihrem Chef, kam. Tim war heute mit den Kindern auf dem Sommerfest seiner Firma und es fehlte wirklich nur noch diese eine Wand. Banu zuckte die Achseln und stellte den Pinsel in einen Becher mit Terpentin.
»Neßsand«, murmelte sie, langte nach ihrem Handy, das sie auf dem neuen Expedid-Regal von Ikea abgelegt hatte, und gab den Namen der Insel bei Google ein. »Noch nie gehört.«
»Ein bisschen wie in der Karibik«, sagte Stella, als sie neben Banu und ihrem Kollegen Armin Leitmeyr über den langen weißen Sandstrand ging. »Und wie man hört, sogar mit Zombies. Vielleicht finden hier ja auch Voodoo-Rituale statt.«
»Was das angeht, mache ich mir erst Sorgen, wenn wir ein geköpftes Huhn neben der Leiche finden«, gab ihr Kollege Gunnar Müller zurück, der sich die Schuhe ausgezogen hatte und wie ein Kind über den Strand hüpfte.
Thorsten Fock, der Leiter der Mordbereitschaft 5, hatte noch von seiner Wohnung aus die Kollegen von der Spurensicherung und die Rechtsmedizin informiert. Der Zustand des Leichenteils klang so interessant, dass er unbedingt einen Fachmann vor Ort haben wollte. Momentan schüttelte er nur missmutig den Kopf. »Der Staatsrat von der Behörde für Umwelt wird fuchsteufelswild sein, falls wir hier irgendwelche Leichen ausgraben müssen. Ist ja alles Naturschutzgebiet.«
Die Spurensicherung hatte den Fundort bereits mit rot-weißem Flatterband abgesperrt. Eine junge dunkelhaarige Frau hielt ein Kind an sich gedrückt, offensichtlich um es abzuschirmen. Der kleine Junge linste jedoch unter ihrem Arm hindurch in Richtung der Absperrung und winkte den Polizisten zu. Er sah eher interessiert als verschreckt aus. Ganz anders der bärtige, braun gebrannte Mann daneben, der aussah wie ein Mitglied der Siebzigerjahre-Popgruppe Bee Gees. Er hatte die Arme um seinen Körper geschlungen, als würde er bei achtundzwanzig Grad im Schatten frieren. Stella fielen seine geweiteten Pupillen auf. Zügigen Schrittes folgte sie ihren Kollegen, die bereits an den Rand der Absperrung getreten waren.
»Ich hatte mich schon gefragt, warum die Zentrale der Meinung war, dass der Tote einer für uns ist. Aber es sieht auf den ersten Blick tatsächlich nicht nach natürlicher Todesursache aus.« Banu zeigte auf den körperlosen Kopf, dessen linke Augenhöhle blicklos in die Abendsonne starrte. In der rechten Augenhöhle befand sich eine gallertartige Masse. Frau Dr. Tornquist, die Rechtsmedizinerin, drehte den Schädel hin und her und warf einen Blick in die Ohren und den offen stehenden Mund. Büschel strähnigen Haares hingen an Fetzen der teilweise abgeplatzten Kopfhaut. Halb verwestes Fleisch gab den Blick auf den Oberkieferknochen frei. Der rechte Ast des Unterkieferknochens stach aus dem gräulichen Fleisch der Wangen heraus. Im knöchernen Hinterkopf des Schädels steckte etwas Metallisches, das in der Abendsonne glänzte. Alles in allem sah der körperlose Kopf aus wie ein gut gemachtes Requisit aus einem Horrorfilm.
»Haben Sie den Kopf gefunden?«, fragte Stella die dunkelhaarige Frau.
»Nein, das war ich. Ich heiße Lukas Liebermann und bin fünf Jahre alt.« Der kleine Junge freute sich offensichtlich, dass hier nun doch noch etwas passierte. Stella ging in die Hocke, um mit ihm auf Augenhöhe zu sein.
»Aber Sie stellen ihm jetzt keine schrecklichen Fragen, oder? Er wird schon so nächtelang nicht schlafen können.« Noch immer hielt die Mutter ihren Sohn umklammert.
