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Der Schwarzmarkt für Elfenbein boomt! Meeresbiologe Alex Martin stößt bei seiner Arbeit für die Naturschutzbehörde in Thailand zufällig auf Schmuggler. Dadurch gerät er ins Fadenkreuz einer mächtigen Organisation. Mit seinem Freund, dem thailändischen Ermittler Jaidee, begibt sich Alex auf die Spur des weißen Goldes. Sie führt von den afrikanischen Savannen durch das Rotlicht-Milieu Phukets bis in die obersten chinesischen Geschäftsetagen. Immer tiefer dringen Alex und Jaidee in den Sumpf des organisierten Verbrechens vor. Dabei machen sie eine grausame Entdeckung ...
»Fesselnd und spannend bis zum Schluss.« Divemaster Magazin
Stimmen unserer Leserinnen und Leser:
»Weißes Gold - Im Sog der Gier ist ein Buch, das ein Thema aufgreift, das Spannung erwarten lässt - aber hier wird meine Erwartung bei weitem übertroffen und der Schreibstil ist hervorragend.« (SUHAJA, Lesejury)
»Eine sehr gut erzählte, einem Abenteuerfilm ähnliche Erzählung, gespickt mit genauen Rechercheergebnissen und Tatsachen rund um Menschenhandel, Prostitution und Schmuggelware. Der spannende Roman brilliert besonders durch die an die Realität angepasste Faktenlage.« (MAELEE, Lesejury)
»Eine mitreißende Geschichte mit vielen Spannungsbögen, die es einem fast unmöglich machen, das Buch an die Seite zu legen.« (JANIII_124, Lesejury)
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Seitenzahl: 828
Cover
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Über dieses Buch
Über die Autorin
Titel
Impressum
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
Epilog
Glossar
Nachwort und Danke!
Roter Ozean – Im Fahrwasser der Macht
Blauer Tod – Im Netz des Terrors
Der Schwarzmarkt für Elfenbein boomt! Meeresbiologe Alex Martin stößt bei seiner Arbeit für die Naturschutzbehörde in Thailand zufällig auf Schmuggler. Dadurch gerät er ins Fadenkreuz einer mächtigen Organisation. Mit seinem Freund, dem thailändischen Ermittler Jaidee, begibt sich Alex auf die Spur des weißen Goldes. Sie führt von den afrikanischen Savannen durch das Rotlicht-Milieu Phukets bis in die obersten chinesischen Geschäftsetagen. Immer tiefer dringen Alex und Jaidee in den Sumpf des organisierten Verbrechens vor. Dabei machen sie eine grausame Entdeckung ...
»Träume nicht dein Leben, sondern lebe deinen Traum!« So machte sich U. T. Bareiss Anfang des Millenniums zur Weltumsegelung auf und verlegte ihr Schreib- und Übersetzungsbüro von Stuttgart an Bord ihres Segelkatamarans. Gemeinsam mit ihrem Mann erforscht sie die Welt über und unter Wasser. Was könnte besser zum Abtauchen in andere Welten inspirieren als exotische Plätze und fremdartige Kulturen? Nicht nur in ihren Reiseberichten für diverse Magazine, sondern auch in spannungsgeladenen Thrillern und Jugendkrimis spiegeln sich aufregende Situationen ihres Alltags facettenreich wider. Unter dem Pseudonym Helen Paris schreibt die Autorin auch Liebesromane. Die Thriller-Reihe um den Meeresbiologen Dr. Alexander Martin spielt an verschiedenen maritimen Schauplätzen, welche die Autorin auf ihrer Weltumsegelung erkundet hat.
Mehr Infos gibt es unter: www.weltenbummler-blog.de
U.T. Bareiss
Weißes Gold
Im Sog der Gier
Ein Alex-Martin-Thriller
Digitale Neuausgabe
»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2016 by Ute Bareiss
Originalverlag: Kieselsteiner Verlag, Stuttgart
Für diese Ausgabe:
Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat/Projektmanagement: Kathrin Kummer
Covergestaltung: Guter Punkt GmbH Co. KG
unter Verwendung von Motiven © andrej67/ iStock / Getty Images Plus; subjob/ iStock / Getty Images Plus; putthipong sukchai/EyeEm/Adobestock; Wilfried Strang/ iStock / Getty Images Plus
eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)
ISBN 978-3-7517-1492-1
www.be-thrilled.de
www.lesejury.de
Für Gaby und Holly.
Geschwister sind nie allein.
Sie tragen den anderen immer
im Herzen.
Wenn du erkennst, dass es dir an nichts fehlt,
gehört dir die ganze Welt
(Laotse)
Langsam tauchte er aus seinem Inneren auf. Durch das geöffnete Fenster strich kühlende Luft über seinen nackten Leib. Am Fensterrahmen klimperte leise ein Windspiel, der Duft von Lotusblüten zog durch den Raum. Er atmete tief durch. Dann löste er seine verschränkten Finger und wuchtete sich aus dem Schneidersitz auf. Seine Chakren waren gereinigt.
Das Zellophan knisterte verheißungsvoll, als er den Hànfú aus der Verpackung nahm. Liebevoll strich er über die Seidenrobe, fühlte den glatten Stoff unter seinen Handflächen. Neu und unberührt.
Das Gewand schmiegte sich an seinen massigen Körper. Schon das korrekte Anlegen des traditionellen Kleidungsstücks war ein Ritual. Mit der rechten Hand schloss er ihn, kein leichtes Unterfangen bei der gewaltigen Leibesfülle. Zufrieden lächelte er. Nie mehr würde er Not leiden.
Unwillkürlich glitt seine Hand zu seiner Wange. Die sternförmige Narbe, die eine an ihm nagende Ratte hinterlassen hatte, würde er nicht entfernen lassen, sie diente ihm zur mahnenden Erinnerung an seine Kindheit im Schmutz.
Die Marmorfliesen unter seinen bloßen Füßen strahlten eine angenehme Kühle aus, kein Geräusch in diesem riesigen Haus störte seine Harmonie. Auf dem Esstisch stand eine große Schale, es dampfte, als er den Deckel abhob. Bedächtig löffelte er die Suppe mit Tigerpenis und zerstoßenem Rhinozeroshorn, die sein Yang, seine Manneskraft, stärken würde.
Er schloss die Augen, atmete bewusst, um die Ungeduld zu bezwingen, und sog den Duft der Räucherstäbchen ein.
Jetzt durfte er sich keine Schwäche leisten – nur die Schwachen konnten sich nicht in Geduld üben.
Gemäßigten Schrittes ging er durch den Garten. Der Duft der Magnolien, die in voller Blüte standen, hüllte ihn ein. Im Inneren der Pagode herrschte Stille. Sein Reich empfing ihn und unverzüglich wuchs die Erregung, als er an den Regalen entlangschritt und sich der Pracht seiner Schätze erfreute. Er strich über das glatte Material. Elfenbein – das weiße Gold, das reinste aller Materialien. Die Gabe Buddhas, die dazu bestimmt gewesen war, ihm sein Glück zu schenken. Er nahm sich einen Moment, die Wärme in sich auszukosten, bevor er sich voller Zufriedenheit aufmachte.
Es war an der Zeit für seinen neuen Schatz.
Sie lag auf den Schrein gebettet und lächelte mit geschlossenen Augen. Er hatte dafür sorgen lassen, dass sie sich glücklich fühlte. Ihr lackschwarzes Haar glänzte im Schein der Kerzen. Sie war in ein rotes Gewand mit goldenen Ornamenten gehüllt – ein Geschenk, das er auspacken durfte. Rot brachte Glück, Gold zeugte von Wohlstand. Er löste das Band um ihre Taille, schob den Seidenstoff beiseite. Ihr Körper schimmerte elfenbeinfarben. Rein und unberührt. Ehrfurcht ergriff ihn.
Als er seine Hand ganz vorsichtig über ihre samtweiche Haut gleiten ließ, öffnete sie die Augen. Ihr Blick war verschleiert. Sie blinzelte, hob verklärt die Mundwinkel.
Er lächelte ebenfalls. Es war seine Bestimmung, sie glücklich zu machen, dafür zu sorgen, dass sie von keinem Unreinen entweiht wurde. Respektvoll ergriff er den elfenbeinernen Phallus.
Das eigentliche Mysterium der Welt ist
das Sichtbare, nicht das Unsichtbare
(Oscar Wilde)
Der Handkantenschlag in Richtung seiner Kehle kam ohne Vorwarnung. Nur ein kurzes Zucken der linken Augenbraue seines Gegners, bevor die Hand auf ihn zuschoss. In letzter Sekunde konnte Alex sich ducken, da zielte schon ein Sidekick auf seine Nieren. Mit einem Schritt brachte er sich in Sicherheit und versuchte seinerseits, einen Tritt in Richtung des Knies seines Gegners anzubringen, der dem mühelos auswich. Alex blendete die Schreie und Kampfgeräusche um sich herum aus und konzentrierte sich nur auf sein Gegenüber.
Der um einen knappen Kopf kleinere Thai war ihm in den Kampftechniken haushoch überlegen. Obwohl er kräftig gebaut war, waren seine Bewegungen von einer geschmeidigen Eleganz. Unwillkürlich musste Alex beim Spiel seiner Muskeln an einen Panther denken. Er tänzelte auf der Stelle und auch der Sprungkick kam ohne Vorwarnung. Reflexartig wich Alex aus. Der Fuß streifte ihn nur, doch kaum war er wieder aufgekommen, da raste schon eine Faust auf Alex zu. Er blockte mit seiner Elle und ging seinerseits in die Offensive mit einem angetäuschten Schlag, dem er einen Drehkick folgen ließ.
In kurzer Reihenfolge prasselten Schlag um Schlag, Kicks und Tritte aufeinander, begleitet von lautem Keuchen.
