Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Der Berufsmagier Aillard Blackwood wird nach einer Inhaftierung durch das New Scotland Yard in deren Dienste als paranormaler Berater gestellt. Nachdem die Polizei sich in Sackgassen verrannt hatte, sehen sie diese ungewöhnliche Kooperation als letzte Chance. Die knallharte Polizeibeamtin Sergeant Paxton wird von ihrem Vorgesetzten dazu verdonnert, den schrulligen Magier in ihre Ermittlungen einzubinden. Der Fall, an dem sie aktuell arbeiten, soll sich als verzwickter und gefährlicher erweisen als bisher angenommen...
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Pia Heller
Blackwood Dämonenmal
Band 1
Inhalt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Blackwood
Daemonenmal
Pia Heller
Low-Fantasy ROMAN
Impressum
Verfasserin: Pia Heller, Erlenweg 6, 34399 Wesertal
Texte: © Copyright by Pia Heller
Lektorat: Stephanie Peterle
Umschlaggestaltung: © Copyright by Pia Heller
Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
„Unser Inneres ist nur so finster, wie wir es selbst zulassen.“
Als die hübsche Polizistin, die mich eingesperrt hatte, nach einigen wenigen Stunden zurück zur Arrestzelle kam, war mir klar, dass irgendetwas nicht stimmte. Verstehen Sie mich nicht falsch, normalerweise würde ich mich freuen, ohne triftigen Grund spontan aus der Haft entlassen zu werden, doch Gründe gibt es hierfür immer.
Die Polizeibeamtin, die nun den Schlüssel in das Zellenschloss schob, hatte kastanienbraunes, schulterlanges Haar, grüne, mandelförmige Augen und eine sportliche Figur. Sie sah jung aus, doch ihr Blick wirkte kühl und erfahren. Noch bevor ich etwas sagen konnte, setzten sich ihre Lippen in Bewegung.
"Mr. Blackwood, würden Sie mich bitte begleiten? Inspector Ainsley möchte Sie sprechen."
Wie ich schon sagte, zu schön, um wahr zu sein.
Ich musste die Decke, die meinen Körper verhüllte, krampfhaft festhalten, da Polizeiwolldecken nicht auf 1,98 Meter große Exhibitionisten ausgelegt sind. Selbstverständlich habe ich mich nicht freiwillig vollkommen nackt durch den Green Park begeben, doch erklären Sie den hiesigen Polizisten erstmal, dass ein wilder Kaubuk (ein garstiges Geisterwesen in Koboldgestalt) all Ihre Kleidungsstücke hat verschwinden lassen, als Sie dabei waren, ihn in die Geisterwelt zurückzuschicken. Diese kleinen Kerle stehen auf öffentliche Demütigungen, sehr zur Freude ihrer Herren.
Die Polizistin musterte mich halb abwertend, halb peinlich berührt, als mir die Decke beim Treppensteigen fast entglitt.
"Letzter Schrei in Mailand, ich schwöre es."
Ich entlockte ihr kurz ein Kichern, dann setzte sie wieder ihren förmlichen, professionellen Blick auf. Sie sprach während meines Walk-of-Shame durch das Revier kein Wort mit mir. Einige Kollegen blickten lachend hinter ihren Schreibtischen hervor oder tuschelten miteinander.
Nachdem wir gefühlt eine Runde durch jeden Quadratzentimeter des Reviers gemacht hatten, öffnete die Polizistin eine Bürotür und kündigte mich einem älteren Herrn an, vermutlich Inspector Ainsley. Dieser nickte ihr kurz zu und rief mich zu sich:
"Mr. Blackwood, kommen Sie rein, bevor man im Revier noch einen Kalender von Ihnen anfertigen lässt. Sergeant Paxton wird Ihnen etwas zum Anziehen holen lassen."
Paxton verschwand kurz, um diesen Auftrag an einen rothaarigen Constable weiterzugeben und kam dann wieder ins Büro, wobei sie die Tür hinter sich schloss.
Ainsley zog den Rollladen zu, welcher uns von den anderen Beamten im Großraumbüro trennte. Er wies mich durch ein Nicken Richtung Stuhl darauf hin, mich zu setzten. Die Decke schien beim Sitzen noch unberechenbarer als beim Aufstehen zu agieren. Ich schaffte es dennoch, mich auf den Kunststoff-Freischwinger niederzulassen, ohne den Rest meiner Würde zu verlieren (falls davon noch etwas übrig war).
Ainsley war durchschnittlich groß, hatte graue Haare und einen perfekt gestutzten Schnauzer. Dieser zuckte nachdenklich nach links, als er scheinbar darüber grübelte, wie er das Gespräch beginnen sollte.
"Blackwood, wir haben Sie splitterfasernackt im Green Park gefunden. Sie sind wie der Teufel gerannt und hatten nichts außer einen Holzstab und eine kleine, silberne Glocke bei sich. Laut der Kollegen aus dem Park haben Sie behauptet, Magier zu sein. Sie gaben an, einen Kautschuk zu jagen."
"Kaubuk", korrigierte ich.
Ainsley stieß ein leises Knurren aus, bevor er fortfuhr:
"Sie haben sogar eine Website, auf der Sie ihre Dienste als Magier, Geistervertreiber und was auch immer anbieten..."
Dieses Gespräch lief in keine gute Richtung, an und für sich freute ich mich über jeden Besucher meiner Website, doch im Zusammenhang mit meinem Flitzersprint durch den Green Park hoffte ich, dass mich der Inspector nicht einweisen lassen würde.
"Sie haben eine Menge positiver Bewertungen. Meinen Sie das ernst? Kennen Sie sich mit diesen Dingen aus oder sind Sie nur ein geschickter Scharlatan? Welche Beweggründe stecken hinter Ihrem Image?"
Ok, entweder Inspector Ainsley macht sich über mich lustig, oder er prüft meinen Geisteszustand auf akuten Wahnsinn.
"Ich meine es todernst. Ich verfüge über gewisse Talente und ein fundiertes Wissen im Bereich des Paranormalen."
Mein Ego antwortete schneller als mein Verstand. Warum muss ich mich in der Gegenwart von hübschen Frauen immer aufspielen? Idiot. Ich schrie förmlich nach einem Platz in der Geschlossenen.
"Also gut, wir arbeiten momentan an einem Fall, bei dem wir die Unterstützung eines Beraters mit Ihrem Wissen gut gebrauchen könnten."
Ich wollte mich gerade rechtfertigen, als ich realisierte, dass Ainsley nicht dabei war mich zu kritisieren, sondern mir einen Job anbot. Paxton warf ihrem Boss unterdessen böse Blicke und ein Schulterzucken zu, aber Ainsley machte unbeirrt weiter:
"Wir könnten Ihre kleine Einmann-Nudistenparty dafür vergessen und würden Sie selbstverständlich auch für Ihre Dienste bezahlen."
Paxton mischte sich wütend, aber kleinlaut ein: "Sir, denken Sie wirklich..."
"Ja, ich denke, wir kommen ohne Hilfe, ohne SEINE Hilfe nicht weiter. Wir stehen vor einer Sackgasse, aus der wir allein nicht herausfinden."
Da ich meinen Lebensunterhalt durch Gelegenheitsjobs bestreite (unter anderem durch das Geld, der Klienten, die mich über meine Website anheuern), konnte ich dringend eine Finanzspritze gebrauchen. Noch bevor Sergeant Paxton meine berufliche Umorientierung zunichtemachen konnte, willigte ich ein, indem ich mich schwungvoll vom Stuhl erhob und Inspector Ainsley meine Hand entgegenstreckte. Ich war so enthusiastisch, dass ich meine fehlende Bekleidung vergaß und meinen Rest Würde mit der fallenden Decke in Sekunden verlor.
Sergeant Paxton lief rot an und schlug sich die Hände vor den Mund. Inspector Ainsley schnaubte nur genervt. Natürlich kam just in diesem Moment der rothaarige Constable mit einer Jogginghose und einem Shirt in der Armbeuge an, die mit dem Logo der Londoner City Police bedruckt waren. Er ließ die Klamotten vor seinen Füßen auf den Boden sinken und verließ genauso ruckartig, wie er gekommen war das kleine Büro.
Zum Glück war es Sommer. Auch wenn viele böse Zungen England als dauerberegnetes, graues Fleckchen abtun, gibt es doch zahlreiche sonnige und auch ausgesprochen warme Tage. Ich würde nicht sagen, dass es hier mehr regnet als im Rest Europas.
Wie auch immer, ich war über die spätabendliche Hitze froh, denn obwohl die Klamotten der Polizei knapp passten, gab es dort keine Schuhe in der passenden Größe. Ich lief also barfuß über das noch warme Kopfsteinpflaster nach Hause. Ich wohne im Keller eines Second Hand-Buchshops in Finsbury, London.
Die Mieten sind hier wahnsinnig teuer. Durch einen Bekannten bin ich an meine jetzige Wohnung gekommen, welche lediglich aus einem Zimmer und dem Bad besteht. Selbst bekannte schwedische Möbelhäuser würden sich an der Einrichtung eines derart kleinen Raumes die Zähne ausbeißen.
Neben einer geräumigen Couch aus braunem, vom Liegen weich gewordenem Leder, auf der ich schlafe, findet sich eine improvisierte Küche, bestehend aus einer einzelnen Kochplatte, einer kleinen Spüle und einem Minikühlschrank links neben der Badezimmertür. Mein gesamtes Mobiliar hatte schon besser Tage gesehen, doch passte durch den einheitlich schäbigen Look perfekt zusammen. Die restlichen Wände waren mit Regalen zugestellt, in denen sich Kleidung, Bücher und allerlei Dinge fanden, die ein Magier im Alltag benötigte.
