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Zefix, die Leichen waren früher auch besser!
Hochsommer in München. Die Stadt glüht. Ebenso wie die neu erwachte Liebe zwischen der Rechtsmedizinerin Dr. Sofie Rosenhuth und Hauptkommissar Joe Lederer. Doch die Leiche einer alleinstehenden Adligen, verblutet in der eigenen Badewanne, verhindert, dass die beiden von einer zweiten Hochzeit träumen können. Zumal Sofies Verehrer, Charly Loessl, mit besagter Dame verheiratet war und nun ihre Hilfe braucht. Aber hat der smarte Polizeireporter noch mehr zu verbergen als seinen Adelstitel?
Ein neuer Fall für die narrisch erfolgreiche Rechtsmedizinerin Dr. Sofie Rosenhuth
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Seitenzahl: 356
Der Roman
Dr. Sofie Rosenhuth lässt sich bei Obduktionen gern von ihrem kribbelnden Nasenflügel leiten, doch in diesem Sommer versagt ihr Gespür für falsche Fährten. Vorerst. Denn Sofie wäre nicht die allseits geschätzte Rechtsmedizinerin, wenn sie nicht aus Fehlern lernen würde. Und dass sie dem Polizeireporter Charly Loessl Obdach gewährte, obwohl ihr Freund, Kommissar Joe Lederer, ihn für dringend tatverdächtig hält, war ein Riesenfehler. So geht die Kalte Sofie erneut mit Instinkt und Verstand vor und fragt sich, ob der Mord an der Frau in der Badewanne nicht doch mit dem Kopf im Schließfach des Münchner Hauptbahnhofs zusammenhängt …
Der dritte Fall für die narrisch erfolgreiche Rechtsmedizinerin Dr. Sofie Rosenhuth.
Die Autorinnen
Felicitas Gruber ist das Pseudonym der Autorinnen Brigitte Riebe und Gesine Hirsch. Brigitte Riebe ist promovierte Historikerin und begeistert seit vielen Jahren mit ihren historischen Romanen ein großes Publikum. Gesine Hirsch ist Kunsthistorikerin und entwickelte die erfolgreiche Serie Dahoam is Dahoam für das Bayerische Fernsehen mit. Beide Autorinnen leben in München, wo auch ihre Krimireihe mit der sympathischen Rechtsmedizinerin Dr. Sofie Rosenhuth spielt.
Felicitas Gruber
Blaues
Blut
Ein Fall für
die Kalte Sofie
Nix is besser als gar nix
HERBERT ACHTERNBUSCH
Für Anka
Prolog
Dutzende von Kerzen in sandgestrahlten Glaskolben tauchen die Szenerie in warmes Licht. Aus der frei stehenden Gusseisenwanne mit den bronzenen Löwenfüßen duften Neroli & Rose, das Wasser hat genau die richtige Temperatur. Mit einer lässigen Geste dreht sie den Hahn zu und lässt den Frotteemantel auf den Schieferboden sinken. Der Kühler mit der angebrochenen Champagnerflasche steht auf dem Beistelltischchen bereit, eine gefüllte Sektflöte daneben. Sie betätigt die Fernbedienung, und die warme Stimme von Annie Lennox schmeichelt aus den versenkten Lautsprechern.
Alles ist bereit.
Sie steigt in die Wanne, lehnt sich an die hochgezogene Rückwand und schließt die Augen. Erst jetzt spürt sie, wie sehr sie der überraschende Besuch erschöpft hat. Diese verblüffende Freundlichkeit. Diese beiläufig klingenden Sätze, die sie hellhörig machten: Er lebt wieder in München. Nur ein paar lächerliche Kilometer von ihr entfernt – sie hatte nicht die geringste Ahnung!
Sie schiebt den cremigen Schaum zur Seite und schaut prüfend an sich hinab: Apfelbrüstchen, flacher Bauch, schlanke, muskulöse Schenkel. Alles noch immer in Bestform, dafür hat sie gesorgt, auch wenn die vierzig drohend am Horizont stehen. Regelmäßig dreimal Fitness in der Woche sind bei ihrem Beruf wahrlich kein Kinderspiel. Manchmal könnte sie heulen, wenn sie sich wieder den stählernen Foltermaschinen beugen muss, aber dann trainiert sie tapfer weiter. Wenn sie ihm nun nach all der Zeit wieder begegnet, will sie unbedingt jenes Leuchten in seinen Augen sehen, das ihr schon damals sofort den Kopf verdrehte.