Abermals konnte Alex nur haarscharf einem Sprungkick ausweichen. Ein Stechen jagte durch seinen Rücken. Der Schweiß rann ihm trotz des Stirnbands in die Augen, er blinzelte. Sein Gegner nutzte die kurze Zeit der Unaufmerksamkeit sofort aus und brachte Alex mit einem Fußfeger zu Fall. Geistesgegenwärtig konnte er ihn im Sturz am Arm packen und mit sich ziehen. Sofort warf sich Alex auf ihn und drückte ihm den Unterarm an die Kehle.
»Gibst du dich geschlagen?« Keuchend rang er nach Luft.
Jaidee lachte auf und schob Alex von sich herunter. »Im Ernstfall hättest du gegen mich keine Chance, mein Freund. Doch dein Stil hat sich bedeutend gebessert, man merkt dir an, dass wir öfter trainieren. So langsam muss ich aufpassen.«
Ebenfalls lachend erhob sich Alex. Wieder jagte ein Stechen durch seinen Rücken und er verzog das Gesicht.
»Was ist, habe ich dir wehgetan?« In Jaidees Miene kämpfte Spott gegen Sorge.
»Das würde dir so gefallen! Nein, ich habe mir heute Mittag beim Ausladen der Tauchflaschen wohl einen Muskel gezerrt.«
»So siehst du aus! Ein Siebzigjähriger hält sich besser. Die Mitte dreißig nimmt dir bei der Haltung keiner ab«, stichelte Jaidee mit gutmütigem Lächeln. »Unsere Nachbarin versteht sich hervorragend auf Thai-Massage – sie bekommt deinen Rücken bestimmt wieder hin. Warum gehst du nicht zu ihr, während Malee uns was zu essen zubereitet? Sie würde sich freuen, dich mal wiederzusehen.«
Alex klopfte sich den Staub von der Trainingshose. »Manchmal hast du richtig gute Ideen.« Eine Massage und die exzellente Küche von Jaidees Frau waren verlockende Aussichten.
»Gut, dann melde ich dich an.«
Sie verneigten sich mit gegeneinander gelegten Handflächen voreinander.
Die warme Luft auf Phukets Straßen ließ ihn wie gegen eine Wand laufen, als sie aus der Trainingshalle hinaus ins Freie traten. Obwohl Alex kalt geduscht hatte, und die Sonne bereits untergegangen war, trieb es ihm sofort den Schweiß auf die Stirn. Auf den Helm verzichtete er, mit einem Polizisten als Begleiter würde ihm keiner einen Strafzettel aufbrummen. Er band nur die nackenlangen blonden Haare zusammen und ließ sich den abgasgeschwängerten Fahrtwind kühlend um den Kopf wehen, als er Jaidees Roller durch den dichten Verkehr von Chalong in Richtung Südwesten folgte. Obwohl es Abend war, hatte der Verkehr noch nicht nachgelassen, eine dichte Smogwolke hing über der Stadt. In Schlangenlinien kämpften sie sich mit den anderen Zweirädern zwischen den zahllosen Autos hindurch. Glücklicherweise wurde der Verkehr außerhalb der Stadt lichter und Alex konnte endlich Gas geben. Er überholte eine vierköpfige Familie, die sich auf einem kleinen Roller drängte, und zog auch an Jaidee vorbei. Das tiefe Brummen seiner Triumph Thunderbird übertrug sich entspannend auf seinen Körper. Er gab mehr Gas, genoss die Geschwindigkeit. Erst als das Licht von Jaidees 125er Roller fast nicht mehr im Rückspiegel zu sehen war, wurde er langsamer und ließ ihn überholen.
Alex folgte ihm nach Rawai, wo Jaidee mit seiner Frau Malee und den beiden Kindern etwas abgelegen vom Touristentrubel der umliegenden Hotels wohnte. Er parkte direkt vor dem Nachbarhaus.
Das hölzerne Schild »Thai Massage«, das direkt an der Tür hing, war ihm bislang nie aufgefallen, so unauffällig fügte es sich in die Holzfassade ein. Werbung schien die drahtige Frau mit den kurzen Haaren, die sich als Niki vorstellte, nicht nötig zu haben.
Alex musste gut fünf Minuten warten, bis er drankam. Der Geruch nach Duftölen und die leisen Klänge der Chang Dao-Musik entspannten ihn, beinahe wäre er in dem bequemen Sessel eingeschlafen. Dass ein einheimischer Kunde hinter dem Vorhang hervorkam, war ein gutes Zeichen, es war keine auf Touristen ausgerichtete Massage. Dementsprechend kräftig war sie auch.
Geschmeidig wie eine Katze kletterte Niki, trotz ihrer sicher schon sechzig Jahre, auf ihm herum, bearbeitete ihn zuerst mit Ellbogen und Knien, bevor sie sich auf ihn stellte und seine Muskelstränge mit den Fußsohlen bearbeitete – immer hart an der Schmerzgrenze. Seinen gezerrten Muskel bearbeitete sie gezielt mit Tigerbalsam und knetete die Verhärtung mit den Händen heraus.
»Was hast du hier gemacht?« Sie drückte auf die harte Stelle an seinem Schulterblatt.
»Das war eine Schussverletzung, hier hat eine Kugel gesteckt. Darunter ist Narbengewebe, keine Muskelverhärtung.« Der Tätowierer, der das Drachentattoo, das sich über seinen gesamten Rücken bis auf die Oberarme zog, an den vernarbten Stellen nachgestochen hatte, hatte wirklich gute Arbeit geleistet. Es war nicht mehr viel davon zu sehen.
»Eine Schussverletzung?«, echote sie. Auch wenn er ihr Gesicht nicht sehen konnte, da er auf dem Bauch lag, konnte er ihre Neugier deutlich heraushören.
»Ja, ich war zur falschen Zeit am falschen Ort«, erwiderte er lapidar.
Sie schien zu spüren, dass er nicht darüber reden wollte, und ging dazu über, ihn ausgiebig zu dehnen.
Nach und nach entspannte er. Teilweise musste er die Zähne zusammenbeißen und sich zwingen, locker zu bleiben. Doch beim Aufstehen hinterher merkte er eine deutliche Verbesserung – er fühlte sich wie neugeboren.
»Es war wundervoll, khop khun khrap«, bedankte er sich. Er gab ihr noch ein reichliches Trinkgeld und versprach, baldmöglichst wiederzukommen.
Jaidee wohnte in einem schönen hölzernen Stelzenhaus, das er erst kürzlich mit seiner Familie bezogen hatte. Die vierjährige Narisara kam ihm entgegengetrappelt, kaum, dass er zur Tür hereinkam. »Hello Mister!«
Malee trat hinter sie, wischte sich die Hände an den Seiten ihres Kleides ab und umarmte Alex. »Sawat dii kah, Alex. Das hat Sari gestern irgendwo auf der Straße aufgeschnappt und beglückt seitdem jeden damit, der ihr in den Weg kommt.« Die erröteten Wangen standen ihr gut.
Alex lachte auf. »Schon gut. Dann komm mal her, du kleine Miss!« Er nahm Narisara hoch und wirbelte sie herum. Sie kreischte begeistert auf.
Als er sie absetzen wollte, schlang sie ihre Arme um seinen Hals. »Mehr!«
»Wenn du mich so treuherzig mit deinen großen braunen Augen anschaust, kann ich ja nicht Nein sagen.«
Begleitet von einem lauten Juchzen warf er sie in die Luft.
Erst als Malee milde lächelnd ermahnte, dass das Essen fertig sei, durfte er aufhören. Mit Schwung setzte er die Kleine in ihren Kindersitz und beugte sich über die Babyschale, in der der sieben Monate alte Praphat zufrieden an dem Fläschchen nuckelte, das sein Vater ihm hinhielt.
Alex strich ihm über die Wange. »Na, du Rabauke. Lässt du deine Eltern inzwischen manchmal schlafen?«
Jaidee hob die Augenbrauen. »Manchmal ist genau das richtige Wort.«
Alex lehnte sich genüsslich in dem bequemen Korbsessel auf der Terrasse zurück. Die Familie von Jaidees Onkel hatte ihm einst ein Heim gegeben – auch hier fühlte er sich sofort wie zu Hause. Er ließ seine Schulter kreisen. »Deine Nachbarin hat magische Hände.«
»Allerdings! Wir sind Stammkunden bei ihr.«
»Das kann mir auch passieren«, erwiderte Alex grinsend.
»Darüber wird sie sich bestimmt freuen.« Malee lächelte.
Sie war mit ihrer feingliedrigen Figur, den langen schwarzen Haaren und den ebenmäßigen Gesichtszügen nicht nur attraktiv, sie war auch eine liebevolle Mutter und hervorragende Köchin. Nach einer Tom-Yum-Suppe tischte sie einen feurig-scharfen grünen Papaya-Salat mit Cashewnüssen, gefolgt von einem grünen Curry auf. Wie üblich gab es Reis dazu. Die Schärfe brannte auf seiner Zunge, verstärkte die Süße der Mangos aus dem Garten, die es zum Abschluss gab.
Malee nahm seinen Dank fürs Essen verschämt an, doch seine Hilfe beim Abtragen lehnte sie ab.
Er schaute ihr hinterher und wartete, bis sie in der Küche mit dem Geschirr klapperte, dann nahm er noch einen Schluck aus seinem Chang Bier und wandte sich lächelnd an Jaidee. »Du bist ein wahrer Glückspilz.« Er war von Thai, das sie beim Essen gesprochen hatten, wieder auf Englisch umgeschwenkt.
Jaidees Gesichtsausdruck war nicht richtig zu deuten, er wirkte irgendwie melancholisch, als er stumm nickte. Nachdenklich rieb sich Alex das Kinn. Auch wenn sich das Paar die übliche thailändische Fröhlichkeit bewahrt und beim Essen angeregt mit ihm unterhalten hatte, war eine unterschwellige Anspannung zwischen den beiden deutlich spürbar gewesen.