Ich ließ mich müde vom einstündigen Barfußspaziergang auf meine Couch fallen. Erst jetzt machte ich mir Gedanken über die tieferen Beweggründe des Inspectors. Der Fall musste schon ganz schön bizarr sein, um einen nudistischen Website-Magier hinzuzuziehen, den man erst vor wenigen Minuten kennengelernt hatte.
Sergeant Paxton war offenkundig nicht begeistert, ihren Dienst am Mittwochmorgen mit mir anzutreten. Ich musste morgen früh aufstehen, um mir eine neue Fahrkarte zu besorgen (vielen Dank auch an das dämliche Geisterwesen, dass meine Klamotten samt Brieftasche inklusive Fahrkarte entwendet hat) und mit der U-Bahn zur Westminster Station zu kommen, ohne in den Berufsverkehr zu geraten. Von dort aus war es ein kurzer Fußweg zum New Scotland Yard.
Liegend angelte ich mir eine kalte Zitronenlimonade aus meinem Kühlschrank und aß dazu die letzten Kekse aus der Packung von vorgestern, welche ich am Ende der Couch fand. Notiz an mich selbst: dringend einkaufen gehen. Der Grund für meine athletisch-schlanke Figur sind nicht die ausgewogene, vitaminreiche Ernährung und der regelmäßige Sport, sondern die durch Geldmangel und Bequemlichkeit entstehende Nahrungsmittelknappheit und die regelmäßige Flucht vor paranormalen Gesellen und enttäuschten Arbeitgebern.
Dies soll nicht heißen, dass ich meinen Job schlecht mache, sondern eher, dass meine Kunden ziemlich verdrehte Erwartungen haben, was ein Magier so tut und wie er es tut. Vor ein paar Wochen hatte ich zum Beispiel eine Kundin, der ein Baku auflauerte. Bakus sind tigerähnliche Wesen mit einem Touch Horrorelefant. Sie verschlingen Alpträume, welche sie bei den Betroffenen selbst verursachen. Dadurch rauben sie dem Opfer Energie und Lebenszeit.
Sterbliche können diese Wesen nicht sehen und glauben oft, dass sie an Schlafstörungen leiden. Sie wachen mitten in der Nacht mit rasendem Herzen auf und haben Schwierigkeiten wieder einzuschlafen, auch wenn sie hundemüde sind.
Nachdem meine Kundin, wie schon viele andere vor ihr, ein wahres Ärztehopping betrieben hatte, kam sie zu mir. Bereits nach einer zweitägigen Observation ihrer Wohnung konnte ich den Übeltäter ausmachen und hatte Recherchen zu dessen Beseitigung anstellen können.
Die einzige wirksame Methode, sich eines Bakus auf Dauer zu entledigen, besteht darin, sein Kopfkissen mit dessen Ebenbild zu besticken. Da Menschen Bakus nicht sehen können, versuchte ich ihn zumindest detailgenau zu beschreiben, als ich meine Vermieterin Mrs. Sedgemore darum angebettelt hatte, einen Kissenbezug zu besticken. Ihr gelang es trotz Arthrose und schlechter werdenden Augen, das genaue Ebenbild des Baku anzufertigen.
Ich musste ihr nicht einmal erklären, warum ich einen derart hässlichen Kissenbezug haben wollte, denn sie vermutete, dass es eines dieser „Pokémon-Motive“ sei, die ihre Enkel vergötterten. Ich entlohnte Mrs. Sedgemore durch meine Gegenwart bei einer Tasse Tee.
Diese drollige, alte Lady war vernarrt in mich.
Ihre Enkel waren neben mir die einzigen Personen, von denen sie regelmäßig besucht wurde. Diese rotzfrechen Teenies nutzten ihre Großmutter schamlos aus und statteten ihr monatlich kurze Besuche ab, um ihr Taschengeld aufzubessern. Mrs. Sedgemore durchschaute die Masche zwar, sehnte sich jedoch so sehr nach familiärer Zuneigung, dass sie das Spielchen mitmachte.
Ich nahm in Mrs. Sedgemores Augen die Rolle des genügsamen Enkels ein und erinnerte sie laut ihrer eigenen Aussage an ihren verstorbenen Ehegatten, welchen sie als großgewachsenen, gutaussehenden, dunkelhaarigen Kavalier beschrieb.
Ohne mich selbst zu loben, musste ich zugeben, diese Eigenschaften zu erfüllen, doch wo sind meine Manieren? Ich war an der Stelle abgeschweift, an der ich das scheußliche Stickgut in die Hände meiner Klientin übergeben hatte. Sie hat mir ad hoc zu verstehen gegeben, dass sie einen Exorzismus erwartet hatte, irgendetwas mit einer Opferung über einem Pentagramm, um die Geister loszuwerden oder so ähnlich.
Trotz ihrer Unzufriedenheit hatte sie das Kissen dann doch angenommen und siehe da, der Baku blieb fern. Zu mindestens so lange, bis sie es entsorgte, um modischeren Stücken Platz zu machen. Prompt kam der Baku zurück. Die Kundin stellte jedoch keine Verbindung zur Entsorgung ihres Zierpolsters her, sondern gab meinem fehlenden Exorzismus die Schuld. Bis auf meine Anzahlung bin ich leider leer ausgegangen.
Neben den „seriösen“ Kundenanfragen bekomme ich am laufenden Band Scherzmails und Anfragen nach Seancen. Diese halte ich prinzipiell nicht ab, da ich das Geisterreich respektiere und keine paranormalen Anhaftungen riskieren möchte. Jetzt könnten Sie sich fragen, aus welchen Gründen ich diese Website dennoch betreibe. Die Antwort ist einfach: In den bürgerlichen Jobs, die ich bislang ausgeübt hatte, wurde ich aufgrund seltsamer Vorkommnisse, die sich in meiner Gegenwart abspielten, früher oder später entlassen. Ich habe wirklich alles versucht.
Als ich beispielsweise im Londoner Zoo Gehege reinigen sollte, drehte ein Alpaka durch. Hier ging es nicht um Spuckereien, sondern um ein Alpaka, das anfing, den anderen seine Extremitäten abzubeißen.
Glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass Kannibalismus unter Alpakas sehr selten ist. In einer Bäckerei in der Nähe des Borough Markets bestand meine Aufgabe lediglich darin, die Maschinen nach Betriebsschluss zu reinigen. Obwohl ich keine der Maschinen je in Betrieb genommen hatte, gaben sie im Laufe einer Woche den Geist auf. Und dieser Job war einer der gelungeneren.
Der heutige Job hatte mich vollständig ausgelaugt. Nach der Verfolgungsjagt mit dem New Scotland Yard und meinem ungewollten Spaziergang durch die ganze Stadt, fiel ich todmüde in mein Bett aka. Sofa. Ich schloss die Augen und kam relativ schnell in einen traumlosen, ruhigen Schlaf.
Um ein Haar hätte ich verschlafen, als ich meinen alten Blechwecker von der Sofakante stieß. Die Armlehnen meiner antiken, holzbeinigen Couch waren zu stilvollen Schnörkeln geschwungen. Sie baten mir genug Platz, um nützliche Dinge wie einen Wecker, Bücher und tagsüber mein Bettzeug abzustellen.
Zum Glück schaffte ich es vor dem morgendlichen Londoner Berufsverkehr, meine Wohnung zu verlassen. Von der Haltestelle Westminster waren es bis zum New Scotland Yard nur wenige Gehminuten. Ich nahm den schnellsten Weg direkt am Fluss.
Trotz meiner verfrühten Ankunft stand Sergeant Paxton bereits vor dem modernen, teils gläsernen Gebäude. Sie blickte Richtung Themse, wodurch sie mich nicht sofort wahrnahm.
„Guten Morgen Sergeant, ich nehme an, Sie warten auf mich.“
Paxton drehte nur leicht den Kopf in meine Richtung, ihre Arme blieben dabei weiter vor ihrem Oberkörper verschränkt. Sie trug eine dunkle Polizeiuniform, inklusive der mit ihrem Dienstrang gekennzeichneten Jacke. Vermutlich wartete sie in der morgendlichen Kälte, um zu verhindern, dass ihre Kollegen uns zusammen sahen. Medien, Hellseher und Magier gehören nicht gerade zu den beliebtesten Charakteren auf einer Wache.
„Hätte Sie mit Klamotten fast nicht erkannt. Inspector Ainsley bestand darauf, dass Sie sich den Tatort mal ansehen. Ich kann mir jedoch nicht vorstellen, dass Sie noch irgendetwas entdecken, das die Spurensicherung nicht längst in Beschlag genommen hätte.“
Jap, beim Sergeanten war ich schon mal beliebt. Sie führte mich zum offiziellen Angestelltenparkplatz, auf dem ihr Dienstwagen, einer der vielen Polizei-Skodas, stand. Paxton drückte auf den kleinen Knopf am Schlüssel des Octavia herum, doch nichts geschah.
Meine Anwesenheit legt hin und wieder Elektronik lahm, lässt Tiere verrücktspielen oder verursacht kleinere Unglücke. Ist es nicht schön, Magier zu sein?
Paxton gab nach mehreren erfolglosen Versuchen auf und steckte den Schlüssel ins Schloss. Sie hielt mir die Tür auf, die zur Rückbank.
„Haben Sie Angst, dass ich Sie mit Horoskop-Sprüchen langweile oder anfange, Ihre Handlinien zu lesen?“, fragte ich herausfordernd. Paxton war sichtlich genervt.
„Ich halte nur nicht so viel von Scharlatanen wie Ihnen, Copperfield.“
Sehr beliebt.
„Woher kennen Sie meinen Tinder-Namen?“
Paxton verdrehte die Augen und schlug die Tür, durch die ich mich auf die viel zu enge Rückbank quetschen musste, zu. Sie gab ein genervtes Schnauben von sich und stieg vorne ein.
