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Das Leben als Dämon ist kein Zuckerschlecken. Niemand weiß das besser als Erika, die im Gefolge des Leibhaftigen seit fast hundert Jahren durch die Welt zieht. Überall gibt es Sünder, die zur Rechenschaft gezogen werden müssen, unschuldige Kinder, die es in Versuchung zu führen gilt, und andere Aufträge, die Erika für ihren teuflischen Dienstherrn ausführt. Nicht, dass sie dabei eine Wahl hätte – schließlich weiß sie nur zu gut, was passiert, wenn man sich mit dem Teufel anlegt. Und dann ist da noch Salome, ein allzu süßer Gnadenengel, der Erika zunehmend den Kopf verdreht …
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Ann-Kathrin Wasle
Weißer Stechapfel
www.TintenSchwan.de
TintenSchwan
Buchbeschreibung:
Das Leben als Dämon ist kein Zuckerschlecken.
Niemand weiß das besser als Erika, die im Gefolge des Leibhaftigen seit fast hundert Jahren durch die Welt zieht. Überall gibt es Sünder, die zur Rechenschaft gezogen werden müssen, unschuldige Kinder, die es in Versuchung zu führen gilt, und andere Aufträge, die Erika für ihren teuflischen Dienstherrn ausführt. Nicht, dass sie dabei eine Wahl hätte – schließlich weiß sie nur zu gut, was passiert, wenn man sich mit dem Teufel anlegt.
Und dann ist da noch Salome, ein allzu süßer Gnadenengel, der Erika zunehmend den Kopf verdreht …
Über die Autorin:
Ann-Kathrin Wasle schreibt Historisches mit einem Hauch Phantastik. Ihre Romane zeichnen sich durch einen magischen Realismus aus, der verschiedene Einflüsse zu einem neuen Ganzen vereint. Gleich ob ihre Geschichten in der heutigen Zeit spielen oder in vergangenen Jahrhunderten, immer wird ihre Welt durchströmt von einer mystischen Aura, die ihre Figuren und die Leser gleichermaßen verzaubert.
Eigentlich hat Ann-Kathrin Mathematik studiert und mehrere Jahre als Software-Entwickler gearbeitet, doch bald stellte sie fest, dass ihr das nicht reicht. Also begann sie damit, in ihrer freien Zeit an ihrem ersten historischen Roman zu schreiben. Zurzeit wohnt sie zusammen mit ihrem Mann, ihren beiden Kindern und ein paar Freunden in einer quirligen Hausgemeinschaft am Rand der Karlsruher Rheinauen.
© 2021 Ann-Kathrin Wasle
Hirtenweg 22
76287 Rheinstetten
Lektorat: Martha Wilhelm
Coverdesign: Vanessa Hahn
ISBN: 978-3-949198-05-2
1. Auflage, Dezember 2021
»Bin ich der Hüter meines Bruders?«
– Kain, der Erstgeborene
Erstes Buch Mose
Die Bibel
Am Ende hat doch jeder von euch irgendwelchen Dreck am Stecken.
Bei jedem Menschen gibt es diese dunklen Geheimnisse, die er oder sie am liebsten weit hinten in ihrem Bewusstsein verbergen würde, um nie wieder daran zu denken. Natürlich funktioniert das so nicht. Ganz gleich, wie tief die schamhaften Details auch vergraben sind, sie haben die unangenehme Eigenschaft, irgendwann wieder hervorzubrechen. Spätestens wenn das Ende naht, schleichen sie sich an, um die Schuldigen zu überfallen und ihnen den Schlaf zu rauben. Und wenn sie das nicht von selbst tun – nun, dann helfe ich eben ein wenig nach.
Ganz ehrlich, mein Job macht mir einen Heidenspaß. Ich liebe es, die selbstgerechten Arschlöcher dabei zu beobachten, wie ihnen klar wird, dass die Stunde der Abrechnung gekommen ist. Ich liebe es, die Angst in ihrem Blick zu sehen, das mühevolle Zurückrechnen – das habe ich getan, und das, und stimmt ja, das auch noch … Dieses Klischee, dass einem in der Stunde des Todes das vergangene Leben vor dem inneren Auge abläuft? Oh ja, dafür sorge ich schon. Man könnte sogar sagen, dieser Teil ist meine Spezialität: dem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen und den wimmernden Sünder daran zu erinnern, was er damals in Wut zu seinem Vater gesagt hat und wie er seine Frau betrogen hat, und dann noch das Geld aus der Kaffeekasse, das nie den Weg zurückgefunden hat …
Oder die Sünderin natürlich. Ich mache da keine Unterschiede. Zumindest gebe ich mir Mühe.
Wenn ich etwas nicht leiden kann, dann sind das renitente Sterbliche, die sich aus der Verantwortung stehlen wollen. Die sich einreden, sie wären gute Menschen, so als hätten sie den Begriff gepachtet. Am besten, wenn sie dabei noch genüsslich ihren Champagner schlürfen, während andere ihre Hinterlassenschaften aufräumen. Natürlich lasse ich ihnen das nicht durchgehen. Ich beobachte sie, wie sie am frühen Abend durch die Straßen flanieren, dort wo die edlen Restaurants zwischen den Boutiquen und Maßschneidereien liegen. Wie sie sich kaum entscheiden können, auf welche Weise sie ihr ach-so-schwer-verdientes Geld aus dem Fenster werfen sollen – während ich nur darauf warte, ihnen ihre vergangenen Fehler genüsslich vor Augen zu führen.
Genau deswegen sitze ich nun hier, in einem Straßencafé am Rand der Prager Altstadt. Es ist ein angenehmer Abend, das Publikum geht gerade von den nachmittäglichen Einkauftrips über zum abendlichen Amüsement. Also genügend Material für mich, um in aller Ruhe meine Auswahl zu treffen.
Der alte Knacker, der dort drüben gelassen aus dem Hutladen tritt, die Schachtel mit seinem neuen Filzhut unter dem Arm? Er würde wohl kaum so zufrieden mit sich und der Welt dreinschauen, wenn er wüsste, dass er den morgigen Tag nicht erleben wird. Soll ich ihm sagen, dass ihn in weniger als zwei Stunden ein äußerst unangenehmes Zusammentreffen mit einer Straßenbahn erwartet? Das würde ihm sein Lächeln mit Sicherheit vom Gesicht treiben und ihn stattdessen dazu bringen, ein wenig über seine vergangenen Gaunereien nachzudenken … Aber nein, so einen hatten wir doch gerade erst.
Von der anderen Seite kommt ein junger Geschäftsmann dahergehastet, voll Sorge, dass er irgendeinen wichtigen Termin verpassen könnte. Seine Gedanken sind ganz bei seiner Arbeit – und bei den seltsamen Kopfschmerzen, die ihn seit einigen Wochen plagen. Ich könnte ihm verraten, was mit seinem Gehirn nicht stimmt; wie wenig Zeit ihm noch auf Erden bleibt. Nur ein paar Worte und ich würde den gehetzten Anzugträger wohl nachhaltig von allen Arbeitsgrübeleien abbringen …
Und die Mutter, die neben mir am Nachbartisch sitzt und ihre zwei ungezogenen Blagen dazu bringen will, ihren Eistee leerzutrinken, damit sie ihren Einkaufsbummel abschließen kann? Die hat heute Morgen einen harten Knoten in der linken Brust entdeckt. Noch ist sie nicht sicher, was die Schwellung zu bedeuten hat, aber ihre Gynäkologin wird sie bald genug darüber aufklären. Falls ich mich nicht entschließe, der Ärztin zuvorzukommen und der Mutter vor ihren Kindern die Wahrheit über ihren Zustand zu sagen.
Nun, vielleicht lieber nicht. Ich bin doch kein Unmensch.
Nachdenklich schlürfe ich meinen Espresso und trommele mit den Fingern auf den Tisch. Mein Blick schweift über die dahineilende Menge. So viele Sterbliche, so wenig Zeit. Dabei liebe ich es, mir mein nächstes Opfer auszusuchen. Diese erste Begegnung, wenn meinem Gegenüber klar wird, wer ich bin und was ich von ihm will … das langsame Begreifen in ihren Augen, das mühsame Nachrechnen der eigenen Sünden … Das ist genau meine Welt.
Ein heftiger Stoß trifft mich von der Seite und reißt mich fast vom Stuhl. Die Espressotasse fällt mir aus der Hand und zerschellt auf dem Pflasterstein. Was zum Teufel …
Mit gerunzelter Stirn wende ich mich um. Es ist der hastende Geschäftsmann, den ich auf der anderen Straßenseite bemerkt habe – der mit den Kopfschmerzen. Jetzt beugt er sich hinab und bemüht sich fluchend, die Reste meines Espressos von seinen weißen Socken abzurubbeln. Mich bedenkt er dabei mit keinem Blick.
Ich lehne mich zurück und verschränke die Arme vor der Brust. »Bloß keine Umstände«, sage ich trocken.
Verwirrt schaut der Kerl auf. Er hat mich bisher kaum bemerkt – zugegeben, das kann bei unsereinem wohl passieren. Sein Blick schweift von mir zu der leeren Untertasse auf dem Tisch und weiter zu den Scherben neben seinem Bein. Dann lässt er ein abfälliges Schnauben hören, greift nach seiner Aktentasche und richtet sich wieder auf. »Passen Sie doch auf, wo Sie Ihren Kaffee verschütten!« Ärgerlich wendet er sich um und verschwindet im benachbarten Restaurant.