Doch bevor Alex nachhaken konnte, kam Jaidee ihm zuvor. »Ist bei euch auf der Forschungsstation wieder alles in Ordnung?«
Alex hob die Achseln. »Wahrscheinlich waren die Kratzer in unserem Bus nur ein Dummer-Jungen-Streich.«
»Keine weiteren Vorkommnisse?«, hakte Jaidee nach.
»Nein, es war sicher Zufall.«
»Nimm es nicht auf die leichte Schulter, Alex!«
»Was sollen wir denn dagegen tun? Ihr selbst habt doch keine Spuren gefunden ...«
»Eure Arbeit ist vielen Fischern hier ein Dorn im Auge.«
»Das weiß ich! Die Schutzgebiete müssen jedoch dringend erweitert werden, wenn sie auch langfristig ihre Arbeit behalten wollen.« Er deutete aufs offene Meer hinaus. Am Horizont leuchteten die weißen und grünen Lampen der Fischerboote, als wären sie auf einer Perlenkette aufgereiht. »Solange die Überfischung anhält und die Fischer auch die noch nicht geschlechtsreifen Jungfische herausholen, wird es schwierig werden, wieder einen gesunden Fischbestand aufzubauen. Natürlich ist die Fischerei das einzige Einkommen vieler deiner Landsleute, aber wenn es keine Fische mehr gi...«
Ein gellender Schrei aus dem Hausflur unterbrach ihn.
*
Die blaue Plastiktonne, wie sie zum Transport von Fischen verwendet wurde, war groß und schwer. Chakris Herzschlag beschleunigte sich. Zu schwer für Fisch. Und sie roch auch nicht danach. Keuchend verlagerte er die Tonne auf sein Knie, als das Gewicht drohte, seinen vor Aufregung schweißfeuchten Händen zu entgleiten. Hatte er das Elfenbein tatsächlich aufgespürt?
Er setzte die Tonne ab, danach wischte er sich den Schweiß von der Stirn und bemühte sich um einen gleichmütigen Gesichtsausdruck, als er sich an den vermeintlichen Fischer neben sich wandte. »Wo sollen wir die Fische hinbringen?«
Der Fischer verzog sein wettergegerbtes Gesicht zu einem schiefen Grinsen. »Wer zu viel redet, verschwendet seine Arbeitszeit.« Seine Sprache klang, als würde er aus dem Nordosten, Richtung Laos, kommen.
Chakri presste die Lippen zusammen, nickte und schleppte die Tonne keuchend zum wartenden Pick-up, von dem die weiße Farbe bereits abblätterte und Roststellen freigab. Nachdem er die Tonne auf die Ladefläche gewuchtet hatte, bückte er sich und versuchte, das Kennzeichen zu entziffern, doch hinter der heruntergeklappten Ladefläche konnte er nichts erkennen.
Keinesfalls durfte er sich verraten. Noch nie waren sie ihrem Ziel so nahe gewesen, herauszufinden, wo die Schmuggelware in Phuket zwischengelagert wurde. Zu gerne hätte er Jaidee Bescheid gegeben, doch er konnte nicht unbemerkt telefonieren. Hätte er seinen Partner doch bloß vorab informieren können! Aber die Chance war zu groß gewesen, als dass er die Gelegenheit als Hilfskraft hätte ablehnen können, die sich ihm spontan angeboten hatte. Seit Tagen war er hier herumgelungert und hatte versucht, etwas herauszufinden. Sollte er tatsächlich an das richtige Schiff geraten sein? Fehler zu machen konnte fatal sein. Und Jaidee und er hatten Fehler gemacht. Sie hatten zu sehr vertraut. Wer von ihren Kollegen wohl ein Verräter war? Oder waren es mehrere? Irgendwer musste Jaidee verraten haben. Das Gehalt eines thailändischen Polizisten war niedrig. Viel zu niedrig. Die Aufbesserung war üblich. Doch wer verriet seine Kollegen? Den Ehrenkodex gab es nach wie vor.
Wieder ging er zurück zu dem großen Holzkahn, um die nächste Tonne entgegenzunehmen. Der penetrante Hafengeruch nach Fisch und Benzin, das irgendwo ausgelaufen war, legte sich beißend auf seine Atemwege. Er versuchte, flach zu atmen und sich auf seine Aufgabe zu konzentrieren. Der Name des Schiffes war nicht zu erkennen, es lag, wahrscheinlich von dem Gewicht der Tonnen, zu tief im Wasser, nur der Aufbau ragte über die hohe Pier. Er versuchte sich die Einzelheiten einzuprägen, die es von den anderen Holzschiffen unterschied. Stellenweise schaute Holz unter dem schäbigen türkisfarbenen Deckanstrich hervor.
Viermal noch musste Chakri schleppen, seine Arme und sein Nacken schmerzten schon höllisch, bis der Pick-up randvoll beladen war und die Federn unter der Last ächzten. Ein Stück weiter legte eine Fähre an und eine Gruppe Einheimischer und Touristen, von denen die meisten mit großen Rucksäcken bepackt waren, quoll aus dem Bauch des Schiffes. Tuk-Tuk-Fahrer stritten sich mit Taxi-Fahrern um die Kunden. Stimmengewirr hallte durch den Hafen. Kurz glaubte er, das Gesicht seines Gemüsehändlers zu entdecken und zog seinen Schlapphut tiefer ins Gesicht.
Immer wieder tastete er in seine Hosentasche oder versuchte, sich unauffällig abzusetzen, um Jaidee eine Nachricht zu senden, doch es kam ihm vor, als ob ihn die anderen mit Argusaugen überwachten und er keine Sekunde unbeobachtet war. Er war der Neue und musste sich erst bewähren.
Schnell folgte er ihnen zur Fahrerkabine. Zu seinen Füßen blitzte etwas auf. Chakri bückte sich. Er wischte mit dem Daumen den Schmutz von dem silbernen Delfin-Anhänger. Vielleicht könnte er die Kratzer herauspolieren und den Anhänger seiner Kleinen, der sechsjährigen Linley, mitbringen. Vor seinem inneren Auge flimmerte ihr fröhliches Lachen auf, das ihr ganzes Gesicht strahlen ließ. Auf einmal wünschte er sich, er könnte nach Hause fahren und sein Mädchen in die Arme schließen. Ein ungutes Gefühl kroch seinen Nacken hinauf, als er in den Fond des Pick-ups kletterte, der mit einer Trennwand von den Vordersitzen separiert war – nur die Schiebefenster waren einen Spalt breit geöffnet. Der schmale harte Sitz drückte sich in seinen Rücken. Seine Füße fanden kaum Platz zwischen den beiden Bastkörben am Boden, auch der Sitz neben ihm war mit Kisten belegt. Aus ihnen stieg ein fruchtiger Duft. Zu gerne hätte er gewusst, was sich darin befand. Gab es noch weitere Schmuggelgüter?
Das Gebläse am Armaturenbrett ratterte laut, doch es kam nur schwül-heiße Luft. Chakri versuchte, das Fenster zu öffnen, doch es gab keine Kurbel. Auf einmal wurde ihm das Atmen schwer, er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Möglichst unauffällig tastete er nach seinem Smartphone in der Hosentasche. Der Ton war abgestellt. Vielleicht könnte er unbemerkt eine Nachricht absetzen?
In dem Moment drehte sich der Beifahrer zu ihm um und schob die Trennscheibe auf. Die anderen nannten ihn »Fēng«. Er könnte zwar optisch als sein Landsmann durchgehen und sprach auch Thai, aber vermutlich kam er aus China, genauso wie der Fahrer. »Kannst du mir mal kurz dein Telefon leihen, damit ich Bescheid geben kann, dass wir bald da sind? Mein Akku ist leer.«
Chakri zögerte. Auch wenn er keine Nummern gespeichert hatte, gab er das Telefon nur ungern aus der Hand. Doch andererseits – nie könnte er einfacher an die Nummer des Lagerortes gelangen. Mit einem hoffentlich lässig klingenden »Klar!« reichte er sein Handy nach vorn.
Als die Trennscheibe mit einem lauten Klicken einrastete, fühlte er sich auf einmal nackt und schutzlos. Wieso hatte er nicht wenigstens vorher eine Nachricht abgesetzt?
Mit dem Handrücken wischte er sich die Schweißtropfen von der Oberlippe.
Der Kerl vorn machte keine Anstalten zu telefonieren.
Chakri klopfte gegen die Scheibe. »Wenn du fertig bist, kannst du mir das Handy zurückgeben? Ich wollte mich mit einem Kumpel treffen, ich sollte kurz sagen, dass es etwas später wird.«
Das grausame Lächeln traf ihn mitten ins Mark, als der andere sich umdrehte, langsam die Seitenscheibe herunterkurbelte und das Handy fallenließ. Das Knirschen, als die Räder des schweren Pick-ups darüber rumpelten, gab Chakri den Rest.
Er hatte einen verdammten Fehler gemacht! Ohne Waffe und ohne jemandem Bescheid zu geben hatte er sich auf dieses gefährliche Unternehmen eingelassen. Dieses Mal erschien ihm das Gesicht seiner kleinen Tochter vorwurfsvoll vor Augen. Und ihm wurde eiskalt.
*
Jaidee sprang so schnell auf, dass sein Stuhl umkippte und stürzte ins Haus. Im Laufen zog er die Waffe aus dem Holster an seiner Wade. Alex rannte ihm hinterher, sein Herz raste. Malee stand in der Haustür, die Hände vor den Mund geschlagen, und schluchzte unterdrückt. Alex reckte den Hals, um zu erspähen, was sie am Boden anstarrte.