Wir fuhren eine gute halbe Stunde, vorbei am Buckingham Palast, Green Park, Hyde Park und der Paddington Station. Nachdem wir halb London durchquert hatten, kehrten wir in ein Wohngebiet ein, eines von denen, in dem jedes Haus gleich aussah. Sogar die Vorgärten waren gleich bepflanzt.
„Jede Wette, dass selbst die Hausfrauen zum gleichen Friseur gehen, um den monotonen Stepford-Look nicht zu alterieren.“
Obwohl Paxton nicht antwortete, meinte ich doch ein Grinsen im Rückspiegel erkannt zu haben.
Wir hielten vor der Hausnummer 177. Paxton öffnete meine Arrestzelle auf vier Rädern, so dass ich meine Beine aus dem Auto strecken konnte, um den normalen Blutfluss wiederherzustellen.
Das Haus war von außen polizeilich versiegelt. Ich brauchte einen Moment, um wieder normal gehen zu können, da mir beide Beine eingeschlafen waren.
„Kommen Sie schon Houdini, ich habe nicht ewig Zeit. Im Gegensatz zu Ihnen habe ich noch ehrliche Arbeit zu verrichten.“
Ich konnte die Liebe in den Worten förmlich spüren. Paxton entfernte die Absperrung und das Siegel der Polizei, während ich noch etwas torkelnd auf die Eingangstür zusteuerte. Wir befanden uns in einem typischen Musterhaus. Wäre es kein offensichtlicher Tatort, hätte man es leicht für das Aushängeschild einer Immobilienfirma halten können. Die Inneneinrichtung war selbst für diese Gegend sehr spartanisch und trist.
Die Wände waren bis auf die helle Holzbordüre weiß. Im Eingangsbereich, von welchem eine Treppe Richtung Erdgeschoss führte, hing nur ein einziges Bild mit dem Motiv einer Zimmerpflanze. Der Teppich, welcher über die Treppenstufen verlegt war, hatte ein etwas tieferes Grau als der, der den Rest der Wohnung ausfüllte. Rechts konnte ich einen Teil der makellos gepflegten Küche erspähen, die in ihrem Hochglanzweiß dieselbe Kälte ausstrahlte, wie der Flur und das fast leere Wohnzimmer auf der gegenüberliegenden Seite.
Im Wohnzimmer standen eine weiße Ledercouch und ein weißes Regal, in dem grau eingeschlagene DVDs ordentlich gereiht dem Alphabet nach sortiert waren.
„Hat die Spurensicherung etwas in ihrer Gründlichkeit übertrieben oder ist das die Wohnung dieser dauerfröhlichen Asiatin, die fremde Haushalte auf einem bekannten Streamingdienst entrümpelt?“
„Hören Sie auf blöde Sprüche zu klopfen und folgen Sie mir ins obere Stockwerk. Die Verstorbene wurde in ihrem Schlafzimmer gefunden.“
Schon auf dem Weg die Treppe hinauf konnte ich einen leichten Schwefelgeruch wahrnehmen. Dieser war mir auf dem unteren Stockwerk nicht besonders aufgefallen, da die Verstorbene vermutlich unter einem Putzzwang gelitten hatte, was den allgegenwärtigen Bleichegeruch erklären dürfte. Hätte nur der Mörder Bleiche zur Spurenbeseitigung benutzt, würde sich der Geruch eher im Obergeschoss konzentrieren und nicht wie ein Schleier über der gesamten Wohnung schweben.
Ein Vorteil am Magier-Dasein bestand darin, einen ausgeprägteren Geruchssinn als der Durchschnittsbürger zu besitzen. Dies war beim Aufspüren besonders guter Restaurants oder Kaffeehäuser unglaublich praktisch, doch konnte in Städten wie London mit seinen von schwitzenden Menschen überfüllten U-Bahnen, vollgepinkelten Hinterhöfen und dauerhaft überfüllten, gewerblich genutzten Müllcontainern auch tierisch nerven.
Da ich trotz meines bisher langen Lebens (zumindest für menschliche Verhältnisse) von rund 102 Jahren noch nicht allzu viele Tatorte gesehen hatte, betrat ich den Raum etwas zögernd. Der Schwefelgeruch wurde hier stärker. Paxton bemerkte mein Zögern.
„Kippen Sie mir bloß nicht um. Um Sie wieder aufzusammeln, bräuchte ich vermutlich einen Gabelstapler.“
„Mir geht’s gut, ich schaue mich hier etwas um. Das ist es doch sicherlich, weshalb Ihr Boss mich dabeihaben wollte, ich soll Ausschau nach ungewöhnlichen Dingen halten.“
„Ainsley glaubt, dass Sie durch Ihr Hobby eher Details erblicken, die von anderen Esoterikern ebenfalls verwendet werden. Wir hätten auch ein Medium oder Heilpraktiker engagiert, doch Sie waren in greifbarer Nähe und laut Ihrer Website ist Ihr Wahnsinn so breit gefächert, dass Sie jedes andere „spirituelle Berufsfeld“ haushoch übertreffen.“
„Vielen Dank, ich weiß ehrliche Bewunderer immer zu schätzen.“
Paxtons Telefon klingelte. Sie sah kurz auf das Display, ohne mich gänzlich aus den Augen zu lassen.
„Da muss ich ran Blackwood, stellen Sie ja nichts Verrücktes an während ich telefoniere, und fassen Sie ja nichts an!“
Paxton verließ den Raum, ich hörte ihre Schritte auf der Treppe zum Erdgeschoss verhallen.
Auch das Schlafzimmer wies keine besondere Kreativität in Sachen Innengestaltung auf. Neben dem weißen Bett mit grauen Laken stand ein weißer Schminktisch, auf dem ein ovaler Spiegel thronte.
Auf dem Tischchen stand eine kleine samtgraue Schmuckschatulle, die halb ausgeräumt nicht in das sonst so penibel ordentliche Gesamtbild passte. Der kurzbeinige, mit grauem Stoff bespannte Hocker, der zum Schminktisch dazugehören zu schien, lag umgeworfen davor.
Auf dem Teppichboden konnte man noch feine Blutspuren erkennen. Am Fensterbrett, welches sich auf der linken Seite neben dem Schminktisch befand, hing etwas Seltsames. Ich ging näher heran, da es zu winzig war, um es aus der Ferne zu erkennen. Das etwa splittergroße, hölzerne Fragment roch nach Phenol und Furfural.
Für alle Nichtchemiker, diese Geruchskombination deutet meist auf Kork hin. Ein Stückchen Kork wäre erst einmal nichts außergewöhnliches, doch auf dem sonst klinisch sauberen Fensterbrett, auf dem nicht die Spur von Staub, Schmutz oder Fliegendreck vorhanden war, erweckte es meine Aufmerksamkeit. Ich berührte es nur kurz, um … Mhh?... Ok erwischt, ich fasste es an, weil ich es nicht durfte. Mein inneres, rebellisches Kind wurde durch Paxton dazu angestiftet. Nach meiner erfolgreichen Auflehnung gegen die Staatsgewalt schaute ich mich weiter im Zimmer um. Irgendetwas stimmte mit dem gesamten Raum nicht. Ich konzentrierte mich noch etwas mehr, um die Auren im Raum wahrzunehmen.
Wenn Menschen mit geringer magischer Begabung von Auren sprechen, beschreiben sie diese oft in Form von Farben oder einen farblichen Dunst, der Menschen oder Dinge umgibt. Auren sind in Wahrheit um einiges komplexer. Sterbliche sind manchmal in der Lage einen Bruchteil dessen wahrzunehmen, was eine Aura ausmacht. Ihre Sinne sind mit dieser Portion jedoch dermaßen überfordert, dass ihr Gehirn die Informationen in der möglichst einfachsten Form zusammenbringt.
Konzentriert sich ein Magier auf eine Aura, so sieht er nicht nur einen Schimmer, sondern riecht diese vor allem.
In dem Moment, in dem ich mich auf eine Aura konzentriere, blende ich alle Gerüche des physischen Raumes aus und fokussiere mich auf die „spirituellen“. Im Schlafzimmer roch es auch auf dieser Ebene nach Schwefel, gemischt mit verdorbenen Bohnen, Kupfer und Erde.
Der Geruch war schon am Absinken. Auren liegen wie ein Nebel auf allem, auf dem sie entstehen. Dieser Nebel hält sich jedoch nur über einen begrenzten Zeitraum. Dann tut er, was Nebel nun mal tut, er sinkt ab.
In der Nähe der Schmuckschatulle roch der Nebel besonders übel. Er erinnerte hier an faule Eier, serviert in einer rostigen Kupferschale. Ein Schmuckstück war auffallend stark behaftet, es sah fast so aus, als ob es mit feinen Tautropfen überzogen war. Leider konnte ich auch in unmittelbarer Nähe des Rings nicht mehr als zuvor wahrnehmen. Mir blieb nur eine einzige Möglichkeit, diese Erkundung zu vertiefen. Jetzt, da der Nebel sich bereits gelegt hatte, konnte man die Aura noch schmecken.
Ich nahm also den Ring vorsichtig mit meinem über die Hand gestülpten Ärmel auf, um neben meiner im Speichel vorhandenen DNA nicht auch noch Fingerabdrücke zu verteilen, und leckte den Ring ab.
Er schmeckte nach 1000-jährigen Eiern, Zedernholz, Ethanol, verbranntem Gummi und Katzenatem. Diese unverwechselbare Aura der Dunkelheit konnte nur eins bedeuten, entweder handelte es sich um einen dämonischen Kontakt oder um Zahnärzte.
„Was machen Sie da, Blackwood? Ich habe Ihnen doch gesagt, dass Sie nichts anfassen sollen!“
Paxtons plötzliches Auftauchen erschreckte mich so sehr, dass ich… den Ring verschluckte.