Ich bleibe zurück und sehe ihm mit einem schmalen Lächeln hinterher. Meine Damen und Herren, wir haben den Gewinner des Abends.
In aller Ruhe stehe ich auf, lasse ein paar Münzen auf der Untertasse zurück und folge dem unflätigen Kerl hinüber in den glänzenden Edelschuppen. Als die Kellnerin am Eingang mich fragend anschaut, nicke ich zu dem Gast, der drüben allein an seinem Tisch hockt, und mit einer einladenden Geste weist sie mir den Weg.
Abschätzend sehe ich mich um: freihängende Glühbirnen, bunte Nelken, die auf den Tischen in Halterungen aus Papier stecken – zu meiner Zeit hätte sich selbst ein drittklassiger Schuppen für diese Deko geschämt, aber nun protzt dieses Edelrestaurant offen damit. Meinetwegen, solange es den Gästen gefällt … Wobei sich der Anzugträger dort drüben kaum von der Umgebung beeindrucken lässt. Einsam sitzt er an seinem Tisch, der eigentlich für drei Personen gedeckt ist, und blättert in einem ledergebundenen Terminplaner. Vor ihm steht eine Dose mit Tabletten, von denen er sich gerade zwei in den Mund schiebt, um sie mit einem Schluck Wasser hinunterzuspülen.
Mit teilnahmsvoller Miene setze ich mich auf den Stuhl ihm gegenüber. »Kopfschmerzen?«
Ungeduldig hebt er den Blick. »Tut mir leid, aber hier ist kein Platz frei. Ich bin verabredet.«
Zur Antwort hebe ich nur die Schultern. »Wer ist das nicht? Aber solange du noch wartest, kann ich dir genauso gut Gesellschaft leisten.« Neugierig mustere ich den Kerl. Er ist ein Mittdreißiger mit kurzem Bärtchen und verwuscheltem Haar, wie es zurzeit wohl Mode ist. Zugegeben, gar nicht so unansehnlich – sofern man denn auf so etwas steht. Ich schenke ihm ein breites Lächeln. »Kristián, nicht wahr?«
Als er seinen Namen hört, zieht er die Augenbrauen zusammen. »Was wollen Sie von mir?«, fragt er misstrauisch. »Sind Sie Journalistin?«
»So etwas in der Art. Man könnte sagen, es ist mein Job, schmutzige Geheimnisse ans Licht zu bringen. Du kannst mich Erika nennen.« Immer noch lächelnd fahre ich mit den Fingern über das Tischtuch, während ich den arroganten Fatzke mustere. Immerhin habe ich seine Gedanken zum Teil von dem bevorstehenden Geschäftsessen abgebracht – stattdessen geht er im Geist alle größeren Zeitungen der Stadt durch und überlegt, wo er wohl genügend Strippen ziehen könnte, um eine drohende Schmutzkampagne zu unterdrücken. Wie zur Antwort schüttele ich den Kopf. »Keine Bange; was ich herausfinde, wird in keiner Zeitung landen. Ich habe andere Interessen. Wie deine Kopfschmerzen – du solltest deswegen wirklich mal mit einem Arzt reden. Oder deine Sorge, wie euer Treffen mit dem Mutterkonzern laufen wird. Ob du deine Gäste heute Abend so weit abfüllen kannst, dass sie dich bis zum nächsten Quartalsbericht in Ruhe lassen. Wo arbeitest du noch genau …« – ich mustere ihn durchdringend – »irgendeine alberne Schokoladenmarke, nicht wahr?«
Mit unbewegter Miene hat Kristián mir gelauscht. Er bemüht sich, sein bestes Pokerface zur Schau zu stellen – was ihm wohl besser gelingen würde, wenn ich seine Gedanken nicht mühelos durchschauen könnte. Schließlich verschränkt er die Arme vor der Brust. »Du bist keine Journalistin.«
Ich schüttele den Kopf. »Nein, das bin ich nicht.«
Mühsam versucht er, die Erinnerung zu haschen. »Du bist die Frau von draußen, oder? Die mit dem Kaffee.« Er verzieht den Mund. »Ist es deswegen – weil ich dich vorhin angefahren habe? Bist du mir deshalb gefolgt?«
»Das spielt jetzt keine Rolle.« Nein, wirklich nicht. Längst geht es um weitaus mehr. Ohne die Augen von Kristián zu nehmen, greife ich nach der Pillendose, die neben seinem Terminplaner auf dem Tisch steht. »Ich bin hier, weil ich einen Rat für dich habe. Eigentlich zwei. Den ersten habe ich dir schon gegeben: Du solltest zu einem Arzt gehen und herausfinden, wie lange du noch zu leben hast. Auch wenn ich fürchte, dass dir das Ergebnis nicht gefallen wird.«
Ich sehe, wie etwas in seinem Blick umschlägt. Na endlich, langsam versteht Kristián, worum es hier wirklich geht.
Mit gerunzelter Stirn lehnt er sich zurück. »Und was ist der zweite Rat?«
Ich öffne den Mund zu einem breiten Lächeln. Das hier ist mein Lieblingsteil an der ganzen Sache. »Mein zweiter Rat ist folgender: Wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich anfangen, über mein vergangenes Leben nachzudenken. Über all die verpassten Gelegenheiten, die falschen Entscheidungen – die Menschen, die du verletzt hast.« Beiläufig drehe ich die Pillendose zwischen meinen Fingern. »Sag mir, Kristián, nach vierunddreißig Jahren: Was hast du in all der Zeit geleistet, das die Mühe wert war?«
Sein Gesichtsausdruck ist nun ernst, die Gedanken hinter seiner Stirn klar zu erkennen. Der Ärger über die unerwartete Störung, die Sorge wegen der Kopfschmerzen, die ihn schon seit mehreren Wochen plagen, dazu nun meine düstere Warnung … Von Freunden oder Familie lese ich da nichts, stattdessen grübelt er immer noch über das anstehende Geschäftsessen nach. Neben seiner Arbeit scheint es kaum etwas zu geben, wodurch der Kerl sich und seinen Erfolg definiert.
Zeit für den Gnadenstoß. Mit einem provokanten Grinsen beuge ich mich zu ihm vor. »Sag mir, Kristián: Hast du in deinem Leben irgendetwas erreicht, auf das du stolz sein kannst?«
Dieser Hieb hat gesessen. Stumm sitzt Kristián vor mir, die Lippen zusammengepresst. Nun ist der Samen gesät, der in den nächsten Tagen aufgehen soll – so lange, bis der Kerl schließlich voller Selbstzweifel und Schuldgefühle auf seine letzte Stunde wartet. Das Ganze war beinahe zu einfach.
Kristiáns Hand fährt über den Tisch, um mir die Dose abzunehmen und sie wieder vor sich abzustellen. Nachdenklich klopft er mit dem Zeigefinger auf den Deckel – dann hebt er den Blick und schaut mich über die Papiervase hinweg an. »Was für ein Blödsinn.«
Fragend hebe ich die Augenbraue. Doch er scheint die Geste gar nicht wahrzunehmen. Er schüttelt den Kopf, den Mund zu einem Strich verzogen.
»Was immer du mir einzureden versuchst, es bringt nichts. Meine Arbeit macht mir Spaß – ich verdiene nicht schlecht und ich bin gut in dem, was ich tue. Ich weiß nicht, woher du diese Dinge über mich weißt oder was du mit alldem bezweckst, aber bei mir wirst du keine Schwachstelle finden. Ich fahre Elektro und für jeden Flug zahle ich einen gehörigen CO2-Ausgleich. An Ostern erst war ich in der Kirche und ich habe sogar so eine Patenschaft in Namibia abgeschlossen. Mein Gewissen ist so rein, wie es nur sein kann.« Er hat sich nun auf seinem Stuhl aufgerichtet, das Kinn herausfordernd vorgestreckt. »Ich habe mir in meinem Leben nichts zuschulden kommen lassen!«
Entschlossen sieht Kristián mich an, ein selbstherrliches Funkeln in den Augen. Wäre er ein Pferd, so würden seine Nüstern wohl vor Erregung zittern. Sein ganzes Gesicht ist von ehrlicher Rechtschaffenheit verzerrt.
Ich erwidere seinen Blick unbewegt. »Ist das so?«, frage ich knapp. »Nichts zuschulden kommen lassen?« Dass ich nicht lache. Dieser Kerl hält sich für einen wahren Heiligen.
Was für ein selbstgerechtes Arschloch.
Ich greife mir den Terminplaner, der immer noch neben seinem Teller liegt, und schlage ihn auf. »Leg das wieder hin«, fährt Kristián mich an, doch ich beachte ihn gar nicht. Jede Seite des Buchs ist mit handschriftlichen Notizen gefüllt: Termine, Kommentare und hingekritzelte Ideen. Der Mann muss wirklich seine Seele hineingelegt haben.
Genau das, was ich nun brauche.
Mit einem Schlag klappe ich den Planer wieder zu und klemme ihn unter den Arm. »Den hier werde ich mitnehmen.« Damit schiebe ich meinen Stuhl zurück und stehe auf.