Don’t let me down, singt Annie Lennox, und sie summt leise mit. Don’t let me down …
Sie hat die Repeat-Taste gedrückt, weil sie von diesem Song nicht genug bekommen kann, und sie genießt mit allen Sinnen. Wie schön es in ihrer Wohnung ist! Das exklusive Design hat sie selbst zusammengestellt, doch ohne ihn wäre alles nur ein Traum geblieben. Kein anderer Mann hätte sich beim Abschied derart nobel gezeigt, bis weit über die Grenzen seiner finanziellen Kapazitäten hinaus. Ob er sich damit auch seine Freiheit zurückkaufen wollte?
Wie leer es plötzlich ohne ihn war, wie einsam, wie kalt.
Nein, sie hätten sich trotz aller Differenzen niemals trennen dürfen – ein Paar wie sie, vom Schicksal füreinander bestimmt!
Nobody ever loved me like he does
Ooh he does
Yeee he does …
Sie singt Wort für Wort mit, laut und falsch.
Klug war er schon immer, und jetzt wird er einsehen, dass er einen Fehler begangen hat. Darauf zählt sie. Die Vorstellung, ihm vielleicht schon bald gegenüberzustehen, macht sie ganz schwindelig. Sie streckt die Hand nach dem Glas mit dem Goldrand aus, nimmt einen perlenden Schluck und stellt es zurück auf das Teakholzgestell neben der Wanne. Männer wie er werden im Lauf der Zeit noch besser, das weiß sie. Sie hat sich schon oft geärgert, zu früh aufgegeben zu haben. Aber das war gestern! Jetzt schwingt diese neue, diese wahnwitzige Hoffnung in ihr, auch wenn Zweifel bleiben.
Was, wenn das ganze Gerede von vorhin nichts als eine barmherzige Lüge war und er gar kein Interesse mehr an ihr hat? Sie beginnt zu frösteln, öffnet die Augen, lauscht in Richtung Tür.
Ein Geräusch?
Nein, da ist nichts, natürlich nicht. Wie denn auch? Der Besuch ist längst fort und sie ganz allein.
Aber vielleicht ja nicht mehr für lange …
Wie ein übermütiges Kind pustet sie in den Badeschaum, der in kleinen weißen Duftwölkchen auf ihrem Körper schwimmt. Früher hat sie immer alles bekommen, was sie sich in den Kopf gesetzt hat. Wieso sollte das anders geworden sein? Sie braucht nur das alte Vertrauen zurück und ein wenig Glück.
Don’t let me down …
Es gibt keinen Besseren als ihn. Das wird sie ihm sagen und dann sehen, was passiert.
Sie dreht den Hahn auf und lässt heißes Wasser zufließen. Sie könnte einschlafen, so entspannt ist sie, und träumt von seinen schönen, sensiblen Händen, spürt sie zärtlich über ihren Körper gleiten.
Plötzlich fährt sie hoch.
Im Fenster erkennt sie eine dunkle Silhouette.
Er ist gekommen!
Doch dann fasst eine linke Hand im Gummihandschuh brutal unter ihren Mund und überstreckt den Kopf, während die rechte Hand mit einer raschen Bewegung ein scharfes Messer quer über ihren Hals zieht. Blut sprudelt wie eine rote Fontäne, der Schmerz ist heiß und wild. Und es bleibt nicht bei dem einen Schmerz, denn er sticht erneut zu. Überall ist auf einmal diese scharfe Klinge, die in sie fährt und blitzschnell schneidet …
Unerbittlich drückt er sie nach unten.
Wasser spritzt auf den Schieferboden, alles wird nass und rot, denn sie blutet aus vielen Wunden. Sie kommt noch einmal hoch, gurgelnd, keuchend, japsend, dann wird sie ohnmächtig. Ihr Kopf sinkt zur Seite, ihr Blick bricht.
Der Kerl im Blaumann tritt zurück, mustert sie eine Zeit lang prüfend und taucht dann den Hirschfänger ins Wasser, um ihn zu säubern. Danach öffnet er seine schwarze Monteurtasche und hantiert so lange, bis alles am richtigen Platz ist. Zum Schluss zieht er eines der weißen Duschtücher vom Ständer, befeuchtet es unter dem Wasserhahn und knüllt es zusammen. Es landet neben dem Bademantel auf dem feuchten Boden.
Bevor er die Wohnung verlässt, überprüft er ein letztes Mal sein Arrangement. Dann zieht er leise die Tür hinter sich zu.