„Blackwood! Sie Idiot, was haben Sie getan? War das ein goldener Ring? Sie haben ein wichtiges Beweisstück gegessen!“
„Das war nicht meine Intention! Hier liegt noch jede Menge Schmuck, weshalb…“
Da erkannte auch ich die Zusammenhänge. Im einzigen Schlafzimmer im Haus gab es nur ein schmales Einzelbett. Im Bad, welches durch eine Tür im Schlafzimmer erreichbar war, stand ein Becher mit einer Zahnbürste. Es gab keine Hinweise auf einen Lebenspartner oder eine Partnerin. Das Opfer war single. Bevor ich den goldenen Ring verschluckt hatte, konnte ich eine Gravur mit Zahlen und Buchstaben, vermutlich das Hochzeitsdatum, erkennen.
„Der Ring gehörte nicht dem Opfer oder der Verdächtigenkreis hat sich gerade um einen Ehepartner erweitert.“
„Ja Sie Genie, das habe ich auch vermutet, kurz bevor Sie ihn verschlungen haben.“
Ich brauch wohl nicht zu erwähnen, dass Paxton mein Korkstückchen eher beiläufig in eine kleine Beweismitteltüte packte, während ich mich zu entschuldigen versuchte.
„Haben Sie sonst noch etwas gefunden?“
„Nur den Kork und den Ring. Beide strahlen eine ungewöhnliche Aura aus. Ich vermute, dass etwas Fieses sie hinterließ.“
„Ist ein mordender Irrer Ihnen fies genug? Gut, Sie haben eine vermutlich unbedeutende Spur auf dem Fensterbrett gefunden, doch ziehen sonst eher eine schlechte Bilanz. Neben Steuergeldern, die Ihre Anwesenheit verschwendet hat, haben Sie auch noch ein Beweisstück entwendet.“
„Zu meiner Verteidigung, wäre das Beweisstück größer gewesen, hätte ich es vermutlich nicht verschluckt und Ihr Nosferatu-ähnliches Auftauchen hätte jeden normalen Menschen ebenfalls erschreckt.“
Nach weiteren, unschönen Wortgefechten entschloss ich mich, als klügere Partei klein beizugeben.
Wir verließen den Tatort und fuhren weiter Richtung Leichenschauhaus. Mein Magen meldete sich langsam. Nicht wegen des Rings, sondern aufgrund des fehlenden Frühstücks. Trotz des erst beigelegten Streits bat ich Paxton darum, einen Zwischenstopp bei einem Supermarkt oder einer Bäckerei einzulegen. Erstaunlicherweise willigte sie ein. Wir parkten vor einem dieser großen Supermärkte, in denen es so gut wie alles gab. Paxton stieg aus.
„Hey Sergeant, würden Sie mir die Tür öffnen, diese Funktion gibt es auf der Sträflingsbank für Mitfahrer nicht.“
Paxton blickte nicht mal zurück. Sie ließ mich im Auto wie einen Hund warten. Ich korrigiere, Hunden lässt man die Scheibe zumindest ein Stück weit herunter. Ich musste in der langsam aufwallenden Hitze vor mich hinbrüten. Paxton brauchte eine halbe Ewigkeit im Supermarkt. Wenigstens kam sie mit einer ordentlich gefüllten Einkaufstüte wieder.
„Was gibt es denn Schönes? Sie sind doch hoffentlich einer dieser Klischee-Donut-Kaffeepause-Polizisten! Ich hätte auch nichts gegen ein gutes altes Sandwich einzuwenden.“
Paxton reichte mir die Tüte freudestrahlend durch die Hintertür hinein. Gierig kramte ich darin und zog eine Pappschachtel mit dem Bild einer braunen Glasflasche heraus, auf der in großen Buchstaben „Bärchenlax-Dulco-Soft, das fruchtige WEG Erlebnis“ stand.
„Sie haben mir Kindereabführmittel gekauft?“
Der kindlich aussehende, kackende Bär auf der Packung hockte auf einer lachenden Toilette.
„Das für Erwachsene war leider aus, aber die Verkäuferin hat mir garantiert, dass ihr Neffe mit diesem hier einen Legostein innerhalb weniger Stunden wieder zu Tage befördert hätte.“
Ich kramte weiter in der Tasche und fand ein Küchensieb und eine Tüte Gummibärchen.
„Warum sollte ich dieses Zeug trinken?“
„Sie haben die Wahl Blackwood, entweder kippen Sie das Zeug runter oder ich berichte Ainsley von diesem Vorfall. Nach dem, was ich bislang über Sie in Erfahrung bringen konnte, brauchen Sie den Job. Ich bin mir sicher, dass Ainsley, sollte er von der Sache Wind bekommen, schnell einen neuen Spinner einstellt.“
„Positiver Zuspruch war schon immer das beste Überzeugungsmittel, Sie wissen, wie man mit Menschen umgeht. Wie viel muss ich davon einnehmen?“
Paxton stieg nochmals aus, ging zur hinteren Autotür und nahm den Beipackzettel in die Hand. Ihre Augenbrauen zuckten beim Lesen ab und an ein Stück nach oben.
„Ein 20 Kilogramm schweres Kind soll ca. 35 Tropfen zu sich nehmen. Sie sind um einiges schwerer, also würde ich sagen, Sie nehmen alles. Dann bekommen Sie auch das Tütchen Süßkram, dass als Gratisbeilage mitgegeben wurde.“
Welche Wahl hatte ich schon. Mir war klar, dass diese Aktion übel für mich enden würde, so würde sie wenigstens übel und bezahlt enden.
„Ja Sir.“ Ich salutierte. „Auf Ex.“
Dann kippte ich die nach Erdbeeren und vorzeitiger Darmentleerung schmeckende Flasche hinunter. Ich sah mich vor meinem geistigen Auge schon die Position des Verpackungsbärchens einnehmen.
Seltsamerweise verzog Paxton während meiner selbstlosen Tat plötzlich das Gesicht und wirkte-erschrocken und besorgt?
„Sie Idiot, doch nicht sofort! Wir sind gerade auf dem Weg zur Gerichtsmedizin, Sie sollten das Zeug zuhause trinken!“
Au backe.
„Warum haben Sie mir das nicht während Ihres kleinen Erpressungsversuchs gesagt?“
Paxton schlug die Tür zu und ging dann Richtung Fahrersitz. Sie schien zügiger zu fahren als zuvor. Schon nach wenigen Minuten begann mein Magen zu rumoren. Ich flehte Paxton innerlich an, möglichst schnell zu fahren und hoffte, in keinen Stau zu geraten.
Die Gerichtsmedizin befand sich auf der anderen Seite der Themse. Wir benötigten aufgrund des regen Verkehrs über eine Stunde. Eine Stunde, in der meine inneren Organe einen Kampf mit der tückischen, rosafarbenen Substanz ausmachten.
Die Gerichtsmedizin befand sich in der Gegend Canary Wharf.
Das viktorianische Gebäude erinnerte mit seinen an ihm emporragenden Säulen eher an eine Bibliothek. Für gewöhnlich verfrachtete man Abteilungen, wie die Gerichtsmedizin in irgendwelche Keller anderweitig genutzter Bauten. Die Mediziner konnten schon froh sein, wenn sie nach ihrem meist viel zu langen Arbeitstag noch wussten, wie echtes Tageslicht aussieht.
Paxton bot mir beim Aussteigen sogar ihre Hilfe an. Sie schien am Schlechten-Gewissen-Syndrom zu leiden. Das Sieb vergaß sie allerdings nicht. Sie steckte es in die knitterige Einkaufstüte und führte mich aus der hauseigenen Tiefgarage in die Etage, auf der die Gerichtsmedizin lag. Das Stehen und Laufen bereitete mir Schmerzen.
Meine Gedärme schienen sich innerlich aufzulösen. Ich lief leicht nach vorne gebeugt hinter Paxton her. Paxton ging routiniert auf einen der Autopsieräume zu. Sie klopfte kurz an und öffnete die Tür, noch bevor eine junge Frauenstimme uns hereinbat.
„Hallo Pam, das hier ist Mr. Blackwood. Ainsley hat Sie bereits informiert, nehme ich an?“
Für eine Gerichtsmedizinerin sah „Pam“ viel zu jung aus. Auch ihr Look passte nicht in einen nach Formaldehyd und Verwesung riechenden Raum.
Pam war nicht gerade groß, ich würde sie auf 1,52 Meter schätzen. Sie hatte neonpinkgefärbte Haare, jede Menge Piercings im Gesicht und mehr Tattoos als freie Hautstellen.
Sie trug rubinroten Lippenstift und so viel Mascara, dass jede Grunge-Rock-Band neidisch geworden wäre. Unter dem Laborkittel schaute der Saum eines schwarzen Spitzenkleids hervor. Die schwarzen Springerstiefel mit den regenbogenfarbenen Schnürsenkeln rundeten den Look ab. Pam kam freudestrahlend auf mich zuspaziert.
„Heyyy, ich bin Pamela Harrington. Ainsley sagte Sie sind Magier.“ Pam kam ein Stückchen näher. „Stellen Sie sich vor, ich bin eine Wicca“, sagte sie in einem etwas gedämpften Tonfall. „Cool einen Gleichgesinnten zu treffen. Falls Sie noch keinem Zirkel angehörig sind, können Sie gerne mal vorbeischauen. Wir treffen uns jeden Dienstag im Knights Tempelar. Wir…“ Paxton unterbrauch sie.
„Pam, immer mit der Ruhe, Blackwood ist nur hier, um sich den Leichnam anzusehen.“
Pam hörte auf meine Hand wie wild zu schütteln und löste ihren Griff. Sie gab mir mit den zum symbolischen Telefon gestreckten Fingern, pantomimisch zu verstehen, dass ich sie beizeiten mal anrufen sollte. Ich grinste sie unsicher an und nickte. Ich hatte nicht vor sie anzurufen, doch wusste die Situation nicht anders zu beenden.