»Oh nein, das wirst du nicht!« Kristián springt nun ebenfalls auf, nur um mit dem Kopf gegen die Glühbirne zu stoßen, die von der Decke hängt. »Ich weiß nicht, was du hier treibst, aber für diese Spielchen hast du dir ganz klar den Falschen ausgesucht!«
Es ist ein zu drolliger Anblick, wie er sich zwischen Tisch und Stühlen zu mir hindurchkämpft, das Gesicht voller Entschlossenheit. Er streckt den Arm aus, will meine Hand mit dem Buch darin packen – doch seine Finger rutschen ziellos ab; wie ein Nebelgespenst entrinne ich seinem Griff.
Kristián sieht mich begriffsstutzig an, ohne zu verstehen, was gerade passiert ist. Da klingen von der Seite Schritte herüber, freundliche Grüße sind zu hören. Die Partner, auf die er gewartet hatte, sind gekommen.
Keine Chance, dass er vor ihnen einen Aufstand machen wird.
Ich lächele noch einmal und winke ihm mit dem Kalender in der Hand zu. »Bis bald. Wir sehen uns!« Damit wende ich mich um und verschwinde durch das zunehmend gefüllte Restaurant, an Kellnern und fremden Tischen vorbei dem Ausgang entgegen.
Es dauert eine knappe Stunde, bis ich in der Basilika unter der Prager Altstadt eintreffe. Natürlich könnte ich schneller wieder zurück sein, aber manchmal ist mir nach dem klassischen Weg zumute. Es geht nichts über ein paar Schritte an der frischen Luft, um nachzudenken und einen klaren Kopf zu bekommen.
Und einen klaren Kopf habe ich gerade nötig.
Natürlich werde ich Kristián diesen Unfug nicht durchgehen lassen. Nichts zuschulden kommen lassen … Der Typ ist Geschäftsführer irgendeiner großen Schokoladenmarke, ein wichtiges Tier mit Dutzenden Untergebenen. So eine Stellung erreicht man nicht durch Loyalität und Fair Play. Mit Sicherheit liegen da einige Leichen im Keller begraben – und ich bin entschlossen, sie eine nach der anderen auszugraben. Wie ich schon sagte; meine Spezialität.
Während ich durch das Labyrinth an Kellern und alten Gewölben steige, das unter der Prager Altstadt verborgen liegt, kann ich schon von weitem Gelächter und weinselige Gesänge hören. Großartig, die anderen sind also ebenfalls daheim. Gerade wenn ich einmal meine Ruhe gebrauchen könnte … Den Grablichtern folgend, wandere ich durch enge Durchgänge und abschüssige Treppenstufen hinab in das abgelegene Gewölbe. Durch den Vorhang, der den Vorraum vom Hauptteil der Basilika abtrennt, dringen Licht und das verliebte Seufzen einer Frau.
Offenbar hat sich Kaya Arbeit mit nach Hause gebracht. Na wunderbar.
Nach der Dunkelheit der Katakomben blendet mich das Licht in der Alten Basilika geradezu. Überall sind Kerzen verteilt, um das Gewölbe zu erhellen – an den Mauern, vor den Säulen und sogar oben auf dem Ambo. Das alte Gemäuer mit seinen nackten Wänden wirkt heute beinahe einladend. Drüben im Kirchenschiff sitzt Kaya an einem runden Tisch und neben ihm hockt eine junge Frau – wohl eher ein Mädchen – und blickt ihn weinselig an. Na ja, oder was eben sonst in den Flaschen ist, die dort vor ihnen auf dem Tisch stehen. Kaya trägt wie gewöhnlich das Sakko über der bloßen Brust, um seine Schultern hängt der Arm seiner Begleiterin, die erwartungsvoll zu ihm aufsieht. Vor ihnen liegt eines der Bücher, in das die junge Frau wohl gerade etwas eingetragen hat – immerhin scheint Kaya das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden. Drüben im Altarraum liegt Katinka in ihrem Spitzenkleidchen auf dem Boden und legt irgendwelche Patiencen, ohne sich um das Geturtel der beiden zu kümmern.
Logos ist nirgendwo zu sehen – natürlich nicht. Kurz nachdem er uns verkündet hat, dass wir fürs Erste in Prag bleiben, hat sich unser Protos aus dem Staub gemacht, um die neun Tage vor der Walpurgisnacht wer weiß wo zu verbringen. Seine Abwesenheit führt dazu, dass wir anderen allesamt ein wenig zänkischer sind als gewöhnlich, dass wir häufiger aneinandergeraten. Ich habe den Verdacht, dass dies der eigentliche Grund für sein Fortgehen ist: Die paar Tage reichen aus, uns fühlen zu lassen, wie es uns ohne ihn ergehen würde.
Ohne das Gekicher drüben am Tisch zu beachten, gehe ich zwischen den Säulen zur Bar hinüber und ziehe mir einen der hohen Stühle an den Tresen. »He, Erika«, klingt es von der Seite herüber, »willst du dich nicht zu uns setzen? Aneta hier ist gerade auf der Suche nach neuen Erfahrungen …«
Er lässt ein anzügliches Zungenschnalzen hören, das ich entschieden ignoriere – ebenso wie die Ansammlung an Flaschen, die auf dem Tresen neben mir stehen. Ich brauche jetzt einen klaren Kopf, um zu entscheiden, was ich als Nächstes tun werde.
Eigentlich ist meine Arbeit getan. Ich habe Kristián eine Warnung zukommen lassen, habe ihm einen gehörigen Schrecken eingejagt – so weit, so gut. Nun liegt es an ihm, sich mit seinem vergangenen Leben zu beschäftigen, mit seinen Taten und den Sünden, die er angehäuft hat. Vielleicht besuche ich ihn noch einmal, wenn es dann wirklich ans Ende geht. Ich könnte wie eine griechische Furie an seinem Bett sitzen und ihn an seine Sünden gemahnen – gerade drohend genug, um ihn am Einschlafen zu hindern und ihn dazu zu bringen, wenigstens ein paar seiner Schulden nach seinem Abgang zu begleichen.
Aber ich glaube nicht, dass es so kommen wird. Ich habe seine Miene gesehen; die Selbstzufriedenheit in seinem Blick. Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen, am Arsch! Natürlich hat er genug Scheiße angestellt, so wie wir alle. Jetzt geht es darum, die schlimmsten Momente aus seinem Leben herauszupflücken und ihm vor Augen zu führen – und ich halte genau das richtige Instrument dafür in der Hand.
Kristiáns Terminplaner sollte mehr als genügend Hinweise darauf bieten, was der Kerl zu verbergen hat. Er hat Hingabe in die enggeschriebenen Zeilen gesteckt, jede Menge Leidenschaft und Anstrengung. Ich öffne das Buch und fahre mit dem Finger über die Schrift. Taten und Worte, das ist alles, was es braucht, um in den Herzen der Sterblichen zu lesen – und was ich hier vor mir habe, ist beides zugleich.
Säuberlich hat Kristián dort einen Termin eingetragen, an dem er einen neuen Lieferanten treffen will, und darunter stehen drei Zeilen voller Notizen, in denen er mögliche Verhandlungsansätze skizziert hat. Die Worte selbst kümmern mich wenig, doch was zwischen den Zeilen steht, ist umso interessanter: seine Zufriedenheit über den anstehenden Deal, seine Sorgen und Überlegungen, die Frage, welcher Mitarbeiterin er diesen Auftrag wohl anvertraut – alles, was ihm beim Niederschreiben durch den Kopf gegangen ist.
Nun, hier ist nichts besonders Anstößiges dabei. Also weiter zum nächsten Eintrag, dem Geschäftsessen mit einem alten Freund. Die Nacht ist noch jung und ich habe schließlich alle Zeit der Welt.
Ein Schemen erscheint hinter mir und beugt sich über meine Schulter. Ich muss mich nicht umdrehen, um zu wissen, wer dort steht – die ruhige Erwartung, die mit einem Mal über mich kommt, ist Hinweis genug. Sanft legt Nyoka mir die Hand auf den Arm, während sie mit der anderen auf die eng beschriebenen Seiten weist.
»Es ist Kristián Vébr, nicht wahr?«
Ich nicke. »Er hat nicht mehr lange. Ich war gestern bei ihm und habe es ihm gesagt. Aber der Kerl wollte nichts davon hören – er ist überzeugt, dass er in seinem Leben nichts falsch gemacht hat.« Die Worte kommen allzu bissig heraus. Warum geht mir dieser Sterbliche nur so unter die Haut?
Nyokas dunkle Hand fährt weiter über die Schrift, als wäre sie einem alten Bekannten auf der Spur. »Ich kenne ihn«, murmelt sie sinnend. »Ich habe ihn besucht, vor vielen Jahren, als sein Vater noch lebte.« Ihre Finger klopfen auf das Blatt, während sich ihr Mund zu einem Lächeln verzieht. »Er war so voller Wut. Ich habe sie in Ehrgeiz verwandelt.«
»Na großartig.« Gegen meinen Willen schleicht sich ein abfälliger Ton in meine Stimme. »Und nun sitzt er wie ein eitler Gockel in seinem Chefsessel und hält sich für den König der Welt.«
»Kristián ist stolz auf seine Arbeit«, sagt Nyoka ruhig. »Darauf, was er erreicht hat.« Von der Seite schenkt sie mir einen langen Blick, so als wollten ihre goldenen Augen mich bis ins Innerste durchdringen. Ich hasse es, wenn sie das tut – es ist der gleiche Ausdruck, mit dem sie sonst die Sterblichen betrachtet.
