Blauer Tod - Im Netz des Terrors - U.T. Bareiss - E-Book
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Blauer Tod - Im Netz des Terrors E-Book

U.T. Bareiss

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Beschreibung

Eine fanatische Sekte, Delfine, die als Waffen eingesetzt werden, und eine Behörde mit düsteren Geheimnissen ...

Nach einer Epidemie werden in Kenia ganze Dörfer niedergebrannt. Über der sudanesischen Wüste verschwindet ein Flugzeug mit einer tödlichen Ladung vom Radar - weltweit häufen sich mysteriöse Ereignisse. Als im Roten Meer nach einer Terrordrohung verstümmelte Delfine auftauchen, wird der Meeresbiologe Alex Martin zu einer verdeckt ermittelnden Spezialeinheit hinzugezogen. Er stößt auf eine Verschwörung globalen Ausmaßes - und muss sein eigenes Leben aufs Spiel setzen, um unzählige andere zu retten.

»Sehr lebendig und spannungsreich.« Cannstatter Zeitung

eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung!


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Seitenzahl: 711

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Inhalt

Cover

Weitere Titel der Autorin

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

Epilog

Nachwort und ein dickes Dankeschön

Weitere Titel der Autorin

Roter Ozean – Im Fahrwasser der Macht

Weißes Gold – Im Sog der Gier

Schwarze Gier - Die Spur der Angst

Über dieses Buch

Eine fanatische Sekte, Delfine, die als Waffen eingesetzt werden, und eine Behörde mit düsteren Geheimnissen ... Nach einer Epidemie werden in Kenia ganze Dörfer niedergebrannt. Über der sudanesischen Wüste verschwindet ein Flugzeug mit einer tödlichen Ladung vom Radar – weltweit häufen sich mysteriöse Ereignisse. Als im Roten Meer nach einer Terrordrohung verstümmelte Delfine auftauchen, wird der Meeresbiologe Alex Martin zu einer verdeckt ermittelnden Spezialeinheit hinzugezogen. Er stößt auf eine Verschwörung globalen Ausmaßes – und muss sein eigenes Leben aufs Spiel setzen, um unzählige andere zu retten.

Über die Autorin

»Träume nicht dein Leben, sondern lebe deinen Traum!« So machte sich U. T. Bareiss Anfang des Millenniums zur Weltumsegelung auf und verlegte ihr Schreib- und Übersetzungsbüro von Stuttgart an Bord ihres Segelkatamarans. Gemeinsam mit ihrem Mann erforscht sie die Welt über und unter Wasser. Was könnte besser zum Abtauchen in andere Welten inspirieren als exotische Plätze und fremdartige Kulturen? Nicht nur in ihren Reiseberichten für diverse Magazine, sondern auch in spannungsgeladenen Thrillern und Jugendkrimis spiegeln sich aufregende Situationen ihres Alltags facettenreich wider. Unter dem Pseudonym Helen Paris schreibt die Autorin auch Liebesromane.

Die Thriller-Reihe um den Meeresbiologen Dr. Alexander Martin spielt an verschiedenen maritimen Schauplätzen, welche die Autorin auf ihrer Weltumsegelung erkundet hat.

Mehr Infos gibt es unter: www.weltenbummler-blog.de

U.T. Bareiss

Blauer Tod

Im Netz des Terrors

Ein Alex-Martin-Thriller

Digitale Neuausgabe

»be« - Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2018 by Ute Bareiss

Originalverlag: Kieselsteiner Verlag, Stuttgart

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat/Projektmanagement: Kathrin Kummer

Covergestaltung: Guter Punkt GmbH Co. KG

unter Verwendung von Motiven © Peter Jurik/Adobestock; Sunny Forest/Adobestock; Bluberries/ iStock / Getty Images Plus;eugenesergeev/ iStock / Getty Images Plus;

eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar

ISBN 978-3-7517-1493-8

be-thrilled.de

lesejury.de

Für Benny und Säsch

Nur eine Tante

kann dich umarmen wie eine Mutter,

deine Geheimnisse bewahren wie eine Schwester

und dich lieben wie ein echter Freund.

Es würde sehr wenig Böses auf Erden getan werden,

wenn das Böse niemals im Namen

des Guten getan werden könnte.

(Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach)

Prolog

»Die Maschine hat an Höhe verloren und ist vom Kurs abgewichen. Wir haben keinen Funkkontakt mehr.«

»Transpondersignal?«

»Negativ.«

Es dauerte einige Sekundenbruchteile, bis die Nachricht in die Köpfe der Umstehenden eingedrungen war. Mit einem Schlag endete das geschäftige Treiben und es wurde totenstill, als hätte jemand den Lautstärkeregler abgedreht. Das Summen der Computerlaufwerke erschien übernatürlich laut.

Dreiundzwanzig Augenpaare starrten auf die Leitbildwand, auf der nun der bisherige Kurs der Challenger 650 in Großaufnahme zu sehen war. Die Flugstrecke mit Ziel Rom hatte von Marsabit im Norden von Kenia über Äthiopien geführt, und auch im Sudan war der Jet noch mehr als hundert Meilen der ursprünglich geplanten Route gefolgt. Warum dieser Höhenverlust? Und warum flogen sie nun zehn Grad weiter östlich?

Eisige Kälte kroch in Special Agent Jonathan Bennetts Glieder, und er zuckte zusammen, als die Stimme von Direktor Adams durch die Zentrale schallte: »Ich will die Satellitenbilder auf dem Monitor. Simpson, Sie überprüfen, ob es seitens Khartums Gründe für die Kursabweichung gibt. Probleme im Luftraum oder dergleichen. Richards, vergleichen Sie auf dem Radar mit den Transpondersignalen der anderen Flugzeuge und starten Sie eine Abfrage.« Er wandte sich nach rechts. »Lincoln, Sie checken jeden Schritt des Ladevorgangs. Besteht die Chance, dass jemand außer unseren Leuten an Bord sein könnte?«

Außer unseren Leuten, hallte es in Jonathans Ohren nach. Drei seiner besten Agenten begleiteten das als Rückkehr eines Hilfsgütertransports getarnte Flugzeug. Nur wenige Eingeweihte wussten, welche tödliche Ladung der Learjet transportierte. In seiner gesamten Laufbahn als Special Agent und späterer Abteilungsleiter bei der CIA hatte er noch nie solch eine strenge Geheimhaltungsstufe erlebt wie bei der Operation Blue.

Mit zu Fäusten geballten Händen fixierte er das Flugzeug, als könnte er damit die Flughöhe oder den Kurs beeinflussen, doch es sank stetig mit einer Abweichung um weitere zehn Grad nach Osten.

Gab es technische Probleme, die den Piloten zu einer Notlandung zwangen? Ein Komplettausfall der Elektronik, was den Ausfall von Funk und Transponder erklären würde? Das Flugzeug war noch nicht lange in der Luft – Kraftstoff konnte nicht das Problem sein, zumal der Flieger über zusätzliche Treibstofftanks verfügte, die seine normale Reichweite von viertausend Meilen um nochmals fünfzig Prozent erhöhten. Auch wenn sich die Windverhältnisse zu ihren Ungunsten geändert hatten, sollte mehr als genug Sprit vorhanden sein.

Die Minuten rasten vorbei, und mit jedem verlorenen Höhenmeter und jedem Grad Kursabweichung stieg die Spannung im Raum. Man konnte die Luft fast greifen, so dick war sie inzwischen.

»Wir haben auf dem Radar ein Flugobjekt mit einem geänderten Transpondercode. Es korrigiert den Kurs zunehmend und baut Höhe ab«, berichtete Richards mit gepresster Stimme.

»Ich habe den kompletten Ladevorgang überprüft. Wenn derjenige keinen Tarnumhang getragen hat, kann niemand außer unseren Leuten in der Maschine sein«, übertönte Lincolns tiefer Bass das Stimmengewirr.

Unverzüglich besaß er die gesamte Aufmerksamkeit.

Allen war klar, was dies zu bedeuten hatte: In ihrer Mitte befand sich ein Verräter. Beziehungsweise saß er an Bord der Challenger.

»Miller, rufen Sie den Verteidigungsminister an.« Die Stirnfalten des Direktors standen der Bügelfalte seiner Hose an Schärfe in nichts nach. »O'Donnell, Sie geben uns detaillierte Satellitenbilder aus der Gegend auf die Wand.«

Der Jet flog aktuell in sechsundzwanzigtausend Fuß Höhe über ein Wüstengebiet, Tendenz weiter sinkend. Meilenweite Öde, nur Sand und Felsen. Der nächste offizielle Flughafen lag in der sudanesischen Hauptstadt Khartum. Doch etwas sagte Jonathan, dass der Learjet keinen offiziellen Flughafen ansteuern würde – sollte der Flieger tatsächlich landen wollen.

»Wir müssen nach sämtlichen Landemöglichkeiten Ausschau halten.«

Sie konnten sich ersparen zu fragen, wer trotz höchster Geheimhaltungsstufe Interesse an dem Virus haben könnte. Es wäre für jeden Staat die tödlichste Waffe, die man sich vorstellen konnte. Wo immer das Virus sich verbreitete, würde es eine verheerende Pandemie auslösen, die geradezu einem Genozid gleichkam.

Die Auswirkungen, die er in Kenia miterlebt hatte, drängten sich in sein Gedächtnis. Menschen, die schreiend vor Schmerzen elendig verreckt waren, während ihnen das Blut aus allen Körperöffnungen geschossen war.

