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»Was würdest du vom Teufel verlangen, wenn er dir einen Wunsch gewährt?« In einer vergessenen Basilika unter der Prager Altstadt stellt sich Rita diese Frage. Und sie muss nicht lange über eine Antwort nachdenken: Wie einfach könnte doch ihr Leben sein, wäre sie nur ein wenig selbstsicherer, ein wenig durchsetzungsfähiger im Umgang mit den Männern. Keine dummen Anmachen mehr, keine aufdringlichen Kunden im Job, kein Gepfeife auf der Straße – es klingt beinahe zu schön, um wahr zu sein. Und so spricht Rita ihre Bitte aus. Was sollte so ein unschuldiger Wunsch denn schon für Folgen nach sich ziehen?
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Ann-Kathrin Wasle
Bittersüßer Nachtschatten
www.TintenSchwan.de
TintenSchwan
Buchbeschreibung:
»Was würdest du vom Teufel verlangen, wenn er dir einen Wunsch gewährt?«
In einer vergessenen Basilika unter der Prager Altstadt stellt sich Rita diese Frage. Und sie muss nicht lange über eine Antwort nachdenken: Wie einfach könnte doch ihr Leben sein, wäre sie nur ein wenig selbstsicherer, ein wenig durchsetzungsfähiger im Umgang mit den Männern. Keine dummen Anmachen mehr, keine aufdringlichen Kunden im Job, kein Gepfeife auf der Straße – es klingt beinahe zu schön, um wahr zu sein.
Und so spricht Rita ihre Bitte aus. Was sollte so ein unschuldiger Wunsch denn schon für Folgen nach sich ziehen?
Über die Autorin:
Ann-Kathrin Wasle schreibt Historisches mit einem Hauch Phantastik. Ihre Romane zeichnen sich durch einen magischen Realismus aus, der verschiedene Einflüsse zu einem neuen Ganzen vereint. Gleich ob ihre Geschichten in der heutigen Zeit spielen oder in vergangenen Jahrhunderten, immer wird ihre Welt durchströmt von einer mystischen Aura, die ihre Figuren und die Leser gleichermaßen verzaubert.
Eigentlich hat Ann-Kathrin Mathematik studiert und mehrere Jahre als Software-Entwickler gearbeitet, doch bald stellte sie fest, dass ihr das nicht reicht. Also begann sie damit, in ihrer freien Zeit an ihrem ersten historischen Roman zu schreiben. Zurzeit wohnt sie zusammen mit ihrem Mann, ihren beiden Kindern und ein paar Freunden in einer quirligen Hausgemeinschaft am Rand der Karlsruher Rheinauen.
© 2021 Ann-Kathrin Wasle
Hirtenweg 22
76287 Rheinstetten
Lektorat: Martha Wilhelm
Coverdesign: Vanessa Hahn
ISBN: 978-3-949198-03-8
1. Auflage, Oktober 2021
»Drum nur das eine wünsch ich mir von euch gewährt:
Wenn wo ein Mittel, wenn ein Weg sich mir entdeckt,
Für dieses Unrecht meinen Mann zu züchtigen.«
– Medea
Medea
Euripides
Glaub mir, du kennst die Situation.
Sagen wir, du bist ein Mann, ein ganz normaler Typ, und möchtest am Samstagabend etwas erleben. Du hast eine harte Woche hinter dir – na ja, nicht richtig hart, aber doch anstrengend genug. Dein Chef hat dich angemault, nur weil diese blöde Tusse aus der Buchhaltung keinen Spaß versteht. Ist doch nicht deine Schuld, dass … Ach, egal. Auf jeden Fall willst du nun in die Stadt gehen, etwas abhängen, vielleicht noch in eine vernünftige Kneipe auf ein Bier. Ein Mädel aufreißen wäre nett, vielleicht ein kleines Abenteuer … Das wäre jetzt genau das Richtige, um abzuschalten und die beschissene Woche zu vergessen.
Zum Glück ist in der Stadt heute etwas los. Die Osterferien haben angefangen und vor zwei Tagen hat sich das Wetter gebessert, sodass nun Gott und die Welt nach Prag strömen, um das Wochenende abzufeiern. Vor dem ersten Laden stehen so viele Leute, dass du es gar nicht erst versuchst. Aber im Roten Hut kennst du den Türsteher und als du ihm einen Schein zusteckst, schiebt er dich unauffällig an der Schlange vorbei.
Aufatmend setzt du dich im Untergeschoss an den Tresen, ein Bier in der Hand, und schaust zu den Tanzenden hinüber. Die meisten Mädchen sind mit ihren eigenen Typen beschäftigt – nein, es hat keinen Zweck, sich an denen die Finger zu verbrennen. Da drüben tanzen ein paar junge Dinger in einer Traube beisammen. Schon besser, aber für den Anfang etwas stressig … Später vielleicht. An der Wand lehnt ein dunkelhaariges Weibsbild, Typ Femme fatale, doch die sieht aus, als würde sie jeden Mann auffressen, der sich ihr nähert.
Aber dort vorne, wenige Schritte entfernt, bewegt sich eine niedliche Blondine selbstvergessen zur Musik. Sie ist jung, aber nicht zu jung, ihr kurzes Kleidchen sitzt locker und sie ist hübsch genug, dass du es mal versuchen könntest. Also lehnst du dich zurück und betrachtest die Kleine – wie sie sich zum Rhythmus der Musik bewegt, wie sie die langen Haare schwingen lässt, mit verträumtem Gesicht und hüpfenden Brüsten. Du schaust ihr zu und wartest ab, bis sie zwei Lieder später schwer atmend zur Bar herüberkommt, um sie dann ganz beiläufig von der Seite anzuquatschen.
»Alle Achtung; so wie du tanzt, weiß man gar nicht, wo man zuerst hinschauen soll.« Der Satz kommt gerade richtig heraus, so als wäre er dir gerade erst eingefallen.
Die Kleine sieht sich zu dir um, unsicher, ob du wirklich sie gemeint hast. Als eure Blicke sich kreuzen, lächelt sie kurz und schaut wieder zur Bar. »Ein großes Glas Wasser, bitte.«
»Ach was, du, ich lade dich ein.« Souverän winkst du den Barkeeper herüber. »Ein Hugo für die junge Dame!«
»Nein, bitte, ich …« Sie sieht, wie der Barkeeper schon nach den Zutaten greift, und verzieht kurz das Gesicht, dann nickt sie dir zu. »Vielen Dank.«
»Ist doch kein Ding. Komm, setz dich zu mir. Also, wenn du keine Angst vor mir hast.« Du lachst, auf eine nette, unverfängliche Art. Es ist dein Lieblingstrick; wenn eine Anmache am Ende doch zu dreist ist, kannst du den Spruch immer noch als Witz abtun.
Die Kleine verzieht die Lippen. »Ich bin mit einem Begleiter hier.« Sie blickt sich suchend um, aber da reicht ihr der Barkeeper schon den Hugo. Jetzt bleibt ihr nichts übrig, als das übervolle Glas in der Hand zu balancieren und vorsichtig daran zu nippen.
»Na, schmeckt’s?« Du schenkst ihr ein freundliches Lächeln. Zeit, zum Angriff überzugehen. »Ich habe dich eben tanzen sehen – das war echt der Hammer. Wie sieht’s aus: Wollen wir gleich mal zusammen rübergehen?«
Das Mädchen lacht verlegen und nimmt einen großen Schluck. Du bemerkst nicht, wie sich ihre Finger um das Glas verkrampfen, wie sie deinem Blick auszuweichen sucht … nein, deine Aufmerksamkeit gilt ganz ihrem Ausschnitt und dem dünnen Kleid, das ihre Rundungen wunderbar betont. Der DJ legt einen neuen Song auf, irgendwas Langsam-Schnulziges – perfekt.
Da schiebt sich ein schlaksiger Typ mit Brille herüber und spricht die Kleine erleichtert an. »Hey, Rita, ich hab dich gesucht.«
Ihr Begleiter – verflixt, den gibt es also wirklich. Kurz überlegst du, einen Rückzieher zu machen, aber nein … Der andere Kerl traut sich kaum, das Mädchen zu berühren, geschweige denn, sie von dir fortzuziehen. Also richtest du dich auf, legst deinen Arm auf den Tresen und streifst dabei wie von ungefähr ihre Finger, während du den Typ ansiehst. »Hey. Deine Freundin und ich waren gerade im Gespräch.«
Selbst in der düsteren Barbeleuchtung kannst du sehen, wie der schmächtige Kerl rosa anläuft. »Oh, nein, wir sind nicht zusammen …«
»Na dann, umso besser.« Mit einem Lächeln drehst du dich wieder zu ihr um. »Wie wär’s, Lust zu tanzen?«
Da ist es wieder, ihr unsicheres Lachen: Ganz offensichtlich weiß sie nicht, wie sie auf die Frage reagieren soll. Wahrscheinlich wartet sie nur darauf, dass du endlich den ersten Schritt tust und sie auf die Tanzfläche ziehst. Du streckst die Hand aus, um ihre Finger zu ergreifen – da spürst du, wie dich jemand von hinten an der Schulter packt und herumdreht.
»Hey, Arschloch.«
Es ist die Femme fatale von vorhin, mit ihrer hochgeschlossenen Bluse und dem dunklen Lippenstift. Was zum Teufel will die nun von dir?