1
Trocken erwischt
Zefix – das durfte doch nicht wahr sein! Sofie zerrte an der Armatur, drehte sie hektisch abwechselnd nach links und nach rechts, aber aus dem großen Brausekopf der Regenwasserdusche, den Joe ihr erst letzte Woche neu montiert hatte, floss nicht einmal mehr das kleinste Tröpfchen Wasser. Jetzt stand sie hier zwar frisch geduscht, aber mit eingeschäumtem Kopf, und bekam die scheußliche Lavaerdenpampe nicht mehr herunter! Warum hatte sie nur auf die Einflüsterungen von Elke Falk gehört, die ihr das Naturshampoo in so leuchtenden Farben angepriesen hatte, als habe sie höchstpersönlich eine Generalvertretung für diese überteuerte Biomarke übernommen?
Typisch für dich, belferte jene hundsgemeine innere Stimme, die sie am liebsten für immer zum Verstummen gebracht hätte. Weil du dich auch immer so leicht beeinflussen lässt!
Hatte sie vielleicht auch so dünnes, schnell fettendes Haar wie ihre Kollegin, die sie insgeheim Dr. Iglu nannte, auch wenn Elke sehr viel zugänglicher geworden war, seit sie den kleinen Waisenmops Murmel aufgenommen hatten? Nein, Sofies Locken waren kräftig und von Natur aus so perfekt gewellt, dass viele Frauen sie darum beneideten. Auch die Farbe, ein sattes Weizenblond mit hellen Sommersträhnen, konnte sich sehen lassen – vorausgesetzt, sie bedeckte nicht wie jetzt gerade ein grauer Batz, der noch dazu unangenehm roch. Sie warf der Tube mit dem Logo Lopona einen vernichtenden Blick zu, verließ die Dusche und rannte in die Küche. Doch auch da geschah nichts, als sie den Wasserhahn aufdrehte. Selbst ihr letzter Versuch in der winzigen Toilette brachte kein anderes Ergebnis.
Zefix! Jetzt blieb ihr nichts anderes übrig, als ins Vorderhaus zur Tante Vroni zu laufen und dort um Duschasyl zu bitten. Sofie schlang sich ein Handtuch um den Kopf, schlüpfte in ihren gestreiften Bademantel und rannte über den Hof. Eine freche Spatzenschar tschilpte in der alten Linde lauthals um die Wette, aber dafür hatte sie jetzt keinen Sinn. Ungeduldig drückte Sofie auf den Klingelknopf unter dem blank polierten Türschild Ilmberger und trat von einem Fuß auf den anderen, weil sie vor lauter Stress plötzlich auch noch aufs Klo musste.
Schlief die Tante noch, was gar nicht ihre Art war, oder warum machte sie nicht auf?
Sofie klingelte abermals. Dann läutete sie Sturm.
Nichts rührte sich.
Sofie hatte zwar einen Schlüssel für Vronis Wohnung, aber der lag im Hinterhaus auf dem Küchentisch, und der Drang wurde auf einmal so übermächtig, dass sie lieber kein Risiko eingehen wollte.
Sofie schlug mit der flachen Hand gegen die Tür.
»I bin’s, d’Sofie«, rief sie. »Mach auf, Tante Vroni. I muaß amoi ganz dringend …«
»Ach, die Sofie! I moan natürlich, die Frau Dr. Rosenhuth!« Das dünne, weißhaarige Männchen, das langsam die Treppe herunterstakste, strahlte sie fröhlich an und schien sich kein bisschen an ihrer merkwürdigen Aufmachung zu stören.
»Herr Haslreiter«, rief Sofie flehentlich. »Sie san mei Rettung! Dürft i vielleicht kurz zu Eahna ins Bad? Die Tante macht ned auf, und bei mir gibt’s auf amoi koa Wasser …«
»Des glaub i Eahna gern!« Mit seinem Stock deutete das Männchen auf einen großen weißen Zettel, der im oberen Teil der Haustür angebracht war. Auf den ersten Blick erkannte Sofie die akkurate Schrift ihrer Tante, der wahrscheinlich besten Hausmeisterin von ganz Giesing.
Achtung, liebe Mieter!
Wegen Wartungsarbeiten KEIN Wasser
im Vorder- und Hinterhaus am 24.7. von 7–13 Uhr.
Bitte Vorsorge treffen!
Da begriff sie. Vroni hatte offenbar, vorausschauend wie sie nun einmal war, beim Schreiner Flo, ihrer späten Liebe, übernachtet, der ein Stück weiter am Hans-Mielich-Platz wohnte. Bestimmt saßen die beiden Turteltäubchen gerade bei einem gemütlichen Frühstück. Und es würde auch nichts nützen, den alten Herrn Haslreiter aus dem zweiten Stock weiter zu beschwören, sie ausnahmsweise in sein Badezimmer zu lassen, denn dort gab es genauso wenig Wasser wie im ganzen Haus.