Stella legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm. »Nun erzähl mal, Lukas. Warum seid ihr denn heute überhaupt hier?«
Der kleine Junge entpuppte sich als äußerst sprachgewandt und erwähnte jedes noch so kleine Detail ihres Ausflugs. Er ließ auch nicht aus, dass sein Vater den ganzen Tag auf der Toilette verbracht und das Bett vollgespuckt hatte.
»Und du hast also gedacht, du würdest eine Pflanze ausgraben. Kannst du sagen, welcher Teil des Kopfes dir in den Fuß gepikt hat?«
Frau Liebermann rollte tadelnd mit den Augen, aber Lukas gab bereitwillig Antwort. »Es war der Knochen, der da so aus der Wange rausguckt. Der sah aus wie ein Ast.«
Stella sah Lukas direkt in die Augen. »Du musst keine Angst haben, Lukas. Der Kopf gehörte einmal zu einem lebenden Menschen. Es ist kein Geist oder so was.«
Lukas schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Ich bin doch nicht blöd.« Dann wandte er sich einem für ihn anscheinend sehr interessanten Thema zu. »Ich dachte, Polizisten haben eine Uniform. Sie sehen gar nicht aus wie eine Kommissarin. Darf man denn bei der Polizei ein Kleid anhaben, bei dem man den Busen sehen kann?«
»Ich kann so gut wie gar nichts sagen.« Dr. Tornquist legte den Kopf aus der Hand und drehte sich zu Thorsten Fock um. »Einer vorsichtigen Schätzung nach handelt es sich um den Kopf einer Frau, denn der Knochenbogen über den Augenhöhlen ist nicht besonders ausgeprägt. Er könnte mit Gewalt vom Körper getrennt worden oder mit der Zeit einfach abgebrochen sein. Außerdem sehen Sie ja, dass ein Projektil im Hinterkopf steckt. Das wäre schon eine sehr ungewöhnliche Stelle für einen Suizid.«
»An Selbstmord hatte ich bei einem Kopf ohne Körper spontan sowieso nicht gedacht«, sagte Thorsten und lachte über seine eigene Bemerkung.
Im Gesicht der Rechtsmedizinerin war jedoch keine Gefühlsregung zu sehen. Banu, die nur einen Schritt von ihrem Chef entfernt stand, bedauerte, dass ihr Lieblings-Rechtsmediziner, Dr. Thies Seligmann, heute keinen Dienst hatte.
»Wenn Sie jetzt von mir wissen wollen, wie lange der Kopf hier schon liegt, muss ich leider passen. Auf jeden Fall einige Jahre. Ob es nun zwei oder fünf Jahre sind, kann ich nicht sagen.«
Banu runzelte die Stirn. Sie kannte Dr. Tornquist vielleicht nicht als humorvollste, dafür aber als äußerst kompetente und genaue Medizinerin. So ratlos hatte sie sie bisher noch nicht erlebt.
»Ich muss mich erst über die Bodenverhältnisse auf der Insel informieren und einige Proben nehmen. Den Kopf nehme ich jetzt gleich mit in die Rechtsmedizin. Ich melde mich, wenn ich irgendetwas gefunden habe, das Sie weiterbringt.« Sie nickte Thorsten und Banu zum Abschied zu und ging in Richtung Strand, wo ein Boot der Wasserschutzpolizei auf sie wartete, um sie ans Festland zu bringen.
Thorsten schickte den Jungen und seine Mutter hinterher und informierte sie darüber, dass morgen eine Polizeipsychologin den Jungen besuchen würde, um noch mal mit ihm über das Erlebte zu reden. Dann winkte er einen Kollegen von der Spurensicherung zu sich. »Vielleicht taucht der Rest des Körpers noch auf. Das Terrain muss umgegraben werden.«
Banu sah, wie Stella und Gunnar mit dem bärtigen Mann sprachen. Möglicherweise hatte der ja eine Idee, um wen es sich bei der Toten handeln könnte. Schließlich war dieser abgelegene Flecken Erde sein Revier.