Im Allgemeinen habe ich nichts gegen Religionen, doch auch nichts für sie. In über 80 Jahren traf ich erst eine Handvoll Wicca, die über echte, magische Fähigkeiten verfügten. Bei den meisten handelte es sich um spirituelle Naturanbeterinnen, die in der Magie eher eine Lebenseinstellung sahen. Neben all den anderen Religionen, die mir über den Weg gelaufen sind, sind mir die Wicca noch eine der liebsten. Sie haben nie versucht andere zu unterjochen, zu erpressen oder auszurotten. Anschließen würde ich mich dennoch keiner Religion, da ich meinen freien Willen und uneingeschränkten Glauben an alles Mögliche sehr schätze. Konfessionell betrachtet bin ich so etwas wie die Schweiz.
Pam drehte sich zu Paxton um: „Dann werde ich Sie mal hereinrollen.“
Die quirlige Gerichtsmedizinerin verabschiedete sich mit einem breiten Lächeln und ließ mich und Paxton allein zurück.
Meine Krämpfe wurden unterdessen schlimmer und ich musste dringend den Raum verlassen, um meinen Ruf als zivilisierter Mensch aufrecht zu erhalten.
„Entschuldigen Sie mich, aber gibt es hier eine Toilette?“
Paxton realisierte die Dringlichkeit der Situation und schickte mich samt Einkaufstüte den Flur hinunter.
Ich übertreibe nicht, wenn ich Ihnen sage, dass ich in meinem Leben selten schmerzhaftere oder peinlichere Situationen erlebt habe. Ich will das Ganze nicht im Detail schildern, doch der Ring konnte erfolgreich geborgen werden. Die sanitären Anlagen sollten besser für die kommenden Wochen gesperrt bleiben. Der Appetit auf die Tüte Gummibärchen war mir jedoch gehörig vergangen. Paxton stellte keine Fragen nach dem Verbleib des Siebes. Sie war sichtlich erleichtert, dass unser Beweisstück sauber und in einem Stück zurück war.
Sie streckte mir mit ausgestrecktem Arm und angewidert nach außen verzogenen Mundwinkeln eine kleine Beweismitteltüte entgegen.
„Um den kümmern wir uns später, sehen Sie sich nun erst einmal die Leiche an.“
Pam kam wie aufs Wort, genau in diesem Moment aus dem Nebenraum zurück. Sie schob eine mit einem Tuch bedeckte Bare aus chirurgischem Stahl vor sich her. Die Verwesung hatte bereits eingesetzt, wenn sie auch durch die kühlen Temperaturen verlangsamt wurde. Der Leichengeruch paarte sich mit dem der dämonischen Aura. Pam platzierte die Bare in der Mitte des Raumes und holte ein Klemmbrett.
„Darling, ich hoffe Sie haben keine Angst vor den Toten.“
Ich machte ein lässiges, unbeeindrucktes Gesicht und gab ihr durch eine abwinkende Handgeste zu verstehen, dass dies nicht der Fall wäre.
Obwohl ich erst wenige Tatorte von Gewaltverbrechen im privaten Bereich gesehen habe, war ich in den 20ern mit den Toten der Spanischen Grippe und während des 2. Weltkriegs mit durchaus verstörenden Tötungen und Verletzungen auf beiden Seiten der Fronten konfrontiert worden. Pam wandte sich an Paxton: „Gut, gut. Emily, hilfst du mir kurz bei der Abdeckung der Leiche?“
Paxton schien die Nennung ihres Vornamens als unangenehmen Einblick in ihre Privatsphäre zu betrachten. Sie zischte Pam einen leisen Vorwurf entgegen und entfernte mit ihr das weiße Tuch. Was darunter zum Vorschein kam, konnte selbst ich nicht in meinen Erfahrungsbereich einordnen.
Auf dem kalten Stahl lagen die verstümmelten Überreste einer durchschnittlich großen, schlanken Frau. Ihre Augenlieder, sowie Nasenlöcher und Mund waren zusammengenäht. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt und in dieser Position ebenfalls, durch einen dünnen Faden, fixiert.
Paxton starrte erst mich und dann die Leiche an. Sie erwartete wohl eine andere Reaktion, doch ich blieb ruhig und konzentriert.
Pam studierte die Papiere auf ihrem Klemmbrett und fasste die bisherigen Erkenntnisse für mich zusammen.
„Bei der Toten handelt es sich um Mary-Ann Cooper. Sie war 26 Jahre alt, 1,71 Meter groß und 62 Kilogramm schwer. Die Verstorbene war seit mindestens zwei Tagen tot. Bei der Bestimmung des PMI, das ist das postmortale Interwall, musste ich aufgrund der Autolyse einen Entomologen hinzu…“
Paxton unterbrach den Vortrag: „Pam, verschone uns mit ausschweifenden Erklärungen und komm zum Punkt.“
Pam blätterte ein paar Seiten weiter und setzte dann erneut an.
„Das Opfer lag seit mindestens zwei und maximal sechs Tagen in ihrem Schlafzimmer, bevor sie von der Polizei gefunden wurde. Aufgrund der petechialen Stauungsblutungen und der Zyanose des Gesichts gehe ich unter Ausschluss anderer Todesursachen von Erstickung aus.“
An den Nähten fiel mir etwas ins Auge.
„Pam, kann es sein, dass das Opfer noch gelebt hat, als die Nähte ausgeführt wurden?“
Paxton, die den Autopsiebericht schon kannte, sah mich erstaunt an.
„Woher wissen Sie das?“
„Die Wundränder sind leicht eingerissen, was darauf schließen lässt, dass das Opfer sich zu befreien versuchte. Zudem befinden sich kleine Blutverkrustungen an den Einstichstellen. Tote bluten nicht.“
Pam grinste mich an.
„Wow, Sweety! Sie können jederzeit als mein persönlicher Assistent anfangen. Was Sie sagten war absolut korrekt.“
„Ich lese gerne Krimis, da bleibt ab und an was hängen. Nur bei Law and Order schlafe ich vorzeitig ein.“
Paxton verdrehte die Augen.
„Horatio, Sie sollen uns nicht sagen, was wir sowieso schon wissen. Gibt es noch irgendetwas Ungewöhnliches Ihrer Meinung nach oder können wir diese Farce beenden?“
Paxton hatte recht, für forensische Einsichten wurde ich nicht konsultiert. Meine Aufgabe bestand darin, Dinge zu entdecken, die die Polizei und die Gerichtsmedizin nicht wahrnehmen konnten. Ich konzentrierte mich vollkommen auf die Leiche von Ms. Cooper. Da ich mit meinen menschlichen Sinnen nichts Besonderes erkennen konnte, fuhr ich mit meiner Hand über den toten Körper, ohne ihn zu berühren. Dabei sprach ich eine Zauberformel aus einem alten Grimoire, die ich neben einigen weiteren auswendig gelernt hatte.
„Caecorum videt quae numquam marcescit.“
Ich wiederholte die Formel, während ich alles andere um mich herum ausblendete und ich langsam die Energien des vergangenen Lebens spüren konnte.
Die Energien lebender Menschen verebben langsam nach ihrem Tod. So wie die fallende Körpertemperatur, sinken auch sie nach dem letzten Herzschlag ab. Energien halten sich jedoch länger als die Körperwärme und sind nicht von der Umgebungstemperatur abhängig.
Jeder Mensch besitzt eine einzigartige Energiesignatur. An Mary-Anns Signatur konnte ich erkennen, dass sie eine selbstsichere, engagierte und kontaktfreudige Person war. Außerdem erkannte ich, dass sie kurz vor ihrem Tod große Furcht gespürt hatte. Diese Energiesignatur schlug mir so kurzwellig entgegen, dass ich sie kaum zu fassen bekam.
„Nachdem Mary-Ann ihren Angreifer bemerkte, ging der Rest sehr schnell. Alles lief innerhalb weniger Minuten ab.“
Ich fuhr weiter über ihren Körper. Als ich beim Kopf ankam, spürte ich eine fremdartige, dämonische Energiewelle. Ich schloss noch einmal kurz die Augen und tastete mental nach ihr, um auf Nummer sicher zu gehen. Da war es wieder.
„Pam, drehen Sie die Leiche bitte um.“
Pam machte sich sofort an die Arbeit und nickte mir mit ehrfürchtiger Miene zu. Paxton stemmte ihre Hände in die Hüfte.
„Was soll das nach Ihrem Leichen-Reiki denn noch bringen? Wollen Sie der Toten noch eine Rückenmassage verpassen?“, spottete Paxton.
„Da ist etwas an ihrem Hinterkopf, ich konnte es fühlen.“
Pam zerzauste das Haar der Toten und quietschte plötzlich auf.
„Da ist eine Art Tätowierung unter ihrem Haar. Haben Sie mit der Toten kommuniziert?“, fragte sie aufgeregt.
Ihre Augen wurden untertellergroß. Sie klatschte verzückt in ihre Hände. Pam ging eine Schere und einen Rasierer holen.
„Ich konnte etwas spüren, es fühlte sich dämonisch an.“
Pam entfernte mit einem elektrischen Rasierer die Haare und legte ein Symbol frei, das an ein kopfüber stehendes Kreuz mit sichelhaft gebogenen Enden und einer schlangenähnlichen Linie erinnerte. Über und unter dem Symbol befanden sich thebanische Zeichen. Ich erkannte diese Signatur sofort wieder.
„Das ist ein Dämonenmal. Dämonen hinterlassen diese Zeichen, nachdem sie sich ein Leben genommen haben. Sie markieren ihre Opfer, um den Seelen den Weg zum Himmel zu versperren. Sie binden sie dadurch an sich und nehmen sie mit in die Unterwelt. Ich habe allerdings noch nie eins gesehen, das auch Menschen wahrnehmen konnten.“
Plötzlich klatschte auch Paxton in die Hände. Langsam und hallend. Pam und ich starrten sie entgeistert an.