Allerdings pressierte es inzwischen wirklich. Sofie nickte Herrn Haslreiter knapp zu, drehte sich um und bewegte sich in einem merkwürdigen Krebsgang zurück ins Hinterhaus. Die Treppen schaffte sie gerade noch, dann sperrte sie die Tür auf, schoss in ihre Toilette und atmete erst wieder aus, als sie ihre übervolle Blase entleert hatte. Ein bisschen Wasser war zum Glück noch in der Spülung – damit hatte sich das Thema Wasserzufuhr dann aber auch in ihrer Toilette erst mal erledigt.
Wieder zurück im Schlafzimmer, kickte Sofie das türkisgrüne Trägerkleid entnervt zur Seite. Seit fast zwei Wochen hatte es nicht mehr geregnet, auch heute leuchtete der Sommerhimmel über München wieder so blau, dass mit Temperaturen um die 30 Grad zu rechnen war. Wie gern hätte sie jetzt den zarten Batist auf ihrer Haut gespürt, statt zur weißen Leinenhose zu greifen und in eine grüne Tunika mit dezentem Sternenmuster zu schlüpfen.
Was nun?
Mit dem Handtuch auf dem Kopf konnte sie kaum auf die Straße gehen, also wühlte sie in den Tiefen ihrer Kommode, bis sie die bunte Häkelmütze in Händen hielt, die sie einst mit Erik in einem Anflug modischer Verwirrtheit auf einem Berliner Flohmarkt gekauft hatte. Das Ding stank nach Mottenkugeln und sah für ihren Geschmack arg folkloristisch aus, aber es war wenigstens groß genug, um ihre verklebten Locken darin unterzubringen. Und ewig würde sie die Mütze ja nicht aufhaben, denn inzwischen war Sofie eine Lösung für ihr Problem eingefallen. Sie stopfte ihre Badesachen in die Tasche – leider nur den roten Badeanzug statt des heißen Leo-Bikinis, für den ärgerlicherweise immer noch ein paar lästige Kilos runtermussten –, schloss die Wohnung ab und lief zu ihrem Fahrrad, das sie im Hof abgestellt hatte.
Die tägliche Route zum Institut war ihr inzwischen in Fleisch und Blut übergegangen, aber es machte doch einen gewaltigen Unterschied, ob man sich an einem kühlen Regentag in den Sattel schwingen musste oder mitten im Sommer losradeln konnte. Die Schulferien standen unmittelbar bevor, und all das Leichte, Luftige, Weißblaue, das diese Stadt in der ganzen Welt berühmt gemacht hat, präsentierte sich nun von der allerschönsten Seite. Frauen trugen aufregende Kleider zur Schau, Kinder schleckten schon am Morgen Eis – ja, nicht einmal die Autofahrer benahmen sich so stur wie sonst und überließen der flotten Radlerin mit ihrer auffälligen Mütze freiwillig die Spur.
Sofie genoss den Abwärtsschwung vom Giesinger Berg, fuhr weiter durch die stets geschäftige Humboldtstraße mit ihren Läden und Imbissbuden und bog dann links in die breite Claude-Lorrain-Straße ein. Normalerweise war der Vorplatz des Schyrenbads an heißen Tagen voller Fahrräder, aber heute standen da nur ein paar abgewrackte Metallskelette, um die sich offenbar niemand mehr kümmerte.
Sofie stieg ab, ließ ihr Schloss einschnappen und lief zu dem lang gestreckten hellen Bau. Das älteste, vor mehr als 160 Jahren eröffnete Freibad der Stadt, war einst ausschließlich Männern vorbehalten. Seit 1938 durften auch weibliche Gäste hier ihre Runden schwimmen, und seit es vor ein paar Jahren frisch renoviert worden war, erfreute es sich noch größerer Beliebtheit. Aber heute blieb alles ruhig. Kein Schreien, kein Kinderlachen, kein Wasserplatschen. Auch keine Schlangen vor der Badekasse …
Dann wird das mit dem Duschen erfreulich flott gehen, dachte Sofie. Die Vorstellung, sich die eingetrocknete, inzwischen auch noch juckende Pampe endlich vom Kopf waschen zu können, war einfach herrlich. Nur noch ein paar Schritte …
Doch der Schalter war geschlossen.
»Die machen heute erst um zwölf auf«, sagte eine heisere Männerstimme hinter ihr. »Beckenreinigung – schaun S’ her: Da steht’s schwarz auf weiß!«
Das durfte doch nicht wahr sein!