»Wir haben in Flugrichtung zwei Militärflughäfen und etwas bislang Unbekanntes, das durchaus ein Hangar sein könnte.« O'Donnell beamte die Luftaufnahme eines Wüstenareals auf die Leinwand und zoomte in einen Fleck, der sich zuerst kaum von der rotbraunen Umgebung abhob. Erst bei der näheren Betrachtung konnte man eine riesige Halle – gut getarnt in Erdfarben – erkennen. Der Überwachungsspezialist deutete mit einem Laserpointer auf die breiteren Spuren, die deutlich als Reifenabdrücke erkennbar waren. »Diese stammen von einem oder mehreren Geländefahrzeugen und die anderen«, der rote Punkt markierte schmalere, vierspurige Einbuchtungen im Sand, »könnten sehr gut von einem Flugzeug stammen.« Er vergrößerte eine ebene, braune Fläche. »Vermutlich liegt darunter eine Landebahn verborgen.«

»Kendall, versuchen Sie, Fluggenehmigungen von der sudanesischen Regierung zu erhalten, damit unsere Leute schnellstmöglich sämtliche potenzielle Landemöglichkeiten überprüfen können.« Der Direktor presste die Lippen für einen Moment zusammen, bevor er sich räusperte. »Das Flugzeug darf jedoch keinesfalls landen.«

Auch wenn sie sich alle von Anfang an der Konsequenzen bewusst gewesen waren, schwebten die Worte wie ein bleierner Dunst im Raum.

»Malcolm ist gerade Vater von Zwillingen geworden, eine Frühgeburt. Er hat seine Söhne noch nicht mal gesehen«, murmelte Connor, ein schlanker Blonder mit schütter werdendem Haar. »Es hätte sein letzter Einsatz werden sollen.«

Direktor Adams reagierte nicht auf den Einwurf, doch an den zuckenden Wangenmuskeln, die aus dem hageren Gesicht hervorstachen, war zu erkennen, dass er ihn sehr wohl gehört hatte.

Unwillkürlich drängte sich auch Jonathan das verschmitzte Lächeln von Malcolm ins Gedächtnis. Die dunkle Haarsträhne, die ihm immer ins Gesicht fiel und einen jungenhaften Ausdruck verlieh. Was er wohl gerade dachte?

Er würde seine Söhne niemals kennenlernen.

»Wie viel Zeit bleibt uns noch, Direktor?« Am liebsten hätte Jonathan dieses Flugzeug auf der Leitbildwand festgehalten – doch das Unvermeidbare ließ sich nicht aufhalten.

Ein stechender Blick traf ihn. »Nur wenige Minuten.«

Nur. Wenige. Minuten. Dann wäre das Leben von zwölf tapferen Männern ausgelöscht. Mit ziemlicher Sicherheit waren elf davon rechtschaffene Menschen, die ihr Fleisch und Blut nun der Sinnlosigkeit opferten.

Was hatte diesen einen Menschen dazu getrieben, das Leben seiner Freunde und Kameraden aufs Spiel zu setzen? Die Gier nach Geld? War es eine gut verborgene politische Überzeugung? Auch wenn keiner der Männer an Bord von der Sprengladung im Flieger wusste – der Verräter hätte sich doch denken können, dass er damit nicht durchkommen würde.

Jonathan blickte in die Gesichter der anderen. Schmerz, Fassungslosigkeit und Trauer paarten sich mit Wut. Jeder von ihnen könnte jetzt dort oben sitzen. Die Züge des Direktors schienen in Stein gemeißelt. Jonathan wollte nicht mit ihm tauschen. Den Befehl zu geben, zwölf seiner eigenen Leute zu töten, weil ein Verräter in ihrer Mitte war, kostete Kraft. Doch dagegen standen Millionen von Menschenleben, wenn das Virus in falsche Hände geriete.

Im Nebenbereich, der nur durch eine Glasscheibe abgetrennt war, brach hektisches Treiben aus. Der Einsatz für die Streitkräfte, die zum Landeplatz beordert werden sollten, wurde koordiniert.

Der Funkspruch »Airplane on position fifteen point eight five three degrees north, thirty-four point five one niner degrees east, do you read me? SQUAWK ident«, hallte wie ein Mantra durch den Raum, doch nicht einmal ein Rauschen kam zur Antwort.

Jeder einzelne seiner Mitarbeiter an Bord des Flugzeugs schien Jonathan im Geiste vorwurfsvoll anzustarren und ihn um Beistand anzuflehen, während die Challenger Fuß um Fuß an Höhe abbaute. Brennende Wut schnürte seinen Magen zusammen.

Die Unsicherheit, ob nicht doch ein technisches Problem im Hintergrund stand, machte es nicht besser. Auch wenn keiner der anderen sich etwas anmerken ließ, war er sich sicher, dass es seinen Kollegen ebenso erging.

Immer weiter näherte sich die Challenger dem Boden. Der Sinkflug war zu kontrolliert, als dass er auf ein technisches Problem zurückzuführen wäre. Und immer mehr zeichnete sich ab, dass die anvisierte Landebahn dieser verborgene Platz in der Wüste war. Noch geschätzte sieben Minuten bis zur Landung. Sieben Minuten, die so lang und doch so kurz sein konnten. Das Leben der Männer würde maximal eine Zigarettenlänge dauern.

Die ersten Abfangjäger waren gestartet, die Satellitenüberwachung auf diese Gegend ausgerichtet. Noch zeigte sich keinerlei Aktivität auf dem potenziellen Landefeld.

Die Anspannung konnte man mit den Händen greifen. Saurer Schweißgestank mischte sich unter die stickige Luft, in der bislang Kaffeeduft, menschliche Ausdünstungen und der metallische Geruch geschlossener Computerräume dominiert hatten.

Auf einmal erfüllte hektische Betriebsamkeit einen der Monitore. Ameisengleich wuselten Menschen über das Bild, rollten eine Plane beiseite und wie von Zauberhand zeigte sich eine Landebahn.

Die Gewissheit legte sich schwer wie ein Munitionsgurt auf Jonathans Schultern.

Lass ein Wunder geschehen!

Doch Wunder zeigten sich selten, wenn man sie am dringendsten brauchte.

Der Direktor wartete, bis die Challenger 650 sich auf fünfzehnhundert Fuß Höhe im Landeanflug befand. Dann nickte er abgehackt.

Als ein Feuerball die Leitbildwand erhellte, froren sämtliche Bewegungen im Raum ein. Die Flammen spiegelten sich im Schweiß, der die versteinerten Gesichter überzog.

1. Kapitel

Weinen kann ich nicht,

aber mein Herz blutet.

(William Shakespeare)

Chiang Mai

»Dukkha – Leben ist Leiden. Der Tod ist die Erlösung von den Leiden. Du musst ihn gehen lassen, Alex!«

Die von Altersflecken übersäte Hand, die sich auf seine Schulter legte, zitterte. Obwohl Alex dem Alten zu Füßen kauerte, fühlte er seine eigene Größe und Stärke überdeutlich. Es schmerzte ihn, seinen einstigen Mentor so zu sehen: der Körper gebrechlich, im Rollstuhl sitzend, von der Parkinson-Krankheit geplagt. Doch die Augen leuchteten immer noch hell und klar, wie Bernsteine, wenn man sie in die Sonne hielt. Und sie konnten noch immer auf den Grund von Alex' Seele blicken.

»Ich weiß, Meister«, erwiderte er. Seine heisere Stimme klang ihm selbst fremd.

Ein feines Lächeln zog sich um die Mundwinkel und erreichte die Augen, um die sich ein Netz aus Fältchen zog. »Du weißt es mit deinem Verstand, aber dein Herz kann dem nicht folgen. Du willst nicht loslassen.«

»Er ist doch noch so jung. Gerade mal sechsunddreißig!«

»Selbstverständlich empfinden wir alle die Ungerechtigkeit. Es ist auch für uns grausam, dass Jaidee nun durch den hinterhältigen Schuss in einer Zwischenwelt festhängt. Er hat jedoch als Polizist ein gutes und ehrenvolles Dasein gelebt – seine Leidenszeit war kurz.«

»Aber seine Frau Malee und die beiden kleinen Kinder, sie sind ...«

»Für die Familie werden wir jetzt da sein und gemeinsam das gute Andenken bewahren, wie er als aktiver Mensch war. Auch für sie ist es wichtig, loslassen zu können. Er hat es dir überlassen, die Entscheidung für ihn zu treffen. Wähle die richtige! Für seinen letzten Weg aus diesem Leben ist es bedeutend, in Harmonie zu gehen. Er braucht gute Gedanken. Die Stimmung, die jetzt herrscht, wird er mit hinübernehmen. Gib ihm eine Reise in Frieden und auf dem rechten Weg. Er wird uns nicht wirklich verlassen, nur sein Körper geht an die Natur zurück, aus der er gekommen ist. Die Seele lebt in unserem Geist weiter. Alles ist eins und wird eins bleiben.« Das Lächeln verschwand und der Blick schien jeden Winkel in seinem Innersten zu durchdringen. »Du darfst dabei nicht an dich denken, Alex. Du spürst den Verlust. Wir alle spüren den Verlust, wenn ein geliebter Mensch seinen Weg geht, uns damit im Irdischen genommen wird. Doch das Leben ist ein Kreislauf, wie ein Regentropfen, der vom Himmel in den Ozean fällt, der ihn geboren hat. Die Freude, dass er nun auf dem Weg in ein besseres Leben oder ins Nirwana ist, sollte auch dich glücklich machen. Lass die negative Energie nicht über dich siegen, du trägst sie wie eine Aura um dich. Sie hilft niemandem weiter. Du brauchst Kraft, um für die Familie da zu sein und dein irdisches Dasein so zu leben, dass du einmal zufriedenen Herzens den Weg antreten kannst. Sei bescheiden.«

Beschämt senkte Alex den Kopf. Sein Mentor hatte recht. Er dachte nur an sich. Für seinen Freund und Bruder bedeutete es die Erlösung von den Leiden, aus diesem untragbaren Zustand.

Der Alte packte ihn an der Schulter. Trotz Parkinson war der Griff immer noch fest. »Denk daran: Die Erinnerung kann dir keiner nehmen. In deinem Herzen wird er weiterexistieren, auch wenn du ihn jetzt gehen lässt. In unser aller Herzen. Niemand wird verschwinden, denn er lebt in unserem Andenken weiter. Es ist alles ein Ganzes – nichts wird genommen, nichts wird gegeben. Es findet nur ein Ausgleich statt. Er wird seinen Weg finden. Und es wird ein guter Weg sein – wenn du ihm die Möglichkeit gibst.«

Alex nickte. Sein Adamsapfel hüpfte schmerzhaft, als er trocken schluckte.