»Ein Polizeiboot. Das ist schon das zweite innerhalb einer halben Stunde.« Fritz Lühne saß am Küchenfenster und beobachtete das rege Treiben der Boote, die zwischen Neßsand und Teufelsbrück verkehrten. »Was ist denn heute da bloß los?«
Ohne sich umzudrehen, merkte er, wie Katherina, seine Frau, hinter ihm stutzte. Sie war wahrscheinlich verwundert darüber, dass er mehr als zwei zusammenhängende Sätze an sie richtete. Eigentlich hatte er auch nur mit seiner Tochter Linda sprechen wollen. Aber die war wohl aus dem Zimmer gegangen.
Katherina trat dichter hinter ihn und schob seinen Rollstuhl ein Stück zur Seite, damit sie auch etwas sehen konnte. Das Fenster war sehr klein.
Der ungewohnt rege Schiffsverkehr riss Fritz aus seiner Lethargie. Sommers wie winters saß er hier schon seit vielen Jahren und blickte zur Insel hinüber. Wenn es warm war, fixierte er sie von der Terrasse vor dem Haus aus. Wenn es kalt war und in dem Kaminofen in seinem Rücken das Feuer knisterte, dachte er an die Abende, die er mit Hans Fröhlich und Esther auf der kleinen Insel verbrachte hatte. Vor allem an die Sommerabende, wenn sie zu dritt um das Lagerfeuer herumgesessen und Hans ihnen Lieder von Janis Joplin oder Bob Dylan vorgesungen und dazu auf der Gitarre gespielt hatte. Dieses eine Talent hatte Gott ihm in die Wiege gelegt. Ansonsten hatte er bei Hans leider eher gespart. Vor allem, was den Intellekt anging. Aber er war ein lieber Kerl gewesen. Lieb und naiv.
Anfangs war Katherina noch manchmal mit auf die Insel gefahren, irgendwann hatte sie immer häufiger vorgeschoben, die Bootsfahrt zur Insel nicht zu vertragen. Wahrscheinlich hatte sie damals schon gewusst, wie es um ihren Mann stand.
Fritz schüttelte die Hand seiner Frau ab, die sie ihm beruhigend auf die Schulter gelegt hatte. Er mochte keine Berührungen von ihr. Schon seit langer Zeit nicht mehr.
Nachdem Esther, Hans und ihr Baby vermisst wurden, hatten Katherina und er nie wieder einen Fuß auf die Insel gesetzt. Aber er hatte Neßsand so gut wie nie aus den Augen gelassen …
Katherina nahm Fritz’ Ablehnung hin, ohne sie weiter zu thematisieren. Er würde sowieso nicht auf sie reagieren. Sie drehte sich weg vom Fenster und wandte sich an ihre Tochter, die ein Tablett mit drei Bechern und einer Kanne Tee aus der Küche geholt hatte. »Linda, googel doch mal im Internet, ob auf Neßsand etwas passiert ist.« Fritz bemerkte, dass sich in der letzten Zeit viele englische Ausdrücke in ihren Sprachgebrauch eingeschlichen hatten. Katherina hatte unendlich viel Zeit und sie liebte es, mit Linda zu telefonieren und sich von ihren »Meetings«, »Workshops«, »Kick-offs« und »Follow-up-Veranstaltungen« berichten zu lassen. Fritz fand es albern und unangemessen für eine alte Frau, so modern klingen zu wollen.
Für Linda hingegen waren diese Ausdrücke Teil ihrer Arbeit und sie gehörten wie selbstverständlich dazu. Fritz war wahnsinnig stolz auf seine Tochter, die einen hohen Posten bei einem großen Hamburger Versandhaus innehatte. Dass sein Sohn Thomas nur Erzieher war, »Kindergärtner«, wie er es abschätzig nannte, betrübte ihn jedoch. Das war kein Beruf für einen Mann!
»Das funktioniert nur, wenn schon irgendeine Nachrichtenagentur etwas dazu geschrieben hat, Mama. Ich fürchte, so schnell sind die nicht.«
Da Linda jedoch die Spannung wahrnahm, die den Raum geradezu aufzuladen schien, holte sie ihr Handy aus der Handtasche und rief die Nachrichtenseite des NDR auf. Doch die neueste Meldung war die, dass der FC St. Pauli gegen den FC Ingolstadt eins zu eins unentschieden gespielt hatte.