»Was hat er denn erreicht?« Mit einem Schlag klappe ich den Kalender zu, so heftig, dass sie gerade noch ihre Hand herausziehen kann. »Er verwaltet irgendein altes tschechisches Unternehmen, das längst von der Konkurrenz aufgekauft wurde, und gibt in seinem Prager Büro die Schaufensterpuppe ab.«
»Das ist deine Sicht, nicht die seine.« Nyoka lächelt mir zu, in ihrem Blick das Wissen, dass sie bereits gewonnen hat. Natürlich, es geht hier nicht um meine Meinung – das tut es nie. Das ist wohl der nervenaufreibendste Teil meines Jobs.
Ein lautes Klirren lässt uns beide herumfahren: Eine der Flaschen drüben auf Kayas Tisch ist auf dem Steinboden zersprungen. Nach einer Schrecksekunde folgt ein lautstarkes Kichern der jungen Dame, überlagert von Katinkas Schrei:
»Kaya, du hast meine Karten vollgespritzt! Hier stinkt jetzt alles nach Lakritz!«
»Halb so wild, Meleğim«, ruft Kaya ihr über die Schulter zu, während er aufsteht, um die gröbsten Splitter vom Boden aufzulesen. »Du wirst dich dran gewöhnen.«
Nun ist die Stimme der jungen Frau zu hören, die Kaya einen Stupser verpasst: »Jetzt sei doch nicht so zu der armen Kleinen. Wie kann man so ein liebes Mädchen nur so anfahren?«
Neugierig hebe ich den Kopf. Aneta hat das Buch beiseitegelegt und ist aufgestanden; mit schwankendem Schritt geht sie zu dem erhöhten Altarraum hinüber. Kaya ist noch damit beschäftigt, die Scherben auf dem Boden einzusammeln, so dass er sie nicht warnen kann. Also tritt die Frau nun zu Katinka, die oben auf den Steinen hockt und sich bemüht, die Karten an ihrem Spitzenkleidchen trockenzureiben.
»Komm her, Kleine«, säuselt sie und streckt die Hand begütigend nach Katinka aus. »Lass mich dir helfen.«
Mit einer scharfen Bewegung dreht Katinka sich um und starrt die Frau zornfunkelnd an. »Was ist?«, zischt sie drohend. »Glaubst du vielleicht, ich komme allein nicht klar?«
»Nein, ich …« Verwirrt fährt Aneta zurück, in ihrem Blick die Bestürzung einer Frau, die ein Kätzchen streicheln wollte und sich nun einem Tiger gegenübersieht. »Ich dachte nur …«
»Was hast du gedacht?«, fährt Katinka auf, während sie an den Rand der Empore tritt. Die besudelten Karten sind auf einen Schlag vergessen. »Du denkst, hier ist ein hilfloses Kind, das nur darauf wartet, dass du dich um sie kümmerst? Ist das so?« Ihre Nasenflügel sind gebläht, die zierlichen Gesichtszüge vor Zorn verzerrt. Gespannt beobachte ich diesen kleinen Vulkan, der nun mit voller Wucht ausbricht. »Soll ich dir etwas sagen? Ich brauche deine Hilfe nicht! Ich brauche niemanden – schon gar keine alberne Zicke, die sich an ihrem Schwarm rächen will, indem sie ihre Unschuld an den da verliert!«
Bei den letzten Worten weist sie abfällig auf Kaya, der nun mit erhobenen Händen herüberkommt. »Katinka, Schätzchen, sei höflich!« Tadelnd schnalzt Kaya mit der Zunge, dann wendet er sich zu der jungen Frau. »Mach dir nichts daraus«, sagt er begütigend und legt ihr den Arm um die Schultern. »Die Kleine ist manchmal etwas eigen.«
»Aber … ich wollte doch nur …« Hilflos sieht Aneta zu Katinka hinüber, während Kaya sie zurück an den Tisch führt, die Hand immer noch zärtlich auf ihrer Schulter.
Nyoka, die die Szene zusammen mit mir beobachtet hat, dreht sich wieder zu mir um. »Ich glaube nicht, dass dich das da groß weiterbringen wird«, meint sie und weist auf den Terminplaner. »Warum findest du nicht heraus, wo seine eigentliche Schwachstelle liegt?«
»Das ist es ja … Ihn interessiert nichts außer seiner dummen Arbeit.« Ich verziehe missmutig den Mund. »Soll ich jetzt vielleicht recherchieren, wo genau sein Unternehmen die Schokolade produziert?«
»Das wäre ein Anfang. Über das Internet sollte sich so etwas doch problemlos herausfinden lassen.« Nyoka bedenkt mich mit einem spöttischen Lächeln. Sie weiß genau, dass ich vor modernen Gerätschaften einen tiefen Widerwillen habe. Ich habe es nicht gern mit einem Gegenüber zu tun, dem ich nicht ins Angesicht sehen kann.
Offenbar hat Kaya von unserem Gespräch mehr mitbekommen, als ich dachte. Er kommt mit dem zerbrochenen Flaschenhals in der Hand herüber und grinst mich an. »Technikprobleme? Wie kommt es, dass ausgerechnet die Jüngste von uns am meisten Schwierigkeiten hat, mit der Zeit zu gehen?« Dann nickt er zu den Flaschen auf der Bar hinüber. »Wie sieht es aus, Mädels, habt ihr dort drüben noch von dem Raki?«
Bei den Worten sieht er nur mich an, auch wenn die Frage an uns beide gerichtet ist. Aber Kaya meidet den Blickkontakt mit Nyoka, wann immer es geht. Ich weiß nicht, ob es aus Respekt geschieht, aus Furcht oder aus einem letzten Anflug von menschlichem Aberglauben. Doch ich habe schon mehr als einmal beobachtet, wie er die silberne Hand mit dem Amethyst auf seiner Brust berührt, wenn sie den Raum betritt.
Dennoch ist es Nyoka, die ihm nun antwortet: »Es sieht aus, als hättet ihr die letzte Flasche zerbrochen. Wenn du nicht mit Ouzo vorliebnehmen willst, musst du wohl hinausgehen und neuen holen.«
Bei den Worten verzieht sich Kayas Gesicht, als hätte ihm ihr Vorschlag physischen Schmerz zugefügt. Ich verdrehe nur die Augen. Er ist nun seit vielen hundert Jahren kein Mensch mehr – wie kann er nach all der Zeit immer noch an Nationalstolz leiden? Als würde es zwischen all den Schnäpsen irgendeinen nennenswerten Unterschied geben.
Aber Kayas Einstellung zu der Sache ist klar. »Ich bin sofort wieder da«, ruft er und wirft Aneta noch eine Kusshand zu, um dann hinüber zu dem Vorhang zu gehen und Nyokas Rat zu folgen. Katinka lässt ein erleichtertes Stöhnen hören, das erstaunlich gut zu meiner Stimmung passt. Wenigstens für ein paar Minuten sind wir den Herzensbrecher los.
Ich beuge mich wieder über den Kalender – es kann doch nicht sein, dass dort drinnen nichts zu finden ist, was Kristián die Schamesröte auf die Wangen treiben würde. Da klingt Anetas Stimme zu uns herüber: »Entschuldigt, aber … Soll ich hier vielleicht saubermachen? Habt ihr einen Besen oder so etwas?«
Natürlich, die Reste der Flasche. Kaya hat die gröbsten Scherben mitgenommen, aber der Boden um den Tisch ist immer noch mit Splittern übersät. Was für ein Chaos – und ich weiß gut genug, wie sinnlos es ist, Kaya zur Arbeit treiben zu wollen.
Also schnappe ich mir einen Lappen und das Kehrblech, das irgendwo hinter der Bar liegt, und gehe hinüber, um aufzuräumen. Mit roten Wangen sieht Aneta zu mir herunter.
»Danke, aber ich … ich hätte schon selbst …«
»Kein Problem«, sage ich nur, während ich die Scherben zusammenfege. Das Letzte, was wir hier brauchen, ist ein angetrunkenes Gör, das sich die Glassplitter in die Finger treibt.
»Danke«, seufzt sie noch einmal. Ihre Finger blättern in dem Buch, in das sie eben noch etwas hineingeschrieben hat, doch ihr Blick hängt fest an mir, mit einem Funkeln in den Augen, das über reine Trunkenheit hinausgeht. »Du hast so schöne Haare«, murmelt sie und streckt die Hand aus, als wollte sie die dunklen Strähnen berühren. »Du bist Erika, nicht wahr? Kaya hat erzählt, dass du nichts mit Jungs anfangen kannst …«
»So, fertig.« Hastig stehe ich auf und gehe zurück zur Bar, das volle Kehrblech in der Hand. Kann es sein … Hat dieses Mädchen es wirklich geschafft, dass mir die Wangen glühen? Wenn ich Kaya das nächste Mal in die Finger kriege, werden wir ein paar ernsthafte Worte wechseln – unter anderem darüber, was er sonst noch über mich verkündet.
Während ich die Splitter hinter der Bar entsorge, bemerke ich, wie Nyoka nun zu dem Tisch hinüberwandert. Ihr schwarzes Afrohaar umrahmt ihren Kopf wie eine Wolke, ihr Gang ist langsam und grazil, so wie immer, wenn sie auf Beutesuche ist. Ich hebe nur die Augenbraue – sie wird doch nicht …? Unwillkürlich wende ich mich zum Vorhang, aber von Kaya ist weit und breit nichts zu sehen.