In einer Mischung aus Zorn und Verzweiflung fuhr Sofie herum und blickte in das faltige, tief gebräunte Gesicht eines Stadtstreichers. Einen Augenblick lang kam er ihr irgendwie bekannt vor, aber dann verflog der Gedanke wieder. Trotz der Wärme trug er einen langen grauen Staubmantel, der ihm etwas verblüffend Elegantes verlieh. Der Strohhut, den er tief in die Stirn gezogen hatte, verstärkte diesen Eindruck noch. Einen Kontrapunkt dazu bildeten allerdings seine wüst aufgeplatzten Treter sowie die reichlich strapazierte Plastiktüte, die er dazwischen abgestellt hatte.
»Für mich ist das eh nix«, meinte er grinsend, als habe er ihre Gedanken erraten. »Wozu gibt’s schließlich die Isar? Aber die Leute sind manchmal großzügig, wenns zum Baden gehn. Und das nutz ich dann aus.«
»So lang kann ich aber nicht warten …«, murmelte Sofie unglücklich. »Dabei hätte ich ausgerechnet heute …«
»Hübsches Kappi«, sagte der Mann. »Rastafari? Steht Ihnen!«
Damit schlurfte er in Richtung Isar davon, und Sofie blieb nichts anderes übrig, als zu ihrem Rad zurückzukehren und sich, so wie sie war, auf den Weg ins Institut zu machen.
Unterwegs haderte Sofie schwer mit sich. Warum nur hatte sie den verdammten Zettel nicht gelesen? Dann hätte sie bei ihrem Ex übernachtet, Joe Lederer von der Münchner Mordkommission. Seit sie im letzen Herbst einen gemeinsamen Fall durchgestanden hatten, für dessen Aufklärung sie unter anderem nachts auf einen 40 Meter hohen Kran klettern mussten, waren sie wieder miteinander verbandelt. Zwar war ihr durchaus klar, dass der Hallodri bei schönen Frauen immer noch schnell schwach werden konnte, aber andererseits: Wer war schon so mutig wie Joe, so leidenschaftlich, so draufgängerisch? Nicht einmal der smarte Polizeireporter Charly Loessl mit seinen guten Manieren, den spannenden Geschichten aus fernen Ländern und seinem Hang zu exquisiter Küche konnte da mithalten!
Und nicht zuletzt hatten sie sich ja beide verändert, Joe und Sofie. Sie waren klüger geworden, umsichtiger, hatten aus alten Fehlern gelernt und schon seit Monaten keinen ernsthaften Streit mehr gehabt. Tante Vroni hörte sogar schon die Hochzeitsglocken läuten. Nur: So eilig hatten sie es damit nun auch wieder nicht. Beide genossen das Zusammensein und ihre Liebesnächte ebenso wie die Abende, die jeder für sich »solo« verbrachte – und genauso ein Abend war das gestern eben gewesen.
Sofie überquerte die Wittelsbacherbrücke, ließ den Baldeplatz hinter sich und fuhr weiter auf der Kapuzinerstraße – ordentlich schnell. Dabei begann sie zu schwitzen, und als Sofie das Institut für Rechtsmedizin in der Nußbaumstraße erreicht hatte, dampfte sie aus allen Poren.
Jetzt galt es nur noch, die Personaldusche zu erreichen, bevor einer der Kollegen sie erspähte. Sofie spurtete am Pförtner vorbei, der wie gewöhnlich den Blick nur kurz vom Kreuzworträtsel hob, bevor er den Knopf für die Türschleuse drückte, lief hindurch und spitzte die Ohren, als sie ein freudiges, aber leider auch sehr nahes Bellen hörte – Murmelchen!
Wedelnd schoss der hellblonde Mops mit den schwarzen Ohren auf sie zu, bellte noch lauter und verschlang sie dabei fast mit seinen nussbraunen Augen.
»Herzi, ich muss leider …«, setzte Sofie an, da ertönte schon Elke Falks gestelzte Stimme.
»Da ist sie ja endlich, unsere geschätzte Frau Dr. Rosenhuth!«
Wie aus dem Ei gepellt stand sie vor Sofie, den blonden Bob perfekt geföhnt, um den schlanken Hals eine weiße Perlenkette. Sogar der sonst so unkleidsame grüne Kittel saß bei ihr wie eine Maßanfertigung. Rosig gefärbte Wangen verrieten, dass sie ungewohnt aufgeregt war.
»Da kann ich Ihnen ja gleich den neuen Kollegen vorstellen: Dr. Erik Sander aus Berlin, der hier bei uns für ein paar Wochen in der Tox an seiner Habil arbeiten wird …«
Das durfte doch nicht wahr sein!