Das Weibsbild – das bin übrigens ich – hält dich an der Schulter gepackt und sieht dich kalt an. »Warum lässt du deine Pfoten nicht einfach bei dir?«
»Hackt es bei dir oder was?« Wütend reißt du dich los. »Was geht es dich an, was ich treibe? Ich hab nur Spaß gemacht.« Aus dem Augenwinkel siehst du, wie sich das Blondchen mit ihrem Begleiter im Schlepptau aus dem Staub macht.
Die elende Zicke lächelt und kommt noch einen Schritt auf dich zu, sodass sie dich fast berührt. »Spaß gemacht, am Arsch. Weißt du, was mir Spaß macht? Typen wie dich bei den unverschämten Eiern zu packen und so fest zuzudrücken, dass du die nächsten Monate gar keiner Frau mehr hinterhersteigen willst.«
Sprachlos starrst du mich an, mit offenem Mund und leerem Blick. Du weißt nicht, was dich getroffen hat.
Seien wir doch ehrlich: Das wisst ihr nie. Wenn eine von uns sich mal wehrt, kommt es euch immer so vor, als sei euch der Himmel auf den Kopf gefallen.
Was denn – du bist gar kein aufdringliches Arschloch, das sich an nichtsahnende Frauen heranmacht? Wenn du einen Kerl dabei beobachtest, wie er sich derart zum Affen macht, dann schüttelst du nur den Kopf – über die Dreistigkeit des anderen und ein wenig auch darüber, dass diese Masche bei so vielen Frauen funktioniert? Vielleicht stehst du auch schon in den Startlöchern, um einzugreifen und dich als strahlenden Helden zu präsentieren … Na ja, wenn es denn etwas einzugreifen gibt. Hier ist ja noch gar nichts Schlimmes passiert und schließlich hilft es niemandem, wenn du wegen so einer Kleinigkeit einen Aufstand machst.
Nein, niemand will einen Aufstand. Nicht der Barkeeper, der sich während der ganzen Sache um seine eigenen Angelegenheiten kümmert, nicht das Arschloch, dem ich gerade die Leviten gelesen habe, und das nun mit eingezogenem Schwanz das Weite sucht. Auch die junge Frau, die sich längst mit ihrem Begleiter verkrümelt hat, hat keine Lust, wegen der Sache einen Aufstand zu machen. Sie wohl am allerwenigsten – dabei wäre ein wenig Aufstand vielleicht genau das Richtige für sie.
Am Ende bleibt es wieder an mir hängen, mich hinzustellen und den Status quo etwas aufzumischen. Keine Sorge, ich bin es gewohnt.
Wer einen Aufstand will, muss bereit sein, den ersten Stein zu werfen.
Rita ist nach drüben zur Treppe geflüchtet, fort aus dem Sichtbereich der Bar. Immer noch spürt sie die Blicke des Mannes auf sich, wie ein Jucken auf Armen und Wangen. Und gleichzeitig hat sie ein schlechtes Gewissen, weil sie das Getränk einfach stehenlassen hat – ob sie den Kerl nun mochte oder nicht, sie hasst es, unhöflich zu sein.
»Hey, ist alles in Ordnung?«
Michal – den hat sie fast vergessen. Sie bemüht sich, ein Lächeln aufzusetzen, und dreht sich zu dem jungen Mann um. »Natürlich, alles okay.«
Ihr Begleiter wirkt erleichtert. »Gut. Ich dachte schon … Also, ich wusste nicht, ob ich …« Er hebt die Hand, will sie ihr vielleicht tröstend auf die Schulter legen, aber ihre abweisende Haltung hält ihn davon ab. »Kann ich dir irgendwas Gutes tun?«
»Nein danke.« Rita lächelt knapp. Mit einem Mal will sie nur noch allein sein, weit weg von irgendwelchen Männern, die ihr an die Wäsche wollen. Das Date mit Michal war ein Fehler, sie hat es gleich gewusst.
»Wollen wir vielleicht hinausgehen?«, fragt er nun ungeschickt. Er bemüht sich um ein Lächeln. »Ich wollte dir ja noch die Fledermäuse zeigen, unten an der Moldau.«
Warum muss er es ihr so schwer machen? Seufzend schüttelt sie den Kopf. »Sei mir nicht böse, aber ich möchte jetzt lieber allein sein. Es war ein schöner Abend …«
Seine Miene verzieht sich enttäuscht. »Oh … Ich verstehe. Soll ich dich dann nach Hause fahren?« Er öffnet den Mund zu einem Grinsen. »Das erinnert mich an einen Witz: Zwei Flöhe kommen von einer Party und wollen nach Hause gehen. Draußen regnet es aber in Strömen. Da …« Ein Blick auf Rita lässt ihn innehalten. Offenbar hat sie ihre Ungeduld allzu deutlich gezeigt. Lahm bringt Michal den Satz zu Ende: »Da fragt der eine den anderen: ›Hüpfen wir zu Fuß oder nehmen wir uns einen Hund?‹«
Rita lächelt gequält. »Sehr lustig. Vielen Dank für das Angebot, aber ich werde noch etwas hierbleiben.« Bei seinem betroffenen Gesichtsausdruck ringt sie sich ein »Vielleicht ein andermal« ab.
»Ja, vielleicht.« Mit einem unglücklichen Lächeln rückt Michal sich die Brille zurecht. »Ich wünsche dir noch ein schönes Wochenende.« Er nickt ihr auf seine seltsam förmliche Art zu, dann dreht er sich um und stapft die Treppe hinauf, nach oben ins Erdgeschoss.
Rita sieht ihm nach, bis er auf dem Treppenabsatz verschwunden ist. Dann lehnt sie sich an die Wand und lässt den Kopf gegen die kalten Steine sinken. Was für ein komischer Typ … und was für ein mieser Witz! Sie nimmt einen tiefen Atemzug, wie um sich zu stählen – dabei könnte sie nicht einmal sagen, was genau sie nun so fertiggemacht hat.
Endlich öffnet sie die Augen wieder und geht zurück zur Tanzfläche. Vielleicht wenn sie es noch einmal versuchen würde … in den Flow kommen …
Als sie das beleuchtete Gewölbe erneut betritt, trifft die Musik sie wie eine Welle und der tiefe Bass wummert in ihrem Innern wie ein zweiter Herzschlag. Kurz fürchtet sie, dass der Kerl an der Bar ihr weiter auflauern könnte, doch dann vertreibt sie den Gedanken; irgendetwas sagt ihr, dass der für heute genug hat. Also wandert Rita an den Rand der Tanzfläche. Sie braucht etwas Zeit, sich zu akklimatisieren – sie muss die Musik fühlen, auf den richtigen Moment, den richtigen Rhythmus warten.
Es ist eine Schnapsidee gewesen, mit Michal ausgerechnet hierher zu kommen. Wenn es eine Sache gibt, die Rita heilig ist, dann ist es das: allein in der Menge zu versinken, im Rhythmus der Musik, den Bass in ihren Gliedern zu spüren und zu tanzen, als wäre sie der einzige Mensch auf Erden. Die Augen halb geschlossen, bewegt sich Rita zum Takt der Musik, sie lässt sich von den dumpfen Schlägen durchdringen, bis ihre Füße schmerzen, bis sie sicher ist, dass sie diesen Augenblick niemals vergessen wird. Das hier, das ist die wahre Rita, nicht das verschüchterte Ding, dem eben an der Bar die Wangen gebrannt haben.
Doch etwas stimmt nicht – irgendetwas ist anders als sonst. Rita findet nicht zurück in den Flow. Ungeduldig öffnet sie die Augen und schaut sich im blitzenden Scheinwerferlicht um. Fast sofort sieht sie sie: Dort vorne, neben dem DJ-Pult steht eine dunkelhaarige Frau, die Arme verschränkt und den Blick auf die Menge gerichtet. Natürlich, das ist die, die dem aufdringlichen Typen drüben an der Bar die Meinung gegeigt hat. Seltsam, für einen Moment hat Rita die Sache fast vergessen. Mit schräggelegtem Kopf mustert sie die andere Frau. Die scheint kaum hierher zu passen; ihre Haltung ist steif, geradezu geschäftsmäßig, und ihr Blick schweift prüfend über die Tanzenden – als sei sie nicht hier, um Spaß zu haben, sondern um die Gästeschar genau zu beobachten.
Unauffällig löst sich Rita aus der Menge und schlendert zu der Frau hinüber. Sie mag den Kleidergeschmack der anderen, das hochgeschlossene Oberteil und die grüne Faltenhose, die etwas aus der Zeit gefallen wirkt. Dem Aussehen nach ist sie Ende zwanzig, ein paar Jahre älter als Rita selbst. Auch wenn die Frau nicht in ihre Richtung schaut, ist Rita doch sicher, dass sie sie bemerkt hat. Wie von ungefähr lehnt Rita sich gegen das DJ-Pult und beugt sich zu ihr hinüber.
»Du bist von der Security, stimmt’s?«
Die Frau dreht sich um und sieht Rita neugierig an. »Wie kommst du darauf?«
»Na ja, wie du eben den Kerl zurechtgestutzt hast … Das war ziemlich cool. Danke dafür.« Sie lächelt. »Ich heiße übrigens Rita.«
»Erika.«
Die Frau streckt ihre Hand aus, in einer Geste, die höflich und spöttisch zugleich wirkt. Instinktiv greift Rita zu.