Die Stimme des Alten wurde sanft und monoton. »Schließ deine Augen! Lass uns einen Augenblick innehalten und ihm unsere guten Gedanken senden.«

Durch die Hand auf seiner Schulter schien eine unsichtbare Kraft in Alex' Körper zu fließen.

Atme, Alex! In der Ruhe liegt die Kraft. Lass das Chi in deinem Körper fließen. Atme!

Er konnte nicht einmal sagen, ob der Alte wirklich laut gesprochen hatte, oder ob die Stimme in Erinnerung an frühere Zeiten in ihm hallte. Langsam wurde er ruhiger.

Er rief sich die schöne Zeit mit Jaidee vor Augen – sein herzerfrischendes Lachen, die den Thailändern eigene Fröhlichkeit, die nie zu versiegen schien. Sah ihn, wie sie Seite an Seite für die Gerechtigkeit gekämpft hatten. Jaidee, der trotz des Bösen, mit dem er tagtäglich in seinem Beruf als Polizist umgeben gewesen war, niemals aufgehört hatte, an das Gute zu glauben und dafür einzustehen. Der nie aufgab, das Beste aus sich selbst und anderen herauszuholen. Wie oft hatte Jaidee ihn erbarmungslos weitergetrieben, wenn er im Training ermattet am Boden gelegen hatte? Trotzdem hatte er immer gewusst, wann es an der Zeit war, aufzuhören.

Jaidees friedvolles Lächeln erschien vor seinen Augen. Es ist genug, Alex. Die Zeit ist gekommen.

Das Prickeln hinter den Lidern schwand und auch die eiserne Kralle um seinen Magen löste sich, als Alex den Atem einströmen und langsam wieder entweichen ließ.

Es war gut, dass er hergekommen war zu diesem Mann, der ihn einst, auf Jaidees Geheiß hin, aufgenommen und ihm ein Leben gegeben hatte, nachdem er, als ungestümer Junge; nach dem Tod des Vaters in ein tiefes, schwarzes Loch gestürzt war.

Eine Sache wollte, nein, musste er für seinen persönlichen Frieden noch erledigen, dann würde er loslassen.

*

Deutschland

Die geschlossene Wolkendecke riss auf, als der Airbus A350 zum Landeanflug auf den Stuttgarter Flughafen ansetzte, und offenbarte ihm einen Blick auf das unter ihm liegende Neckartal. Alex zwang sich aus den bohrenden Gedanken zurück in die Gegenwart und drückte die Wange gegen die kühlende Scheibe. Obwohl er das halbe Leben im Ausland verbracht hatte, war Deutschland immer noch die Heimat, die ihm ein warmes Gefühl im Inneren verursachte. Wie durch ein Stroboskop tauchten die Bilder seiner Jugend vor seinem geistigen Auge auf. Sein Vater und sein Onkel, die ihn aufgezogen hatten. Die Freunde, die er in den letzten Jahren der Abwesenheit viel zu sehr vernachlässigt hatte und die ihn trotzdem immer wieder aufnahmen, als sei er nur ein paar Tage weggewesen.

Nachdem sein Koffer, den er als Sondergepäck aufgegeben hatte, endlich auf dem Gepäckband erschien, steuerte er auf das grüne Schild »Anmeldefreie Waren« zu.

Plötzlich sprach ihn eine Stimme von der Seite an – ein Zollbeamter, der vermutlich in seinem Alter, Mitte dreißig, war: »Würden Sie bitte mitkommen? Zollkontrolle.«

Alex konnte nicht sagen, ob es an den schulterlangen blonden Haaren lag, die von ständiger Sonne und Salzwasser ausgebleicht waren, und ihm, wie er öfter zu hören bekam, das Surfertypen-Image verpassten, oder daran, dass er aus Thailand kam. Mit der verschlissenen Jeans und dem ausgebleichten dunkelblauen T-Shirt mit dem großen Fischsymbol sah man ihm den Wissenschaftler auch nicht unbedingt auf den ersten Blick an.

Er folgte dem Beamten hinter einen abgeschirmten Bereich, wo ihn eine streng aussehende Endvierzigerin erwartete.

»Haben Sie etwas zu verzollen?«, fragte sie scharf.

Alex unterdrückte ein Seufzen. »Nein, nichts.«

»Würden Sie bitte Ihren Koffer öffnen?«

Während Alex an den Gurtbändern nestelte, studierte der Beamte seinen Reisepass.

»Dr. Alexander Martin, Sie kommen aktuell aus Thailand?«

»Richtig.«

»Waren Sie im Urlaub?«

Hatte in der Stimme ein unterschwelliger Vorwurf gelegen, dieses Stigma, das alleinstehenden männlichen Thailand-Touristen oft anhaftete?

»Ich bin dort stationiert.« Und kein Sextourist, lag Alex auf der Zunge.

Während der Beamte den Pass durchblätterte, dessen Seiten von Stempeln übersät waren, fragte er: »Was machen Sie beruflich?«

Das geht dich gar nichts an, und ich muss das nicht beantworten, verkniff er sich. Sein Gegenüber hatte auch nur einen Job zu erledigen und er hatte schließlich nichts zu verbergen.

»Ich bin Meeresbiologe.«

Die bislang angespannte Miene des Zollbeamten löste sich etwas.

»Was ist das?«, erklang die scharfe Stimme der Kollegin, die sich Handschuhe übergezogen hatte und an der weißen Styroporbox zu schaffen machte.

»Das sind Probengefäße. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie sie nicht durchschütteln würden.« Er deutete auf den großen Aufkleber auf dem Koffer. »Nicht umsonst muss dies pfleglich behandelt werden.«

Seine Ungehaltenheit konnte er nur mühsam unterdrücken, als er die dazugehörigen Papiere aus der Seite der Kiste zog und sie ihr aushändigte. Im Grunde begrüßte er ja, dass nach Tiertrophäen gefahndet wurde, er war jedoch momentan einfach nur müde.

»Aber das sind doch Korallen?«

»Genau, Zuchtkorallen aus künstlich angesiedelten Riffen.« Er deutete auf die Papiere.

Nach einigen Diskussionen ließen sie ihn weiterziehen.

Sein Unmut verschwand schnell, als er zwischen den auf die Ankommenden Wartenden einen Aufschrei hörte: »Alex!«

Leuchtend blaue Augen blitzten unter einer gleichfarbigen Haarsträhne auf. Süße Grübchen in Form von Halbmonden lachten ihm entgegen. Das Klingen von Hannahs Silberreifen konnte er durch die Menschenmenge hören, als sie wild mit ausgestrecktem Arm winkte. Kaum hatte er sich durch die Hinauseilenden gekämpft, fiel sie ihm um den Hals und drückte ihre Lippen auf seine. Er hob sie hoch und wirbelte sie herum.

»Uah, du Verrückter, lass mich runter!« Sie trommelte gegen seine Brust. »Ich bin viel zu schwer.«

»Quatsch! Was du wieder hast«, sagte er lachend, bevor er sie von sich schob und musterte. »Du hast deine Haare abgeschnitten.« Er wuschelte durch die nackenlange schwarze Kurzhaarfrisur, die asymmetrisch geschnitten war. »Schade drum, aber es steht dir. Sieht frech aus, das passt.«

»Dir gebe ich gleich frech!« Sie pustete sich gegen den blauen Pony. »Jetzt habe ich über dreißig Jahre die Haare lang getragen – es war an der Zeit für eine Veränderung.«

»Das sehe ich.« Grinsend deutete er auf die beige Leinenhose und das passende kurze Oberteil. Es wirkte schick. »Auch dein Kleiderstil hat sich geändert. Wo sind die Pippi-Langstrumpf-Klamotten geblieben?«

Hannah streckte ihm die Zunge raus, erwiderte aber sein Lachen. »Ach, das ist nur temporär. Ich habe heute einen Termin in Stuttgart bei einer Agentur. Erzähle ich dir unterwegs.« Sie fasste in ihre gehäkelte Umhängetasche – wenigstens die hatte sie noch. Ebenso wie ihren Schmuck – die Ohrringe, die sich einer neben dem anderen die Ohrmuscheln nach oben zogen, eine breite hölzerne Halskette, Lederbänder und Silberreifen am Arm und wechselnde Ringe, die nur eines gemein hatten: Sie waren groß und auffallend.

Sie ließ ihren heutigen Fingerschmuck aufblitzen – eine riesige Sonnenblume, die auch die beiden danebenliegenden Finger bedeckte – und drückte ihm eine Tüte ihrer heimischen Stamm-Bäckerei in die Hand. »Hier, ich habe dir eine Butterbrezel mitgebracht.«

»Du bist die Beste. Danke.«

Sie schnappte sich den Rucksack, ohne sich um seinen Protest deswegen zu kümmern, und hängte ihn sich über die Schulter. »Komm, nimm dein Kofferungetüm und lass uns rausgehen – ich stehe vor der Abflughalle im Parkverbot.«

»Typisch.« Lachend folgte er ihr zu ihrem 2 CV, der in demselben Himmelblau wie ihre Fingernägel lackiert war.

Glücklicherweise hing kein Strafzettel hinter dem Scheibenwischer, obwohl eine Ente heutzutage Aufsehen erregte.

»Du hast Emma noch«, stellte er fest.

»Ja. Wobei sie mir in letzter Zeit manchmal Sorgen macht, aber ...«, sie klopfte liebevoll aufs Wagendach, »das kriegen wir beide schon hin.«

Tatsächlich sprang Emma auf Hannahs gutes Zureden auch bereits beim dritten Startversuch an. Ein Knattern drang ins Wageninnere, das ihm unter die Haut ging. Nichts übertraf den Sound alter Autos und Motorräder.