„Herzlichen Glückwunsch, Sie haben den Fall gelöst. Dann geh ich mal den Fürsten der Finsternis über seine Rechte belehren und mache anschließend Feierabend. Ganz im Ernst Blackwood, glauben Sie an diesen Mist? Ich gebe zu, ich habe keine Ahnung, wie Sie das Tattoo gefunden haben, doch denken Sie nicht, dass es sich hierbei um eine Jugendsünde handelt? Muss man für so eine Tätowierung nicht zuerst die entsprechende Stelle kahl rasieren? Ich glaube nicht, dass das Haar der Toten weniger als ein Jahr gebraucht hat, um seine heutige Länge zu erreichen. Sollte der Mörder daran beteiligt gewesen sein, so hätte er doch sehr vorausschauend planen müssen. Wir sollten jetzt zurück auf die Wache fahren und die echten Beweisstücke abgeben. Und Pam, ich weiß, dass du auf diesen ganzen „Ich bin Magier und löse Fälle mit meinem Chi“-Kram stehst, doch bitte, sag einfach nichts mehr dazu und versuch die Aktion zu vergessen.“
Pam wollte gerade noch etwas erwidern als Paxton mich Richtung Tür stieß. Wir verließen das Gebäude und fuhren zurück zum New Scotland Yard. Ich hatte den Sergeanten nicht nur verärgert, sondern auch noch vor einer Kollegin bloßgestellt. So erklärte mir Paxton ihre Sicht der Dinge. Paxton schickte mich vom Parkplatz aus nach Hause. Sie beendete kurzerhand unser Arbeitsverhältnis und versprach mir, mein Gehalt umgehend zu überweisen. Ich sollte über unsere Ermittlung schweigen und dürfte kein Wort davon nach außen dringen lassen. Ich willigte widerstrebend ein und ging. Es hätte keinen Sinn gemacht, mit dieser Frau zu diskutieren. Sie hatte die Starrköpfigkeit quasi erfunden.
****
Auf dem Weg zur U-Bahn brannte ich innerlich vor Wut. Warum habe ich mich so einfach abwimmeln lassen? Solange Paxton mir nicht einen Funken Glauben schenkte, konnte ich nichts ausrichten. Ich musste zurück in meine Wohnung und mehr herausfinden. Doch bevor ich das tat, musste ich ganz dringend etwas essen. Es war bereits Nachmittag und ich hatte nicht einmal gefrühstückt.
Ich nutzte also meine Gabe und folgte dem Geruch frisch gebackener Pasties.
Seit den späten 50er Jahren gibt es nichts Köstlicheres für mich als diese mit einer saftigen Fleisch- und Gemüsemasse gefüllten Mürbeteigtaschen. Ich verbrachte fast zwei Jahrzehnte in Cornwall, der Heimat dieser gold-gelben Gaumenfreude. Im Laufe der Jahrzehnte hatte sich viel verändert, ich erkenne viele Orte nicht mehr wieder, immer neue und größere Gebäude schossen aus dem kalten, grauen Fundament hervor, doch Pasties sind beständig. Sie sind die wahren Überlebenden glorreicher Epochen.
Ich kaufte zwei Pasties für mich und eine für Mrs. Sedgemore. Die alte Dame teilte meine Leidenschaft für diese Art von Mürbeteiggebäck. Ich verbrachte noch einige Stunden damit, quer durch London zu fahren, um bei meinen Kontakten bestehend aus Akademikern, Anderswesen und Sammlern einschlägige Literatur zu besorgen.
Diese gaben mir zahlreiche Bücher mit auf dem Weg, woraufhin ich es mal wieder bereute, keine Taschen dabei zu haben.
Mrs. Sedgemore war gerade dabei den Laden abzuschließen, als ich ihr die kalt gewordene Pasty überreichte.
Sie bedankte sich überschwänglich und kniff mich in die Wange.
Danach umrundete ich das Gebäude, um zum Kellereingang meiner Wohnung zu gelangen. Als ich die Treppe zur Haustür nahm, fiel mir ein großes Paket davor auf. Es war etwa 1,20 Meter hoch und in rosafarbenes Geschenkpapier verpackt, auf dem eine ordentlich gebundene Schleife thronte.
Seit mich ein mordlüstener Orden der Kirche verfolgt, bin ich eigentlich vorsichtiger geworden, doch das hier wäre nicht so ganz ihr Stil.
Ich stellte meine Bücher auf dem Treppenabsatz ab, steckte den Schlüssel in das Schloss und hievte mit dem anderen Arm das schwere Geschenk über meine Türschwelle.
Erst als ich es drinnen abstellte, bemerkte ich einen Zauber, der sich mit dem Paket aktivierte.
Warum lasse ich gleich nochmal alle Vorsichtsmaßnahmen fallen, wenn etwas in rosanes, mit Kätzchen bedrucktes Papier gehüllt ist?
Jetzt war es sowieso zu spät. Die Falle war zugeschnappt und das, was auch immer es sein mag, befindet sich in meiner Wohnung.
Ich beschloss also, dass es das Beste sei, dem Grauen in die Augen zu blicken und es auszupacken.
Mit dem Lösen der Schleife fiel auch der Rest des Geschenkpapiers zu Boden und enthüllte… einen präparierten Kaiserpinguin. Das antarktische Tier stand regungslos da. Es passierte rein gar nichts. Welchen Zweck erfüllte der Zauber, der dem fracktragenden, geschnäbelten Federberg anhaftete?
Ich holte erst einmal die Bücher von draußen rein und fing dann an, den Pinguin näher zu untersuchen. Zwischen seinen Füßen steckte eine kleine, rote, herzförmige Karte. Auf ihrer Rückseite stand in schwungvollen Lettern geschrieben:
Kaiserpinguine suchen sich einen Partner fürs Leben. Möge dieser hier ein ewiges Band zwischen uns spannen.
Ein Liebeszauber. Das waren ja tolle Neuigkeiten. Irgendeine oder irgendein Verrückter hat dieses schwarz-weiße Ungetüm mit einem Liebeszauber belegt, der sich durch meine Fahrlässigkeit bereits aktiviert hatte.
Bleibt nur noch abzuwarten, für wen ich urplötzliche, überschwängliche Gefühle entwickeln würde. Das wirklich Fiese an Liebeszaubern ist, dass man trotz des Wissens über diesen die Gefühle für absolut echt hält.
Liebeszauber lassen sich zudem nicht zurückverfolgen, da sie, wie es der Zauber schon andeutet, nicht durch handelsübliche, spirituelle Energien gespeist werden, sondern durch Liebe.
Liebe ist schwer greifbar und schlecht zu erkennen. Jeder Mensch liebt irgendetwas. Egal, ob man seinen Ehepartner liebt, sein Lieblingsessen oder seine Spielekonsole, die Liebe ist die gleiche. Poeten pflegen zwar zu sagen, dass es verschiedene Typen der Liebe gibt, wie etwa die freundschaftliche, die leidenschaftliche oder die bedingungslose Liebe, doch sehen all diese aus Magiersicht absolut identisch aus. Somit lassen sich die Schuldigen nicht ausfindig machen.
Zu viele Menschen strahlen zu viel Liebe aus, wenn man danach Ausschau hält. Das einzig Gute an der Sache: solange ich der Person, die mich mit diesem Zauber belegt hat, nicht über den Weg laufe, passiert nicht das Geringste. Ich konnte mich getrost dem Studium meiner Bücher widmen, um das Symbol, das wir fanden, einzuordnen. Zunächst nahm ich meinen Notizblock von der Küchenzeile (aufgrund des chronischen Platzmangels muss ich ständig umräumen und Gegenstände an Orten ablegen, an die sie definitiv nicht gehörten) und zeichnete das Symbol, das wir gesehen hatten, nach. Ich verfüge über ein gut funktionierendes Gedächtnis, das mir zuverlässig hilft, auch kleinste Details in Erinnerung zu behalten.
Die einzige Lücke, die ich nie füllen konnte, sind meine fehlenden Erinnerungen vor 1920. Ich datiere den Anfang meines Daseins auf dieses Jahr, da ich nicht den leisesten Schimmer habe, was zuvor geschehen ist. Das erste, an das ich mich überhaupt erinnere ist der Tag, an dem ich mit nichts, als einem Schuldschein in der Tasche, ausgestellt auf den Namen Aillard-Jonathan-Michael Blackwood, in einem Gutshaus in Amesbury aufgewacht bin. Ich spreche seit jeher vom Tag meiner Geburt. Es war der Anbeginn meines Daseins. Selbstverständlich passte ich meine offiziellen Ausweisdokumente regelmäßig an das Geburtsjahr an, das Sterbliche mir zusprechen würden.
Beim Recherchieren verschlang ich gierig meine zwei Pasties und passte auf, keine Essensflecken auf den kostbaren Büchern zu hinterlassen.
Ich ertappte mich, wie ich gedankenverloren den Pinguin, der vor meinem Bett stand, über den federigen Kopf streichelte. Mir ist bewusst, dass solche Tiere mit Formaldehyd präpariert sind und man sie nicht berühren sollte, wollte man auf längere Zeit keine Vergiftung riskieren, doch das Magierdasein bringt eine gewisse angeborene Immunität gegen verschiedene Giftstoffe mit sich. Irgendwie hatte ich diesen sperrigen Vogel schon liebgewonnen, er könnte ja als Haustierersatz fungieren. Lebende Tiere verhalten sich in meiner Nähe ungewöhnlich und… Moment mal, könnte meine Zuneigung zu diesem Tier Teil des Zaubers sein? Ich schnappte mir den Pinguin und öffnete die Haustür.
„Du trickst mich nicht aus, Vogel!“
Eigentlich wollte ich den Pinguin auf dramatische Art und Weise aus der offenen Tür schmeißen, doch als er in den Bereich des Türrahmens kam, prallte er wie durch eine unsichtbare Wand zurück.
Die Masse des Pinguins warf mich zu Boden. Es dauerte ein paar Minuten, bis ich mich wieder berappelt hatte.