»Und«, fragt Erika, »wo hast du deinen Freund gelassen?«
»Oh, Michal? Er ist nicht mein Freund«, antwortet Rita rasch. Dieses Mal ist sie sicher, dass ein spöttisches Lächeln um Erikas Mundwinkel zuckt. Rita verzieht das Gesicht. »Er ist ein netter Kerl … Wir kennen uns eigentlich nur von meiner Arbeit. Aber das hier war eine dumme Idee. Ich glaube, er hat sich schrecklich unwohl gefühlt …«
Die Frau hebt ihre Braue. Trotz der düsteren Beleuchtung ist ein Funkeln in ihren grünen Augen zu sehen. »Er hat dich allein hier zurückgelassen, ohne dich auch nur nach Hause zu begleiten?«
»Oh, nein«, beeilt sich Rita zu erklären, »ich wollte noch ein wenig hierbleiben.« Etwas an Erikas Tonfall weckt in ihr den Drang, Michal zu verteidigen. »Ehrlich gesagt, bin ich am liebsten allein hier. Es war ein Fehler, ihn mitzunehmen.«
Verlegen streicht sie sich über die bloßen Oberarme – und schreckt dann zusammen. »So ein Mist, meine Jacke! Ich habe sie in Michals Auto gelassen.«
»Warum bist du lieber allein?«, hakt Erika nach, so als hätte sie Ritas letzte Worte gar nicht gehört. »Du wirkst nicht unbedingt wie eine Einzelgängerin.«
»Nein, wahrscheinlich nicht …« Rita lacht verlegen. Mit einem Mal ist es ihr unangenehm, dass sie überhaupt von dem Thema angefangen hat. Sie bemüht sich, die richtigen Worte zu finden: »Mit anderen zusammen ist es nicht das Gleiche. Wenn ich allein hier bin, auf der Tanzfläche … na ja, dann fühle ich mich lebendig. Beim Tanzen kann ich meinen ganzen Körper spüren, mein Kopf sirrt, als wäre ich betrunken … Es ist, als könnte ich den Moment einfangen, sodass ich ihn nie wieder vergesse.«
»Und andere Menschen stören dabei nur?«
»So ungefähr.« Rita mustert die Frau abschätzend. »Sag mal, du bist nicht wirklich von der Security, oder? Du klingst, als wärst du nicht aus der Gegend. Was treibst du hier in der Stadt?«
Erika lacht auf, mit schräggelegtem Kopf sieht sie Rita an. »Ach, Süße … Ich könnte dir erzählen, dass ich für den Leibhaftigen höchstpersönlich arbeite, und du hättest es in fünf Minuten vergessen. Aber du hast recht: Ich bin nur auf der Durchreise in Prag. In einer Woche ziehen wir weiter.« Bei diesen Worten wird ihre Miene ernst. Noch einmal betrachtet sie Rita von Kopf bis Fuß. Sie scheint einen Moment zu überlegen, dann beugt sie sich zu ihr herüber: »Hör zu, ich habe einen Rat für dich. Du tanzt gerne? Dann solltest du uns besuchen. Wir veranstalten eine Party, diesen Freitag, in einer uralten Basilika unter der Stadt.«
»Unter der Stadt?«, wiederholt Rita zweifelnd. »Du meinst einen privaten Keller, so wie hier?«
»Nicht ganz – der Ort, von dem ich rede, gehört schon lange niemandem mehr. Man kommt durch ein Netz aus versteckten Kellergewölben dorthin, über das Untergeschoss einer alten Weinschenke nicht weit von hier.« Erika schenkt ihr ein verheißungsvolles Lächeln. »Ich glaube wirklich, dass es dir dort gefallen könnte.«
»Ich …« Rita versucht, ihre Gedanken zu sammeln. Endlich schüttelt sie den Kopf. »Das ist nett von dir, danke für den Tipp. Aber das klingt nicht unbedingt nach meiner Art von Party …«
»Überleg es dir. Du kennst doch die Sternzeichen-Symbole, drüben auf der Rathausuhr?« Als Rita verneint, greift die andere nach ihrem Arm. »Darf ich?«, fragt Erika kurz, dann zückt sie ihren Lippenstift und zeichnet ihr damit einen Kringel auf den Unterarm. »Schau nach diesem Zeichen: Libra, die Waage; ein Omega mit einem doppelten Strich darunter.«
Rita runzelt die Stirn, während sie mit den Fingerspitzen über den Arm streicht – eine dunkelbraune Schleife ist dort zu sehen, beinahe wie ein Muttermal. Als sie wieder aufblickt, zwinkert Erika ihr zu.
»Bis bald.«
Noch ehe Rita reagieren kann, löst sich die Frau von ihrem Platz neben dem DJ-Pult und schlendert zur Treppe hinüber.
Stumm blickt Rita ihr hinterher, die rechte Hand immer noch an ihrem Unterarm. Sie atmet tief ein und aus, wie nach einem allzu realen Traum. Dann schüttelt sie sich und fährt sich mit den Fingern durch die Haare. Was für ein Abend. Erst die Sache mit Michal und nun …
Langsam geht Rita hinüber zur Bar, um sich ein Glas Wasser zu holen. Das frische Nass tut ihr gut; ihr Kopf kann sich wieder einigermaßen sortieren. Die Jacke ist bei Michal im Auto geblieben – sie muss also trotz der Frühlingskälte mit bloßen Armen nach Hause laufen. Bei dem Gedanken holt sie sich gleich noch ein zweites Glas – ist es nicht eine Frechheit, dass die Gläser in Clubs immer so klein sind? –, dann macht sie sich auf den Heimweg.
Genug getanzt für einen Tag.
Am nächsten Morgen erwacht Rita mit drückendem Kopfweh. Seltsam, sie hat doch sonst nie einen Kater. Schließlich hat sie ja nicht einmal etwas getrunken – die zwei Schluck Hugo sind sicher nicht genug, um ihre Gliederschmerzen zu erklären. Vielleicht hat sie sich auf dem Heimweg verkühlt, als sie ohne Jacke mit der Metro nach Hause gefahren ist. Sei’s drum; sie kann sich gerade keinen Fehltag erlauben. Stöhnend steht Rita auf und verflucht nicht zum ersten Mal ihren Job, bei dem sie auch am Sonntagvormittag pünktlich zur Arbeit erscheinen muss.
Die Fahrt mit der Metro zehrt mehr als gewöhnlich an ihren Nerven. Ihr gegenüber sitzen zwei halbstarke Kerle, die wohl gerade erst von ihrer Sauftour zurückkommen. »Hey, du«, ruft der eine ihr zu, »stress dich nicht so, es ist Wochenende!« Rita wendet den Kopf zum Fenster, wo die dunkle Tunnelwand an ihnen vorbeirauscht, und streicht sich über den Arm.
Trotz der Kälte nimmt Rita den Weg über die Kampa-Wiese, am Flussufer entlang. Das Lokal, in dem sie arbeitet, liegt am Teufelsbach, einem schmalen Seitenarm der Moldau. Rechts neben der Brücke, die über den Bach führt, hängt ein großes Mühlrad im Wasser und auf der anderen Seite ragt die Terrasse über den Strom hinaus. Rita runzelt die Stirn: Die Tische auf der Terrasse sind nicht mehr zugedeckt; offenbar hat ihr Chef vor, trotz der Frühlingskälte den Außenbereich zu öffnen. Sie schaut an sich herunter, auf den kurzen Rock und die Satinbluse, die sie trägt. Auch zusammen mit ihrer weißen Schürze wird das sie kaum vor der Kälte schützen. Ein missmutiger Zug legt sich auf ihre Lippen.
Schnell hat Rita entschieden, dass der Tag gelaufen ist, noch bevor er richtig begonnen hat. Sie zittert in dem viel zu kalten Aufzug, während sie sich zwischen den Tischen hindurchschiebt, ihre neuen Schuhe stolpern über die Terrasse und es kommt ihr vor, als wäre heute jeder Gast darauf aus, sie persönlich zu schikanieren.
»Hallo, hören Sie mich? Ich warte jetzt schon seit zehn Minuten!«
Ein blasierter Typ im Business-Anzug wedelt mit der Kreditkarte, um sein Mittagessen zu bezahlen. Auf Ritas freundliches Lächeln, als sie ihm die Rechnung gibt, reagiert er nicht – also kein Trinkgeld für sie. Seufzend schiebt sie die Karte in das Lesegerät. Dabei wirft sie einen langen Blick auf die Kreditkarte. Rita hat ein besonderes Talent dafür, sich Zahlenreihen zu merken, eine Fähigkeit, die nicht nur beim Aufnehmen der Bestellungen von Vorteil ist. Sie schürzt die Lippen. Soll Herr Ondřey Beneš sein Trinkgeld doch später bezahlen.
Als sie nach drinnen geht, um das Lesegerät zurückzubringen, kommt Natálie mit einem Stapel Geschirr und wirft ihr einen mitfühlenden Blick zu. »Du siehst echt nicht gut aus, Liebes, weißt du das?«
Rita verzieht das Gesicht. »War ein langer Abend gestern. Und die Kerle da draußen …« Mit einer Grimasse steckt sie den Zahlungsbeleg in die Schublade zu den anderen – nicht ohne sich die Ziffern auf der Karte noch einmal ins Gedächtnis zu rufen.