»Na, mit ihren irgendwas-über-vierzig Jahren ...«

»Zweiundvierzig.«

»Mit ihren zweiundvierzig Jahren darf sie ab und zu schwächeln.«

»Meinst du, das dürfen wir auch bald?«, feixte Hannah.

»Ein paar Jährchen müssen wir dafür noch durchhalten, aber dann ...« Er zwinkerte ihr zu.

Während sie sich darauf konzentrierte, die richtige Abfahrt auf dem Echterdinger Ei in Richtung Stuttgart-Vaihingen zu finden und dabei an der Sendereinstellung des Retro-Radios schraubte, um den Rocksender sauber einzustellen, der Hits der Siebziger und Achtziger spielte, aß er genüsslich seine Brezel. Es gab nicht viel, was ihm im Ausland fehlte, aber Deutschland hatte eindeutig das beste Brot.

»Danke, dass du mich abgeholt hast. Ich hätte sonst auch den Zug genommen.«

»Klar, mit Gepäck in der S-Bahn zu deinem Institut nach Vaihingen, danach mit der S-Bahn in die Stadt, mit dem Zug nach Tübingen und dann ein Taxi. Du spinnst doch!« Sie winkte ab und brachte damit wieder ihre Silberreifen zum Klingen. »Für meinen Lieblingsvermieter tue ich alles.«

Er erntete einen spitzbübischen Seitenblick.

»Ich weiß schon, warum du meine Lieblingsmieterin bist«, erwiderte er schmunzelnd.

»Schleimer«, gab sie trocken zurück.

»Wie viele Vermieter hast du denn?«, konterte er.

Sie zeigte ihre Grübchen. »Gewonnen, aber ich muss ja eh nach Stuttgart.«

»Was ist das für ein Termin bei dieser Agentur?«

»Erzähle ich dir nachher, wenn es vorbei ist, okay?« Sie wölbte die Unterlippe vor. »Ich bin abergläubisch.«

»Toll! Neugierig machen und dann nichts rauslassen. Du bist mir die Richtige!«, beschwerte er sich spaßhaft. »Alles klar, ich warte gespannt.«

»Ich setze dich an deinem Institut ab und komme nach meinem Gespräch wieder. Du wirst ja heute nicht so lang brauchen, oder?«

Alex schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe nur einen Termin mit meinem Chef. Ansonsten kann ich mir die Zeit frei einteilen. Erst in zwei Tagen muss ich einen Vortrag halten.«

Das Meeresbiologische Institut war nur unweit der Universität angesiedelt, mit der sie eng zusammenarbeiteten. Sie zeichneten für die weltweite Betreuung von Schutzprojekten verantwortlich, das Hauptaugenmerk lag auf Artenschutz und -erhalt.

Nachdem er seine Proben losgeworden war und mit den Laborangestellten geredet hatte, von denen er eine Vielzahl noch nicht kannte, weil es oftmals wechselnde Doktoranden aus dem Ausland waren, fuhr er in die Chefetage, die im vierten Stock lag. Auf einmal überkam ihn ein mulmiges Gefühl. Es war selten vorgekommen, dass er vor Abschluss eines Projektes in den Hauptsitz zitiert worden war. Ob sein Chef ihn wohl zur Rede stellen wollte, weil er sich nun wiederholt um Dinge gekümmert hatte, die nichts mit seiner eigentlichen Arbeit zu tun hatten? Auch wenn der Elfenbeinschmuggel durch das Seegebiet erfolgt war, das er betreute, war die Mitarbeit bei der Ergreifung des Drahtziehers nicht wirklich seine Aufgabe gewesen. Nun ja, immerhin konnte man ihm nicht vorwerfen, dass er seine Arbeit dadurch vernachlässigt hatte. Auch in der Forschung war er in der Lage, einige Erfolge vorzuweisen.

Der vertraute Geruch nach Aquarienbecken und Kaffeeduft stieg ihm in die Nase, als sich der Aufzug öffnete. Das Quietschen der Turnschuhsohlen auf dem Linoleum hallte durch den sonst stillen Flur, als er zu den Büroräumen am Ende des Gangs lief.

Die Tür zum Vorzimmer stand offen. Die Chefsekretärin, Frau Kern, hatte ihm den Rücken zugewandt und sortierte Hängeregister in einen Aktenschrank ein. Wie immer hatte sie ihr kurzes, graues Haar adrett frisiert und trug ein schlichtes dunkelblaues Kostüm, das ihre Rundungen kaschierte. Alex schlich sich an und umschlang sie von hinten.

Sie zuckte zusammen und stieß einen kleinen Schrei aus.

Lachend beugte er sich an ihr Ohr. »Hallo, schöne Frau! Ich habe Sie vermisst!«

»Doktor Martin.« Sie giggelte. »Sie sind unmöglich. Ich hätte beinahe alle Akten fallengelassen.«

Sie drehte sich herum und zog die Brille herunter, um sie an der goldenen Kette baumeln zu lassen, die sie um den Hals trug.

»Gut sehen Sie aus, wie immer. Braungebrannt.« Sie kniff die Augen zusammen, als sie sein Gesicht musterte. »Aber müde wirken Sie.«

»Das kommt sicherlich vom langen Flug«, wich er aus.

Sie deutete auf die geschlossene Tür zum Nebenraum. »Der Chef hat noch Besuch, möchten Sie einen Kaffee?«

»Das wäre toll. Sie sind ein Schatz.«

Während sie schon geschäftig nach nebenan in die Kaffeeküche eilte, ließ Alex seine Blicke von dem Fenster, vor dem sich üppig grüner Wald ausbreitete, in den Raum schweifen. Alles war penibel aufgeräumt, wie immer. Auf dem Schreibtisch lag nur die aktuelle Korrespondenz, feinsäuberlich aufgeschichtet, daneben standen Monitor, Tastatur, die Telefonanlage, ein rotes Alpenveilchen, im farblich passenden Übertopf, und drei Fotos. Alex nahm das neueste in die Hand.

»Das ist meine jüngste Enkelin, Alina. Zwei Monate alt«, sagte Frau Kern mit sichtlichem Stolz, während sie das Geschirr auf einem Tablett balancierte.

»Diese großen himmelblauen Augen! Total süß! Eine echte Schönheit – wie ihre Großmutter.«

»Sie Schmeichler.« Kichernd stellte sie das Getränk ab und zupfte an ihrem roten Schal. »Wie vielen jungen Dingern haben Sie wieder den Kopf verdreht?«

Treuherzig blinzelte er sie an. »So etwas sage ich nur zu Ihnen.«

Sie drohte ihm lächelnd mit dem Finger, bevor sie auf das Tablett deutete. »Ein Kaffee in einer großen Tasse mit zwei Löffeln Zucker, wie Sie es gern mögen. Und ich habe Ihnen eine Butterbrezel besorgt – wenn Sie schon mal wieder im Ländle sind.«

Besser er sagte ihr nicht, dass Hannah dasselbe gedacht hatte. Stattdessen bedankte er sich mit Begeisterung. »Sie sind so gut zu mir.« Er biss hinein, sorgsam darauf bedacht, nur auf den Teller zu krümeln, um nicht den grauen Veloursteppich zu verschmutzen, auf dem sich noch die Staubsaugerspuren wie mit dem Lineal gezogen abzeichneten.

Verschwörerisch beugte sie sich über den Tisch. »Der Chef hat sehr begeistert von Ihren Erfolgen beim Korallenwachstum gesprochen.«

Alex unterdrückte ein Schmunzeln. Dass Dr. Dr. Bauer jemals für irgendetwas sichtlich Begeisterung zeigen könnte, erschien ihm widernatürlich. Wenn er das Wort »distinguiert« hätte beschreiben müssen, wäre ihm sofort sein Chef in den Sinn gekommen. Er gehörte zu der Sorte Mensch, die ihre Apfeltasche zum Grüntee mit Messer und Gabel aßen. Dr. Dr. Bauer war vermutlich der Einzige, dem der doppelte Doktortitel auf den Leib geschneidert war und bei dem sich niemand daran störte, dass er auch genannt wurde.

Just in dem Moment öffnete sich die Tür.

Selbst das Englisch seines Chefs – als käme er geradewegs aus Oxford – klang so vornehm wie die ganze Erscheinung war, als er seinen Besuch, einen Asiaten, der ihm lediglich bis zur Brust reichte, verabschiedete. Dr. Dr. Bauer stammte zwar aus Hannover, er hätte jedoch auch hervorragend einen britischen Earl abgegeben. Wie immer trug er einen eleganten grauen Anzug mit Krawatte und für einen Moment wünschte sich Alex, er hätte sich nicht nur kurz frisch gemacht und das T-Shirt gegen ein weißes Hemd getauscht, sondern auch die Hose gewechselt und wäre nicht in den verwaschenen Jeans und Chucks hier herein geschlappt. Doch dann zuckte er innerlich mit den Schultern und erwiderte den festen Händedruck.

»Doktor Doktor Bauer – schön, Sie zu sehen!«

»Doktor Martin! Ich grüße Sie!« Sein Lächeln schien ehrlich und es beruhigte Alex jedes Mal, die etwas schief stehenden Zähne zu sehen, die dem sonst so perfekten Äußeren wenigstens einen Tick der Strenge nahmen.

Der Leiter des Meeresbiologischen Institutes war einer der wenigen Menschen in seinem näheren Umfeld, die Alex überragten, auch wenn er schmaler gebaut war. Er passte gerade so unter dem Türrahmen durch, ohne sich bücken zu müssen. es fehlten nur wenige Millimeter, bevor sein sorgfältig gescheiteltes silbergraues Haar den Holm gestreift hätte. Obwohl er sich tadellos hielt, hatte er den leicht vornüber geneigten Gang, der sehr großen Menschen häufig zu eigen war.