Sofie riss die Augen auf, blinzelte, schluckte, staunte und brachte keinen Ton heraus.
»Sie haben doch sicherlich den Zettel gelesen, den ich Ihnen auf den Schreibtisch gelegt hatte …?«
Eben nicht. Sofie hatte sich angewöhnt, den Großteil der fiesen kleinen Post-its zu ignorieren, mit denen Dr. Falk sie täglich bombardierte. Was in diesem Fall allerdings mehr als ärgerlich war!
Erik strahlte sie an.
»Jetzt biste überrascht, was? Ja, man sieht sich eben immer zweimal, liebe Sofie. Blendend schaust du aus.«
Er begann zu zwinkern.
»Die Mütze kommt mir irgendwie bekannt vor. Kann mich noch genau an jenen sonnigen Nachmittag an der Spree erinnern …«
Sie hätte ihn erwürgen können. Hier und sofort. Aber Sofie begnügte sich mit einem giftgrünen Blick.
Neugierig flogen Falks wasserblaue Augen zwischen ihr und Erik Sander hin und her. Man konnte buchstäblich sehen, was sie dachte: Wie gut kennen sich die beiden eigentlich …
»Immer wieder nett, alte Kollegen wiederzutreffen.«
Sofie hatte sich halbwegs gefangen, auch wenn Eriks Anblick so ziemlich das Letzte war, was sie heute gebrauchen konnte. Sie streckte ihm die Hand entgegen, was ihr Gegenüber sichtlich enttäuschte. Aber was hatte er erwartet? Dass sie ihm um den Hals fallen würde, nachdem er skrupellos mit der Tochter vom Chef angebandelt hatte? Nicht mehr in diesem Leben, das stand für sie fest.
»Dann willkommen in München, Erik. Hilf mir mal geschwind weiter: War das nicht die Stadt, in der du nicht einmal begraben sein wolltest?«
Sein Lächeln erlosch, aber er fing sich rasch wieder.
»Da musst du etwas gründlich falsch verstanden haben, liebe Sofie«, säuselte er, den Blick hilfesuchend auf Dr. Falk gerichtet. »Mein Herz hat schon immer für München geschlagen. Und außerdem bin ich ja zum Arbeiten da. Deshalb möchte ich jetzt auch am liebsten so schnell wie möglich euer schönes Institut kennenlernen!«
»Mit dem allergrößten Vergnügen, Herr Kollege!«
Das Rot auf Falks Wangen vertiefte sich.
»Lassen Sie uns gleich damit beginnen …«
Murmel, der brav auf seinem dicken Hinterteil gesessen hatte, erkannte die Zeichen sofort, stand auf und sprang dann erwartungsvoll bellend an Erik hoch.
Der wich stocksteif zurück.
»Was macht eigentlich dieser Köter hier?«, rief er indigniert. »Hunde in einem Rechtsmedizinischen Institut sind doch wirklich …«
»… die Ausnahme von der Ausnahme«, flötete Falk. »Murmel war sozusagen unser einziger Zeuge in einem komplizierten Mordfall. Seitdem haben wir ihn gewissermaßen adoptiert, nicht wahr, Frau Rosenhuth? Und wir teilen uns jetzt die Fürsorge für diesen kleinen Schatz.«
Sofie nickte. Erik die Beziehungsverhältnisse zwischen Falk, Murmel und ihr klarzulegen, war ihr eindeutig zu anstrengend. Außerdem musste sie dringend unter die Dusche …
In diesem Moment streckte Obduktionsassistent Spike, mit bürgerlichem Namen Stefan Moosbichler, seinen derzeit blauschwarz schimmernden Iro aus einer der weißen Türen. »Anruf von Hauptkommissar Lederer. Leichenfund in der Sternstraße 18. Klang, als hätte er große Sehnsucht nach einer von Ihnen!«
Manchmal machte es dem jungen Mann Spaß, sich möglichst geschraubt auszudrücken.
»Gehen Sie nur, werte Frau Kollegin!«, sagte Elke Falk. »Ich zeige Dr. Sander inzwischen unser Haus.«
»So vielleicht?« Sofie deutete auf ihren bunt verhüllten Kopf. »Bei mir war heut früh das Wasser aus …«
»Warum denn nicht?«, schnaubte Elke Falk und klang wieder genauso wie Dr. Iglu. »Schließlich geht es hier um Verbrechensaufklärung und nicht um einen Schönheitswettbewerb. Außerdem steht Ihnen dieser gewisse Folkloreappeal. Frauen mit runden Gesichtern wie Sie können einfach alles tragen.«
Sie wartete einen Augenblick, um ihre Gemeinheit besser wirken zu lassen.