Unwillig machte Stella ein Auge auf, als ein tiefer Basston neben ihrem Ohr das Kopfkissen zum Vibrieren brachte. Leider war es nicht das Schnurren eines ihrer Kater oder das Schnarchen ihres Teilzeitbettgenossen Viktor, sondern ihr Diensthandy.
»Wir haben zwei!« Die Stimme ihrer Kollegin Banu klang gut gelaunt, aber Stella konnte mit der Information nichts anfangen.
»Wie zwei? Zwei Bonbons, zwei Ohrringe, zwei Paar Schuhe?«, fragte sie schlaftrunken.
»Zwei Leichen!« Banus Tonfall wurde ungeduldiger. »Ruf mich doch bitte zurück, wenn du einen Kaffee getrunken hast. Vorher kann man mit dir sowieso nichts anfangen.«
Stella konnte nicht umhin, ihrer Kollegin recht zu geben. Allerdings war sie gestern noch bis Mitternacht auf Neßsand gewesen und hatte zugesehen, wie die Spurensicherung im Auwald um den Fundort des Schädels herum gegraben hatte. Ihr Chef hatte noch einige Telefonate mit der Umweltbehörde führen müssen, denn den Hamburgern waren ihre Naturschutzgebiete heilig. Schließlich war man gütlich übereingekommen, dass ein Leichenfund Priorität hatte. Als der wahrscheinlich zum Schädel zugehörige Torso gefunden wurde, hatte Thorsten sie, in Absprache mit den anderen Ermittlern, nach Hause geschickt. Sie wussten, dass Stella heute auf der Hochzeit einer sehr guten Freundin sein würde, an deren Planung sie maßgeblich beteiligt war. Und dafür musste sie fit sein.
Während Stella mit der rechten Hand die Knöpfe ihrer Bluse zumachte, kippte sie mit der linken einen schwarzen Kaffee herunter und füllte danach ihren Coffee-to-go-Thermobecher. Die Mordbereitschaft 5 traf sich um neun Uhr im Polizeipräsidium.
Banu hatte einen Stick in ihren Computer gesteckt und ließ die Fotos vom Fundort durchlaufen.
»Ganz schön gruselig«, bemerkte Stella.
»Ja, so furchtbar lange können sie noch nicht tot sein. Es ist noch zu viel Fleisch an den Knochen. Insofern werden es wohl nicht die Leichen des vermissten Inselwarts und seiner Frau sein, denn die sind bei der Sturmflut 1976 verschwunden. Schade. Denn dann hätten wir jetzt nicht alle Vermisstenanzeigen der letzten Jahre durchkämmen müssen.«
Armin hob den Kopf und sah Banu fragend an. »Ich dachte, die große Sturmflut war 1962.«
»Da du aus Bayern kommst, weißt du natürlich nichts über die vielen Heimsuchungen, die Hamburg bereits durch die Elbe erfahren hat. Es gab hier schon diverse Sturmfluten. Bei den beiden Januarfluten von 1976 stieg das Wasser sogar höher als bei der großen Sturmflut von 1962. Aber dieses Mal hielten die Deiche.«
»Tja, ansonsten würde es so gut passen. Wobei ich nicht scharf drauf bin, einen Fall zu untersuchen, der schon so viele Jahre her ist. Das bringt ja meistens sowieso nichts«, murmelte Gunnar. Wie Stella bemerkte, sah auch er nicht gerade aus wie das blühende Leben.
Banu klickte auf das nächste Foto. »Eine wirklich sehr interessante Sache habe ich noch nicht erzählt. Eine der Leichen hatte noch einen Regenmantel an und in dessen Innentasche haben die Kollegen von der Spurensicherung ein ziemlich verwittertes Foto mit einer kaum lesbaren Beschriftung auf der Rückseite gefunden. Glücklicherweise war die Innentasche mit einem Reißverschluss fast wasserdicht verschlossen. Die Frau hat anscheinend viel Wert auf qualitativ hochwertige Regenkleidung gelegt. Die Tinte ist zwar fast komplett verschwunden. Aber man kann einige Buchstaben anhand der Abdrücke auf dem Papier entschlüsseln.«
Auf dem Display erschien eine fragmentarische Reihe von Schriftzeichen.