Natálie bringt das dreckige Geschirr in die Küche, dann kommt sie zurück, ein gequältes Lächeln auf den Lippen. »Ganz ehrlich, deine Probleme möchte ich haben. Wenn ich noch einmal so aussehen könnte wie du … Da dürften die Männer sich gerne das Maul zerreißen. Wart’s nur ab, wenn du erst in meinem Alter bist, kräht dir kein Hahn mehr nach.«
»Red doch nicht solchen Unfug. Als würden dir die Kerle nicht genauso hinterherstarren wie mir! Nur traut sich bei dir keiner, etwas zu sagen.« Neidisch schielt Rita zu ihrer Kollegin hinüber. Mit ihrer fülligen Figur und dem aufrechten Gang strahlt Natálie ein Selbstbewusstsein aus, von dem Rita nur träumen kann. Dabei schadet es nicht, dass die andere Frau einen halben Kopf größer ist als sie selbst.
»Und ob sie was sagen – wenn sie denken, ich würde sie nicht hören.« Natálie nickt zu einem der Tische hinüber, an dem zwei junge Kerle mit ihren gertenschlanken Freundinnen sitzen und tuschelnd die Köpfe zusammenstecken. Mit grimmiger Miene wendet sie sich wieder um. »Und da sind sie nicht die Einzigen. Mein werter Gatte scheint zurzeit auch in anderen Gewässern zu fischen … Weißt du, was ich letzte Woche, als er aus Pilsen zurückgekommen ist, in seiner Manteltasche gefunden habe?« Sie greift in ihre Schürze und zieht eine Papierserviette heraus. »Pinker Lippenstift! Sag mir, wer trägt pinken Lippenstift?« In ihren Augen mischen sich Wut und schaler Triumph.
Mitfühlend verzieht Rita den Mund. »Das ist doch bestimmt nur ein Missverständnis. Rede am besten mit ihm und frag ihn, was los ist.« Sie streicht Natálie noch einmal über die Schulter, was die mit einem müden Lächeln quittiert. »Dein Mann hat einfach keine Ahnung, was er an dir hat!« Damit greift Rita sich einen der Lappen vom Tresen und macht sich auf den Weg nach draußen, um den Tisch für den nächsten Gast fertig zu machen.
Das Publikum am Vormittag ist ein anderes als abends: Statt der betrunkenen Mittzwanziger sitzen nun vor allem ältere Herrschaften im Lokal, die den Tag mit Spiegelei und Croissant einläuten wollen. Eigentlich mag Rita diese Art Kundschaft – gesetzte Rentner, die großzügige Trinkgelder verteilen, und freundliche Damen, die ihr bei ihrem verfrühten Kaffeeklatsch erzählen, sie würde sie an ihre Enkeltochter erinnern. Aber heute scheinen sie es allesamt darauf angelegt zu haben, Rita das Leben schwerzumachen. Jeder ältere Herr, der ihr ein zweideutiges Kompliment macht, jedes Muttchen, das sie fragt, ob sie denn wohl auch einen Freund habe, lässt sie die Zähne zusammenbeißen. Fahrig streicht sich Rita über den linken Unterarm und blickt auf das dunkle Zeichen darauf. Seltsam, sie kann sich nicht mehr erinnern, woher sie das Mal hat.
»Hallo, Fräulein? Kommen Sie vielleicht mal hier rüber?« Ein älterer Herr mit Zwicker greift sie an der Schürze und mit einer heftigen Bewegung reißt Rita sich los. Als er ihren Blick sieht, schüttelt der Mann den Kopf. »Da müssen Sie jetzt gar nicht so reagieren. Ich will ja nur bestellen.«
»Ich komme gleich.« Schwer atmend wendet Rita sich ab, die Hand zur Faust geballt. Erst als sie sicher aus seiner Sichtweite verschwunden ist, öffnet sie die Finger: Darin liegt der Schlüsselbund des Herrn, den sie im Vorbeigehen vom Tisch geschnappt hat, komplett mit Autoschlüssel und Anhänger. Rita erlaubt sich ein grimmiges Lächeln. Sie wird den Schlüsselbund ins Fundbüro bringen – sobald sie Zeit dafür findet. Bis dahin kann sich der Herr fragen, wie er sein Auto von dem Kurzzeitparkplatz fortbewegen soll.
Doch selbst dieser Vergeltungsschlag bringt ihr heute keine wirkliche Genugtuung. Was sich sonst anfühlt wie ein persönlicher Triumph, kommt ihr nun kleinlich und sinnlos vor. Mühsam zwingt Rita sich zu ihrem gewohnten Lächeln, während sie sich weiter an die Arbeit macht; sie verteilt Teller, stellt Rechnungen aus und sammelt das dreckige Geschirr ein. Als sie das nächste Mal neben Natálie an der Kasse steht, sieht sie die andere von der Seite an.
»Was würdest du tun, wenn du es ihnen reindrücken könntest?«, fragt Rita, während sich ihre Fingernägel in den Handballen pressen.
Irritiert sieht Natálie auf. »Meinem Mann?«
»Jedem!« Rita atmet ein. »Nein, nicht jedem – aber jedem Typen, der dich nervt. Du weißt schon, der dich blöd anquatscht oder so tut, als wäre er etwas Besseres. Was würdest du tun?«
Für einen Moment kraust Natálie die Stirn. »Keine Ahnung. Am besten wäre es, wenn die Arschlöcher einfach verschwinden würden.«
»Aber das tun sie nicht«, fährt Rita gereizt ein. »Also, wenn du einfach tun könntest, was du wolltest – was wäre das?«
Natálie hebt die Schultern. »Keine Ahnung.«
Als Rita an diesem Abend nach Hause fährt, fühlt sie sich wie gerädert. Stumm lehnt sie sich gegen die Scheibe der Metro, den Blick zur Schwärze der Felstunnel gewandt, die hinter dem Fenster vorüberrauschen.
Sie wohnt im Süden der Stadt, in den Wohngebieten hinter der Hochfeste. Der Himmel ist längst finster, als Rita schließlich die Metrostation verlässt und über leere Straßen und Hinterhöfe zu ihrem Mietshaus hinüberwandert, das zwischen den neueren Bürogebäuden und Hochhäusern ein wenig anachronistisch wirkt.
Den linken Arm mit der Hand massierend, schleicht Rita die Treppe hinauf zu ihrer Wohnung oben im zweiten Stock. Dabei setzt sie ihre Schritte vorsichtig, um die alten Stufen nicht zum Knarren zu bringen. Doch umsonst: Sie hat den letzten Treppenabsatz gerade erreicht, da geht im Stockwerk über ihr die Tür auf und die breite Gestalt ihrer Vermieterin schiebt sich über das Treppengeländer.
»Ach, die Frau Černá, gut, dass ich Sie sehe!«, flötet es ihr von oben entgegen. »Ich wollte Sie doch daran erinnern, beim nächsten Mal Ihre Schuhkartons kleinzumachen, ehe Sie sie in den Abfall tun. Nicht, dass die Tonne wieder so voll wird, dass am Ende der Deckel nicht schließt!«
Rita hebt den Kopf und nickt der Frau zu. »Natürlich, Frau Kučerová. Ich werde daran denken.« Mit diesen Worten will sie sich in ihre Wohnung verziehen – aber so schnell lässt ihre Vermieterin nicht von ihr ab.
»Ist aber gestern wieder mal ziemlich spät geworden, nicht wahr?« Das Geländer knarzt protestierend, als die Frau ihren üppigen Busen über die Brüstung lehnt. »Wissen Sie, mir ist das ja egal. Aber Sie können sich ja denken, wie die Leute reden. Als Ihre Vermieterin fühle ich mich da quasi verantwortlich.« Sie schüttelt den Kopf. »Ich meine nur, als anständige Frau muss man ja nicht jedes Wochenende unterwegs sein.«
Rita seufzt innerlich auf. Wie gut würde es tun, der anderen einmal gebührend die Meinung zu geigen – und wenn es nur ein einziges Mal wäre. Aber stattdessen blickt sie hoch und zwingt ihre Mundwinkel zu einem Lächeln. »Ja, Frau Kučerová, da haben Sie sicher recht.«
Hastig, ehe ihre Vermieterin noch weitere Lebensweisheiten vom Stapel lassen kann, steigt sie die restlichen Stufen hinauf und verschwindet in ihrer Wohnung.
Die Kerzen flackern im Luftzug, der zwischen den Vorhängen durchs Fenster dringt. Sorgsam zündet Rita den letzten Stumpen an und stellt ihn am Fußende der Badewanne zwischen zwei Teelichtern hin. Für einen Moment schließt sie die Augen und lauscht auf das Rauschen des einlaufenden Wassers. Sie beugt sich hinab und lässt ihre Fingerspitzen durch den Schaum fahren, in ihrer Nase der Duft nach Flieder, der das Bad erfüllt. Heute Abend hat sie sich das gute Badeöl genehmigt – so wie sie sich fühlt, hat sie diesen Luxus verdient. Als das Wasser hoch genug eingelassen ist, schließt sie den Hahn.
Ein paar Herzschläge lang lauscht Rita auf die Stille, riecht den Fliederduft und spürt den seidigen Bademantel auf ihrer Haut. Ein kühler Windhauch dringt herein und lässt die Vorhänge tanzen. Die Kerzen flackern, ihr Licht fängt sich in der Rasierklinge, die in einem Holzkästchen neben der Badewanne liegt, und erhellt das alte Märchenbild an der Wand. Im unsteten Kerzenlicht sieht es aus, als würden sich die Figuren auf dem Bild bewegen – die Fürstin Libuše, wie sie vor dem hohen Rat den Ruhm der Stadt Prag vorhersagt. Ein leises Lächeln umspielt Ritas Züge. Mit einem zufriedenen Seufzen öffnet sie den Bademantel und lässt ihn zu Boden gleiten, dann steigt sie in die schaumgefüllte Wanne.