Säuberlich aufgebahrt lagen eine große und zwei kleine Schwalben auf der Schwelle, die Köpfe im Genick verdreht. Aus ihren aufgeschnittenen Kehlen quoll Blut, rote Sprenkel glänzten auf dem weißen Federkleid.
In Alex blitzten Erinnerungen auf. Eine Leiche, mit unnatürlich verdrehtem Kopf. Ausströmendes Blut ...
Ihm wurde schlecht.
Jaidee zog Malee von der Tür weg und schob sie zu Alex. Instinktiv nahm er sie in den Arm. Das Schluchzen ließ ihren ganzen Körper erbeben. Er versuchte, sich die Angst, die ihn so plötzlich überkommen hatte, nicht anmerken zu lassen und murmelte ihr beruhigende Worte ins Ohr. Doch die Bilder, die stroposkopartig vor seinem inneren Auge aufblitzten, wollten nicht weichen.
Ein Blitzlicht flammte auf, dann schlug Jaidee, für einen Thai ungewöhnlich heftig, die Tür zu und hämmerte den Riegel vor.
»Ich wollte nur den Müll hinausbringen, da habe ich es gesehen«, presste Malee nach einer Weile weinend hervor, ihre sonst so schönen mandelförmigen Augen waren vor Schock weit aufgerissen und gerötet. »Meine Güte ... Die Kinder!«
Obwohl Alex ganz passabel Thai sprach, verstand er nur Bruchstücke von der folgenden Diskussion, die die beiden im Nebenzimmer führten. Wenn er es richtig interpretierte, wollte Jaidee, dass Malee ihn mit den Kindern verließ.
Unbehaglich trat er von einem Fuß auf den anderen. Neugier und Sorge wechselten sich in ihm ab. Was war nur passiert? Hatte es etwas mit Jaidees Tätigkeit als Ermittler der Königlichen Thailändischen Polizei zu tun? Er war wie ein Bruder für ihn – die Gefahr, in der seine Familie schwebte, legte sich wie ein Ring um Alex' Brustkorb, machte ihm das Atmen schwer.
Endlich kam Jaidee zurück und schob sich müde eine schwarze Strähne aus der Stirn. Momentan sah er wesentlich älter als sechsunddreißig aus.
»Wie sind die bloß an der Alarmanlage vorbeigekommen?«, murmelte er eher zu sich selbst, dann straffte er die Schultern. »Entschuldige, mein Freund, aber ich muss Malee beruhigen und schauen, wie ich sie in Sicherheit bringe.
»Was ist los?«
Jaidee winkte ab, doch Alex wiederholte beharrlich, jedes Wort betonend: »Verflixt, was ist los? Was hat das alles zu bedeuten?«
»Seit einiger Zeit bekomme ich Drohungen.«
Alex stieß die Luft aus. »Grundgütiger, in welcher Art Ermittlungen steckst du denn?«
Doch bevor Jaidee etwas sagen konnte, begann sein Sohn zu schreien. »Ich muss mich jetzt um meine Familie kümmern«, sagte Jaidee entschuldigend. »Ich komme morgen Abend bei dir auf der Forschungsstation vorbei, dann reden wir.«
»Wirst du deine Kollegen informieren?«
Jaidee schüttelte mit zusammengepressten Lippen den Kopf. Seine Miene war so abweisend, dass Alex nicht weiter nachfragte. Stattdessen sagte er: »Du solltest deine Familie von hier wegbringen.«
»Das weiß ich«, erwiderte Jaidee heftig. »Aber wo soll sie denn hin? Bestimmt haben die da draußen schon längst herausgefunden, wer unsere Verwandten und Freunde sind.«
»Und wenn du sie irgendwo in einer Pension einquartierst?«
»Sie müssen sich ausweisen und außerdem ...« Jaidee fuhr sich müde über die Stirn. »Wie lange soll das gehen?«
Wahrscheinlich dachte er an den finanziellen Aspekt, sie hatten erst kürzlich das Haus gebaut. Doch Geld brauchte Alex ihm gar nicht erst anbieten, dafür war sein Freund zu stolz. Mit den Fingern trommelte er auf den Tisch, dachte fieberhaft nach.
Plötzlich kam ihm die Idee. Er fuhr so schnell hoch, dass Jaidee zusammenzuckte.
»Ich hab's!« Das war die Lösung! »Ich habe einen Bekannten draußen auf einer Insel, er nennt sie Ko Faraway – den offiziellen Namen weiß ich gar nicht. Er hat ein paar Hütten, die leer stehen, es war mal ein Backpacker-Resort. Er will es irgendwann herrichten und vermieten, hat sich aber bislang nur dem gemütlichen Leben gewidmet. Man kann die Insel nur bei Hochwasser anlaufen, sonst ist es zu flach. Das wäre der ideale sichere Ort für Malee und die Kinder, ohne dass sie sich verstecken müssten.« Er zückte sein Handy und überprüfte das Tidenprogramm. »Hochwasser ist kurz vor ein Uhr nachts. Circa eineinhalb Stunden vorher können wir anlaufen. Das passt.«
Jaidee schien nicht abgeneigt, dennoch zögerte er. »Aber was wird er sagen?«
»Er ist total unkompliziert – wie die Australier so sind. Außerdem hat er eine thailändische Frau mit einem Kleinkind, die freut sich sicher über Gesellschaft. Wir könnten ihm im Gegenzug später mal bei seinem Umbau unter die Arme greifen.«
Das überzeugte Jaidee wohl, er stimmte zu.
Auf dem Handy zappte Alex durch seine Kontakte und rief Paul an. Wie erwartet war es für ihn kein Problem, Malee und die Kinder für einige Zeit aufzunehmen.
»Aber denk dran, ihr könnt nur bei Hochwasser ...«
Alex unterbrach ihn. »Ich weiß! Wir sind quasi schon unterwegs.« Er legte auf und wandte sich an Jaidee. »Wenn du eine Karte hast, können wir nach dem offiziellen Namen der Insel schauen.«
»Nein«, sagte Jaidee langsam. »Sag mir lieber nicht, wo du sie hinbringst.«
Alex erstarrte. Er musste sich anstrengen, seiner Stimme einen normalen Klang zu geben. »Deinem Wagen werden sie folgen und ich sollte nicht hierherkommen. Wir haben auf der Forschungsstation einen neutralen silbernen Toyota HiAce, wie sie hier zu Hunderten als Minibus und Taxi herumfahren. Ich fahre jetzt zurück zur Forschungsstation und gehe ihn holen. Dann treffen wir uns irgendwo unterwegs.« Zu viele Fragen brannten ihm auf der Zunge, doch jetzt hatte die Sicherheit der Familie Vorrang. So sagte er nur: »Lässt du mich zur Terrasse raus, falls jemand die Haustüre überwacht? Und schalt bitte die Alarmanlage kurz aus, bis du mein Moped hörst.«
Nach einer kurzen Umarmung im Dunklen schlich er sich in die laue Nachtluft. Auf einmal überkam ihn das Gefühl, seinen Freund zum letzten Mal gesehen zu haben. Im Schatten des Gebüschs kämpfte er sich voran. Er war froh, dass der zunehmende Mond schon untergegangen war und kroch von einem Busch zum nächsten. Plötzlich hörte er ein Rascheln, ganz in der Nähe. Er schluckte trocken und versuchte, die Geräusche des nicht allzu weit entfernten Strandes, die Musik der Kneipen und den Straßenlärm auszublenden und sich auf seine unmittelbare Umgebung zu konzentrieren. Ob Mensch oder Tier – hier konnte so einiges bei Nacht zur Gefahr werden. Das Blut, das in seinen Ohren rauschte, als er still in der Hocke an seinem Platz verharrte, war viel zu laut. Hatte es neben ihm wieder geraschelt? Warum musste er gerade jetzt an die Kobra denken, die Jaidee kürzlich in seinem Garten gefunden hatte? Eigentlich waren sie tagaktiv, doch in Siedlungsgebieten konnten sie auch dämmerungs- oder nachtaktiv werden. Die feinen Härchen auf seinen Armen richteten sich auf.
Plötzlich ging die Beleuchtung im Nachbarhaus an und warf einen hellen Lichtschein auf sein Versteck. Wenn er bloß kein weißes T-Shirt anhätte! Er drückte sich so flach es ging auf den Boden. Gerade konnte er noch ein paar Augen rot aufleuchten sehen, dann streifte ihn etwas Pelziges. Er zuckte zusammen.
Aber allemal lieber eine Ratte als eine Giftschlange. Als das Licht wieder ausging, kroch er geduckt weiter. Seine Sinne waren geschärft. Millimeter für Millimeter schob er sich voran. Ein stechender Schmerz fuhr in seinen Finger. Hatte er sich nur am Gras aufgeschnitten oder hatte ihn etwas gebissen? Nur mühsam konnte er sich zwingen, ruhig zu bleiben. Am liebsten wäre er zu seinem Moped gerannt. Das Blut rann warm seine Hand hinunter. Notdürftig wickelte er ein Taschentuch um den Finger und kroch weiter ums Haus herum in Richtung des Motorrads. Wie gut, dass er wegen der Massage vor dem Haus der Nachbarin geparkt hatte. Ob ihn jemand zuvor in Jaidees Haus gehen sehen hatte, konnte er nicht mit Bestimmtheit ausschließen, aber wenigstens waren sie nicht gleichzeitig gekommen.
Gedämpft drang wieder Babygeschrei zu ihm, sicherlich spürte Jaidees Sohn die Aufregung im Haus. In was war Jaidee bloß verwickelt?
Bislang hatte seine Arbeit bei der Polizei eher entspannt geklungen. Wogegen er wohl gerade ermittelte? Schwebten er und seine Familie tatsächlich in Gefahr? Trachtete ein Verrückter nach seinem Leben oder war es bloß ein äußerst makabrer Scherz? Vehement versuchte er, das Bild der toten Vögel in Verbindung mit Malee und den Kindern aus dem Kopf zu bekommen.