»›B TT KO M FR T G U 16 UH UNS ER STEIN. I LIE CH! L.‹«, lautierte Stella und runzelte die Stirn. »Der Satz am Ende soll ja auf jeden Fall ›Ich liebe dich!‹ heißen.
Und unterzeichnet ist er mit einem ›L.‹«, sagte Banu.
Gunnar zeigte auf den Anfang der Nachricht. »Und es ist eine Verabredung.«
Stella fragte: »Und was ist auf dem Foto zu sehen?«
Banu klickte weiter. Das Display zeigte einen verschwommenen Rahmen mit gezacktem Rand, der aus einer einzigen Aneinanderreihung aus Stockflecken zu bestehen schien. »Vielleicht kann das Labor da noch etwas machen. Aber ich erkenne darauf nichts.«
»Vielleicht hat der eine Tote, falls es ein Mann war, die Frau in den Wald bestellt, ihr ein Ultimatum gestellt, ihr dann in den Kopf geschossen, als sie nicht mitziehen wollte, und sich dann anschließend selber umgebracht. So was passiert immer wieder.«
Thorsten schüttelte nicht ganz überzeugt den Kopf. »Die Frage ist doch, wie sie unbemerkt nach Neßsand kommen konnten. Seit Mitte der Achtzigerjahre ist die Insel unter Beobachtung. Ich denke mal, wenn überhaupt, kann man dort nur nachts unbemerkt hin. Aber das Treffen hat wohl nachmittags stattgefunden. Außerdem wissen wir noch nicht, woran der zweite Tote gestorben ist.«
Thorsten nahm sich einen Edding aus dem Etui auf seinem Schreibtisch und ging zum Flipchart. Auf dem festgeklemmten Papierbogen stand bereits die Überschrift: »Tötungsdelikt Neßsand«. Energisch unterstrich er diese Überschrift doppelt.
»Frage eins: Wie lange liegen die Leichen schon dort?« In Stellas Blutbahn kreiste mittlerweile genug Koffein, dass sie die Gedankengänge ihrer Kollegen nachvollziehen konnte.
Armin, der bisher kaum etwas gesagt hatte, formulierte die zweite Frage. »Zweitens: Wie starb der zweite Tote?«
»Drittens: Wie kamen die beiden nach Neßsand?«, ergänzte Gunnar.
»Und viertens: Wurden die beiden vermisst?«
Thorsten machte einen dicken Strich unter die vier Fragen. »Ich denke mal, die ersten beiden Fragen kann die Obduktion uns beantworten. Ich werde morgen mit der Staatsanwältin sprechen, damit die möglichst schnell erfolgen kann.«
»Wenn wir wissen, wie lange die beiden ungefähr tot sind, können wir anfangen, die alten Vermisstenanzeigen durchzugehen.«
Stella setzte sich aufs Fensterbrett und schlug ihre Beine übereinander. »Das heißt doch wohl, dass heute hier nicht mehr allzu viel anliegt.« Sie hatte sich sehr darüber geärgert, dass sie versäumt hatte, an diesem Wochenende Urlaub zu nehmen. Das wäre aber eigentlich auch nicht nötig gewesen, denn die M4 hätte Bereitschaft gehabt. Und hätten sich nicht drei von fünf Ermittlern bei der Pensionierungsfeier ihres Chefs eine Salmonellenvergiftung zugezogen, säße Stella jetzt nicht hier, sondern in der Badewanne, ein Glas Sekt in der Hand, um sich ganz entspannt auf die nahenden Anstrengungen des Tages vorzubereiten.
Den anderen war sicher nicht entgangen, dass sie ständig auf die Wanduhr neben der Tür zum Vernehmungszimmer starrte. In zwei Stunden würde Olivia Paul im Michel das Ja-Wort geben. Mal ganz davon abgesehen, dass Stella unbedingt dabei sein wollte, hatte sie auch mehrere Plastiktüten mit Konfetti im Kofferraum, mit dem das Paar beim Verlassen der Kirche beworfen werden sollte. Es wäre schade, wenn dies ausfallen müsste.