Eine Weile genießt Rita einfach nur das Gefühl des heißen Wassers, das ihren Körper umschmeichelt. Sie hebt die Hand und pustet den Schaum von ihren Fingern, sodass er in leichten Flocken durch den Raum schwebt, verweht durch die Brise, die von draußen hereindringt. Dabei bemerkt sie wieder das dunkle Zeichen auf ihrem linken Arm – ein breiter Kringel, fast wie ein Muttermal. Rita runzelt die Stirn; sie weiß nicht mehr, woher das Zeichen stammt. Vergebens versucht sie, den Fleck mit Wasser und Seife abzuwaschen, aber er ist wie eingebrannt. So hebt sie schließlich die Schultern und lässt sich zurück ins Wasser sinken – warum einen weiteren Gedanken daran verschwenden?
Mit ruhigen Atemzügen lässt Rita alle Verkrampfung der letzten Stunden von sich abfallen, sie spürt nichts mehr außer dem heißen Wasser, das ihre Haut zart und schmeichelnd umgibt. Dann, als auch die letzte Anspannung verflogen ist, hebt sie die Hand aus dem Schaum und greift nach der Rasierklinge, die in dem Kästchen neben der Badewanne funkelt.
Rita seufzt leise auf, während sie die scharfe Klinge über ihren Daumen fahren lässt – nicht schneidend, nur austestend, wie eine Liebkosung. Sie sollte das Rasiermesser nicht benutzen, das weiß sie. Aber an manchen Tagen geht es eben nicht anders … Wenn Ärger, Frustration und Erschöpfung zu groß werden, dann bleibt ihr immer der Kuss der Klinge als Möglichkeit, wieder zu sich selbst zu finden. Ganz für sich allein, umgeben von duftigem Schaum und Kerzenlicht.
Langsam hebt sie das linke Bein aus dem Wasser und stützt es am Badewannenrand ab. Seifenschaum und Badewasser rinnen den Schenkel entlang, doch Rita macht sich nicht die Mühe, ihre Haut abzutrocknen; sie wartet geduldig ab, während die Abendbrise von draußen über ihr Bein fährt und das Wasser verdunsten lässt. Ihre Finger fahren die letzten Muster nach, die sich noch in hellem Rosarot auf ihrer Haut abzeichnen: die breite Schlangenlinie von dem Tag, als ihr Chef ihr die Standpauke gehalten hat, ein durchgekreuztes Herz für Georg, den süßen Kerl aus dem Goldbaum, der sich nach ihrer gemeinsamen Nacht nicht mehr gemeldet hat. Und dort, schon fast verblasst, eine Spirale an ihrer Hüfte für den letzten großen Streit mit ihrer Mutter.
Es dauert oft mehrere Wochen, manchmal Monate, bis die Male auf ihrer Haut endgültig verschwinden. Rita lächelt leise. Sie ritzt sich nicht, um sich zu entstellen oder zu bestrafen, im Gegenteil. Es macht ihr Freude, ihren Körper zu verschönern, ihm für ein paar Tage ein neues Muster zu bescheren. Natürlich ist es eine schlechte Angewohnheit – Rita braucht keinen Therapeuten, der ihr das erklärt. Aber manchmal, nach einem allzu anstrengenden Tag, ist es ihre einzige Möglichkeit, sich selbst wieder zusammenzuflicken. Wie ein Blutopfer an eine unbekannte Gottheit. Das Kerzenlicht wirft Schatten über das schaumbedeckte Bein, über Bad und Rasiermesser und das Libuše-Bild an der Wand.
Versonnen streicht sie mit dem Daumen über die scharfe Schneide. In ihrem Kopf schwirrt es – der Kerl ist da, der ihr am Samstagabend an der Bar aufgelauert hat, ihre Vermieterin mit ihren dummen Sprüchen und jeder Gast, der sie im Vorbeigehen wie zufällig berührt hat. Noch einmal fährt sie mit der Linken über die bloße, gerade erst getrocknete Haut. Dann hebt sie die Klinge, um ihren Körper aufs Neue zu zeichnen.
Montage sind freie Tage. Das ist das Beste an Ritas Job: das Gefühl, am Montagmorgen aufzuwachen und zu wissen, dass sie heute nicht arbeiten muss. Es ist ein angemessener Trost für den elenden Wecker am Sonntag.
Also schläft Rita aus, so lange, bis die Uhr am nahen Kirchturm Mittag schlägt. Langsam steht sie auf, klaubt sich aus dem Kühlschrank ihr Frühstück zusammen und schaut während des Essens zum Fenster hinüber. Zwischen den Häuserfronten blinzelt die Sonne zurück – der Frühling hält Einzug in die Stadt. Kurz überlegt Rita, ob sie ihre Mutter anrufen sollte, aber dann schiebt sie den Gedanken beiseite. Dafür ist heute Abend noch genug Zeit.
Sie packt die Reste des Frühstücks wieder in den Kühlschrank und wirft die leere Milchpackung in den Müll – ungefaltet, als kleinen Gruß an die Vermieterin. Dann schnappt sie sich Geldbeutel und Schlüssel, um sie in ihrer Handtasche zu verstauen. Ihr Blick fällt auf den Schlüsselbund, den sie gestern dem selbstgerechten Gast stibitzt hat, und ein Lächeln spielt um ihre Lippen. Vielleicht kommt sie heute noch dazu, beim Fundbüro vorbeizuschauen.
Der Gedanke erinnert sie an etwas und sie setzt sich noch einmal an den Computer, die Handtasche schon um den Arm. Nach kurzem Nachdenken sucht sie eine Spendenadresse für die Affen im Prager Zoo heraus, dann tippt sie die Kreditkartendaten des geizigen Geschäftsmannes ein, die sie sich gemerkt hat. 1000 Kronen sollten ausreichen – etwa so viel, wie er für seine Mahlzeit dagelassen hat.
Mit einem schmalen Lächeln schaltet sie den Computer wieder aus, um sich endgültig auf den Weg zu machen. Dabei summt sie leise Schlemihl Emil vor sich hin. Es tut immer gut, wenn die eigene Arbeit positive Auswirkungen hat.
Es ist wirklich ein sonniger Tag, auch wenn die Luft noch verflixt kühl ist. Gemütlich schlendert Rita durch die Straßen der Neustadt, um immer wieder vor einem der Schaufenster anzuhalten und die ausgestellten Schätze zu bewundern. Vielleicht sollte sie sich ein neues Kleid gönnen, jetzt zum Frühlingsanfang. Sie blickt an sich herab, mustert das lockere Kleidchen, den rosafarbenen Blazer. Wie wäre es zur Abwechslung mal mit etwas Strengerem – einer Faltenhose vielleicht oder einer hochgeschlossenen Bluse? Rita weiß nicht, wie sie auf den Gedanken kommt, doch die Idee gefällt ihr. Pfeifend geht sie in den nächsten Secondhandladen, wo eine dunkle Lederweste im Schaufenster lockt.
Ein paar Läden und eine volle Tüte später sitzt Rita in der Metro, auf dem Weg zurück nach Hause. Immer noch nagt der Gedanke an ihre Mutter an ihr. Wenn sie sie heute nicht anruft, dann wird Mama es womöglich später selbst versuchen. Und dann kann sich Rita wieder einmal anhören, dass sie sich ja nie melden würde, gefolgt von dem üblichen Reigen aus Missbilligung und versteckten Vorwürfen – allein bei dem Gedanken wird ihr flau im Magen. Die Gespräche mit ihrer Mutter sind anstrengend genug, auch ohne dass sie ihr gleich zu Beginn einen Anlass zur Beschwerde liefert.
Die Metro fährt in die Station ein und Rita steigt die Treppe hinauf. Noch zwei Straßen bis zu ihrer Wohnung … Zu wenig, um jetzt direkt anzurufen. Wenn ihr die Vermieterin wieder auflauert, käme das einem Zweifrontenkrieg gleich; nichts, worauf Rita Lust hätte. Gerade heute, wo sie doch eigentlich gute Laune hat.
Die volle Tüte über der Schulter, steigt Rita hinauf in den zweiten Stock, fischt den Schlüssel aus ihrer Handtasche und öffnet die Wohnungstür. Seufzend lässt sie ihr Gepäck neben die Tür rutschen. Dann wendet sie sich zum Wohnzimmer – und fährt mit einem spitzen Schrei zusammen. Ein fremder Mann sitzt auf dem Sofa, mitten in ihrer Wohnung.
Nein, es ist kein Fremder. Rita atmet tief ein, bemüht, ihren Herzschlag wieder unter Kontrolle zu bringen. »Michal! Was tust du hier?«, herrscht sie ihn an.
Der schlaksige Kerl springt bei diesen Worten auf. Unsicher steht er nun vor ihr neben der Couch – ganz offenbar ist ihm sein Auftritt ebenso unangenehm wie ihr. »Es … es tut mir leid«, bringt er stotternd hervor. Seine Hände gleiten hin und her, richten die Brille und streifen ihm durch die Haare, als wüsste er nicht, wohin damit. »Ich wollte nur … Du hast deine Jacke vergessen. Ich dachte, du willst sie wiederhaben …« Unglücklich weist er auf das Sofa. Wirklich: Dort liegt die verlorene Jacke ordentlich gefaltet auf einem der Kissen.