»Hatten Sie einen guten Flug?«

»Ja, alles verlief problemlos, danke.«

»Nehmen Sie Platz.« Dr. Dr. Bauer deutete auf den Besucherstuhl, während Frau Kern schon eilfertig das Geschirr des vorigen Besuchers entfernte und Alex' Tasse auf einem Untersetzer auf dem Glastisch abstellte. Im Handumdrehen wurde auch Dr. Dr. Bauer ein frischer Tee serviert. Grüntee. Achtzig Grad Wassertemperatur. Zwei Minuten gezogen. Ohne Zucker, ratterte Alex in Gedanken herunter und unterdrückte ein Grinsen.

Sein Chef hielt sich nicht lang mit Vorreden auf. »Ihre Arbeit an dem Projekt in Thailand ist soweit abgeschlossen, Doktor Martin, wenn ich das richtig sehe?«

»Ja, die Naturschutzgebiete stehen, das Korallenaufzuchtprogramm macht große Fortschritte und wir haben inzwischen drei thailändische Biologen sowie einiges an Hilfspersonal angelernt. Es läuft gut an – ich denke, wir können in Kürze übergeben.«

Dr. Dr. Bauer nickte, als hätte er nichts anderes erwartet. »Gut! Ich würde Sie nämlich gern in absehbarer Zeit dort abziehen, wenn das möglich ist?«

Alex zögerte. Sah Jaidee vor sich. Und Malee und die Kinder. Er könnte auch beantragen, in Thailand stationär weiterzuarbeiten. Als er Dr. Dr. Bauers abwartenden Blick auf sich ruhen sah, riss er sich zusammen. »Was haben Sie denn mit mir vor?«, wich er aus.

Nun trat fast so etwas wie ein Strahlen auf die Züge seines Chefs. »Ihre Methode zur Beschleunigung des Korallenwachstums hat Aufsehen erregt.«

Ach ja? Beschämt musste Alex feststellen, dass er in letzter Zeit mit der Jagd auf die Schmuggler vielleicht doch sehr von seiner Arbeit abgelenkt gewesen war. »Die generelle Erfindung stammt ja nicht von mir. Die Gitter unter Strom zu setzen ...«

»Aber der Zusatz der Nährstoffe hat die Effizienz enorm erhöht.« Dr. Dr. Bauer lächelte. »Das Vorgehen läuft schon im Allgemeinen unter der Bezeichnung ›Martin-Methode‹.«

Alex riss die Augen auf. »Das war nicht allein mein Verdienst. Wir sind ja eine ganze Truppe. Zusammen mit Monica Faber hab ...«, wiegelte er ab, doch sein Chef fiel ihm schon wieder ins Wort, ohne sich um den Einwand zu kümmern.

»Wir würden die Methode gern an einigen anderen Destinationen rund um den Globus – vorerst Bora Bora und den Andamanen Inseln in Indien – ausprobieren. Dort laufen die Vorbereitungen bereits. Diese beiden Orte sind stark vom Korallensterben betroffen. Weitere Ziele sollen in Kürze folgen. Es wäre schön, wenn Sie die weltweite Koordination übernehmen würden. Dazwischen sind dann immer wieder Vortragsreihen an Universitäten und Instituten hier in Europa, den Staaten und Asien geplant. Auch Australien hat bereits Interesse bekundet. Das Great Barrier Reef leidet momentan wesentlich stärker unter Korallensterben als bislang angenommen wurde. Selbstverständlich wird Ihnen jeweils vor Ort die Möglichkeit zu weiteren Forschungen gegeben.« Er zuckte mit dem linken Augenlid, was man mit etwas Fantasie als joviales Zuzwinkern betrachten könnte. »Sie haben schließlich schon einige Erfolge vorzuweisen – wir wollen uns Ihre innovativen Ideen auch weiterhin nicht entgehen lassen. Was sagen Sie, Doktor Martin?«

Alex schwirrte der Kopf. Er war davon ausgegangen, eine Rüge zu erhalten, und nun so etwas! Eine Methode, die seinen Namen tragen würde. Die weltweite Leitung. Vorträge in allen wichtigen Universitäten und Instituten der Welt. Forschungen.

Das war eine Beförderung um gleich mehrere Stufen.

Dr. Dr. Bauer schien seine Sprachlosigkeit falsch zu deuten. »Es ist mir natürlich klar, dass das für Sie konstantes Reisen bedeuten wird, aber bislang bin ich davon ausgegangen, dass Ihnen das liegt. Sie sind doch noch ungebunden?« Sein Blick wurde fragend.

Alex befeuchtete seine trockene Kehle mit einem Schluck inzwischen kalt gewordenen Kaffees. »Ja, das bin ich.« Und werde ich auch bleiben. »Ich fühle mich sehr geehrt.«

Er merkte selbst, wie lahm das klang. Was war nur mit ihm los? Da bot sich ihm eine einmalige Chance ... Und Malee hatte ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass seine ständige Anwesenheit in Thailand nicht erforderlich war.

Wieder unterbrach sein Chef die rasenden Gedanken. »Die Stromversorgung mit seewasserbeständigen Photovoltaikanlagen hat dem Ganzen noch einen extra positiven Schub gegeben – ich denke, da sollten wir dranbleiben.«

Heiß wallte die Scham in Alex auf. Natürlich hatte er die Stromversorgung im Auge gehabt, als er sich Erkundigungen eingeholt hatte, doch da war auch eine gehörige Portion Eigennutz im Spiel gewesen, als er sich auf die Suche nach dem vermeintlichen Anbieter gemacht hatte – direkt in die Höhle des Löwen.

Dr. Dr. Bauer war anscheinend nicht fertig. »Und bevor ich es vergesse: Zu dem Thema soll es eine Publikation geben. Vielleicht kann sie Frau Doktor Faber dabei unterstützen oder jemand aus ihrem gegenwärtigen Team?«

Ein Buch schreiben auch noch?

»Monica ... Frau Doktor Faber«, korrigierte Alex schnell, »unterstützt mich sicherlich. Was ist denn für sie weiterhin geplant?«

»Momentan steht es offen. Sie klingen, als hätten Sie hierzu einen konkreten Vorschlag?«

»Gegebenenfalls könnte sie die Leitung einer der Destinationen vor Ort übernehmen. Sie ist eine sehr kompetente Wissenschaftlerin und war stark in die Entwicklung der Methode involviert.«

Seine aktuelle Stellvertreterin würde sich sicherlich freuen, wenn sie selbst eine leitende Stellung erhielt.

»Das können wir auf jeden Fall ins Auge fassen.« Sein Chef legte die Fingerspitzen gegeneinander und sah ihn prüfend an. »Ich bin offen gestanden etwas erstaunt. Sie sind sonst so lebhaft, Doktor Martin, ich hatte mehr Begeisterung erwartet.«

Wieder jagte die Beschämung Hitzewellen durch seinen Körper. »Verzeihung, ich bin wahrscheinlich noch müde vom Flug.« Wenn er die Miene richtig deutete, war er wohl nicht überzeugend gewesen, deshalb setzte er hinzu: »Und ich hatte in letzter Zeit privat einiges um die Ohren.«

»Familiäre Probleme?«

Welche Familie? Alex versteifte sich. »Nein, alles unverändert.« Vielleicht konnte er seine Mutter im weitesten Sinne zur Familie rechnen, auch wenn er sie nie gesehen hatte. Aber zumindest lag, nach seinen Informationen, bei ihr alles beim Alten.

Dr. Dr. Bauer schien auf eine Antwort zu warten.

»Ein sehr enger Freund von mir liegt im Koma.« Weil ihm dieses Schwein in den Kopf geschossen hat.

Sichtlich betroffen nippte sein Chef an der Teetasse. »Brauchen Sie eine Auszeit?«

Langsam schüttelte Alex den Kopf. »Vermutlich nicht sehr lange.« Seine Stimme klang wie ein Reibeisen. »Ich muss noch einiges für ihn regeln. Ich habe ihn momentan nach Hause verlegen lassen, wo er gepflegt wird.«

»In Ordnung.«

Alex straffte die Schultern, drückte den Rücken durch und zog die Mundwinkel zu einem hoffentlich erfreut wirkenden Lächeln. »Diese neue Aufgabe klingt wirklich traumhaft.«

»Sehr schön.« Dr. Dr. Bauer sprang auf und schüttelte seine Hand. Der kurzfristige Begeisterungssturm ebbte ab und er wurde wieder geschäftsmäßig. »Dann sprechen wir in den nächsten Tagen die weiteren Modalitäten ab, sobald Sie Ihre Angelegenheiten geregelt haben. Ich wünsche Ihnen alles Gute.« Abermals wurden die aristokratischen Züge weich.

»Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen, Doktor Doktor Bauer.« Alex zwang sich erneut zu einem Lächeln.

Er war froh, dass sich die Sekretärin nicht im Vorzimmer aufhielt, sodass er keinen Small Talk mehr führen musste. Zu viel schwirrte ihm im Kopf herum.

Eine Methode unter seinem Namen. Die weltweite Leitung. Er liebte seine Arbeit über alles und könnte dazu beitragen, die Riffe wieder neu mit Korallen zu besiedeln.

Die Ozeane waren die Lunge der Welt. Wenn dieses Ökosystem zusammenbrach, würde die gesamte Umwelt, und damit die Menschheit, irreparable Schäden davontragen. Immer hatte er davon geträumt, etwas bewegen zu können, Bedeutendes zu leisten und nun, da die Erfüllung seiner Ziele in greifbare Nähe rückte, war er nicht in der Lage, sich gebührend darüber zu freuen. Er schüttelte sich.

Vermutlich war er tatsächlich übermüdet – in letzter Zeit hatte er nicht viel Schlaf bekommen.

Während die himmelblaue Ente Emma in Richtung Tübingen knatterte, erzählte Hannah von ihrem Termin. Ein stolzes Lächeln blitzte auf. »Sie haben mir Lizenzverträge angeboten – für die USA, Italien und Brasilien. Weitere sind in Verhandlung.«

»Oh, wow! Das ist ja klasse! Du bist auch die beste Comiczeichnerin, die ich kenne.«

»Manga.« Sie rollte mit den Augen.