Der Zauber, den ich ausgelöst hatte, schien mich in meiner eigenen Wohnung einzusperren. Ich tastete aufgeregt nach dem Kraftfeld in der Tür. Da war keins. Meine Hand griff ins Leere. Ich stand auf und machte einen Schritt aus der Haustür hinaus. Immer noch kein Kraftfeld.
Nachdenklich sah ich den auf der Seite liegenden Pinguin an. „Nein, nicht im Ernst.“ Ich stellte den Pinguin wieder auf und versuchte ihn aus der Tür herauszuschieben. Er blieb in einer unsichtbaren Barriere hängen. Ich stemmte mich mit meinem gesamten Gewicht dagegen, doch er ließ sich nicht über die Schwelle schieben. Auch von draußen konnte ich ihn nicht zu mir ziehen.
Ich würde fürs Erste mit ihm meine Wohnung teilen müssen. Diese Misere verriet mir jedoch etwas über den bisher angenommenen Liebeszauber.
Dieser Zauber speiste sich zwar auch aus der Liebe, war jedoch ein Bindungszauber.
Ich nehme an, dass die magiewirkende Person eigentlich eine Bindung zwischen mir und ihr herstellen wollte, den Zauber jedoch nicht sauber ausgeführt hatte. Der Kaiserpinguin sollte hierbei als Gefäß, welches mit dem Zauber angereichert wird, dienen.
Der Pinguin wurde jedoch zum eigentlichen Betroffenen des Zaubers, welcher ihn an meine Wohnung band. Dadurch wurde der Pinguin auch unzerstörbar, was bedeutet, dass er, selbst wenn das Gebäude in mehreren hundert Jahren abgerissen und durch eines dieser kastenförmigen Hochhäuser ersetzt würde, immer noch da sein wird. Er wurde zu einem unverrückbaren Phänomen in Raum und Zeit. Nur der Zauberwirker selbst oder ein direkter Nachkomme dessen können ihn wieder entfernen.
Laut der Aufzeichnungen hatte es in England schon einmal einen ähnlichen Fall gegeben, der große Popularität erlangt hatte. Die Mutter von König Artus ist eine mäßig talentierte Hexe gewesen. Igraine, so ihr Name, belegte das Schwert ihres Gatten mit einem Bindungszauber, gespeist aus ihrer Liebe. Er sollte dafür sorgen, dass Uther sein Schwert niemals verlieren und niemand es gegen ihn einsetzen könne. Bindungszauber müssen penibel genau ausgeführt werden, da sie sich von Natur aus lieber mit unbelebten Dingen binden als mit Menschen.
Sie müssen sich Bindungszauber wie diese transparenten Zahnschienen vorstellen. Sie werden maßgefertigt und passen nur zu einer Person. Finden jedoch geringfügige Veränderungen statt, wie das Verschieben eines einzelnen Zahns, passt sie nicht mehr.
Im Falle des Zaubers genügt sogar eine psychische Veränderung des Menschen. Der Zauber fällt auf den nächstbesten Gegenstand, der das Objekt berührt. So kam es, dass Uther sein Schwert im Kampf verloren hatte und dieses im Fels stecken geblieben ist.
Es reichten wenige Millimeter Fels aus, um es an Ort und Stelle zu halten. Nur Igraine oder ihr direkter Nachkomme sind in der Lage gewesen, das Schwert aus dem Zauber zu lösen. Da Igraine diese Zusammenhänge damals nicht klar gewesen waren, sah sie keine Möglichkeit, das Schwert zu befreien. Selbst hatte es die holde Lady nicht versucht.
Zu ihrem Glück und aus reinem Zufall ist ihr verschollener Sohn an das Schwert gekommen und den Rest der Geschichte kennen Sie bereits.
Bei meinem Schwert handelt es sich um einen 1,20 Meter großen, sperrigen Pinguin, der auf ewig an meine Wohnung gebunden sein würde.
„Du hast Glück, dass ich dich weder rupfen noch auf die nächste Müllkippe bringen kann.“
Damit Lucky (ja, er sollte einen Namen haben, wenn er sich auf unbestimmte Zeit mit mir eine Wohnung teilte, großer, sperriger Kaiserpinguin lässt sich nicht so schön sagen wie ein kurzer, prägnanter Name) mich nicht weiter ablenken konnte, stellte ich ihn fürs erste in meine Duschwanne und zog den Vorhang zu.
Ich kochte mit meinem Kaffeetrichter und der 70er Jahre-Thermoskanne darunter genug Kaffee, um die Nacht durcharbeiten zu können und wälzte systematisch ein Buch nach dem anderen.
Obwohl ich des Englischen, Italienischen, Latein, Französischen, Griechischen und Deutschen mächtig war, benötigte ich weitere Wörterbücher, um alle Texte lesen zu können. Besonders die arabischen Sprachen stellen mich durch ihre für Europäer fremdartige Schriftsprache vor immer neue Hürden. Damit will ich nicht sagen, dass Baskisch oder Armenisch ein Kinderspiel in Sachen Verständlichkeit sind, doch sind die hier verwendeten Zeichen oft einheitlich.
Gegen zwei Uhr morgens überkam mich langsam die Müdigkeit und ich beschränkte meine Recherche auf das Überfliegen der Bilder und Symbole, um ein Ähnliches zu finden.
Tatsächlich gelang es mir im Laufe der nächsten Stunde, das Symbol von der Tätowierung ausfindig zu machen. Ich markierte mir die Seite mit einem Papierschnipsel und beschloss für heute erst einmal Schluss zu machen.
Ich räumte die Bücher von meinem Bett, stellte Lucky wieder ins Schlaf-Wohnzimmer und ging vorm Zu-Bett-Gehen erstmal duschen.
Am nächsten Tag würde ich mit dem Buch, in dem unsere dämonische Körperkunst zu finden war, zu seinem Besitzer gehen, um diesen nach der korrekten Übersetzung sowie weiteren Informationen über die Bedeutung dieser Hautbemalung zu fragen. Außerdem sollte ich einkaufen gehen. Immer noch.
Auch der folgende Morgen startete mit dem metallenen Klingeln meines Weckers.
Als ich aus dem Bett aufstand, um mir eine Tasse des verbliebenen Kaffees zu genehmigen, stolperte ich über Lucky und legte mich auf den wenigen freien Metern Boden meiner Wohnung lang. Ich verfluchte den mich mit kalten, gläsernen Augen anstarrenden Vogel und setzte mein Vorhaben fort.
Auf dem Weg ins Bad schmiss ich Lucky auf mein Bett und zog mich an. Ich lege viel Wert auf ein gepflegtes Äußeres. Mein Haar trage ich wie schon in den 20ern, die Seiten kurz und oben etwas länger. Ich bin kein Freund von Jogginghosen, Jeans oder T-Shirts. Der klassisch schicke Look mit Anzugshose, Weste und Hemd gibt mir das Gefühl, etwas Positives aus meiner Vergangenheit mitgenommen zu haben.
Hier in London falle ich auf diese Art noch nicht einmal besonders auf, da Anzugträger und modisch ambitionierte Menschen zum Alltag gehören. An meiner linken Hand trage ich einen goldenen Ring mit einem Siegel aus Lapislazuli. Das Siegel zeigt einen sechszackigen Stern mit verschiedenen Symbolen. Dieser Ring soll angeblich König Salomon gehört haben und ist ein Grund, weshalb mich besagter christlicher Orden jagt.
Er soll seinem Träger die Macht der Allwissenheit verleihen, ihm ermöglichen, mit Pflanzen und Tieren zu sprechen und Dämonenscharen zu befehligen. Bislang konnte ich nichts davon bestätigen, außer, dass Tiere eigenartig auf meine Anwesenheit reagieren. Dies muss jedoch nicht unbedingt mit dem Ring in Verbindung stehen.
Ich trage ihn, solange ich denken kann und glaube, dass es an mir ist, ihn davor zu schützen, in die falschen Hände zu gelangen.
Ich steckte das Buch mit dem blauen Stoffeinband und dem kleinen Papierschnipsel in meine braune Ledertasche. Dazu packte ich meinen Stab, den mir Paxton nach der Flitzergeschichte zurückgegeben hatte, meine Fahrkarte und einen Thermobecher Kaffee ein.
Ich ließ Lucky allein zurück und befahl ihm, die Wohnung gut zu bewachen. Um einer weiteren Überraschung auf meiner Schwelle vorzubeugen, erzeugte ich eine magische Barriere, die zwar Menschen, doch nichts Übernatürliches durchlässt. Diese würde nicht bloß fremde, magische Dinge, sondern auch Wesen jeglicher Art fernhalten.
Ich hätte meine Wohnung schon viel früher schützen müssen, doch wie sagt man so schön: Mit dem Zeitdruck kommt die Motivation. Hierfür hob ich meine Türmatte zur Seite, zeichnete ein weißes Kreide-Pentagramm und bestückte es an den entsprechenden Enden mit etwas Erde, einer Kerze, die ich anzündete, einem Schälchen Wasser, einer Feder für die Luft und einem Sudoku, dass ich letzte Woche in einer Tageszeitung gelöst hatte, welches stellvertretend für den Geist stand.
Ich schnitt mir mit meinem Taschenmesser in die Handfläche und tropfte etwas Blut in die Mitte des Symbols. In meiner Tasche befand sich neben meinem Taschenmesser und der Kreide immer etwas Verbandszeug.
Da viele Zauber ein Opfer erfordern, musste ich mir schon zahlreiche Male mutwillig in die Hand schneiden. Mit der Zeit fällt es einem leichter, besonders wenn die Wunden bereits nach wenigen Stunden verheilt sind, doch es tut immer noch höllisch weh. Ich wickelte routiniert einen Verband um meine Hand und klebte ihn fest. Dann sprach ich eine Schutzformel: „Limen lapideum signari debetis, nec magica vel essentia aliena inveniat!“
Der Kreis begann kurz in einem weißen Licht zu leuchten, dann pustete ich die Kerze aus und legte die Türmatte wieder auf ihren ursprünglichen Platz zurück.