Für einen Moment weiß Rita nicht, was sie sagen soll. Nun erst spürt sie, dass ihre Finger unkontrolliert zittern. Nicht nur die Finger, ihr ganzer Körper fühlt sich an wie Wackelpudding. Mühsam widersteht sie dem Drang, die Arme schützend um sich zu schlingen.
Stattdessen ballt sie die Fäuste und fährt Michal wütend an: »Und was gibt dir das Recht, deswegen einfach bei mir einzubrechen? Hast du noch nie was von Privatsphäre gehört?«
Michal ist bei ihrem Ausbruch zurückgewichen, sodass er gegen das breite Sofa stößt. Eilig springt er zur Seite, als hätte er jetzt Angst, ihre Einrichtung auch nur zu berühren. »Ich wo… wollte nicht …« Er verhaspelt sich und beginnt von Neuem: »Ich hatte doch nur bei dir geklingelt. Da hat die Vermieterin mir aufgemacht und sie meinte, ich solle drinnen warten, und dann … Sag mal, kennst du den: Was ist der Unterschied zwischen einem afrikanischen und einem indischen Elefanten?«
Er sieht nun so verzweifelt aus, dass Rita beinahe Mitleid mit ihm hätte – beinahe. Wütend reibt sie sich über den linken Arm, dann schüttelt sie den Kopf. »Hast du sie noch alle? Du hast kein Recht, einfach hier hereinzukommen, ganz gleich, was irgendjemand sagt! Hast du irgendeine Ahnung, wie sich das anfühlt, wenn einfach ein fremder Mann in meiner Wohnung steht?« Ihre Stimme droht sich zu überschlagen, und grimmig presst sie die Lippen zusammen.
Für einen Moment öffnet Michal den Mund, dann schließt er ihn wieder, ohne etwas zu sagen. Mit vorsichtigen Schritten schiebt er sich an ihr vorbei zur Tür. »Tut mir echt leid«, murmelt er kaum hörbar, ehe er hinaushuscht und im Treppenhaus verschwindet.
Rita atmet aus und fährt sich mit den Fingern durch die Haare. Ist das zu glauben – Elefanten! Wie konnte sie sich von diesem Tropf nur zu einem Date überreden lassen? Er hat sie mit seiner Frage überrumpelt, letzte Woche im Lokal, und sie hat Ja gesagt, nur um der Situation zu entkommen.
Aber so albern es klingt: Irgendwie kommt sie sich nun, da Michal nicht mehr vor ihr im Zimmer steht, beinahe ungerecht vor. Er wollte ihr ja wirklich nur einen Gefallen tun. Wenn er sie dabei nur nicht so furchtbar erschreckt hätte!
»Michal, warte mal.« Sie dreht sich um, um ihm in den Hausflur zu folgen – doch da hört sie unten schon die Tür zufallen; Michal ist auf die Straße geflohen.
»Na, den haben Sie aber verscheucht«, klingt es zu ihr herunter.
Mit neuem Grimm dreht Rita sich um und blickt nach oben. Sie steigt den Absatz hinab und geht zur anderen Seite des Treppenhauses, sodass sie Frau Kučerová sehen kann, die sich über das Geländer beugt. »Sagen Sie«, ruft sie zu der Vermieterin hoch, »haben Sie den jungen Mann zu mir reingelassen?«
»Natürlich habe ich das, meine Liebe. Er meinte, er wollte Ihnen etwas zurückbringen.«
Der mütterliche Ton in der Stimme treibt Rita die Galle in den Hals. »Meinen Sie nicht, dass das etwas weit geht?«, bringt sie heftig heraus. »Einem Fremden einfach die Tür zu meiner Wohnung zu öffnen?«
»Aber erlauben Sie mal!« Die Stimme der Vermieterin wird hart, ihre Hände krallen sich um das Geländer. »Ich möchte mir doch diesen Tonfall verbitten. Der junge Herr hat gesagt, Sie seien vorgestern mit ihm ausgegangen – stimmt das etwa nicht?«
»Doch, aber –«
»Na also«, tönt die Frau triumphierend. »Also was wollen Sie eigentlich? Sie müssen sich schon vorher entscheiden, mit wem Sie nun Umgang pflegen!«
Mit einem Mal ist Rita ganz ruhig. Sie lässt die Rede ihrer Vermieterin an sich abperlen, als würden sie die Worte gar nicht betreffen. Ihr Blick hängt an dem Körper, der dort über die Brüstung gelehnt steht. Die schmalen Holzbalken, die unter dem Gewicht ächzen … Rita stellt sich vor, wie das Gerüst jäh nachgibt, wie die Holzlatten splitternd brechen und die Frau hinunterfallen lassen, aus dem dritten Stock direkt nach unten ins Erdgeschoss …
Die Vermieterin hält jäh in ihrem Redeschwall inne. Rita weiß nicht, was für einen Gesichtsausdruck sie selbst zur Schau trägt, doch die Miene von Frau Kučerová wird weicher. »Jetzt seien Sie doch nicht so. Ich wollte Sie ja auch gar nicht ärgern.« Teilnahmsvoll schüttelt sie den Kopf. »Ich dachte mir nur, es ist doch wohl ein patenter junger Mann. Und Sie werden ja auch nicht mehr jünger. Da ist man doch dankbar, wenn man mal so einen Fisch an der Angel hat …«
Rita öffnet die Lippen und schließt sie wieder. Natürlich, sollte sie nun sagen, wie Sie meinen, Frau Kučerová. Aber sie dreht sich nur wortlos um und stapft die Treppe hinauf, um in ihrer Wohnung zu verschwinden.
Mit einem dumpfen Knall fällt die Tür hinter ihr ins Schloss. Rita muss sich zusammenreißen, nicht gleich das schwere Sofa davorzuschieben. Stattdessen lässt sie sich auf das Möbelstück fallen und schließt mit einem lauten Seufzen die Augen.
Sie will nur noch weg von hier; all die Vorwürfe und fremden Erwartungen hinter sich lassen. Wie sehr sie sich danach sehnt, einfach abzuschalten … für sich alleine auf der Tanzfläche zu stehen, in irgendeinem Kellergeschoss, und zur lauten Musik den Kopf zu verlieren.
Diese Woche kann der Freitag wirklich nicht schnell genug kommen.
Der nächste Tag wird nicht besser. Gewöhnlich kommt Rita mit ihrem Job gut zurecht: Es macht ihr Spaß, die Bestellungen weiterzugeben, ihr liegt der Umgang mit den Gästen und sie fühlt sich gut, wenn sie am Abend mit schmerzenden Füßen in den wohlverdienten Feierabend geht. Aber diese Woche ist es anders; all die beiläufigen Komplimente, die Seitenblicke und Berührungen quälen sie wie winzige Nadelstiche. Immer wieder ballt sie die Hände zu Fäusten, bis ihre Fingernägel helle Male auf den Handballen hinterlassen. Wenn sie es nicht mehr aushält, flüchtet sie in die Küche oder zur Bar, um Rechnungen auszustellen – alles, um den Blicken dort draußen zu entkommen.
»Jetzt bemüh dich doch wenigstens mal.«
Irritiert blickt Rita auf. Drüben an der Bar steht Antonín, ihr Chef, und sieht sie strafend an.
»Was …« Rita schluckt. »Was hast du gesagt?«
»Na, ich sehe doch, wie du die Gäste schon den ganzen Tag anfährst. Gib dir wenigstens etwas Mühe, freundlich zu sein.«
Er beugt sich über den Tresen und greift nach ihrer neuen Bluse. Instinktiv schreckt Rita zurück.
»Ich bitte dich«, sagt Antonín in einem Tonfall, der ganz und gar nicht nach einer Bitte klingt, »mach zumindest den obersten Knopf auf. Die Jungs kommen doch nicht hierher, um an ihre Großmutter zu denken.«
Starr lässt Rita ihn gewähren. Mit vorgeschobener Lippe geht sie wieder hinaus, um der Gästeschar aufs Neue zu trotzen; all den dreisten Händen, den abschätzigen Blicken und den wohlmeinenden, aber etwas zu aufdringlichen Fragen.
Es ist spät am Abend, als sie sich schließlich auf den Heimweg macht. Nun, da das Wetter schöner wird, schließt das Lokal erst, lange nachdem die Sonne untergegangen ist. Als sie endlich in der Metro in Richtung Altstadt sitzt, lehnt sie sich zurück und streckt die Beine aus. Was für ein Tag! Jetzt nichts wie nach Hause, vielleicht noch ein Bad nehmen … Der Gedanke treibt ihr trotz allem ein Lächeln auf das Gesicht.
Die Metro fährt in eine ungewohnte Station ein. Verwirrt schaut Rita nach dem Schild: Náměstí Míru – verflixt, sie hat die Haltestelle zum Umsteigen verpasst. Nun kann sie entweder auf die nächste Bahn warten, mit der sie zurückfahren kann, oder sie wandert hinüber zur Pavlova, um dort in die richtige Metrolinie einzusteigen. Was soll’s, ein wenig frische Luft wird ihr guttun. Frische Luft und Einsamkeit und kein Mensch, der irgendetwas von ihr verlangt.