»Sorry, die beste Manga-Zeichnerin.«

»Zumindest in der westlichen Welt. Und die passenden Geschichten nicht zu vergessen, die ziemlich gut ankommen.«

»Genau, du bist das beste Gesamtpaket«, stimmte er, immer noch lachend, zu.

Sie hob die Augenbrauen. »Wie viele Mangas von mir kennst du?«

Alex grinste verlegen. »Touché! Nur zwei. Aber die sind mega spannend und ich hole die anderen nach, versprochen. Deine Zeichnungen sind auf jeden Fall alle gigantisch.«

Während sie ihm die Details ihres Vertrages erzählte und was sich zu Hause Neues ergeben hatte, ließ er seinen Blick über die Landschaft schweifen, die sich entlang der B 27 zog. Ackerbau und viel Grün. Saftiges Grün. Die Tropen, wo er sich meist beruflich aufhielt, waren auch üppig grün, aber eher in der Farbe von dunklem Moos. Dieses satte Hellgrün, das nach dem vorangegangenen Regen frischgewaschen glänzte, war irgendwie einmalig auf der Welt. Ihm wurde warm ums Herz.

Einen Moment lang fragte er sich, warum er ihr nichts von seiner Beförderung erzählt hatte, aber dann beschwichtigte er sich damit, dass sie erst mal ihren Erfolg auskosten sollte.

Nach einer Weile verstummte Hannah und sie fuhren in einvernehmlichem Schweigen weiter, lauschten der Musik. Gedankenverloren sang er mit, als Wish you were here gespielt wurde.

Hannah prustete los. »Du bist während deiner Abwesenheit kein besserer Sänger geworden.«

»Danke.« Er knuffte sie leicht in den Oberarm.

»Du hast gerade so verträumt ausgesehen. Was ist eigentlich aus dieser Frau geworden, von der du letztes Mal, als du zu Hause warst, erzählt hast?«

»Ich kann mich nicht erinnern, viel erzählt zu haben.«

»Na ja, vielleicht geht es auch mehr um das, was du nicht gesagt hattest.« Ihr Seitenblick war vielsagend. »Was ist mit ihr?«

Alex stieß die Luft in einem Schwall aus. Kurz überlegte er, so zu tun, als wüsste er nicht, wovon sie sprach. »Du meinst ... Sam? Sie lebt wie immer auf ihrem Schiff. Und hat einen Freund«, sagte er in möglichst gleichgültigem Ton.

Hannah warf ihm einen schnellen Seitenblick zu, bevor sie die Augen wieder auf die Straße heftete. »Oho!«

»Was heißt ›oho‹?«, brummte er mürrisch.

»Oho heißt: Der große Doktor Alexander Martin wird doch nicht etwa ernsthaft verliebt sein, wenn du immer noch in diesem Tonfall ihren Namen sagst?« Sie sah ihn fragend an.

»Halt die Klappe«, sagte er grob, aber sie kicherte nur.

Wieder warf sie ihm einen Seitenblick zu, dann wurden ihre Züge weich. »So ernst?«

»Quatsch nicht! Ich bin doch gegangen«, wiegelte er ab.

»Eben! Wie immer, wenn's ernst wird.«

Alte Freunde zu haben war gut – und Hannah kannte er, seit sie klein waren –, manchmal war es jedoch auch verflucht. Sie verstanden einen zu gut.

Hatte sie recht und er hing noch an Sam? Er schätzte sie wie wenige Menschen sonst. Oder waren es nur die Erlebnisse, die sie zusammengeschweißt hatten? Die gemeinsame Flucht vor Verbrechern und Polizei. Ihre bedingungslose Loyalität hatte ihn nachhaltig beeindruckt. Und ihre Leidenschaft, die auf allen Ebenen spürbar war. Er schluckte.

»Wenn wir schon beim Thema sind – was macht ... Dieter?«, lenkte er ab. Den Ausdruck Doppelripp-Dieter hatte er sich gerade so verkneifen können. Im Grunde ein netter Kerl, dem die Unterhemden sogar gut standen, doch wenn er die Kontrolle verlor, wurde es ungemütlich. Unwillkürlich glitt seine Hand zur Narbe auf der Stirn. Den Zusammenstoß mit Hannahs Ex-Freund, beziehungsweise dessen zerschlagener Bierflasche, würde er nicht so schnell vergessen.

Ein Schatten huschte über ihre Züge. »Er hat die Therapie abgebrochen.«

Nun war es an Alex, ein »Oho!« loszuwerden. »Und?«

Sie strich sich die Haarsträhne aus den Augen. »Ich weiß nicht, wo er ist.«

»Denkst du, er hat wieder angefangen, zu trinken?«

Sie hob die Schultern und ließ sie müde fallen. »Dort war er trocken.«

»Und er hat sich nicht bei dir gemeldet?«, versicherte er sich.

»Nein.«

»Gibt es aktuell einen Nachfolger?«

»Na ja, irgendwie schon ...«, sagte sie langgezogen.

»Was heißt das?«

»Es gibt da jemanden.« Dann gab sie sich einen Ruck. »Du wirst ihn ja sowieso kennenlernen, wenn wir zu Hause sind. Er wohnt im Moment teilweise bei mir.« Sie pustete gegen ihr Pony und schielte zu ihm hinüber. »Ist das okay?«

»Du weißt genau, dass du in deiner Wohnung tun und lassen kannst, was du willst. Solange er dir nicht wehtut oder sie nicht zertrümmert«, setzte er schnell hinzu. Auch das wäre nicht das erste Mal.

»Nein, so einer ist er nicht.«

»Arbeitet er?«

»Warum fragst du das immer zuerst?« Ihr anklagender Blick traf ihn.

»Weil ich dich kenne«, antwortete er trocken.

»Er ist intensiv auf der Suche.«

»Lass dich nicht wieder ausnutzen.«

»Ich bin ein großes Mädchen, Alex.«

Ihr Tonfall sagte ihm, dass auch sie lieber nicht weiter über das Thema sprechen wollte. Möglichst unauffällig musterte er sie von der Seite. Sie besaß ein Herz aus purem Gold, war lebenslustig und immer zu einem Unfug bereit, aber für Männer hatte sie kein Händchen. Oft hatte er sich gefragt, wie sie ständig an gescheiterte Existenzen geriet. Ob sie ein Fall für den Psychiater oder das Sozialamt waren, spielte dabei keine Rolle.

»Vielleicht solltest du dir mal eine andere Sorte Mann suchen?«

Sie stupste ihn an. »Meinst du, so einen wie dich?«

Alex lachte leise. »Ich meinte eher, zur Abwechslung mal keinen kaputten Typen.«

Ein wehmütiges Lächeln zog sich über ihr Gesicht, doch sie antwortete nicht. Scheinbar völlig auf die Straße konzentriert, setzte sie zum Überholvorgang an. Emma tuckerte, unbeeindruckt von der Lichthupe eines heranrasenden Sportwagens, an dem LKW vorbei.

»Sorry, ich kann nicht schneller«, rief Hannah nach hinten.

»Lass dich nicht hetzen. Der ist nur neidisch auf Emma.«

»Genau. Die Siebziger und Achtziger haben einfach die besten Autos und«, Hannah deutete aufs Radio, wo Stairway to Heaven von Led Zeppelin lief, »die genialste Musik fabriziert.« Ihre Grübchen wurden stärker.

Die weitere Fahrt schwiegen sie, jeder hing seinen Gedanken nach. Als Alex das Fenster öffnete, drang ihm der Geruch von Nadelwald in die Nase. Genüsslich schnupperte er. Auch das war solch ein Duft nach Heimat.

Das konstante Brummen machte ihn müde. Die Anstrengung der letzten Tage holte ihn ein. Er musste eingeschlafen sein und wachte erst wieder auf, als Hannah vor dem alten Fachwerkhaus vorfuhr, in dem sie wohnten.

Er dehnte sich ausgiebig, nachdem er ausgestiegen war.

»Willst du was essen?«, fragte Hannah, während sie sich den Handgepäck-Rucksack schnappte.

»Nein, ich hau mich direkt aufs Ohr. Ich bin total platt.«

Er folgte ihr mit dem restlichen Gepäck über die ausgetretenen Stufen in den vierten Stock.

Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Wir sehen uns. Schön, dass du wieder da bist.«

Er erwiderte ihr Lächeln und schloss die Tür auf. Wie jedes Mal wurde er von Erinnerungen an seine Jugend überwältigt, und für einen Moment vermisste er seinen Vater schmerzlich.

Während Hannahs Wohnung, die er nach dem Tod seines Onkels geerbt hatte, nur drei Zimmer auf einem Stockwerk hatte, war seine über zwei Etagen mit Dachgeschoss angelegt. Sein ehemaliges Kinderzimmer vermietete er an Studenten, doch er war heilfroh, dass der aktuelle Mieter ein paar Tage verreist war, sodass er keinen Small Talk führen musste.

Das Gepäck schleppte er die Mansarde hinauf, in der das Schlafzimmer lag. Neben einem großen Doppelbett, dem Einbauschrank und einem Schreibtisch war eine Wand komplett verglast. Wie immer führte der erste Gang ihn auf die Dachterrasse, auf der er einen großartigen Ausblick über Tübingen und das Neckartal hatte. Er sog die kühle Nachtluft ein und die Heimat in sich auf.

Bei wärmeren Temperaturen legte er sich normalerweise auf die Liege, doch heute fürchtete er, hier einzuschlafen und nicht einmal zu bemerken, wenn er dabei erfror. Nach einer kurzen Dusche ließ er sich in das von Hannah frisch überzogene Bett fallen und sofort übermannte ihn ein unruhiger Schlaf.