»Aneta, nicht wahr?«
Überrascht sieht die junge Frau auf, dann nickt sie hastig. Offenbar hat Kaya von Nyoka nichts erzählt. »Ja, das … das bin ich. Und du?«
»Jemand hat dir das Herz gebrochen«, fährt Nyoka fort, ohne auf die Gegenfrage zu reagieren. Sie setzt sich auf den freien Stuhl neben Aneta und mustert die junge Frau mit undeutbarem Blick.
Ich klappe den Terminplaner zwischen meinen Fingern zu und widme mich nun ganz der Szene dort drüben. Aus dem Augenwinkel bemerke ich, dass auch Katinka sich von ihren Patiencen abgewendet hat. Es ist ein allzu seltenes Schauspiel, Nyoka bei der Arbeit zuzusehen.
»›Herz gebrochen‹ – das klingt so melodramatisch.« Aneta lacht verlegen. »Zwischen Tomík und mir hat es eben nicht funktioniert …«
»Er hat dich aus der Band geworfen, am Abend vor eurem großen Auftritt. Nun werden sie ohne dich auf der Walpurgisnacht spielen und du suchst nach einem Weg, dich an ihm zu rächen.« Nyoka fährt ruhig fort, mit ihrer Stimme, die an den Klang einer bronzenen Glocke erinnert. »Deswegen bist du Kaya gefolgt. Deswegen hat er dich hierhergebracht.«
»Na ja, ich dachte …« Aneta schluckt, die Röte auf ihren Wangen kommt nur noch zu einem Teil vom Wein. »Es ist, weil … weil ich immer noch Jungfrau bin. Ich wollte mich für Tomík aufsparen. Und Kaya hat gemeint, wenn ich mich von ihm befreien will …«
Nyoka nickt verständnisvoll. Ihre Diagnose ist abgeschlossen, nun beginnt die Therapie. Sie hebt die Hand, wie um Aneta über die Wange zu fahren – doch wenige Zentimeter vor deren Gesicht halten ihre Finger inne. »Du könntest Tomík beweisen, was in dir steckt«, sagt sie leise, mit einer sonderbaren Betonung. »Ihnen allen. Du kannst zu dem Fest gehen und selbst auf die Bühne steigen, um zu singen. Im richtigen Moment das Mikrofon ergreifen und deine Stimme erheben …«
Aus großen Augen sieht Aneta die andere Frau an. Ich kann geradezu hören, wie die Räder in ihrem Kopf vor sich hin rattern, wie sie mühsam gegen den Alkohol ankämpfen, der sie gerade noch in eine ganz andere Richtung getrieben hat.
Dann legt sie das Buch beiseite und steht auf. »Ich … ich glaube, ich gehe jetzt lieber.« Ihre Stimme klingt heiser, als wäre sie sich ihrer eigenen Worte nicht sicher. Ihr Blick fährt zu dem Vorhang, voll Sorge, Kaya könnte gerade jetzt zurückkommen.
»Keine Sorge, er wird noch eine Weile brauchen«, sagt Nyoka. Nicht einmal ich weiß, woher sie dieses Wissen nimmt, aber Aneta scheint es nicht weiter zu hinterfragen. Die junge Frau greift nach ihrer Jacke und stolpert hinüber zum Vorraum, um wieder in dem Kellerlabyrinth zu verschwinden, durch das Kaya sie hergeführt hat. Hinter ihr sinkt der Vorhang an seinen Platz, so als wäre Aneta nie hier unten gewesen.
Mit einer fließenden Bewegung erhebt sich Nyoka von ihrem Stuhl und kommt herüber zur Bar, wo sie sich ein schmales Glas Ouzo einschenkt.
Ich nicke zum Vorraum hinüber. »Und wenn sie sich auf der Feier nun komplett blamiert?«
»Möglich.« Nyoka hebt die Schultern. »Vielleicht auch nicht. Wenn sie morgen Abend zeigt, was in ihr steckt, könnte sie irgendwann auf einer eigenen Bühne stehen, als umjubelter Star …«
»Hat mich jemand gerufen?« Selbstverliebt dringt Kayas Stimme durch das Gemäuer. Dort steht er unter dem Steinbogen, in jeder Hand zwei Flaschen Raki. Mit einem Grinsen sieht er sich in dem offenen Gewölbe um – nur um zusammenzusacken, als er feststellt, dass Aneta nicht mehr da ist. Ich muss zugeben, allein für diesen Anblick hat sich Nyokas Aktion mehr als gelohnt.
»Wo ist sie?«, will Kaya wissen. Wütend kommt er zur Bar und stellt die Flaschen auf den Tresen.
»Sie hat es sich offenbar anders überlegt«, erwidert Nyoka schulterzuckend. Sie stellt das leere Ouzo-Glas ab, dann geht sie zum Tisch und greift sich das Buch, in das Aneta eben noch Notizen gemacht hat. Es ist irgendein Schundroman mit einer grauen Krawatte auf dem Cover. Mit dem Buch in der Hand wandert Nyoka hinüber zum Altarraum und setzt sich auf die Stufen.
Kayas Miene ist missmutig verzogen. Er schaut von mir zu Katinka und wieder zurück, als könnte er auf diese Weise herausfinden, wer genau ihm nun den Abend verdorben hat. Doch Katinka ist wieder ganz in ihre Patience versunken und ich erwidere seinen Blick so finster, dass er sich nicht traut, noch ein Wort zu der Sache zu sagen.
Mit einem abfälligen Schnauben greift er sich eine der Flaschen und stapft ebenfalls zum Altarraum hinauf. »He, Kleine«, ruft er Katinka zu, »ist das Kartenspiel da vollständig?«
Sie hebt nur den Kopf und wirft ihm einen entnervten Blick zu. »Könnte ich sonst Patiencen damit legen?«
»Schieb mal rüber.« Er setzt sich mit überkreuzten Beinen neben sie und öffnet die Flasche. »Wir spielen jetzt eine Partie Pişti. Was hältst du davon?«
Unter leisem Protest lässt Katinka zu, dass Kaya ihre Karten einsammelt und zu einem Stapel vermischt. Wunderbar – damit wären die beiden Quälgeister für eine Weile verräumt. Nun lasse auch ich mich auf meinen Stuhl zurücksinken und ziehe den Terminplaner herüber, um in Ruhe weiterzulesen.
Drei Zeilen – so weit komme ich, ehe ein lautes Klopfen durch die Basilika schallt und von der nächsten Unterbrechung kündet. Ich lehne den Kopf zurück und lasse ein ungeduldiges Stöhnen hören, das natürlich niemanden interessiert.
Diesmal kommt das Geräusch nicht aus dem Vorraum an der Längsseite der Basilika, sondern von drüben, zwischen den Säulen. In dem Durchgang, der hinüber zur Kanalisation führt, flackert ein kaltes Licht auf und schneidet durch die gemütliche Kerzenbeleuchtung der Basilika.
Ich kenne nur einen, der trotz aller Kerzen darauf besteht, seine alberne Taschenlampe überallhin mitzunehmen.
»Hey, Lucián«, ruft Kaya vom Altarraum hinüber, ohne von seinem Spiel aufzusehen. »Setz dich hin, hol dir etwas zu trinken!«
Lucián, der nun durch die Säulen tritt, wirft Kaya nur einen knappen Blick zu. Wie gewöhnlich ist der Lackaffe ganz in Weiß gekleidet, als wäre er in eine Bleicherei geraten. Die Taschenlampe vor sich, erfasst er die drei Gestalten im Altarraum: die beiden Kartenspieler oben auf der Empore und daneben Nyoka, die ganz in ihr Buch vertieft scheint. Ich blinzele neugierig hinüber. Vielleicht wird er ja dumm genug sein, Nyoka bei ihrer Lektüre zu stören? Aber nein, er wendet sich mit einem knappen Seufzen ab und kommt stattdessen zu mir herüber.
»Erika!« Seine vollen Lippen verziehen sich zu einem Lächeln und wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, er freut sich, mich zu sehen. »Verzeih den späten Besuch.«
»Mach dir keine Umstände«, gebe ich zurück, nur um irgendetwas zu sagen. »Wir nehmen es mit den Tageszeiten nicht so genau.«
Um ehrlich zu sein, kratzt mich sein überkorrektes Gehabe mehr, als es mir recht ist. Der Kerl mag mich nicht, das weiß ich gut genug – ein Gefühl, das durchaus auf Gegenseitigkeit beruht. Warum müssen wir dann weiter diese Spielchen treiben? Höflichkeit ist einfach nicht meine Stärke.
»Nun schau nicht so böse«, sagt Lucián, ohne sein Lächeln zu verlieren. Selbstsicher wirft er sich in Positur, so als wäre er nicht der einzige Mensch in einem Gewölbe voller Dämonen. Aus seiner Jacketttasche zieht er einen fliederfarbenen Umschlag, den er mir entgegenstreckt. »Ich weiß, wir sind bei unserer letzten Begegnung ein wenig aneinandergeraten. Aber gerade deswegen bin ich hier: Ich überbringe dir eine Einladung, übermorgen hinauf zur Hochfeste zu kommen. Wir feiern den Ersten Mai und es wäre uns eine große Freude, euch allesamt dabei begrüßen zu dürfen.«
Der violette Umschlag hängt vor mir in der Luft wie ein Lockvogel oder eine verbotene Frucht. Das Papier sieht edel aus und wenn mich nicht alles täuscht, verströmt der Umschlag einen leichten Fliederduft. Zugegeben, ich würde die alte Hexe dort oben zu gerne persönlich kennenlernen – aber dann auf meine Rechnung und nicht als herbestellter Gast zu ihrer Feier. Es wäre uns eine große Freude … Ich ziehe eine Grimasse. Den Teufel werde ich tun, dieses parfümierte Etwas in die Finger zu nehmen.