Das Herannahen eines Fahrzeugs riss Alex aus seinen Gedanken. Er richtete sich ein Stück auf. In Schrittgeschwindigkeit rollte ein schwarzer Pkw vorbei. Alex versuchte, die Marke zu erkennen. War es ein Daihatsu? Automarken waren nicht seine Spezialität. Er unterdrückte einen Fluch, als das Auto nur wenige Meter entfernt von Jaidees Haus anhielt. Als jedoch eine Thai-Familie mit zwei halbwüchsigen Jungen ausstieg und auf das übernächste Haus zuging, ließ Alex die Luft wieder aus seinen Lungen entweichen.
Alles blieb ruhig, so wagte er den Vorstoß. Mit einem großen Satz sprang er über den hohen Zaun auf das Nachbargrundstück. Hoffentlich hatten sie keine Alarmanlage und keinen Bewegungsmelder installiert. Das Aufkommen auf der anderen Seite war hart, das Geräusch hallte durch die Nacht.
*
Es dauerte nicht mal einen Wimpernschlag lang, bis Chakri klar wurde, dass sein Fehler tödlich gewesen war. Der Verräter musste im engsten Kreis sitzen – nicht viele hatten gewusst, dass er hier Undercover unterwegs war. Verzweifelt rüttelte er an der Tür, doch sie regte sich nicht einen Millimeter. Der Pick-up raste mit hundert Stundenkilometern die Schnellstraße in Richtung Norden entlang. Fieberhaft sah Chakri sich nach etwas um, mit dem er die Scheibe einschlagen konnte. In den Kisten neben ihm lagen Ananas, damit kam er nicht weiter. Der süße Duft legte sich schwer auf seine Atemwege. Panik drohte ihn zu überwältigen. Er musste schleunigst raus hier. Es konnte doch noch nicht sein Ende sein! Er war gerade mal zweiunddreißig! Seine kleine Tochter brauchte ihn. Seine Eltern waren auf seine Unterstützung angewiesen. Hatte er sich heute Morgen überhaupt von seiner Frau richtig verabschiedet? In letzter Zeit hatte es Differenzen gegeben. Auf einmal wünschte er sich, er wäre nicht immer so starrköpfig gewesen.
Die Leuchtreklamen der Läden, die Kautschukwälder und Ananasfelder – alles zog wie in einem Zeitraffer an ihm vorbei. Er musste raus hier! Im Dunkeln bückte er sich zu den Bastkörben zu seinen Füßen. Der Deckel lag nur lose auf.
Es war nur ein kleiner Stich neben seinem Handgelenk, wie eine Injektion, dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Keulenschlag, als sich glatte Haut an seinem Arm entlangschlängelte und es unmittelbar darauf in seinem Bein stach. Sein Blick schoss nach unten. Das Hämmern seines Pulses übertönte den Motorlärm. Der Biss einer Kobra war tödlich, wenn er nicht sofort in Behandlung kam.
Seine Hilfeschreie fanden kein Gehör.
*
Zwei Stufen auf einmal nehmend rannte Alex die Treppe zu den Unterkünften im Forschungsgebäude hinauf. Am Waschraum stoppte er kurz, wusch sich das inzwischen getrocknete Blut von der linken Hand, zog sein blutverschmiertes Shirt über den Kopf und stopfte es in die Wäschetrommel. Auf dem Gang lief er direkt in seine Stellvertreterin Monica hinein. Die zierliche Person wurde von dem Zusammenprall beinahe umgeworfen, er konnte sie gerade noch mit seiner Rechten festhalten. »Ups, sorry!«
Sie lachte. »Wohin des Wegs so hastig, schöner Mann?«
Zerstreut erwiderte er das Lachen. Ohne auf ihre Frage einzugehen, ging er weiter. »Weißt du, wo der Bus ist? Ich bräuchte ihn dringend.«
»Oh! Ich habe Jimmy erlaubt, dass er ihn nehmen kann, da die Studenten zum Sonnenuntergang auf den Berg zum großen Buddha wollten, aber er sollte eigentlich schon längst wieder da sein.« Sie fuhr sich durchs Haar, sodass ihre dunkelroten Stoppeln in alle Himmelsrichtungen abstanden. »Vielleicht sind sie noch Essen gegangen?«
»Verdammt«, stieß Alex zwischen den Zähnen hervor.
Sie schien seine Sorge falsch zu verstehen: »Er ist wohl schon öfter Rechtslenker gefahren und kennt sich mit Linksverkehr aus.«
Abwehrend schüttelte er den Kopf. »Das passt schon. Sorry, ich bin in Eile, kannst du mir einen Gefallen tun? Ruf ihn bitte an und frag, wann sie kommen. Wenn sie noch länger unterwegs sind, muss ich umdisponieren.« Jaidee war schon auf dem Weg, seine Familie zum Restaurant Pirate's Hole zu bringen, das einen Hinterausgang hatte, an dem Alex sie dann übernehmen sollte.
»Klar, mache ich. Brauchst du sonst noch was?«
»Würdest du Wiwat fragen, ob er mit unserem Schlauchboot vollgetankt an der Kopfseite des Chalong Piers auf mich warten kann? Ich komme in circa einer halben Stunde dorthin, dann tauschen wir Boot gegen Bus.« Als er Monicas fragenden Blick sah, sagte er über die Schulter: »Ich erkläre dir alles später.«
Mit großen Schritten eilte er zum Erste-Hilfe-Raum, um die Wunde zu desinfizieren. Quer über seinen linken Ringfinger zog sich ein großer Schnitt, der sich an den Rändern bereits rötete. Besser er versorgte das gleich, bevor er sich in dem warmen Tropenklima noch eine Infektion holte.
Als er sich in seinem Zimmer ein schwarzes T-Shirt und eine schwarze Jeans überzog und die blonden Haare unter einer schwarzen Strickmütze verbarg, kam er sich vor wie der Meisterdieb über den Dächern von Nizza, doch besser, er war so unsichtbar wie möglich.
Auf dem Gang stand Monica, ihr Handy ans Ohr gepresst. Sie formte Daumen und Zeigefinger zu einem Okay-Zeichen, dann hob sie drei Finger in die Luft.
»Sie sind schon auf der Zufahrtstraße, drei Minuten«, sagte sie, als sie das Gespräch beendet hatte.
»Super, ich geh gleich runter und übernehme.«
»Was ist denn eigentlich los?«
»Ich muss dringend einem Freund helfen.«
Kurz sah Monica aus, als wollte sie weiter fragen, dann sagte sie nur: »Viel Erfolg.«
»Danke.« Den können wir brauchen! Er beeilte sich, in den Geräteraum zu kommen, um seine Vorbereitungen für den Transport zu treffen.
»Der Big Buddha ist nicht groß, er ist riesig«, stieß Kim hervor, kaum, dass sie die Tür des Minibusses geöffnet hatte.
»Mir haben die goldenen Mönche ganz gut gefallen – sie sahen so echt aus«, erwiderte Jimmy. »Und die Glöckchen.«
Alex versuchte, sich seine Ungeduld nicht anmerken zu lassen und ließ das Geplauder seiner Praktikanten mit erzwungenem Lächeln an seinem Ohr vorbeiziehen, doch am liebsten hätte er die vier aus dem Bus gezerrt. Kaum waren sie draußen, schwang er sich schnell auf den Fahrersitz und startete den Motor, bevor sie weiterreden oder womöglich noch Fragen stellen konnten. Jaidee war sicherlich schon fast beim Restaurant und würde auf Kohlen sitzen, bis Alex seine Position bestätigte. Seine Aufregung steigerte sich.
Im Bus war es angenehm kühl, Jimmy hatte wohl während der Fahrt die Klimaanlage laufen lassen, dennoch hatte Alex den Eindruck zu schwitzen. Fest umklammerte er das Steuer, als er über eine Bodenschwelle fuhr. Wenn er es nur schaffte, die drei heil wegzubringen!
Für Bedenken blieb keine Zeit mehr – schon holperte er über die von Schlaglöchern übersäte Straße, die parallel zum Eingang des Pirate's Hole verlief. Um diese Zeit gab es hier wenig Verkehr – das war gut, da sie so eng war, dass gerade zwei Fahrzeuge aneinander vorbei passten und er beim Halten eine Spur blockierte. Alex fluchte unterdrückt. Ausgerechnet jetzt kam natürlich aus jeder Richtung ein Auto. Er schaltete die Warnblinkanlage an. Gut, dass die Thai generell weniger zum Hupen neigten – sein Hintermann wartete geduldig, bis das andere Auto passiert hatte. Aber warum fuhr er nicht los? Alex öffnete die Scheibe und winkte den anderen vorbei. Die Sekunden flossen so zäh dahin wie der Kautschuk auf den zahlreichen Plantagen der Insel, bis der andere endlich im Schritttempo vorbeituckerte. Durch die dunklen Scheiben konnte Alex nicht erkennen, wer hinter dem Steuer saß. Hoffentlich kam Malee nicht gerade jetzt. Lässig grüßte er zum Fenster hinaus. Unauffällig wirken! Jetzt wünschte er sich seinen Kumpel Walther an die Seite, den er um eine Zigarette anschnorren könnte. Seine letzte lag schon über fünfzehn Jahre zurück, das Verlangen war weg, aber Raucher wirkten einfach unauffälliger. Er ließ die Scheibe wieder hinauf, so fühlte er sich weniger auf dem Präsentierteller. Das Summen des elektrischen Fensterhebers zerrte an seinen Nerven.
Alex mahnte sich zur Ruhe und versuchte, die rasenden Gedanken zu beschwichtigen. Wo blieb Malee mit den Kindern?