Es ist kalt geworden; die Abendluft trifft sie wie eine frostige Welle. Rita trägt eine Frühlingsjacke mit halblangen Ärmeln – ein Fehler, wie sie nun erkennt. Eng schlingt sie die Arme um den Leib, in dem Versuch, sich wenigstens ein Stück weit zu wärmen. Die Ampeln an den Kreuzungen blinken träge, als würden auch sie auf ihren Feierabend warten. Obwohl sie sich nicht weit vom Stadtzentrum befindet, sind die Straßen wie ausgestorben und die wenigen Menschen, die noch unterwegs sind, scheinen sich über die späte Passantin zu wundern.
Rita wendet sich nach Westen, in Richtung der nächsten Haltestelle. Überlaut klingen ihre Schritte von den steinernen Wänden wider, ein hohles Echo, das durch die Straßenschlucht hallt. Sie ist allein auf der Straße, nur begleitet von der Kälte und ihren eigenen Gedanken. Nein, nicht ganz allein – Rita spitzt die Ohren. Leise klingt ein anderes Schrittpaar hinter ihr, vielleicht ein paar Meter entfernt. Unwillkürlich suchen ihre Augen den Schatten, den sie selbst im Licht der Straßenlaternen wirft. Die Schritte kommen näher, der fremde Gang wird langsamer, angepasster.
»He, du!«
Rita zuckt zusammen. Ohne sich umzuwenden, geht sie weiter, den Blick zu Boden gesenkt. Neben ihrem Schatten ist ein zweiter Umriss erschienen, der sich im gleichen Takt bewegt, größer und breiter als ihr eigener.
»Du, warte doch mal. Kann ich dir irgendwie helfen?«
Die Stimme klingt nah; aus dem Augenwinkel kann Rita die fremde Gestalt erahnen. Ihre Gedanken gehen schnell – soll sie ihn ansprechen oder ignorieren? Hat sie ihn einmal angesprochen, wird es schwerer, den Fremden loszuwerden, aber wenn sie ihn nicht beachtet, kann ihn das aggressiv machen. Also wendet sie den Kopf und schenkt ihm die Andeutung eines Lächelns.
»Es geht schon, danke.«
Damit beschleunigt sie ihren Schritt, in der Hoffnung, dass er den Hinweis richtig versteht. Doch vergebens.
»Du, sei doch nicht so unfreundlich!« Der fremde Kerl geht nun neben ihr, zu nah, als dass sie ihn ohne Weiteres abschütteln könnte. »Musst gar nicht so rennen. Ich will dir ja nur helfen! Wo willst du denn hin?«
Rita presst die Kiefer zusammen. Warum zum Teufel fällt es manchen Männern so schwer, eine Frau, die allein unterwegs ist, einfach in Ruhe zu lassen? Ihre Hand wandert zu dem linken Arm, wo das Mal auf ihrer Haut zu jucken begonnen hat.
»Du, rede doch mit mir! Wie unhöflich ist das denn, mich hier einfach zu ignorieren?«
Der Ton ist härter; der Fremde berührt sie nun fast. Schon streift seine Hand wie von ungefähr ihre Jacke und mit einer heftigen Bewegung zieht sie den Arm zur Seite. Ihr Schritt ist hastig, beinahe verfällt sie ins Lauftempo – aber nein, bloß nicht wegrennen. Wer weiß, was dem Kerl sonst einfallen würde?
Rita ist nun der Panik nahe, ihr Atem geht flach und ihre Hände sind in die Jackentaschen gekrallt. Ohne zu dem Verfolger zu blicken, marschiert sie weiter, die Straße entlang und dann nach links in die nächste Seitenstraße, ohne sich noch einmal umzudrehen. Ihr Herz schlägt heftig in ihrer Brust, während ihre Schuhe über das Pflaster schlagen – dicht gefolgt von dem dumpfen Schrittklang des fremden Mannes.
»Sag mal, hörst du mir eigentlich gar nicht zu? Du dumme Schlampe, jetzt bleib schon stehen!«
Ohne sich umzuwenden, schüttelt Rita den Kopf. Sie weiß nicht mehr, wo sie hinläuft, hat längst jedes Gefühl für die Richtung verloren. Sie hastet eine Treppe hinunter in eine Unterführung und auf der anderen Seite wieder hinauf, in der vagen Hoffnung, den Kerl auf diese Weise abzuschütteln. Aber nein, die Schritte hinter ihr sind nach wie vor zu hören. Rechts von Rita führt nun eine hohe Mauer an der Straße entlang, zu ihrer Linken ragen die Türme eines gotischen Baus drohend in die Nacht. Ihre Schultern sind hochgezogen und ihr Körper angespannt, jeden Moment auf einen Angriff gefasst. Ohne die Lippen zu bewegen, schickt sie ein Stoßgebet an jede höhere Macht, die sie vielleicht hören kann. Ihre Augen sind starr auf den Boden gerichtet, auf das allgegenwärtige Mosaikpflaster des Gehwegs. Und daneben sieht sie ein Paar heller Schuhe.
Beinahe stolpert Rita in die weiße Gestalt, die plötzlich vor ihr steht.
Ein heiserer Schrei dringt zwischen ihren Lippen hervor, sofort gebremst von den Fingern, die sie sich vor den Mund presst. Ihr Verfolger hat die fremde Erscheinung wohl genauso wenig vorhergesehen, denn er läuft nun geradewegs in Rita hinein.
»Scheiße, was soll das? Du kannst doch nicht einfach stehenbleiben«, fährt er sie an.
Das war’s – der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Gereizt blickt sich Rita zu dem unverschämten Kerl um, der ihr nun schon eine Viertelstunde folgt. »Verdammt nochmal«, herrscht sie ihn an, »was soll der Scheiß eigentlich? Ich will einfach nach Hause gehen. Kannst du mich bitte in Ruhe lassen – jetzt sofort?«
Dem Kerl gefällt es offenbar gar nicht, auf diese Weise angefahren zu werden, schon gar nicht, wenn jemand Fremdes dabei zuhört. »Was willst du eigentlich von mir, du blöde Schlampe«, herrscht er sie an. Trotz der Dunkelheit kann Rita die Wut in seinem Blick sehen. »Was glaubst du wohl, wer du bist?«
Da tritt die weiße Gestalt wie ein Schutzschild zwischen sie. »Oh, entschuldige bitte vielmals«, wendet er sich ruhig an den anderen Mann, »meine Freundin hier war auf der Suche nach mir. Wahrscheinlich hat sie dich gar nicht bemerkt.«
Atemlos betrachtet Rita den Neuankömmling, der nun zwischen ihr und ihrem Verfolger steht. Er hat dunkle Haare und trägt einen weißen Leinenanzug, der in keiner Weise in die nächtliche Umgebung zu passen scheint. Wenn sie ehrlich ist, wirkt er eher wie eine Vision denn wie ein gewöhnlicher Mensch.
Auch der andere Mann mustert sein Gegenüber nun zweifelnd. »Das ist dein Mädchen?«, fragt er nach und weist dabei auf Rita. »Sag das doch gleich. Sie hat getan, als wäre sie wer weiß was.« Noch ehe der Mann in Weiß antworten kann, wendet der andere sich um und geht die Straße zurück, wie ein Kater, der plötzlich das Interesse verloren hat. »Blöde Schlampe«, murmelt er noch einmal, ehe er um die nächste Ecke biegt.
»Was für ein charmanter Zeitgenosse.« Der Mann blickt dem Fliehenden einen Moment hinterher, dann wendet er sich zu Rita um. Mit seinen langen Fingern dreht er eine dunkelblaue Nelke, die in seinem Jackettaufschlag hängt. »Es war mir eine Ehre, dir behilflich zu sein …«
»Was sollte das?«, herrscht Rita ihn an. Die Worte purzeln wie von selbst heraus, während sie sich über den Unterarm reibt. »Ich bin nicht deine Freundin! Und ich brauche auch keinen Schutz – ich sollte ihn zumindest nicht brauchen. Ich sollte mit so einem Widerling alleine fertigwerden! Wieso ist er überhaupt abgehauen, nur weil du … weil du gesagt hast … weil ich …«
Die Worte stocken, gehen in ein hysterisches Schluchzen über. Jetzt erst bemerkt Rita, dass sie am ganzen Körper zittert. Wütend tritt sie einen Schritt von dem anderen Mann – ihrem Retter – fort; die Arme vor der Brust verschränkt und die Lippen bebend vor Zorn.
Der hat ihren Ausbruch unbewegt mitangesehen. Nun, da sie ihn trotzig anstarrt, senkt er begütigend den Kopf. Dabei hängt sein Blick an ihrem linken Unterarm, der unter ihrem halblangen Jackenärmel hervorschaut.
Für einen Moment droht etwas in seinem Gesicht zu entgleisen, die Züge zeigen Überraschung, gepaart mit leisem Unmut. Doch sofort hat er sich wieder gefasst. Er weist auf ihren Arm, mit einem Lächeln, das nicht bis zu seinen Augen reicht. »Ich sehe, du hast dich inzwischen anderweitig verpflichtet.«
Rita sieht ihn missmutig an. Mechanisch reibt sie über das dunkle Mal auf ihrem Arm. Wo hat sie sich diesen Flecken nur geholt?
»Was … was meinst du?«, fragt sie heiser. Mit einem Mal fällt ihr das Sprechen schwer. Ihre Lippen beben und sie braucht alle Selbstbeherrschung, um nicht auf dem Pflaster zusammenzubrechen. Wütend beißt sie die Zähne zusammen – wie kann dieser alberne Vorfall sie nur so aus dem Gleichgewicht bringen? Der Hass auf den unverschämten Verfolger lodert erneut in ihr auf.