»Ich werde sehen, ob ich es einrichten kann«, antworte ich. »Ich habe gerade einiges zu tun.«
Endlich: Die herbe Abfuhr lässt Luciáns Miene wenigstens für einen Moment in sich zusammenfallen. Er hat wohl nicht damit gerechnet, dass ich sein großzügiges Angebot ohne Weiteres ablehne. Aber sofort hat er sich wieder gefasst; das Lächeln auf seinen Zügen ist breiter denn je.
»Willst du es dir nicht noch einmal überlegen? Wir wären untröstlich, wenn ihr unsere Einladung ausschlagen würdet.« Ihm kommt ein anderer Gedanke. »Oder liegt es daran, dass ihr morgen Abend schon etwas vorhabt? Falls ihr in der Walpurgisnacht eigene Pläne verfolgt …«
Ich will abwinken – Volksfeste und improvisierte Hexentänze sind nun wirklich nicht mein Ding. Da tönt Kayas Stimme vom Altarraum herüber:
»Was habt ihr beide denn da zu besprechen? Habe ich etwas von einer Party gehört?«
Irre ich mich, oder ist Luciáns Ausdruck leicht gequält, als er sich nach den beiden Spielenden umwendet? Kaya hat sich und Katinka mittlerweile zwei Gläser mit Raki gefüllt, auch wenn das Mädchen das Getränk angewidert beäugt. Doch Kaya hebt sein Glas grüßend in Luciáns Richtung.
»Gute Wünsche und ein langes Leben dem, der Neuigkeiten von einer Feier bringt.«
Lucián räuspert sich. »Natürlich gilt die Einladung euch allen. Wenn du also gerne kommen würdest, bist du herzlich willkommen. So wie jeder von euch.« Bei den letzten Worten schaut er hinüber zu Nyoka, doch die ist so in ihre Lektüre vertieft, dass sie von der Szene kaum etwas mitzubekommen scheint. Wenn ich nur ihre Gabe hätte, mich aus unangenehmen Situationen einfach fernzuhalten …
»Aber sicher bin ich dabei!« Mit einem großen Satz springt Kaya von der Empore und greift sich den Umschlag, den Lucián immer noch in der Hand hält. »Katinka, wie sieht es bei dir aus?«, ruft er über die Schulter zurück. »Lust auf etwas Abwechslung?«
Zögerlich legt die Kleine ihre Karten beiseite und steigt ebenfalls zu uns herunter. Ich muss ein Schnauben unterdrücken – langsam beginnt die Szene, mir Spaß zu machen. Auch wenn Lucián sich bemüht, Haltung zu bewahren, zeigt seine Miene überdeutlich, dass ihm diese Entwicklung gar nicht gefällt.
Kaya hat den duftigen Umschlag nun geöffnet und überfliegt die Zeilen, während Katinka sich neben ihm bemüht, auch einen Blick darauf zu werfen. »Na, das klingt mal nach einer Party«, sagt er grinsend. »Der Tag der Liebe – das liest sich doch, als wäre es genau mein Ding. Wie kommt es, dass ich noch nie davon gehört habe?«
Luciáns Züge wirken wie aus Stein gemeißelt. »Der Erste Mai wird bei uns traditionell als Tag der Liebe gefeiert«, stellt er fest. »Vielleicht hast du schon einmal von Máchas großem Versepos Der Mai gehört?«
»Oh nein, sicher nicht.« Kaya hat genug von der Einladung und reicht den Zettel an Katinka weiter. »Versepen sind nicht so ganz meine Sache – aber Partys dafür umso mehr.«
Er schenkt Lucián ein gleißendes Lächeln, während seine Augen übermütig funkeln. Weiß er, wie sehr er den anderen Mann gerade zur Weißglut treibt? Jäh regt sich in mir ein neuer Respekt vor meinem Gefährten. Wenn Kaya es sich zum Ziel gesetzt hat, Libušes Laufjungen zu ärgern, dann könnte er es nicht besser anstellen.
Ein Rascheln ist von der Seite zu hören: Nyoka steht auf, das Buch achtlos zwischen den Fingern, und geht durch das Kirchenschiff, um es in das Regal neben dem Ambo zu legen.
»Nun denn«, sagt Lucián, der seine gewohnte Haltung wiedergefunden hat. »Dann freue ich mich, euch beide übermorgen auf der Hochfeste willkommen zu heißen.« Er schenkt Kaya und auch Katinka ein etwas zu formelles Nicken, dann wendet er sich zu Nyoka. Jetzt, da sie nicht mehr in ihre Lektüre vertieft ist, wagt er es, sie ebenfalls anzusprechen: »Verehrte Nyoka, wir wären mehr als geehrt, wenn du uns einen Besuch abstatten würdest …«
Auch ich sehe neugierig zu ihr hinüber. Was wird sie wohl zu dieser Einladung sagen? Ruhig verstaut Nyoka das Taschenbuch zwischen den übrigen Bänden, dann richtet sie sich wieder auf und sieht Lucián lächelnd an. »Das ist ungemein freundlich, aber ich werde es leider nicht schaffen. Richte deiner Gönnerin meine herzlichsten Grüße aus.« Damit geht sie zur Seitenmauer hinüber und steigt mit zwei knappen Handgriffen hinauf zu dem vermauerten Fenster, um sich auf dem Sims niederzulassen.
»Natürlich.« Mit verschnupfter Miene nickt Lucián ihr zu. Suchend blickt er sich um – wird er sich die Blöße geben, auch mich noch einmal zu fragen? Doch nein, er hebt nur die Hand zum Abschied: »Ich wünsche noch einen geruhsamen Abend.« Damit wendet er sich zu dem Durchgang im Seitenschiff, um wieder in dem weitschweifigen Tunnelsystem zu verschwinden.
»Einen geruhsamen Abend – den kann er selber haben.« Kaya stürzt den Rest seines Glases auf einen Zug herunter. »Die Nacht ist noch jung. Zeit, sie zu nutzen!« Damit schlendert er durch das Kirchenschiff hinüber zum Vorraum.
Abschätzig sehe ich ihm hinterher. »Und du willst übermorgen wirklich da hingehen? Zu Libušes Tag der Liebe?«
»Warum denn nicht?«, ruft er über die Schulter zurück. »Ich möchte diese geheimnisvolle Fürstin endlich einmal kennenlernen. Und wenn sie uns schon so freundlich eingeladen hat …«
Drüben im Altarraum räumt Katinka ihre Spielkarten zusammen, dann klettert sie die Stufen hinunter und folgt Kaya in den Vorraum. Nur noch ihr unangetastetes Glas mit Raki kündet von dem stattgefundenen Spiel.
Auf dem Fenstersims hat sich Nyoka mit geschlossenen Augen gegen die Steinmauer gelehnt und scheint in Gedanken versunken. Keine Chance, dass ich sie ansprechen werde – es ist niemals eine gute Idee, Nyoka auf die Nerven zu gehen. Auch wenn ich zu gerne wüsste, was sie von der ganzen Sache hält. Hat sie wirklich nichts dagegen, wenn sich Kaya und Katinka übermorgen auf den Weg machen?
Ich schüttele den Kopf. Was hilft das Grübeln? Statt weiter darüber nachzudenken, ziehe ich den Terminplaner herüber, um mich wieder an meine eigentliche Arbeit zu machen.
Doch noch einmal fährt mein Blick zu der stummen Gestalt hinauf …
Nyoka öffnet das linke Auge und schaut mich ungeduldig an. »Was?«
Ihr Blick lässt mich auffahren wie einen ertappten Sünder. »Ich habe gar nichts gesagt«, stelle ich beinahe trotzig fest.
»Du denkst so laut, dass es einem in den Ohren dröhnt.« Sie öffnet nun beide Augen und runzelt die Stirn. »Was willst du?«
Nun, wenn sie schon fragt … Mit dem Daumen weise ich hinüber zum Vorhang, durch den Kaya und Katinka verschwunden sind. »Hältst du es für eine gute Idee, wenn die beiden übermorgen allein auf die Feste gehen? Ich meine, du kennst sie doch – nie im Leben wird Kaya sich dort oben vernünftig benehmen. Lautet die Ansage nicht, dass wir Libuše gegenüber einen guten Eindruck machen sollen?«
Nyoka sieht mich einen Herzschlag lang an, dann hebt sie die Schultern. »Sie hat sie eingeladen, nicht wahr?«
»Ja, aber ich denke nicht, dass –«
»Du kannst mir glauben«, unterbricht Nyoka mich, ohne die Stimme zu heben, »Libuše weiß gewöhnlich sehr genau, was sie tut. Und die beiden sind nichts, womit sie nicht umgehen könnte.« Damit lehnt sie sich wieder zurück und schließt die Augen; eine klare Ansage, dass die Audienz beendet ist.
Dann eben so. An sich kann es mir ja egal sein – sollen Kaya und Katinka sich doch blamieren. Es ist nicht so, als wäre ich für die beiden verantwortlich. Und schließlich habe ich im Moment wirklich anderes zu tun.