*

Zwölf Wochen zuvor

Ein Ort nahe Langley, Vereinigte Staaten

Direktor Adams sah sich in der großen Bibliothek um, die seinem Freund und Stellvertreter beim CIA, Dave Collins, auch als Arbeitszimmer diente. Alle Wände waren von Bücherregalen aus Kirschbaumholz überzogen, in denen seltene Erstausgaben, Fachbücher und an einer Seite ausgelesene Unterhaltungsliteratur, fein säuberlich nach Autoren sortiert, aufgereiht waren. Den Büchernarr konnte Collins nicht leugnen. In der Mitte thronte ein wuchtiger Schreibtisch, an dem sie sich gegenübersaßen.

»Können wir ungestört reden?«, versicherte sich Adams.

»Ja, der Raum ist sauber. Möchtest du etwas trinken?«

»Nur Wasser, bitte.«

Während Collins einschenkte, schwieg Adams. Doch besser, er kam direkt zum Grund seines Besuchs. »Dieses Virus wurde damals nicht vollständig vernichtet. Es gibt noch eine Charge.«

Collins legte die Stirn in Falten, ansonsten war seiner Miene keine Gemütsregung anzusehen. »Ich dachte, durch die Feuerbrunst wäre alles zerstört worden. Warum wusste ich davon nichts?«

»Es weiß so gut wie niemand. Der Präsident, der Verteidigungsminister und die damals Beteiligten. Und demnächst sind noch eine Handvoll Leute eingeweiht, die den Transport ausführen werden.«

»Deshalb also dieses geheime Treffen bei mir zu Hause! Und was soll damit geschehen?«

»Es soll dieses Mal per Schiffsfracht transportiert werden.«

»Wäre es nicht einfacher, ein neues Virus zu erschaffen?« Collins schürzte die Lippen.

»Und nochmals diese Testphase zu durchlaufen? Es war eine verdammt blutige Angelegenheit. Ich denke, keiner hat mit solchen Folgen gerechnet.« Adams erschauderte. Die Bilder der Infizierten verfolgten ihn im Schlaf. »Wer immer zuständig war, die Verantwortlichen müssen sich auf jeden Fall glücklich schätzen, so glimpflich davongekommen zu sein, dass niemand Verdacht geschöpft hat. Der Entwickler ist mitsamt dem Labor in die Luft geflogen – eine Neuentwicklung birgt viele Risiken.« Er räusperte sich, der Zorn brodelte in ihm. »Zudem würde das bedeuten, dass all die bisherige Arbeit umsonst war. Wer auch immer dahintersteckt, wir lassen uns von keinem Terroristen eine Entscheidung oktroyieren, was mit diesem Virus geschieht.«

»Was ist mit dem Impfstoff? Ist er inzwischen aufgetaucht?«

Adams schüttelte den Kopf. »Wie vom Erdboden verschluckt, mitsamt aller dazugehöriger Daten.«

»Die Gegenseite?«

»Wir vermuten es.«

»Warum gibt es keine offizielle Suche?«

»Ich schätze, da hat jemand verflucht Angst, dass diese Riesensauerei ans Tageslicht kommt und sich herausstellt, dass es keinen natürlichen Ursprung hatte – wer immer sich dafür verantwortlich zeichnet.« Er lehnte sich nach vorn. »Ob es uns gefällt oder nicht, die Order lautet, es in Sicherheit zu bringen.«

Collins pfiff durch die Zähne. »Die Angelegenheit hat ein gutes halbes Jahr geruht, ist denn inzwischen nicht genug Gras über die Sache gewachsen, dass die Gegenseite vermutet, das Virus sei durch die Flugzeugexplosion vollständig vernichtet worden? Niemand hat in der Zeit an diesem Thema gerührt. Wäre eine Luftfracht nicht sicherer als der Seeweg?«

»Ein erneuter Flugzeugtransport kommt nicht infrage«, sagte Adams scharf. »Die Gegenseite weiß nicht, dass es das Virus noch gibt, aber höchstwahrscheinlich vermuten sie es. Und sie wissen jetzt genau, woher die erste Ladung kam und werden jeglichen Luftverkehr mit Argusaugen überwachen.«

»Und einen Landverkehr können wir über diese Strecke nicht ausreichend absichern, ohne zu viel Aufmerksamkeit zu erlangen?«

»Richtig. Also was bleibt uns noch?«, fragte Adams und konnte den Spott in seiner Stimme nicht unterdrücken.

»Und wie sollen wir den Seeweg im Geheimen abschirmen?«

»Niemand außer uns und den Leuten, die den Transport ausführen, wird die Details erfahren. Nicht einmal der Präsident.« Er machte eine bedeutungsvolle Pause. »Ich bitte dich, die Koordination zu übernehmen. Die Einsatzkräfte musst du alle auf Herz und Nieren prüfen.«

»An welches Schiff hattest du gedacht?«

»Ein kommerzielles Fischerboot.«

»Die Wetterverhältnisse sind zu dieser Jahreszeit für kleinere Kutter ums Kap der guten Hoffnung gefährlich. Man könnte zum Ablaufen in einen Hafen gezwungen werden, was mit der Absicherung wieder kritisch sein wird«, gab Collins zu Bedenken, noch ganz der ehemalige Marine-Offizier.

Adams lehnte sich in dem bequemen Lehnsessel zurück. »Wir nehmen die Route durch das Rote Meer.«

»Aber im Roten Meer ...«, wandte Collins ein, doch sein Gegenüber sprach ungerührt weiter:

»Der gesamte Korridor wird nach wie vor im Rahmen der Operation Atalanta von der Navy sämtlicher Länder strengstens überwacht. Jedes Schiff, das am Horn von Afrika vorbeikommt und Bab-al-Mandab, das Tor der Tränen, durchquert, muss sich registrieren und wird getrackt. Und auch durch den Suezkanal kommt kein Fahrzeug ohne Lotse und nur mit konstanter Überwachung. Die Ufer dort sind gesperrt. Im Jemen herrscht Bürgerkrieg, die Häfen sind dicht, und die Saudis lassen niemanden ungesehen hinein oder hinaus.«

»Was ist mit Eritrea, Sudan, Ägypten? Selbst wenn die Militärs in der Gegend patrouillieren, kann die Korruption ... «

»Die Umgebung wird von uns während der Transitzeit verstärkt überwacht. Und das Schiff wird keinen Hafen anlaufen. Es ist ein unauffälliges Fischerboot unter vielen. Die Absicherung ist unser Schweigen.«

Nachdenklich strich sich Collins übers Kinn. »Es hört sich nicht an, als wolltest du meine Meinung hören. Vielmehr klingt das nach einer abgekarteten Sache.« Er stand auf. »Darauf brauche ich einen Brandy.«

Er deutete auf die Karaffe mit den daneben stehenden Cognacschwenkern. »Willst du auch?«

»Gern.«

Adams schwenkte das Glas, nahm das Bouquet in sich auf, bevor er daran nippte. »Wirst du die Organisation übernehmen?«

Collins lächelte matt. »Habe ich denn eine Wahl?«

»Ja, durchaus.«

»Natürlich werde ich den Transport koordinieren. Auch wenn es mich trifft, dass du mich bislang nicht ins Vertrauen gezogen hast.«

»Du weißt genau, ich durfte ...«

Er hob die Hand. »Ich kenne das Prozedere – alles ist gut. Erzähl mir die Details.«

Adams kam dieser Bitte gern nach und beschrieb die Vorgehensweise, bis er zu den möglichen Kandidaten für den Transport kam. »Ich denke, als führenden Leiter an Bord nehmen wir ...«

Auf einmal hielt er inne. Hatte er ein Geräusch gehört? »Ist bei dir jemand zu Hause?«

»Meine Tochter ist heute beim Tennis und ...«

In dem Moment klopfte es an der Tür und im selben Augenblick öffnete sie sich. Unwillkürlich verspannte sich Adams. Doch es war nur Collins Tochter, die zur Tür hineinstürmte und im Schritt stoppte.

»Oh, Direktor Adams! Ich wusste nicht, dass Sie da sind.« Sie schüttelte seine dargebotene Hand, bevor sie um den Schreibtisch herum zu ihrem Vater ging und ihn auf die Wange küsste. »Du hast mir gar nicht gesagt, Daddy, dass du Besuch bekommst«, sagte sie vorwurfsvoll.

Er lächelte beim Anblick seiner Tochter, ganz den Vaterstolz in den Augen. »Sagst du mir denn immer, wenn du Gäste erwartest? Ich dachte, du wärst außer Haus.«

»Wollte ich, aber mein Tennispartner war verhindert.« Sie zwinkerte. »Heckt ihr wieder etwas zusammen aus?« Lachend ging sie zur Tür. »Da lasse ich euch besser allein. Sie bleiben zum Essen, Direktor!« Sie formulierte es nicht als Frage.

»Das war eigentlich nicht geplant«, sagte Adams überrumpelt.

Sie warf lachend ihr Haar zurück. »Dann planen wir das jetzt. Ich gebe in der Küche Bescheid.«

Bevor er widersprechen konnte, war sie draußen.

Collins lächelte zärtlich. »Gegen sie kommst du nicht an, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat.«

»Ja, das habe ich bemerkt«, gab Adams schmunzelnd zurück, ehe er fortfuhr, Collins in die Details des neuen Auftrages einzuweihen.

Obwohl er froh war, jemanden mit Kompetenz zu haben, der die Angelegenheit organisierte, und dass es jemand war, dem er sein Leben anvertraut hätte, machte sich ein ungutes Gefühl in ihm breit. Dies war einer der Aufträge, bei denen er heilfroh sein würde, wenn die Angelegenheit endlich erfolgreich unter Dach und Fach war.

Sein Instinkt trog ihn selten.