»Den Hals würde ich mir allerdings schon vorher kurz säubern«, setzte sie spitzzüngig hinzu. »Grau macht einfach nur alt.«
2
Verzwickte Verhältnisse
Das Taxi spuckte Sofie vor der Sternstraße 18 aus. Wie stets scannte ihr Blick die Umgebung gleich mit. Kleine Lädchen, eine Bar, auf der anderen Straßenseite nur ein Stück entfernt ein Friseurgeschäft. Das Haus selbst war ein renovierter Altbau, die Fassade in freundlichem Gelb gestrichen, Bestlage Lehel. Eine noble Adresse, wenngleich der unermüdliche Blechstrom vor den Fenstern das Wohnen zur Straße hin sicherlich ein wenig laut gestaltete. Auch das hellgraue Treppenhaus mit dem dunkelroten Teppich auf den Holzstiegen wirkte gepflegt. Allerdings fehlte ein Aufzug, und so keuchte Sofie ganz ordentlich, als sie mit ihrem Tatortkoffer endlich die oberste Etage erreicht hatte. Zudem juckte ihr Kopf inzwischen wie eine Läusebrutanstalt, und sie musste sich zusammenreißen, um sich nicht die Mütze vom Kopf zu reißen.
Laura von Reinstein stand auf dem Klingelschild, das mit dezenten Jugendstilgirlanden verziert war. Adel, dachte Sofie, während sie klingelte. Auch das noch! In Berlin war ihr kompliziertester Fall die Leiche einer jungen Baroness in einer zugenagelten Regentonne gewesen, die, wie sich schließlich herausstellte, von ihrem nicht minder adeligen Vetter aus Eifersucht brutal ermordet worden war. Ihr persönlicher Verdacht war schon bald auf den windigen Kerl gefallen, dessen Fingerabdrücke polizeilich gespeichert waren, aber Erik hatte sie immer wieder ermahnt, sich auf ihr Fachgebiet als Rechtsmedizinerin zu konzentrieren. Dabei war sie doch selbst einmal Polizistin gewesen, und dieser Beruf steckte immer noch in ihr – einmal Polizistin, immer Polizistin! Was für ein Glück, dass sie das jetzt an Joes Seite wenigstens zum Teil ausleben durfte …
»Servus, Sofie!«
Joe öffnete ihr in seinem weißen Schutzanzug und musterte sie konsterniert.
»Wie schaust du denn aus? War dir vielleicht kalt bei der Hitze?«
Selbst nach der stürmischsten Liebesnacht wahrten sie am Tatort stets körperliche Distanz und verzichteten auf Umarmungen oder gar Begrüßungsbussis.
»Sehr witzig.«
Sie liebte ihn, aber er besaß eindeutig das Talent, in jedes Fettnäpfchen zu treten.
»SpuSi scho fertig?«
»Beinahe. Alle Mann sind im Bad, das war wohl auch der Tatort. Aber sag mal …«
Seinen fragenden Blick auf ihre ungewohnte Kopfbedeckung ignorierte sie so souverän, dass Joe sofort begriff und den Rückzug antrat. Sofie öffnete ihren Koffer und hüllte sich ebenfalls in den vorgeschriebenen Schutzanzug. Jetzt noch Mundschutz und Handschuhe, dann war sie einsatzbereit.
Das Loft war hell und mehr als geräumig. In der ferrariroten Einbauküche links vom Eingang saß eine kräftige Frau mit graumeliertem Haarknoten auf einem Hocker und weinte bitterlich, wie Sofie durch die angelehnte Tür erspähte. Dann stand sie schon im Wohnzimmer. Mindestens 40 Quadratmeter, schätzte sie. Dunkle Schiffsplanken als Boden, in einer Ecke ein länglicher Holztisch mit hochlehnigen Stühlen, der aussah, als hätte er früher in einem Refektorium gestanden. Auf der anderen Seite eine cremefarbene Designerliegelandschaft, ein riesiger Flachbildfernseher, an den Wänden wenige, exquisit gerahmte Zeichnungen. Dazwischen ein paar alte Stücke als effektvoller Kontrapunkt zur Moderne und nach Sofies Einschätzung wohl »ererbt«: ein brauner Ledersessel, ein Biedermeiersekretär, zwei edle Lampen. Wer hier zu Hause war, besaß eindeutig dreierlei: Platz, Geschmack, Geld.