Der Firmensitz der Schokoladenfabrik liegt in einem glänzenden Bürogebäude weit draußen im Süden der Stadt, direkt am Ostufer der Moldau. Es ist einer dieser affigen Glaskästen, die den Vorbeigehenden schon von Weitem zurufen sollen, wie modern und kundenfreundlich ihr Unternehmen doch ist. Kristiáns Büro liegt im vierten Stock, hinter einer großen Fensterwand, die hinaus zum Flussufer weist und ihm ein großartiges Panorama über die Moldau und die Wälder auf der anderen Seite bietet. Oder zumindest würde sie das, wäre sein Schreibtisch nicht mit dem Rücken zum Fenster aufgestellt. Offenbar hat das Panorama vor allem den Zweck, seinen Gästen zu imponieren.
Neugierig wandere ich an den Vitrinen vorbei, hinüber zu dem polierten Schreibtisch, der fast so breit ist wie die Fensterfront dahinter. Zwei große Computermonitore stehen darauf, daneben ein paar sorgsam in Szene gesetzte Utensilien – ein Stapel Briefpapier mit Monogramm, zwei Füllfederhalter, ein silberner Brieföffner und ein Briefbeschwerer aus geschliffenem Glas mit einem vierzackigen Stern darin. Abschätzend nehme ich das kitschige Teil in die Hand. Das Ding ist schwer genug, dass man damit einen Mord begehen könnte – aber natürlich hat es keine so illustre Geschichte; es ist lediglich als Weihnachtsgeschenk irgendeiner längst gekündigten Sekretärin hier in das Zimmer gelangt und durfte bleiben, weil Kristián es wohl für stilvoll hält.
Nichts von all dem Krempel hat für ihn eine persönliche Bedeutung, nichts ist dabei, wodurch ich etwas über ihn selbst erfahren könnte. Irgendwelche dunklen Geheimnisse, die er zu verbergen hätte …
Drüben am Eingang sind Schritte zu hören und im nächsten Moment schwingt auch schon die Tür auf. Ich habe gerade Zeit, mich gebührend in Positur zu werfen – aufrecht vor dem Schreibtisch stehend, die Haare zurückgeworfen, eine Hand auf die glänzende Platte gestützt.
Doch die eilige Geste ist verschwendet. Kristián schiebt sich mit dem Rücken zu mir durch die Tür, den Blick ganz auf sein Handy gerichtet. Der Angeber trägt Business Casual; einen Anzug, der über einem lockeren T-Shirt liegt und seine durchtrainierte Figur bewusst zur Geltung bringt. Seine Haare, die ihm gestern Abend offen ums Gesicht gefallen sind, hat er nun ordentlich zurückgegelt und die Brille sitzt etwas zu weit vorne auf der Nase. Auf dem Handy scheint er irgendetwas zu lesen, das ihm ganz und gar nicht gefällt. Jetzt fängt er an, eine Antwort in das Gerät zu tippen. Ohne aufzuschauen, kommt er herüber und wirft seine Aktentasche auf den Besucherstuhl gegenüber dem Schreibtisch.
Mit einem dezenten Räuspern mache ich auf mich aufmerksam. Kristián fährt zusammen und schaut von seinem Handy auf – nur um noch einmal sehr viel stärker aufzuschrecken, als er mich hinter seinem Schreibtisch stehen sieht.
»Was … Wie sind Sie …« Er kneift die Augen zusammen und mustert mich, während seine Erinnerung langsam zurückkehrt. »Du bist die Frau von gestern … Die Klatschreporterin aus dem Restaurant!«
»Wie charmant«, erwidere ich unbewegt. »Aber knapp daneben: Ich bin der Dämon, der dir gestern Abend verkündet hat, dass du bald sterben wirst.« Ich weise auf das Handy in seiner Hand. »Hast du schon einen Termin bei einem Arzt ausgemacht? Oder bist du gar nicht neugierig zu erfahren, was mit deinem Kopf nicht stimmt? In der Neurologie könnten sie dir sicher mehr darüber erzählen – ein paar Details, an die du dich auch eine Stunde später noch erinnerst.«
Sein Gedächtnis ist nun vollends zurückgekehrt. Misstrauisch mustert Kristián mich, die Finger haltsuchend um sein Handy gekrallt. »Du hast mir meinen Kalender geklaut«, stellt er überflüssigerweise fest. »Wie habe ich das nur vergessen können?«
Mit einem Seufzen wende ich mich von dem Schreibtisch ab und wandere durch den Raum. Das hier wird wohl eine längere Aktion.
»Das mit dem Vergessen ist so eine Sache«, erkläre ich, während ich zu der nächsten Vitrine hinübergehe. »Du wirst dich nicht an mich erinnern – nicht in allen Details jedenfalls. Nenn es eine Berufskrankheit.« Der Glasschrank ist voll geschmackvoller Skulpturen, die wohl Eindruck schinden sollen – ein Schachspiel aus Schokolade, eine Origami-Blüte, ein gläserner Stern. Ich öffne die Vitrinentür und greife nach einer Fotografie, die Kristián neben einer langbeinigen Blondine zeigt. »Aber alle Vorsätze und Entschlüsse, die du meinetwegen fasst«, fahre ich fort, »die wirst du im Kopf behalten. Deswegen rate ich dir, deine verbleibende Zeit zu nutzen, um über dein bisheriges Leben nachzudenken.«
Nein, auch an dem Bild hängen keine besonderen Erinnerungen. Irgendein One-Night-Stand vermutlich, den Kristián seit langem abserviert hat – wenn die Frau nicht nur für das Foto hier seine Freundin mimt. Missmutig stelle ich das Bild zurück, schließe die Vitrine und drehe mich um.
Kristián steht neben seinem Schreibtisch, das Handy ans Ohr gepresst. »Hallo, Annelore?«, spricht er gerade in den Apparat, während er mich misstrauisch mustert. »Sag mal, ist heute irgendjemand in mein Büro gekommen? … War außer mir überhaupt schon jemand da?«
Ich kann mir denken, was die Assistentin am anderen Ende antwortet. Selbst wenn ich geradewegs an ihr vorbeigegangen wäre, würde sie sich nun nicht mehr daran erinnern. Aber nein, heute bin ich ohne Umwege direkt in Kristiáns Büro erschienen. Wenn keine Sterblichen in der Nähe sind, spricht schließlich nichts gegen eine kleine Abkürzung.
Kristián horcht stumm auf die Antwort, dann nickt er und legt mit einem knappen Gruß auf. In seinem Blick hat sich etwas verändert – er ist vielleicht nicht bereit, mir wirklich zu glauben, aber zumindest zweifelt er nun gehörig an sich selbst. Immerhin, ein erster Schritt.
»Und?«, frage ich spöttisch. »Irgendetwas Aufschlussreiches erfahren?«
Kristián geht hinter den Schreibtisch und lässt sich auf den gepolsterten Sessel fallen. Er schiebt die Brille auf die Stirn und reibt sich über die Nasenflügel, dann schaut er mich durch die Gläser an. »Sagen wir, dass du die Wahrheit sprichst«, hebt er zögerlich an. »Also angenommen, ich wäre wirklich krank. Was willst du dann von mir?«
»Wie schön, dass du fragst.« Mit einem strahlenden Lächeln trete ich vor den Schreibtisch. Ich ziehe den Terminplaner hervor und lasse ihn vor Kristián auf die Tischplatte fallen. »Ich würde gerne über deine Schokolade reden – darüber, wo sie herkommt und wer das Geld dafür einsackt.«
Kristián sieht mich skeptisch an, während ich nun in dem Kalender herumblättere. »Da, letzten Monat erst«, sage ich und zeige auf ein paar Notizen. »Eine neue Schokoladenkampagne. Wie von einem anderen Stern: Bitterschokolade extra herb, aus besten afrikanischen Kakaobohnen. Ein super Geschäft für alle – außer für die Bauern, die das Zeug drüben in Afrika anbauen müssen.« Ich muss mich anstrengen, den etwas unangemessenen Triumph aus meiner Stimme zu streichen. »Die Plantagenbesitzer werden von euch ausgebeutet bis zum Gehtnichtmehr. Mittlerweile haben sie ohne Kinderarbeit keine Chance mehr, euch mit den gewünschten Kakaobohnen zu beliefern.«
Zugegeben, die näheren Informationen habe ich auf Nyokas Rat hin aus dem Internet herausgesucht – mein Widerwillen gegen die ganze Elektronik hält mich nicht davon ab, sie mir im Zweifel zu Nutzen zu machen. Aber es fühlt sich einfach besser an, wenn ich ihm die Details in seiner eigenen Handschrift dunkelblau auf weiß präsentieren kann.
»Es ist ja nicht so, als könnte ich daran irgendetwas ändern«, verteidigt Kristián sich enerviert. »Das kommt alles von der Zentrale hier rein – die entscheiden, wo die Kakaobohnen eingekauft werden. Außerdem können wir es uns schlichtweg nicht leisten, denen da unten mehr Geld zu bezahlen.«
»Ja, das habe ich gelesen«, fahre ich schneidend ein. Ich blättere ein paar Seiten weiter. »Hier steht es: ›Die Preiskalkulation ist knapp genug, weiter können wir die Preise nicht treiben, ohne Käufer zu verlieren.‹ Meinst du nicht, ein paar Käufer weniger wären kein schlechter Preis, wenn dafür nicht mehr das Blut unschuldiger Kinder an den Schokoriegeln hängt?«
Herausfordernd hebe ich den Blick, um zu sehen, wie Kristián auf diese Vorwürfe reagiert. Aber er lehnt sich nur auf seinem Stuhl zurück, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. »Sag mal, was willst du eigentlich von mir?«, fragt er und sieht mich abschätzig an. »Ich mache einen guten Job, okay? Ich habe mir hier einen soliden Posten aufgebaut – und nun kommst du und willst mir Vorwürfe wegen Sachen machen, an denen ich sowieso nichts ändern kann?« Er schüttelt den Kopf und fährt sich mit der Hand über das Gesicht. »Was rede ich überhaupt mit dir? Du bist bestenfalls eine Halluzination und schlimmstenfalls die geschickteste Einbrecherin der Welt.«
Bei diesen Worten richte ich mich auf. So wollen wir also spielen – meinetwegen. Kein Grund, deswegen zornig zu werden.