Seine Augen scannten das Gebüsch vor dem Hinterhof des Pirate's Hole ab. Schwach drang ein Lichtschein aus dem Holzgebäude durch die Büsche.
Plötzlich klickte etwas. Er zuckte zusammen. Hatte jemand eine Pistole entsichert? Seine Augen huschten von Spiegel zu Spiegel. Nichts zu sehen. Da war es wieder! Klick, klick. Alex schüttelte den Kopf. Ein Geräusch aus dem abkühlenden Motor! Die fünf Minuten waren schon längst überschritten. Hatte es Probleme gegeben? Auf dem Handy war keine Nachricht.
Wieder verstrichen dreißig Sekunden. Er zählte im Geiste mit. Wo blieb sie?
Einunddreißig, zweiunddreißig, dreiunddreißig, vierunddreißig ... Und keine Nachricht. ... Siebenundfünfzig, achtundfünfzig, neunundfünfzig, eine Minute.
Das Bild vor Jaidees Tür ließ sich nicht aus seinen Gedanken bannen. Die Vogelmutter und ihre beiden Jungen. Er schauderte. Fein säuberlich hingerichtet.
Am liebsten wäre er aufgesprungen und ins Restaurant gestürmt. War Jaidee überhaupt dort angekommen? Warum meldete er sich nicht? Was war los? Zu viel Zeit dürften sie sich nicht lassen, sonst würde es eng mit der Anfahrt, weil das Wasser mit der nahenden Ebbe zu flach werden würde. Nur widerwillig öffnete Alex beide Seitenfenster und versuchte, ein Geräusch aus dem Restaurant zu erhaschen. Von der Hauptstraße drang Motorlärm, aus der Entfernung hörte er Stimmengemurmel, doch es schien aus einer anderen Richtung zu kommen.
Er zuckte zusammen, als plötzlich ein Schatten durch die Büsche fiel. Sofort startete er den Motor und entsicherte die Türverriegelung. Malee wirkte blass, die Augen riesengroß, als sie, den schlafenden Praphat auf dem Arm und Narisara an der Hand, auf ihn zu stolperte. Warum hatte dieser Bus auf der Mittelkonsole solch eine verfluchte Armstütze? Alex zwängte sich aus dem Fahrersitz und hangelte nach dem Türgriff der Schiebetür. Schmerzhaft drückten sich die Lehne und der Beifahrersitz gegen seine Rippen, doch schließlich schaffte er es, den Griff nach hinten zu drücken. Laut dröhnten das Knacken und das darauffolgende Öffnen der Schiebetür in seinen Ohren. Viel zu laut.
Kaum hatte Malee die Tür hinter sich und den Kindern zugezogen, raunte er ihr zu: »Setzt euch auf den Boden und haltet euch fest, ich fahre gleich los.«
Die dunklen Scheiben verhinderten zwar jegliche Einsicht, aber er wollte auf Nummer sicher gehen.
Malee gab nur einen zustimmenden Laut von sich, kauerte sich auf den Boden, den im Schlaf glucksenden Praphat an sich gedrückt. Das Mittel, das sie ihm laut Jaidee gegeben hatte, schien zu wirken. Narisara klammerte sich am Arm ihrer Mutter fest. Leise murmelte sie ihren Kindern beruhigende Worte zu. Narisara fing an zu weinen und nach ihrem Vater zu fragen.
Er musste sich bremsen, um nicht aufs Gaspedal zu drücken – sein Fluchtinstinkt drängte sich mit aller Gewalt in den Vordergrund. Vorsichtig manövrierte er den Bus um die Schlaglöcher herum, immer wieder schweifte sein Blick in die Rückspiegel. Etwas weiter hinten tanzte das einzelne Licht eines Rollers, doch es kam nicht näher.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Alex auf Thai.
Malees Stimme klang belegt, als sie auf Englisch antwortete. Wahrscheinlich wollte sie vor den Kindern nicht zu viel preisgeben. Ihr Akzent war vor Aufregung noch stärker als sonst, er musste sich anstrengen, um alles zu verstehen. »Jaidee war nicht sicher, ob jemand uns folgt. Aber ich denke, sie merken nicht so schnell, dass wir vom Händewaschen nicht wiederkommen.« Sie rang um Fassung. »Jaidee hat mir nicht gesagt, wo du uns hinbringen wirst oder in was er verwickelt ist.«
Auch um die späte Stunde war auf der Hauptstraße noch viel los. Vorsichtig bog Alex in den fließenden Linksverkehr ein, dann sagte er über die Schulter: »Ich weiß auch nicht, woran Jaidee arbeitet. Doch wir haben vereinbart, dass auch er erst einmal nicht erfährt, wo ich euch hinbringe.« Kurz stockte er, als Malee schniefte. Sie tat ihm leid, denn natürlich würde auch ihr klar sein, dass ihr Mann sichergehen wollte, nichts verraten zu können, falls er selbst bedroht würde. Die Gefahr in der Jaidee schwebte – der ihm mehr Bruder als Freund war –, hing wie ein Damoklesschwert über ihnen.
»Warum kommt er nicht mit uns?«, platzte Malee heraus.
Was sollte er darauf sagen? Weil Jaidee mit Leib und Seele Polizist war und sich seinem Fall stellte? Das würde ihr kein Trost sein. Er kam sich schäbig vor, als er ihre Frage ignorierte und stattdessen fortfuhr: »Am Hafen wartet unser Schlauchboot. Ich werde euch nach Ko Faraway zu einem Freund von mir bringen. Dort seid ihr gut aufgehoben. Und Jaidee kann euch bald kontaktieren, ich habe neue Handys für euch besorgt.« Kurz wurde seine Konzentration vom Kreisverkehr in Anspruch genommen, in dem Autos und Roller wild die Spuren wechselten, dann sprach er weiter: »Es ist unser Tauchboot. Das Beste ist, du ziehst den Tauchanzug an, den ich dir hingelegt habe. Er ist vielleicht ein bisschen groß, aber es sollte einigermaßen gehen. Zieh auch die Kapuze auf, damit erkennt man dich nicht so gut.« Mit dem Daumen deutete er auf den Fußboden. »Ich habe auch zwei Tauchkisten eingepackt. Denkst du, wir können die Kinder darin an Bord bringen?«
Malee schien noch völlig durch den Wind zu sein, doch sie versuchte sichtlich, sich zusammenzureißen. Sie sprach mit Narisara. Alex verstand nicht alles, was sie sagte, aber sie pries das Ganze als Abenteuer an. »Ich denke schon«, sagte sie schließlich.
Alex bog in die Zufahrt zum Pier ein und lächelte ihr im Spiegel beruhigend zu. »Prima. Dann zieh dich am besten jetzt um.«
Der Wächter an der Schranke musterte den Bus kritisch, als er die Gebühr für das Befahren des Piers entgegennahm.
»Wohin geht es denn so spät?«, fragte er prompt.
Alex versuchte, unbekümmert zu klingen. »Zu einem Tauchschiff. Wir wollen nur ein paar unserer Bojen überprüfen. Ich muss Ausrüstung an den Steg bringen.«
In dem Moment quengelte der kleine Praphat. Der Wächter hob neugierig den Kopf. Alex ließ den Motor aufheulen, um das Geräusch zu übertönen, das Malee sofort zu ersticken versuchte. Er grinste den Wächter an. »Hoppla.«
Glücklicherweise ließ er die Schranke hoch, ohne weiter nachzufragen. Alex bog links auf den Pier ein.
Da sah er auf einmal, dass ein Roller die Schranke passierte. Er ging vom Gas, um ihn vorbeizulassen, doch der Fahrer hielt an. Als Alex wieder beschleunigte, fuhr auch der Roller los und folgte ihm. War er ihm schon die ganze Zeit auf den Fersen gewesen? Im Rückspiegel war ihm nichts aufgefallen, doch der Rollerverkehr war wie immer dicht gewesen. Er verlangsamte bei der Fahrt über eine Bodenschwelle. Seine Fingerknöchel traten weiß hervor, so fest umklammerte er das Lenkrad. Der Roller knatterte laut hinter ihm. Er fuhr auch nicht auf den Parkplatz für Zweiräder neben dem Yachthafengebäude, sondern folgte ihm weiter bis zum Ende des Piers. Gedanken jagten Alex durch den Kopf. Sollte er es wagen, Malee und die Kids jetzt herauszulassen, oder sollte er warten?
Langsam ließ er den Bus voranrollen. Dort stand Wiwat, der Bootsjunge und Mann für alles auf ihren Tauchschiffen, der seine Arbeit mit einer unnachahmlichen Begeisterung nachging. Alex zögerte. Der Rollerfahrer parkte ebenfalls und starrte aufs Meer hinaus. Er schien Asiate zu sein, hatte ein dunkles Basecap tief in die Stirn gezogen, sein Alter war schwer zu schätzen, aber die Statur wirkte kräftig und fit.
In Alex brodelte es. Zu gerne hätte er umgedreht und wäre einfach wieder abgefahren, aber was, wenn er nur Gespenster sah? Malee und die Kinder mussten in Sicherheit gebracht werden.
»Mach dich bereit und warte auf weitere Instruktionen von mir, ich checke mal die Lage«, raunte er über die Schulter und parkte den Bus. Er stülpte sich die schwarze Strickmütze über und stopfte die halblangen Haare darunter. Falls Wiwat sich über die Kostümierung wunderte, ließ er sich nichts anmerken. Viele Taucher trugen zum Schutz vor dem Wind Mützen beim Bootfahren, vielleicht war es für ihn normal.
»Alles klar?«, fragte Wiwat auf Deutsch. Er sprach nur einige Brocken, aber das war sein Lieblingsausdruck, den er gerne und häufig anwandte.