»Nichts Besonderes«, erwidert der fremde Mann. »Ich gehe davon aus, dass du den Weg hinunter zur Alten Basilika kennst?« Wissend nickt er zu dem Symbol auf ihrem Arm. »Das ist es doch, wo du hinwillst, oder etwa nicht?«
»Zur Alten Basilika?« Die Worte hallen durch Ritas Kopf wie die Erinnerung an ein vergessenes Gespräch. Da war etwas … eine Bemerkung, die jemand zu ihr gemacht hat. Aber gerade jetzt kommt sie ums Verzweifeln nicht darauf.
»In den Katakomben drüben unter der Altstadt«, fährt der Mann ruhig fort. »Wenn du den Weg nicht kennst, kann ich ihn dir gerne weisen. Natürlich hängt es ganz von dir ab, wohin du dich nun wenden willst.«
Rita hält zögernd inne. Sie ist müde, erschöpft und ihr Körper zittert immer noch unkontrolliert. Heute ist wahrlich nicht der Tag, um noch irgendwelche Abenteuer zu wagen. Aber auf der anderen Seite erscheint ihr die Aussicht auf ein Abenteuer plötzlich allzu verlockend – als wäre das nun genau das Richtige für sie, um wieder zu sich zu finden und ihre vermaledeite Schwäche zu überwinden. Wenn sie ihren neugetroffenen Begleiter nur besser einschätzen könnte …
Der Fremde scheint ihre Bedenken zu spüren; verständnisvoll hebt er die Schultern. »Andererseits, wenn du Angst hast …«
»Ich habe keine Angst!«, faucht Rita etwas zu heftig. Natürlich stimmt das nicht – nicht vollständig zumindest. Aber sie hat keine Lust mehr, das verängstigte Mäuschen abzugeben, das sie in seinen Augen sicher sein muss. Ein wenig ruhiger fragt sie nach: »Die Katakomben – du redest von den alten Kellern drüben unter der Stadt?«
Der Mann schenkt ihr ein schmales Lächeln. »Von ebenjenen. Ich kann dich bis zur Basilika führen, wenn du das möchtest. Wahrscheinlich erwartet man dich dort bereits.« Er zeigt die Straße hinab, in Richtung des Flusses. »Unten am Ufer gibt es einen Einstieg. Es ist nicht weit. Und ich wollte mir die Lage dort unten sowieso selbst anschauen.«
Sein Tonfall ist freundlich, hilfsbereit. Etwas an seiner Gestalt flößt Rita ein unverhofftes Vertrauen ein. Beinahe erwartet sie, dass er sie an der Hand führen will wie ein kleines Kind – doch er neigt nur den Kopf und weist ihr mit einer höflichen Geste den Weg.
Noch einmal zieht Rita die Augenbrauen zusammen. »Wer bist du?«, fragt sie misstrauisch.
»Mein Name ist Lucián«, antwortet der Fremde. »Fürchte dich nicht.« Sein heller Anzug schimmert in der Dunkelheit mit seinem Lächeln um die Wette. »Darf ich dir behilflich sein?«
»Ja … du darfst.«
Die Worte kommen zögerlich, doch nun, da sie einmal ausgesprochen sind, fühlt Rita sich von einer neuen Entschlusskraft erfüllt. Warum soll sie sich nicht auf die Sache einlassen? Vielleicht findet sie ja auf diese Weise ihre Selbstsicherheit wieder, die ihr der unverschämte Verfolger so dreist genommen hat.
Sie räuspert sich. »Ich heiße Rita.« Damit folgt sie seiner Geste und macht sich an seiner Seite auf den Weg zur Moldau, hinab in die Prager Unterwelt.
Wie ein Traum erscheint Rita der nächtliche Gang durch die Stadt. Hinter Lucián wandert sie die Straßen entlang, bis sie ans Ufer der Moldau gelangen. Die Uferpromenade ist angefüllt mit betrunkenen Jugendlichen und partysüchtigen Touristen, aber Lucián scheint die schwärmende Menge gar nicht zu bemerken. Zielstrebig schiebt er sich zwischen den Feiernden hindurch, hinüber zu einem der Cafés, die hinter übergroßen Bullaugen in die Mauer eingelassen sind.
Rita bemüht sich, eng an seiner Seite zu bleiben. Ihr Kopf schwirrt, als hätte sie zu viel getrunken, und ihre Arme zittern unter der kurzen Jacke. War es ein Fehler, mit dem fremden Mann mitzukommen? Nach dem, was sie heute Abend erlebt hat, wäre sie wohl in ihrem eigenen Bett am besten aufgehoben. Aber nein – sie hatte vor, sich auf ein Abenteuer einzulassen, und nun wird sie keinen Rückzieher machen.
Also geht sie ihm wortlos hinterher, durch das Café hindurch in eine gemauerte Kammer, die mit altem Gerümpel vollgestellt ist. Sie fragt sich gerade, was sie hier wohl suchen, da zückt Lucián einen Schlüssel, mit dem er eine Pforte in der Steinwand öffnet. Irgendwo aus seinem Anzug zieht er eine Taschenlampe hervor und schaltet sie an, sodass der kaltweiße Strahl die Dunkelheit durchschneidet.
Fröstelnd schaut Rita durch die Tür. Der Gang, der sich dahinter öffnet, ist sicher drei Meter hoch und fast ebenso breit. Unter der Decke laufen dicke Rohre entlang, vielleicht um Kabel oder auch Wasserleitungen zu führen. Sie erschauert – es wirkt nicht wie ein Tunnel, in den sie ohne Weiteres hineintreten sollte.
»Nun?«, fragt Lucián, während er mit der Taschenlampe durch die Tür schreitet. »Kommst du mit?«
Rita runzelt die Stirn. Sie weiß immer noch nicht genau, was sie von der Sache halten soll. Der Anblick des dunklen Lochs, das sich vor ihr in der Mauer öffnet, wirkt alles andere als vertrauenerweckend … Unsicher sieht sie ihren Begleiter an. Am liebsten würde sie sich an ihn anschmiegen, an seiner hellen Gestalt Zuflucht suchen – aber natürlich ist dieser Gedanke Unfug. Stattdessen hebt sie entschlossen den Kopf. Sie schluckt ihre Bedenken herunter und tritt an Luciáns Seite in den Gang hinein.
Hohl schallen Ritas Schritte von den Wänden wider, während sie ihrem Führer durch die Kanäle folgt. Mehr aus Gewohnheit merkt sie sich den Weg, den sie gehen – einmal rechts, dann lange geradeaus, dann wieder eine Abzweigung nach links –, ohne dabei den Blick von Lucián zu nehmen. Es ist wie eine Reise rückwärts durch die Zeit: Langsam werden die Gänge um sie herum älter, der Stein wird gröber und die Kabelrohre verschwinden. Nicht lange und sie betreten einen Tunnel, der ganz aus rotbraunem Ziegelstein gemauert ist und einen runden Querschnitt hat, sodass Rita auf dem gewölbten Boden achtgeben muss, wo sie hintritt. Ein metallenes Wasserrohr führt an der Decke entlang, doch sie kann nicht sagen, ob es noch genutzt wird. Das hier müssen uralte Gänge der Kanalisation sein, die vor vielen Jahrzehnten, wenn nicht gar Jahrhunderten gebaut wurden, um den Dreck der Neustadt zur Moldau hinüberzuleiten. Doch wenn die runden Gänge früher von Unrat und Gestank erfüllt waren, ist davon nun nichts mehr zu merken; nur ein schmales Rinnsal fließt am Boden des Tunnels entlang.
Rita lässt ihre Fingerspitzen über die alten Ziegelsteine fahren. Unsicher blickt sie zu ihrem Begleiter hinüber, der ihr mit der Taschenlampe in der Hand vorausgeht. Längst tut es ihr leid, dass sie ihn vorhin so angefahren hat – er hat ihr schließlich nur helfen wollen, hat ihr diesen unerträglichen Verfolger vom Hals geschafft. Vorsichtig schließt sie zu ihm auf.
»Ich … ich wollte dir noch Danke sagen«, bringt sie heraus. »Wegen vorhin.«
»Keine Ursache«, erwidert er, ohne sich umzudrehen. Seine Stimme hallt trocken von den Steinwänden zurück. »Ich wollte dich übrigens nicht verärgern. Es hat nur ausgesehen, als könntest du Beistand gebrauchen.«
Seine Miene – oder das, was in der Dunkelheit davon zu sehen ist – bleibt bei diesen Worten undurchschaubar. Rita kann nicht sagen, ob er beleidigt ist oder die Aussage als reine Feststellung meint.
»Ich nehme an, das habe ich«, murmelt sie, mehr zu sich selbst. »Beistand gebraucht, meine ich.« Sie schürzt die Lippen. »Aber das heißt nicht, dass mir das gefällt.«
»Das denke ich mir«, erwidert Lucián, »deshalb führe ich dich ja in die Basilika.« Noch ehe sie nachfragen kann, was er damit meint, weist er mit dem Lichtkegel den Gang entlang: »Siehst du? Es ist nicht mehr weit.«
Rita folgt seiner Geste mit den Augen und nun bemerkt auch sie das Licht, das ihnen entgegenflackert – ein warmer, einladender Schein, ganz anders als der Strahl der Taschenlampe. Es stammt von einer dicken Stumpenkerze, die dort auf dem Boden steht, eingefasst in einen runden Glasbehälter.