»Ich muss dich enttäuschen«, antworte ich, während ich wieder zu der Vitrine hinübergehe. »Es gibt für dich weit schlimmere Nachrichten als eine geübte Einbrecherin.« Ich nehme eine der Schachfiguren von dem Spiel oben neben der Origami-Blume; den schwarzen König aus Bitterschokolade. Natürlich ist auch dieses Spiel kein privater Besitz, nur irgendein albernes Werbegeschenk – nichts, das mir etwas über ihn persönlich verraten würde. »Aber wenn du meinst, dass ich eine Halluzination bin, dann solltest du vielleicht wirklich ins Krankenhaus gehen und deinen Kopf untersuchen lassen.« Damit schließe ich die Vitrine und wende mich zurück zum Schreibtisch. Ich bin gerade schnell genug, um zu sehen, wie ein besorgter Ausdruck in Kristiáns Augen aufblitzt, ehe er die Miene wieder glättet.
»Du willst mir wirklich erzählen, du seist ein Dämon, der ausgesandt ist, mich zu verfolgen?«
Ich schmunzele – seine Stimme klingt bei Weitem nicht so ruhig, wie er es gerne hätte. »Nicht nur.« Abschätzig betrachte ich den Schokoladenkönig in meiner Hand, dann beiße ich der Figur den Kopf ab. Schmeckt gar nicht so schlecht. Ich schlucke die Schokolade herunter, während ich den Rest der Figur vor Kristián auf den Schreibtisch stelle. »Kümmer du dich zuerst einmal um deine eigene Gesundheit – danach stellen wir fest, was ich von dir will.«
Sein Mund ist unwillig verzogen, seine Augen fahren hinter den randlosen Brillengläsern hin und her. Dieses Mal sind meine Worte hängengeblieben. Ich sehe, wie seine Hand in der Hosentasche nach dem Handy sucht – der einzige Grund, aus dem er nicht sofort in der Klinik anruft, ist, dass er vor mir keine Schwäche zeigen will.
Meinetwegen. Wenn er endlich akzeptiert hat, wer und was ich bin, dann kommt die noch früh genug.
»Also dann.« Ich gehe zur Tür und drücke die polierte Klinke hinunter. »Wir sehen uns«, verspreche ich Kristián im Hinausgehen, dann verschwinde ich nach draußen ins Anmeldezimmer.
Die ältliche Assistentin, die dort an ihrem Schreibtisch sitzt, mustert mich erstaunt und wirft einen unsicheren Blick hinüber zu dem Büro ihres Chefs. Ich winke ihr spöttisch zu. Soll sie sich doch den Kopf darüber zerbrechen, wie ich hierhergekommen bin – sobald ich im Fahrstuhl verschwunden bin, hat auch sie mich bereits vergessen.
Die Sonne zeichnet lange Schatten auf das Pflaster der Moldaupromenaden. Der Fluss glitzert träge in der Abendsonne; schmale Wellen brechen sich an den Partybooten, die rechts und links am Kai festgekettet sind. Normalerweise wäre dies wohl ein allzu friedlicher Anblick – doch heute Abend sind die Promenaden trotz der frühen Stunde mit Menschen jeden Alters überhäuft. Am Ufer, in den Cafés und auf den Booten, einzeln und in kleinen Grüppchen: Überall stehen sie herum, um den Beginn der Walpurgisnacht zu begehen. Mindestens an zwei Stellen haben die Feiernden Blechtonnen aufgestellt, in denen kleine Feuer lodern. Junge und alte Frauen und sogar ein paar Männer sind mit Schminke oder aufwändigen Masken als Hexen verkleidet und tanzen fröhlich johlend über das Pflaster.
Niemand beachtet den echten Dämon, der da mitten unter ihnen sitzt. Wie sollten sie auch, wenn jeder von ihnen mein Gesicht vergisst, sobald er oder sie sich nur einmal abwendet?
Meine Lippen verziehen sich zu einem abfälligen Lächeln. Eigentlich wollte ich heute Abend für mich allein sein – das war der Grund, aus dem ich nicht hinüber auf die Kampa gegangen bin, wo das Gedränge so dicht ist, dass man seine eigenen Gedanken nicht hören kann. Aber wie sich herausstellt, gibt es heute keinen Ort nahe der Moldau, an dem sie die Walpurgisnacht nicht hingebungsvoll feiern. Jetzt sitze ich hier am Rand der Promenade, die Beine über dem Ufer hängend und eine halbleere Weinflasche in der Hand. Im Schein der Abendsonne ist mein fehlender Schatten kaum zu übersehen, aber niemand kümmert sich darum. Und selbst wenn, was sollten sie schon tun? Mich mit Gewalt zur Rede stellen, so wie es Kristián im Restaurant versucht hat?
Mit einem Schnauben führe ich die Flasche wieder an die Lippen. Nichts zuschulden kommen lassen … Das kann der Kerl erzählen, wem er will, aber bei mir wird er damit nicht durchkommen. Wie heißt es so schön? Es braucht einen Dieb, um Diebe zu fangen.
Die Feier um mich her wird wilder, während die Sonne sich dem Horizont nähert und die Dächer der Stadt zum Glänzen bringt. Ich frage mich, ob Aneta nun irgendwo auf einer grobgezimmerten Bühne steht und sich von der Menge bejubeln lässt. Ich würde es ihr gönnen – soll ihr Exfreund sich doch schwarz darüber ärgern, dass er sie fallengelassen hat. In den beiden Tonnen hinter mir flackern hohe Feuer, Kinder laufen mit Wunderkerzen über das Pflaster. Eine junge Frau, die sich Gesicht und Hände grün geschminkt hat, tanzt übermütig um die Flammen, die Arme erhoben und den Blick zum Himmel gewandt …
Für einen Moment verliere ich mich im Anblick der grazilen Gestalt, ehe die Wirklichkeit mich wieder einholt. Es ist kalt geworden; eine abendliche Brise kommt auf und lässt meine nackten Arme frösteln. Die strenge Bluse war für Kristiáns Büro gedacht, nicht für einen Abend am Fluss. Ich könnte mein Outfit ändern, könnte etwas Geeigneteres tragen – aber wenn ich ehrlich bin, gefällt es mir so. Der kalte Wind auf meiner Haut passt gut zum heutigen Abend; zu meiner frostigen Stimmung. Noch einmal nehme ich einen tiefen Schluck von dem Wein, auch wenn die Flasche schon wieder bedenklich leer ist. Was soll’s? Ich muss mir schließlich keine Sorgen um meine Leber machen. Schon seit langer Zeit nicht mehr.
Beinahe acht Jahrzehnte … Nicht viel für einen Dämon, aber immerhin: länger als so manches tausendjährige Reich. So lang schon ziehe ich mit Logos durch die Welt, als Teil seines dämonischen Gefolges. Landauf und landab geht es unserem Protos hinterher, als Nutznießer seiner Macht, damit wir uns nicht selbst verlieren wie so viele andere heimatlose Seelen. All diese Jahre sorge ich für Gerechtigkeit, auf meine Art: Wo ich die Sache nicht persönlich in die Hand nehme, da gebe ich allzu friedfertigen Sterblichen die nötigen Werkzeuge, sich selbst um ihre Belange zu kümmern – so wie die junge Kellnerin, Rita, der ich vor ein paar Wochen auf die Sprünge geholfen habe. Und nicht zuletzt besuche ich renitente Schuldige, die kurz vor ihrem Ende stehen, um sie zu zwingen, sich an ihre Sünden zu erinnern.
Und ich bin gut in dem, was ich tue – verdammt gut. Mag Kristián sich anstrengen, so viel er will; auch er wird mir am Ende nicht entgehen können.
In einem tiefen Zug trinke ich den Rest der Flasche leer. Wenn seine Stunde erst geschlagen hat – weit schneller, als er jetzt vielleicht noch glaubt –, dann wird er seine Schulden begleichen müssen. So wie wir alle.
Die Sonne hat sich in den Bergen jenseits der Stadt verfangen und wird nun Stück für Stück von den waldigen Hügelketten verschlungen. Die Schatten der Feiernden um mich her flackern ein letztes Mal auf, wie um sich von den schwindenden Strahlen zu verabschieden, dann versinkt die Welt im milden Grau der Abenddämmerung. Die Walpurgisnacht hat begonnen. Jetzt fehlt nur noch einer, um die infernalische Feier zu vervollkommnen.
Schwere, allzu vertraute Schritte klingen hinter mir über das Pflaster. Wenn man vom Teufel spricht … Ich mache mir nicht die Mühe, den Blick zu heben.
»Hallo Logos. Du bist zurück?«
»Wie du siehst.«