Ich konnte die Barriere in Form eines hohen Summens hören. Eindringlinge oder ungebetene Gäste mit skurrilen Geschenken kamen hier nicht mehr durch.
Neben meinem Blut kostete mich die Barriere allerdings auch einen Teil meiner eigenen Energie, weshalb sich mein Magen wieder meldete.
Auf dem Weg zu Professor Martin, dem Mann, der mir das Buch auslieh, das sich nun in meiner Tasche befand, holte ich mir ein paar Thunfischsandwiches.
Professor Martin unterrichtete am Imperial College in London die Geisteswissenschaften. Er zählt zu den weltweit Besten seines Fachbereichs, welcher nicht nur Gegenwartssprachen, sondern auch antike und teils vergessene Sprachen miteinschließt.
Wir liefen uns das erste Mal vor etwa sieben Jahren in der British Libary im Bereich für antiquarische Werke über den Weg. Damals half ich Professor Martin beim Lösen eines sumerischen Geheimcodes. Wir kamen ins Gespräch und freundeten uns an. Für gewöhnlich schleiche ich Bekanntschaften nach wenigen Jahren aus, um zu verhindern, dass den Menschen auffällt, dass ich nicht physisch altere.
Bei Professor Martin kann ich nach sieben Jahren schon von einem alten Freund sprechen. Die magische Grenze scheint bei etwa zehn Jahren zu liegen. Danach fällt jedem auf, dass etwas nicht stimmt. Ich könnte heutzutage zwar behaupten, dass die plastische Chirurgie mich jung hält, doch meist kennen Bekanntschaften nach längerer Zeit auch meine finanzielle Situation, womit diese Ausrede nicht besonders glaubhaft wäre.
Das Imperial Collage London liegt in unmittelbarer Nähe zum Hyde Park. Das College selbst verfügt ebenfalls über kleinere Grünflächen, auf denen bei diesem schönen, sonnigen Wetter einzelne, in ihre Arbeit vertiefte Studenten und kauende und schnatternde Studentengrüppchen saßen. Das Gebäude im Neorenaissance-Stil sah durch seine langen, durchgängigen Fensterfronten und die großen, glatten Betonelemente wie ein typisches Bürogebäude aus. Das einzige Element, das diesen neumodernen Stil durchbrach, war der Queens-Tower, ein 287 Fuß hoher Turm mit einer Kupferkuppel.
Professor Martins Büro lag in einem der Gebäude, die den Turm einkesselten. Von seinem Fenster im ersten Stock aus konnte er den Eingangsbereich des Turms prima überwachen.
Da er oft den ganzen Tag im Büro verbrachte, um Vorlesungen vorzubereiten oder an seiner Forschung zu arbeiten, stellten die vorbeiziehenden Menschen die höchste Form sozialer Kontakte dar, die er neben den ihm zuhörenden Studenten in den Vorlesungen zu erwarten hatte.
Dieses Einsiedlerdasein verdankte er seiner Besessenheit für die Arbeit. Selbst in seinem Privatleben drehte sich alles um die Erforschung alter Sprachen. Ich stellte einen der raren, engen Kontakte vom Prof dar. Er schätzte mich aufgrund meines fundierten geschichtlichen Wissens und meiner für ihn nützlichen Sprachkenntnisse.
Der Professor glaubte zwar nicht an Magie, doch interessierte sich vor allem für Texte mit magischem Hintergrund, wie etwa die aus Grimoires oder Totenbüchern.
Durch meine jahrzehntelange Erfahrung auf diesem Gebiet erwies ich mich schon mehr als einmal nützlich. Professor Martin konnte mir zwar bei vielen Übersetzungen helfen, doch ich brachte die Wörter und Texte in einen sinnvollen Kontext.
Da dieser Teil seiner Arbeit jedoch eher in die Kategorie „Hobby“ fiel, sahen wir uns, wenn überhaupt, zwei- bis dreimal im Jahr. Nun war es mal wieder so weit.
Ich ging vorbei am Tower, ins Gebäude bis zum Büro des Professors. Das Innere des Bürogebäudes, indem sich vorwiegend Professoren und Doktoren angesiedelt hatten, wirkte durch seine kahlen Betonwände trist und trotz der pulsierenden Studentenmassen leblos. Auf den Stühlen im Flur vor dem Büro saßen wartende Studierende. Da ich keinen Termin mit Professor Martin vereinbart hatte, setzte ich mich dazu und wartete ebenfalls.
Die Studentin auf dem Stuhl neben mir musterte mich kurz.
„Schreibst du bei Professor Martin deine Arbeit oder bist du auch wegen der Doktorandenstelle hier?“
Die Frage überraschte mich überhaupt nicht, immer wenn ich Colleges betrete, gehen die Studenten davon aus, dass ich einer von ihnen sei. Trotz meines schon beachtlichen Alters schätzen mich die meisten Menschen auf Mitte bis Ende 20.
Mein dem heutigen Wetter geschuldeter Look mit den hochgekrempelten Hemdärmeln, der leichten Weste und dem Messenger Bag aus braunem Leder schrie förmlich nach Hipster-Student. Ich würde meine Hose allerdings nie zu dreiviertel hochraffen, wie es viele junge Männer hier taten.
„Nein, ich besuche den Professor aus privaten Gründen.“
„Das ist gut, die Konkurrenz sollte man nicht fragen, ob sie mit einem einen Kaffee trinken geht.“
Ich muss ihre Blicke falsch gedeutet haben, sie musterte mich nicht, sie machte eine Fleischbeschauung.
„Ich würde liebend gerne ja sagen, doch ich habe heute noch viel zu tun.“
Das stimmte sogar, doch mein eigentlicher Grund der Zurückhaltung lag darin, dass ich mich vor meiner heimlichen Verehrerin oder meinem Verehrer in Acht nahm. Ich wusste nicht, um wen es sich handelte, somit konnte dieser Jemand jederzeit unbemerkt in mein Leben treten.
„Sehr schade, wie wäre es ein anderes Mal? Ich gebe dir meine Nummer.“
Die hübsche, rothaarige Studentin schrieb sie auf einen kleinen Zettel und drückte sie mir in die Hand. Ich steckte sie mit einem Lächeln ein.
Falls es sich bei ihr nicht um meine Pinguin schenkende Verehrerin handelte, wäre ich einer Verabredung nicht abgeneigt.
Es ist nicht so, dass ich keine Dates hätte, doch leider geht es selten darüber hinaus. Beziehungen dauern bei mir nie länger als ein paar Monate. Entweder stellen meine Partner oder Partnerinnen nach einiger Zeit fest, dass ich durch meine Arbeit wenig Zeit für sie habe oder sie realisieren, dass ich das Magier-Dasein nicht bloß als Gag auffasse, sondern es bitterernst meine.
Das ist meist der Punkt, an dem sie mich für einen Spinner halten und davonlaufen. Ich hatte auch schon Beziehungen zu nicht-menschlichen Wesen, doch gab es da ganz andere Tücken, die sogar mich zwangen, Schluss zu machen.
Bevor ich mir weiter den Kopf über mein nicht vorhandenes Liebesleben machen konnte, öffnete Professor Martin die Tür. Ein verunsicherter Student huschte aus seinem Büro, während Professor Martin durch seine dicken Brillengläser um die Ecke schaute, um weitere Bewerber ausfindig zu machen.
Der Professor war durchschnittlich groß, trug zu jeder Jahreszeit Hemd und Pollunder mit farblich passenden Chinohosen und erinnerte in seiner Gestalt nicht unwesentlich an den Weihnachtsmann. Seinen weißen Vollbart stutzte er jedoch zu kurz, um als Coca Cola-Werbemaskottchen Erfolg zu haben. Sein Blick blieb an mir hängen.
„Mr. Blackwood, ich hätte Sie so früh nicht zurückerwartet. Haben Sie Fragen zu dem geliehenen Buch?“
Ich stand von dem harten Wartebereichsstuhl auf und schüttelte Professor Martin die Hand.
„Hey Professor, ich habe Probleme bei der Übersetzung einiger Seiten gehabt und hoffte, Sie könnten mir helfen.“
Er machte eine einladende Handbewegung.
„Kommen Sie doch rein, Ms. Peterson kann sicher noch kurz warten.“
Ms. Peterson nickte dem Professor wie ein kleines, schüchternes Kind zu, dem von Erwachsenen erklärt wird, bis wie viel Uhr es wach bleiben darf.
Der Prof und ich gingen gemeinsam in sein großes, lichtdurchflutetes Büro und schlossen die Tür hinter uns. Links und rechts neben der langgezogenen Fensterfront standen extra für das Büro maßgefertigte Bücherregale aus massivem Holz. Diese waren bis zum letzten Fleck über und über mit Lehrwerken gefüllt. An der Wand, in der sich auch die Eingangstür befand, hingen neben dieser Steintafeln, in welche fremdartige Symbole gemeißelt waren. Der schwere Antikholzschreibtisch, der das Zentrum des Büros bildete, war übersät mit Ordnern, Papieren und aufgeschlagenen Büchern.
Professor Martin ließ sich in seinen gemütlichen Bürostuhl fallen, während ich auf dem Besuchersessel auf der gegenüberliegenden Schreibtischseite Platz nahm.
Ich holte das schwere, samt-blau eingebundene Buch aus meiner Tasche und schlug es auf der Schnipsel-Seite auf. Neben die Buchabbildung legte ich meine Zeichnung.
Professor Martin sah sich beides genau an und runzelte die Stirn.
„Sie haben sich da etwas vermalt. Das Symbol im Buch wird von anderen Zeichen gerahmt als Ihres, Mr. Blackwood.“