Auch wenn überhaupt nichts klar war, nickte Alex. »Alles klar.«
Möglichst unauffällig schielte er zu dem Rollerfahrer, der sie nicht zu beachten schien. Er blieb auch gegenüber Wiwat bei seiner Geschichte, eine der Bojen, mit denen sie ihre Schutzgebiete markiert hatten und die regelmäßig Signale abgaben, überprüfen zu wollen. Der Bootsjunge würde nicht nachfragen, mit den Forschungen hatte er nicht viel zu tun.
»Soll ich mitkommen?«
»Nein, es wäre super, wenn du den Bus wieder zur Station zurücknehmen könntest.«
Wiwat fragte nicht weiter nach, sondern machte einen Schritt auf den Minivan zu. Alex hielt ihn auf.
»Warte, kannst du runter zum Boot gehen und mir gleich zwei Kisten abnehmen?«
»Alles klar.«
Dieses Mal war die Anspannung zu groß, das Grinsen geriet schief.
Eine Böe wehte Zigarettenrauch von dem Rollerfahrer zu ihnen herüber, doch er schien sich nach wie vor nicht um sie zu kümmern.
Alex bekam einen trockenen Mund, als er zurück zum Bus ging und die Schiebetür öffnete. Das Innere war von der Seite, wo der Rollerfahrer stand, nicht einsehbar. Mit einem Schluck lauwarmen Wasser aus einer Flasche, die er vor zwei Tagen im Bus vergessen hatte, spülte er seine Ängste hinunter und wisperte Malee, die gerade den Reißverschluss des Tauchanzugs schloss, zu: »Alles okay? Können wir los?«
Sie nickte nur stumm, dann wandte sie sich an ihre Tochter: »Du bist jetzt ganz lieb und wir spielen unser Versteckspiel, okay? Ich komme dich gleich suchen.«
Narisara kletterte in die größere der beiden Tauchkisten.
Alex beugte sich zu ihr hinunter. Der Anblick der großen dunklen Augen, die ihn ängstlich anstarrten, schnitt in sein Herz. Bitte lass mich die Kleine beschützen können! sandte er in Gedanken irgendwo ins All.
»Okay, gleich geht die Reise los. Dauert nicht lange«, raunte er ihr möglichst fröhlich zu, dann legte er die Klappe darauf. Die Kleine wog nur circa fünfundzwanzig Kilo – nicht viel mehr als eine komplette Tauchausrüstung – dennoch musste er schwer keuchen, als er mit der Kiste vorsichtig über die mit Riffelblech belegte Rampe zum Schwimmsteg hinunterlief. Das durch den Schwell im Hafen verursachte Schaukeln des Stegs machte ihm das Gehen mit der Last doppelt schwer. Hoffentlich hielt die Kiste! Und hoffentlich blieb die Kleine ruhig. Zu dem Rollerfahrer wagte er nicht zu schauen. Unter der Strickmütze sammelte sich der Schweiß, ein Tropfen rann seine Wange hinunter. Schmerzhaft schnitt die Kante der Kiste in seinen verletzten Ringfinger. Er hielt inne, drückte die Kiste gegen Bauch und Oberschenkel und verlagerte sie vorsichtig. Von innen kam ein Laut.
»Alles in Ordnung«, murmelte er leise, er musste nach Atem ringen. Noch wenige Meter. Seine Arme schmerzten. Schritt für Schritt tastete er sich über die aus dem schwankenden Steg hervorstehenden Nägel voran. Wiwat stand schon im Schlauchboot bereit. Hoffentlich würde er die Kiste nicht öffnen. Erleichterung durchflutete Alex, als er seine Last auf den prall gefüllten Schlauch sinken lassen konnte. Er drückte den Deckel zu.
»Vorsicht, das sind empfindliche Messgeräte«, log er, als Wiwat ihm die Kiste abnahm. »Stell sie bitte hier ins Heck.« Er betete, die Kleine möge keinen Laut geben und bekäme genug Luft. Er versuchte das Bild der dunklen Augen, die ihn so hilflos angeschaut hatten, zu verdrängen.
Dann räusperte er sich. »Ich ... habe noch jemanden dabei. Bitte Diskretion!«
Wiwat riss erstaunt die Augen auf, dann grinste er verstehend. »Alles klar.«
In dem Moment war es Alex völlig gleichgültig, dass sein Mitarbeiter vermutlich falsche Schlüsse zog und ein heimliches Rendezvous vermutete. Wenigstens war das eine mögliche Erklärung, warum er hier am Pier und nicht an der Station startete.
Immer noch außer Atem hastete er den Steg wieder hinauf. Der Rollerfahrer hatte sich die nächste Zigarette angezündet und drehte den Kopf weg, als Alex ihn ansah. Die Anspannung verhärtete sämtliche Muskeln in seinem Körper. Malee kauerte im Fond des Wagens, die langen lackschwarzen Haare zu einem Knoten geschlungen und den Tauchanzug bis unters Kinn geschlossen. Der kleine Praphat lag bereits in der Tauchkiste. Im Stillen befürchtete Alex, dass er anfangen würde zu weinen, doch er hatte den Daumen in den Mund geschoben und schien zu schlafen.
Wenigstens wog der Kleine nicht viel, das nahm besonders sein schmerzhaft pochender Ringfinger wohlwollend auf. Dennoch rann ihm der Schweiß unter der Wollmütze hervor in die Augen. Alex blinzelte, doch er wollte nicht anhalten. Neben sich hörte er Malee stoßweise atmen. Ihre Anspannung war förmlich spürbar und verstärkte seine eigene.
Plötzlich ruckte es an seinem Fuß. Alex strauchelte, verlor das Gleichgewicht. Die Kiste drohte, seinen Händen zu entgleiten. Ein gellender Schrei erklang. Sekundenbruchteile lang schien die Welt zu erstarren, bis Alex Malees Hand an seinem Oberarm spürte, die ihn stützte.
Geistesgegenwärtig hatte sie ein schrilles Lachen ausgestoßen, gefolgt von einem: »Oh, wie ungeschickt von mir.«
Alex Herzschlag setzte ein paar Takte aus. Würde ein Außenstehender sich Gedanken machen, ob die Laute wirklich von ihr gekommen waren? Dann hörte er ein leises Glucksen aus der Kiste. Der Kleine war wirklich pflegeleicht. Mit wackeligen Knien befreite Alex seinen Turnschuh von einem hervorstehenden Nagel, an dem er hängengeblieben war, und ging die letzten Schritte zum Boot. Vorsichtig setzte er die Kiste ab und schielte über seine Schulter. Alles unverändert.
Wiwats vielsagendes Grinsen lenkte ihn kurz ab. Alex versuchte, seinem Gesicht den Ausdruck eines Mannes zu geben, der gerade vorhatte, Arbeit und Vergnügen zu verbinden, doch ziemlich sicher gelang es ihm nicht übermäßig gut.
Ungeduld übermannte ihn. Es dauerte gefühlte Stunden, bis Wiwat die Kiste abgestellt und den Busschlüssel und das reichliche Trinkgeld von Alex eingesteckt hatte, bevor er endlich von Bord war.
Wiwats Strahlen ließ sein schmales Oberlippenbärtchen fast wie einen geraden Strich erscheinen. »Enjoy the ride.«
Alex versuchte sich an einem wissenden Grinsen, auch wenn ihm gerade nicht einfiel, welcher Song das war. Wiwat liebte nichts mehr als Liedtitel zu zitieren. »Thank you for being a friend«, improvisierte er auf die Schnelle. Er hatte keinen Nerv, nach einem sinnigen Titel zu suchen.
»Der Song von dieser amerikanischen Serie Golden Girls?«, fragte Wiwat stolz.
Alex nickte abwesend.
Wenigstens sprang der Zweihundertfünfzig-PS-Außenbordmotor sofort an. Er warf die Leinen los und manövrierte sich vom Steg frei. Der Rollerfahrer sah ihnen nach. Am liebsten wäre er mit Vollgas davongeprescht, doch im Ankerfeld, wo Hunderte von Segel- und Motorbooten lagen, war nur Schrittgeschwindigkeit erlaubt, um Wellenschlag zu vermeiden, und er wollte nicht auffallen. Mit brennenden Augen starrte er auf die dunkle Wasseroberfläche, versuchte, Festmacherbojen und im Wasser schwimmende Leinen zu erkennen, die sich in der Schraube verfangen und das Schiff manövrierunfähig machen konnten. Er traute sich nicht, den Scheinwerfer zu benutzen, der weit vom Ufer aus sichtbar gewesen wäre. Seinen Kurs setzte er zuerst in Richtung Südwesten ab, obwohl sein Ziel im Osten lag, bis er sich sicher sein konnte, dass niemand ihm folgte. Wenn er nur wüsste, wer Jaidees Feinde waren!
Gerade wollte er Malee, die sich zwischen die beiden halbgeöffneten Kisten kauerte und mit ihren Kindern sprach, erlauben, die beiden herauszulassen, da zerriss das ohrenbetäubende Knattern eines Longtailboat-Motors die schwarze Nacht. Es nahm direkt Kurs auf sie.
*
In einem Schwall übergab sich der Gefangene auf die Bodenkacheln. Das Erbrochene lief unter den nackten Körper, in dem sich das Gift der Kobra nach und nach ausbreitete.
Lóng lehnte sich genüsslich in seinem Stuhl zurück. »Du hast eine hübsche Tochter, Chakri. Sechs Jahre alt. So jung und zart. In dem Alter sind sie ein wahres Geschenk ...« Er lächelte, während der Kerl sich wie ein Wurm am Boden wand. Der war so dumm! Wenn er sich aufregte und bewegte, würde das Gift noch schneller in seinem Körper zirkulieren.
»Du Dreckschwein«, heulte der Bulle auf.