Thorsten Fock stellte sich neben sie und schlug ihr mit einer seiner Pranken leicht auf die Schulter.
»Nun fahr schon los, Stella. Wir bleiben hier und puzzeln noch ein bisschen rum. So lange machen wir heute auch nicht. Die Leichen sind ja schon eine ganze Weile tot. Da brennt’s nicht so.«
Stella warf ihren Kollegen eine Kusshand zu, hatte jedoch ein klitzekleines schlechtes Gewissen, da sie wusste, dass Banu und Tim gerade dabei waren, ihre Wohnung zu renovieren, und eigentlich am Wochenende damit fertig werden wollten. Andererseits fand sie aber auch, dass Banu ein kleines bisschen selbst schuld war. Sie erwähnte überhaupt nicht, dass sie eventuell woanders gerade eher gebraucht werden könnte. Hier gab es momentan wirklich nicht mehr viel zu tun. Aber Banu war immer so pflichtbewusst. Diese Einstellung nervte Stella zuweilen und damit verstärkte sie ihr schlechtes Gewissen.
Stella versuchte sich das Nummernschild des Menschen zu merken, der gerade direkt gegenüber der Hamburger St. Michaelis Kirche aus einer Parklücke fuhr, damit sie ihm später Blumen schicken konnte. Sie schaltete so temperamentvoll in den Rückwärtsgang, dass das Getriebe knirschte. Endlich konnte sie einparken, nachdem sie bereits zehn Minuten im Kreis gefahren war. Dann sprintete sie zum Kofferraum, schmiss ihre Turnschuhe auf die Gummimatte und schlüpfte in ihre High Heels. Bounty und Viktor waren neben ihr erschienen und griffen nach dem Konfetti. Im Hintergrund hörte sie bereits die Orgeltöne, die den Einmarsch des Brautpaars ankündigten.
»Im nächsten Leben wirst du Stripperin. Dann musst du wenigstens nicht sonntagvormittags arbeiten«, zischte Bounty ihr zu.
Olivia und Paul sahen aus wie zwei Dekofiguren, die gerade von ihrer eigenen Hochzeitstorte herabgestiegen waren. Stella dachte daran, wie Bounty und sie mit Olivia losgezogen waren, um ein Brautkleid für sie auszusuchen. Ein bisschen waren sie sich vorgekommen wie in amerikanischen Filmen, als sie kichernd vor unzähligen Umkleidekabinen gesessen und Sekt um Sekt getrunken hatten, während Olivia ein Kleid nach dem anderen anprobiert und dann wieder auf den Bügel gehängt hatte. Der Höhepunkt war am späten Nachmittag der große Auftritt im »Bride-Saloon« am Eppendorfer Baum gewesen. Leicht beschwipst hatten die drei Freundinnen das noble Geschäft betreten. Schon als sie den ersten Fuß über die Türschwelle gesetzt hatten, hatten sie gemerkt, wie die missbilligenden Blicke der mageren Verkäuferinnen in Size Zero an ihnen hängen geblieben waren. Sofort war auch eine in abwehrender Haltung auf Olivia zugestöckelt. »In Ihrer Größe haben wir hier nichts. Wir führen nur Kleidung bis Größe 42.« Bei dieser Größenangabe hatte sie so angewidert geklungen, als ob Frauen, die Konfektionsgröße 42 trugen, in der Zeltabteilung einkaufen müssten. Aber Olivia hatte nur ihre rote Mähne geschüttelt und gelacht. Dann war sie an den Ständern mit den Kleidern vorbeigegangen und hatte zielsicher ein elfenbeinfarbenes Model im Meerjungfrauenschnitt mit viel Spitze in Größe 34 herausgegriffen. »Dann bestellen Sie mir das doch bitte in Größe 46.«
Die Verkäuferin bedachte sie mit einem herablassenden Lächeln. »Das würde Ihnen bei Ihrer Figur gar nicht stehen. Außerdem ist das eine Kreation von Frieda Scolari. Es kostet fünfzehntausend Euro. Können Sie sich das überhaupt leisten?« Sie hatte die Freundinnen in Sekundenschnelle von oben bis unten abgescannt. Besonders lange blieb ihr Blick an Bountys abgetragenen Jesuslatschen und dem oversized T-Shirt mit der Aufschrift »Game over« hängen, das Bounty zu ihrer Happy-Divorced-Party geschenkt bekommen hatte. Bounty hatte darauf bestanden, dass es Olivia für ihre Ehe Glück bringen würde, wenn sie es beim Aussuchen des Hochzeitskleids trüge.