*

Deutschland in der Gegenwart

Als Alex am nächsten Morgen fluchend zum fünften Mal den Kickstarter seiner Yamaha SR 500 trat, wünschte er sich seine in Thailand stehende Triumph Thunderbird herbei, die einen Elektrostarter hatte. Doch endlich sprang die SR an und blubberte vielversprechend. Kalt blies ihm der Fahrtwind entgegen, als er in Richtung der Universitätskliniken fuhr. An die kühlen deutschen Temperaturen musste er sich, nach der thailändischen Hitze, erst wieder gewöhnen. Gut, dass er zu seiner Lederjacke die Lederhose angezogen hatte und nicht – wie er zuerst überlegt hatte – eine Jeans. So früh am Morgen war es noch recht frisch. Über den Wiesen stand der Nebel, als er auf der Landstraße nach Nordosten tuckerte. Nachdem er sich wieder auf sein altes Motorrad eingestellt hatte, fing er an, die Fahrt zu genießen und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Normalerweise nahm er seine geliebte Thunderbird mit an die jeweilige Arbeitsstätte. Wenn er nun den neuen Job bekam, der ihn ständig an eine andere Destination brachte, könnte er dies nicht fortführen. Eine Schiffsfracht würde sich nicht lohnen. Kam er tatsächlich dazu, weiter zu forschen? War es das, was er zukünftig tun wollte?

Doch als das Universitätsklinikum ins Sichtfeld kam, wurden seine Gedanken wieder abgelenkt. Die Magenwände verhärteten sich und er war froh, dass er außer einer Tasse Kaffee noch nichts zu sich genommen hatte.

Er parkte unweit des Eingangs zur Neurochirurgie, die in einem modernen Bau untergebracht war. Der Krankenhausgeruch nahm ihm den Atem. Erinnerungen an die Zeit mit Jaidee fluteten auf ihn ein und er wünschte sich weit weg, an einen anderen Ort.

Mit schweren Beinen ging er den Weg, den er auswendig kannte. Den automatischen Türöffner ignorierend, drückte er die Glastür neben dem Schild Leitung Prof. Dr. Gerald Waldscheidt, Facharzt für Neurochirurgie und Neurologie auf.

Er meldete sich an der Rezeption an und musste nur zehn Minuten im Wartezimmer bleiben, ehe eine ältere Schwester in gestärkter Schürze ihn bat, ihr zu folgen.

Der Freund seines Vaters war in den beiden Jahren, seit er ihn zum letzten Mal gesehen hatte, merklich gealtert. In das fahle Gesicht hatten sich tiefe Falten eingegraben und das schütter werdende Haar wurde von grauen Strähnen durchzogen. Die stundenlangen Operationen schienen Spuren zu hinterlassen. Von den Anfang sechzig war dem Neurochirurgen jedes Jahr mehr anzusehen. Doch das Lachen war unverändert charismatisch.

»Alex! Schön, dich zu sehen.« Er klopfte ihm auf das Schulterpolster der Lederjacke.

»Danke, Gerald, dass du dir Zeit für mich genommen hast.«

»Keine Ursache.« Alex wurde gemustert. »Gut siehst du aus. Braungebrannt. Ein richtig stattlicher Mann. Dein Vater wäre stolz auf dich. Bis auf die Haarfarbe siehst du ihm mit den Jahren immer ähnlicher.«

Alex zwang sich zu einem Lächeln. Sein Vater und sein Onkel waren beide dunkelhaarig gewesen. Schon oft hatte er sich gefragt, ob seine Mutter wohl blond war. Kurz ging ihm durch den Sinn, Gerald danach zu fragen, doch stattdessen sagte er: »Wie geht es ihr?«

Gerald wusste wohl trotz des abrupten Themenwechsels sofort, wen Alex meinte. »Unverändert. Sie sind gerade daran, eine neue Medikation zu testen, die vielversprechend aussieht.« Er warf ihm ein bedauerndes Lächeln zu. »Doch sie möchte nach wie vor ... keinen Besuch.«

Alex nickte roboterhaft. Du meinst wohl, sie will mich immer noch nicht sehen, wie die letzten fast sechsunddreißig Jahre zuvor.

Wenigstens wurde er nicht zur Antwort gezwungen, denn Gerald führte ihn unverzüglich in sein Büro.

»Nimm Platz!«

Alex schlüpfte aus der Lederjacke und hängte sie über die Stuhllehne.

Gerald wirkte fahrig. »Bitte entschuldige, dass ich mich aufs Wesentliche beschränken muss, aber bei mir stehen heute schon wieder einige OPs auf dem Programm.«

»Kein Thema. Ich bin froh, dass du mich überhaupt in deinen vollen Terminkalender gequetscht hast.«

Nun wurde der Blick mitleidig. »Das mit deinem Freund tut mir wirklich leid.«

Alex presste die Lippen zusammen und nickte. »Danke.«

Gerald setzte sich hinter seinen Schreibtisch und schwenkte den Monitor, sodass Alex Jaidees Gehirn in diversen Ansichten sehen konnte.

Der Arzt deutete mit dem Kugelschreiber auf die farbig unterlegten Stellen. »Schau, hier. Die Kugel ist unterhalb des rechten Frontallappens eingedrungen und hat sich quasi ihren Weg quer durchs Gehirn gebahnt. Es ist ein Wunder, dass er diesen Schuss überhaupt überlebt hat.«

»Du meinst, es wäre besser gewesen ...«, überlegte Alex laut, dann versagte seine Stimme.

In Geralds Zügen stand Mitleid, doch er ging nicht darauf ein. »Beinahe alle Bereiche des Gehirns sind in Mitleidenschaft gezogen, sowohl das Sprach-‍, als auch das Bewegungszentrum.«

Obwohl Alex sich zwang, den detaillierten Ausführungen über das Ausmaß der Verletzung zuzuhören, hatte er Mühe, das Gesagte zu verarbeiten. Zu vehement drängte sich ein lachender, aktiver Jaidee vor sein inneres Auge.

»Sämtliche kognitiven Fähigkeiten sind zum Erliegen gebracht«, schloss Gerald.

»Ihr arbeitet doch mit Neuroimplantaten ...«

»Die Implantate können einzelne Bereiche überbücken, die durch einen Unfall oder eine Krankheit, wie zum Beispiel Parkinson, beschädigt worden sind. Allerdings müssten wir hier gewissermaßen ein komplett neues Gehirn implantieren. So weit sind wir bedauerlicherweise noch nicht.«

»Das heißt, es besteht keine Chance für ihn.« Alex betonte es nicht als Frage.

Gerald seufzte. »Zum aktuellen Stand der Medizin nicht. Wir haben zwar in den letzten Jahrzehnten viel erreicht, aber alles ist leider bislang nicht machbar.«

»Das bedeutet, die Maschinen abzuschalten?« Obwohl die Sonne in das Büro schien, kroch die Kälte in Alex' Glieder.

»Hier in Deutschland würde man das nicht zwingend tun, das hängt von den Wünschen des Erkrankten ab. Dein Freund kann theoretisch auf unbestimmte Zeit damit am Leben gehalten werden. Möglicherweise tut sich in den nächsten Jahren oder Jahrzehnten etwas? Vielleicht geschieht ein Wunder? In die Zukunft vermag niemand zu sehen.«

Alex schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch. »Was würdest du tun?«, fragte er tonlos.

Gerald sah mit einem Mal noch grauer aus. Fahrig strich er sich mit der Hand über die Stirn. »Ich kann dir dazu keinen Rat geben. Als Arzt bin ich durch den hippokratischen Eid zum Erhalt des Lebens verpflichtet. Entscheidungen dieser Art obliegen mir zu oft.« Er zögerte. »Aber Chancen sehe ich in absehbarer Zukunft keine. Vermutlich wird er dauerhaft an den Maschinen angeschlossen bleiben müssen, um zu überleben. Es tut mir leid, Alex.«

Er schob seinen Stuhl nach hinten und zwang sich zu einem Lächeln. »Ich danke dir ganz herzlich für deine Einschätzung und die Mühe, die du dir gemacht hast.«

Gerald stand ebenfalls auf. »Nichts zu danken. Das habe ich gern getan. Komm doch mal bei uns vorbei! Heike würde sich freuen, dich zu sehen. Sie hat mich nach dir gefragt. Sie hatte immer einen Narren an dir gefressen, als du ein Kind warst. Ihr habt euch ewig nicht gesehen.«

Alex lächelte. »Richte ihr bitte liebe Grüße von mir aus. Als ich klein war, habe ich sie vergöttert. Ich erinnere mich noch gut daran, wie sie mir heimlich vor dem Essen Gummibärchen zugesteckt hat, damit es mein Vater nicht mitbekam.«

Geralds Gesicht sah durch das Lachen gleich um Jahre jünger aus. »Ja, das ist meine Frau. Fremde Kinder verzieht sie immer gern.« Ein Schatten glitt über seine Züge. Ob es daran lag, dass sie selbst keine Kinder hatten? Doch er schwenkte um. »Aber lauf nicht weg, du wolltest ein paar Tests machen?«

»Ja, natürlich«, erwiderte Alex tonlos. Da war sie wieder, diese Angst. Die ihn bei jeder Untersuchung überkam. Dass sich eines Tages herausstellen würde, dass er die Krankheit seiner Mutter geerbt hatte.

Selbst wenn er nichts anderes erwartet hatte, war er trotzdem erleichtert, als die Tests ohne Befund blieben. Nur Geralds Meinung zu Jaidee lastete auf ihm wie ein Felsbrocken.

Eigentlich hatte er vorgehabt, direkt ins Institut zu fahren, doch plötzlich war ihm nach Laufen zumute. Er fuhr nach Hause, zog Sportzeug an, steckte die Kopfhörer ins Ohr und rannte, begleitet von den Klängen von Pearl Jam, los.

I'm still alive ...

Und seine Gedanken kreisten um Jaidee. Bis zum Neckar hinunter waren es nur wenige hundert Meter. Die normale Runde betrug zehn Kilometer, aber heute reichte ihm dies nicht. Weit holten seine Beine aus.

Er lief immer schneller – doch davonlaufen konnte er nicht.

*

»Ich fürchte, wir haben einen Maulwurf.«