»Ich werde deiner Tochter vielleicht mal einen Besuch abstatten.« Das war ursprünglich gar nicht sein Plan gewesen, aber der Gedanke gefiel ihm zunehmend. Kurz drängte sich das Gesicht der Kleinen mit ihren frech abstehenden Zöpfen vor sein inneres Auge, dann konzentrierte er sich wieder auf den am Boden liegenden Polizisten.
»Lass deine dreckigen Pfoten von meiner Tochter!« Chakri nuschelte, auch die Lähmung des Sprachzentrums setzte so langsam ein.
Kobragift war wirklich etwas Faszinierendes, damit hatte er bislang noch nie gearbeitet. Das sollte er sich merken. Lóng fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Wir haben euch gewarnt. Aber ihr hört ja nicht. Einige von euch sind klug. Sie halten zu uns. Sind nicht so borniert und elitär. Warum müsst ihr so dumm sein? Es geschieht euch ganz recht.«
Dem Thai stand der Schweiß auf der Stirn und ein Spuckefaden lief seine Wange hinunter, als er den Kopf in unnatürlichen Zuckungen verdrehte. Das Gesicht war angeschwollen. Lóng sog den Anblick in sich auf. Es war ein verfickter Bulle. Einer der Sorte, die sich für etwas Besseres hielt. Wahrscheinlich einer derjenigen, die auf die in ihrem Land lebenden Chinesen herabsahen. Lóng zog lauthals den Schleim den Rachen hinunter, bevor er auf den Boden spie. Verrecken sollte der Scheißkerl! Er hatte es nicht anders verdient.
»Wir werden euch ...«, lallte Chakri, dann rang er rasselnd um Atem.
Der Kerl war wirklich amüsant. »Was werdet ihr denn? Falls du es noch nicht verstanden hast ...« Er lachte. »Du wirst gar nichts mehr.«
»Die anderen ...«, keuchte er. »Die anderen werden ...«
»Du meinst dieser Jaidee Boonsam?« Lóng genoss das Erschrecken, als Chakri klar wurde, dass sie viel mehr wussten, als er vermutet hatte. »Ja, wir wissen es. Wir wissen viel. Viel mehr als ihr von uns wisst. Ihr habt doch keine Ahnung, was alles über unseren Tisch läuft. Bei uns funktioniert die Tarnung besser als bei euch. Ihr solltet vielleicht auch schauen, wem ihr etwas erzählt.« Er lachte höhnisch.
Beim Gedanken daran, wie ihm diese Typen das Leben schwermachten, kroch wieder die kalte Wut in ihm auf. »Ihr alle werdet nichts mehr! Wir haben jeden von euch verschissenen Thai-Bullen im Auge. Euch, eure Familien, eure Freunde ... alle!« Er spuckte verächtlich ein weiteres Mal auf den Boden. »Jeden eurer Schritte haben wir im Blick. Ihr werdet bluten. Ihr – und alle, die euch nahestehen! Dieser Jaidee hat auch eine hübsche Tochter.« Anzüglich fasste er sich in den Schritt.
Der Bulle riss die Augen auf, so gut es seine geschwollenen Lider zuließen, stieß Laute hervor – doch er war schon nicht mehr in der Lage zu sprechen. Auch seinen Darm hatte er nicht mehr unter Kontrolle.
Lóng störte sich nicht daran. Zuerst hatte er bedauert, dass er sich den Bullen nicht selbst vornehmen konnte, aber sie wollten schließlich keine Spuren hinterlassen. Die verfickten Cops sollten rätseln, ob der Schlangenbiss nicht doch ein Unfall gewesen war. Zumindest das Schauspiel hatte er nicht verpasst.
Fasziniert beobachtete er, wie das Gift wohl so langsam das Gehirn erreichte und das Atemzentrum lahmlegte. Der Gefangene zuckte unkontrolliert. Das Ersticken zog sich über mehrere Minuten hin und Lóng ließ sich keine Sekunde davon entgehen. Erst als er sicher war, dass es vorbei war, stand er auf.
Er hatte noch einiges vor.
*
Der böige Wind aus Südost verursachte eine kurze, steile Welle, die jedes Mal, wenn das Schlauchboot mit dem Bug in ein Wellental krachte, Gischt über Alex und seine Passagiere spritzte, die sich unter einer Plane auf der Heckbank zusammengekauert hatten. Weiße Schaumkronen brachten die schwarze See zum Kochen. Seine Augen brannten und die Gesichtshaut spannte von der Salzschicht. Jeder Schlag setzte sich sofort in seiner Wirbelsäule fort. Er war froh, als er an der Südost-Spitze von Phuket vorbei war und Wind und Wellen achterlicher kamen. Nun schoben die Wellen, doch der Schwell war immer noch hoch. Das Longtailboat hatten sie längst außer Sichtweise verloren. Glücklicherweise, denn Alex' gesamte Konzentration wurde durch das Fahren bei Nacht gefordert. Der Steg zur Insel »Ko Faraway« lag relativ ungeschützt, hoffentlich könnte er Malee und die Kinder sicher an Land bringen.
Den Tiefenmesser immer im Auge behaltend tuckerte er langsam voran. Das Flach zog sich endlos vor der Insel hin und sie waren schon spät dran. Am Holzsteg lagen zwei Boote quer und zerrten knarrend an ihren Leinen. Verdammt! Er würde an einem anderen Schiff längsseits gehen müssen.
Das Anlegen bei den hohen Wellen, die sich im Flachwasser brachen und ihn in Richtung Steg drückten, forderte seine gesamte Aufmerksamkeit. Die mondlose Nacht machte es noch schwieriger. Vorsichtig manövrierte er das acht Meter lange Schlauchboot längsseits an ein Holzboot und vertäute es. Der Geruch nach feuchter Erde und Regenwald vermischte sich mit dem von Frangipani-Blüten.
Da kam auch schon Paul über den schmalen Sandpfad, der von Kokospalmen und Gestrüpp umsäumt war, angelaufen. Wie immer war er barfuß, in geblümten Shorts und offenem Hemd, den Bauch weit vorgewölbt. Mit einem herzlichen Lachen auf den Lippen begrüßte er sie.
Alex lächelte zerknirscht. »Sorry, dass wir euch hier mitten in der Nacht ...«
»Red nicht lang. Schön, dass ihr da seid.«
Die Umarmung und der kräftige Schlag auf seinen Rücken drohten den Erfolg der Massage vollends zunichtezumachen, dennoch wurde Alex von Erleichterung überflutet. Instinktiv spürte er, dass dies genau der richtige Platz für die drei war. Bevor er reagieren konnte, hatte Paul Malee mitsamt Praphat aus dem Boot gehoben und genau so stürmisch umarmt. Narisara schlang ihre Ärmchen um Alex' Hals und klammerte sich fest. Der laute Paul, der mit seinem Körperbau und den roten Haaren etwas wikingerhaftes an sich hatte, schien ihr unheimlich zu sein.
»Wir haben nur wenig Gepäck – ich bringe die nächsten Tage mehr Kleidung und Essen vorbei.«
»Don't worry, mate. Sie können etwas von meiner Frau zum Anziehen haben, ansonsten laufen wir rum, wie Gott uns schuf, und verhungern müssen wir auch nicht gleich. Jetzt kommt erst mal rein, Lalana hat eine Hütte notdürftig hergerichtet, das sollte für die Nacht erst mal genügen. Einrichten dürfen sie sich morgen selbst.«
Alex überzeugte sich nur kurz, dass alles in Ordnung war, lehnte schweren Herzens das von Paul angebotene Bier ab, dann umarmte er Malee und Narisara. Praphat schlief schon wieder. »Ich muss los, bevor das Wasser wieder sinkt. Aber ich komme bald wieder, versprochen.«
Sie nickte mit Tränen in den Augen und dankte ihm. Vorsichtig löste er Narisaras Finger von seiner Jeans. »Bis bald, kleine Maus«, murmelte er mitleidig.
Paul wollte sich gegen die Scheine wehren, die Alex in seine Hemdtasche stopfte.
»Hey, ich habe keine Zeit mehr, ich muss los. Wir streiten nicht darum. Ihr habt selbst einen Lebensunterhalt zu tragen und wir sind wirklich heilfroh, dass die drei hierbleiben können. Verärgere mich also nicht.« Nach einem kräftigen Schlag auf Pauls Schulter sprang Alex mit einem Satz auf das schaukelnde Holzboot und kletterte auf sein Schiff. »Danke für alles. Cheers, mate!«
Als er das Schiff nach einer stürmischen Fahrt eine knappe Stunde später in die Bucht von Chalong steuerte und vom Gas ging, war auf einmal wieder ein Longtailboat an seiner Seite. Die beiden Männer darin fixierten ihn. Alex erstarrte. Kurz überlegte er, nochmals rauszufahren, doch dann schalt er sich paranoid. Jede Nacht fuhren zahllose Longtailboats herum – es war bestimmt nicht dasselbe wie vorher. Er war vom Chalong Pier weggefahren, woher sollten sie wissen, dass er hier zur Meeresbiologischen Station zurückkam? Das war doch albern!
Als er das Schlauchboot am Pier vor der meeresbiologischen Station im Südosten von Phuket vertäute, tuckerte das Longtailboat in Richtung Chalong weiter. Wahrscheinlich hatte er sich alles nur eingebildet.
Plötzlich fühlte Alex sich ausgelaugt. Der lange Steg erschien ihm endlos. Die Station lag im Dunkeln, sie waren wohl alle bereits im Bett. Er war froh, als er den Hügel zu ihren Quartieren überwunden hatte.
Doch der Schlaf brachte nicht wirklich Erlösung – zu viele Bilder rasten durch seinen Kopf.
Malees sanftes Lächeln, Narisaras Freudenschreie, Praphats Glucksen. Und das Blut, das den drei Vögeln aus den aufgeschnittenen Kehlen lief.