Mit einer spöttisch hochgezogenen Augenbraue beantwortete die Verkäuferin ihre Frage selbst. »Das ist doch viel zu teuer für Sie. Außerdem gibt es das gar nicht in Ihrer Größe.«
Immer noch lächelnd, mittlerweile aber eher angriffslustig mit gefletschten Zähnen hatte Olivia aus ihrer Schultertasche die neueste Ausgabe der Zeitschrift »Hanseatic Fashion« gezogen und einen Artikel mit vielen Fotos aufgeschlagen. Auf Seite einundzwanzig lächelte eine stark geschminkte Olivia in die Kamera, angezogen mit dem Objekt des Unfriedens, dem Meerjungfrauenkleid von Frieda Scolari. »Ich lese Ihnen einen Auszug aus dem Interview mit der Designerin vor. ›Olivia Majewski ist mittlerweile eins meiner meistgebuchten Models. Die Designer müssen umdenken und dem Wandel des Schönheitsideals von mager zu kurvig folgen, wenn sie erfolgreich im Geschäft bleiben wollen.‹«
Die Verkäuferin hatte eine Entschuldigung gestammelt, aber Olivia hatte ihr die Zeitschrift in die Hand gedrückt und triumphierend gesagt: »Vielleicht frage ich Frieda doch lieber selbst, ob ich ihr das Kleid abkaufen kann. In diesem Laden hier lasse ich jedenfalls keinen Cent.« Dann hatte sie ihre beiden Freundinnen untergehakt und war hocherhobenen Hauptes aus der Tür geschritten. Direkt vor der Eingangstür des »Bride-Saloons« hatten alle drei einen Lachanfall bekommen und beschlossen, die Flasche lauwarmen Champagner zu köpfen, die Bounty die ganze Zeit in ihrem Rucksack mit sich rumgetragen hatte.
Und nun schwebte Olivia in dem Kleid von Frieda Scolari wie eine XL-Version von Arielle, der Meerjungfrau, am Arm ihres Vaters vorbei, um einem sehr würdig dreinblickenden Paul im schwarzen Anzug das Ja-Wort zu geben. Stella heulte die ganze Zeremonie über und dachte über ihre eigene Beziehung nach.
Sie war nun mit Viktor seit zwei Jahren locker zusammen. Es war ihre erste Beziehung seit der Trennung von ihrem Ehemann Mirko. Viktor war also sozusagen ein Interimsmann. Sie sahen sich nicht jeden Tag, aber wenn sie sich sahen, bestanden ihre Abende meist aus folgenden Beschäftigungen: Sex, Essen gehen oder Cocktails trinken. Da die beiden letztgenannten Aktivitäten mit der Aufnahme zu vieler Kalorien verbunden waren, entschieden sie sich meistens nur für den Sex. Das war eine Zeit lang sehr aufregend gewesen und Stella hatte sich nach ihrem Ehefiasko endlich wieder begehrenswert gefühlt. Aber die sexuelle Anziehungskraft ließ zumindest auf ihrer Seite nun deutlich nach.
Viktor war für Stella nie ein umfassender und verständnisvoller Gesprächspartner gewesen. Dies hatte in ihrer Beziehung jedoch auch nie ganz oben auf der Prioritätenliste gestanden. In der letzten Zeit jedoch beschlich sie manchmal das Gefühl, dass es auch ganz schön wäre, mit seinem Partner mal eine Unterhaltung über politische Themen zu führen oder ein wenig Interesse bei ihm hervorzurufen, wenn sie mit ihm über ihre Arbeit sprechen wollte. Andererseits löste es bei ihr automatisch einen Gähnreflex aus, wenn er anfing zu erzählen, wie viele Fahrräder er an diesem Tag verkauft hatte oder wie mürrisch oder freundlich seine Kunden gewesen waren.