Sofie, in der Regel gegen solcherlei Anfechtungen immun, unterdrückte einen Anflug von Neid und stapfte entschlossen weiter. Um in das angrenzende »Bad en suite« zu gelangen, wie überspannte Makler solch eine Zimmeranordnung zu nennen pflegen, musste man durch das Schlafzimmer. Auf der zurückgeschlagenen Tagesdecke des Doppelbettes lag eine gestreifte Krawatte, grau mit fuchsiaroten Streifen, die verblüffend jener ähnelte, die der charmante Polizeireporter Charly Loessl dem Skelett in ihrem Kabuff geschenkt hatte, das sie gleich am ersten Tag frei nach Mr. Clooney »George« getauft hatte. Zufall, dachte sie, war aber doch für einen Augenblick leicht irritiert.
Das Bad war fast so groß wie Sofies Wohnzimmer in der Zugspitzstraße. Alles nur vom Allerfeinsten: Boden, Wände, Waschbecken, Armaturen. Das Badewasser in der geschwungenen Wanne war hellrot. Sofie kam näher, stellte den Koffer ab und öffnete ihn erneut.
Die Tote war schlank und um die vierzig, schätzte Sofie. Dunkle, glatte Haare, etwa kinnlang, ein schmales, fein geschnittenes Gesicht mit einem leicht geöffneten Mund. Sofie zog ihr Diktiergerät heraus und begann mit ihrem Bericht.
»Wie lange, meinst du, ist sie schon …«, fragte Joe leise neben ihr.
»Bis zum Hals im Wasser? Und so warm, wie das momentan ist? Schwer zu sagen«, erwiderte Sofie. »Ich mess gleich, sobald sie draußen ist. Könnt mir aber gut vorstellen, dass sich Wasser-und Leichentemperatur einander ziemlich angeglichen haben.«
Der Arm der Leiche ließ sich gegen leichten Widerstand bewegen.
»Todesstarre in Lösung begriffen, soweit ich das in der Wanne schon beurteilen kann … keine Anzeichen von Fäulnis …«
Was bedeutete, dass sie vermutlich nicht mehr als einen Tag hier gelegen hatte.
»… glatte, tiefe Schnittwunden am Hals, im Brustkorb und am rechten Oberarm. Schnittwunde in der Greiffläche der rechten Hand, was als Abwehrverletzung gewertet werden kann. Sie ist in der Wanne verblutet …«
»Also kein Suizid?«, fragte Joe.
»Wohl kaum. Bekanntlich schneiden sich nur sehr wenige eigenhändig den Hals durch, und wenn ja, dann müssten wir das Messer nachher in der Wanne vorfinden. Wer hat sie denn entdeckt?«
»Die Putzfrau, ganz klassisch, die einen eigenen Schlüssel hat und wie immer am Montagmorgen zum Putzen gekommen ist. Die Arme hat einen ziemlichen Schock.«
Er zögerte.
»Was?«, fragte Sofie, die ihn besser als alle anderen kannte.
»Da stehen zwei halb volle Gläser.«
Joe deutete auf das Beistelltischchen neben der Wanne.
»Musik von Annie Lennox war zu hören, als wir reingekommen sind. Sehr romantisch. Überall Kerzen. Und am Boden ein zusammengeknülltes Badetuch …«
»Du meinst, er war mit ihr in der Wanne?«, überlegte Sofie. »Liebesmord nach Liebeszoff, so etwa in der Richtung?«
Joe zuckte die Schultern.
»Was weiß ich, was da für verzwickte Verhältnisse herrschen? Single, liiert, verheiratet oder geschieden – das müssen wir alles erst nachprüfen. Den Nachbarn werden wir gründlich auf den Zahn fühlen. Vielleicht können die uns ja mehr über Laura von Reinstein und ihre Besucher erzählen.«
Sofie nickte und wandte sich, nachdem sie die Wassertemperatur gemessen hatte, an die Kollegen von der SpuSi.
»Sie kann jetzt raus«, erklärte sie und sah dabei zu, wie die Männer die Bergefolie ausrollten, um die Leiche darauf zu betten. »Jetzt gehört sie erst einmal mir.«
Es fand sich keinerlei Tatwerkzeug in der Wanne, womit sie schon gerechnet hatte. Außerdem erwies sich die Analyse des Todeszeitpunkts als genauso schwierig, wie Sofie befürchtet hatte. Das Ausbluten der Leiche hatte nur wenige und zudem schwach ausgeprägte Totenflecken zur Folge. Die Wassertemperatur in der Wanne wie die Körpertemperatur der Leiche waren nahezu deckungsgleich. Sofie hatte das Gesicht der Toten mit Tupfern abgestrichen und die Mundhöhle untersucht. Die Waschhautbildung an den Händen war bereits fortgeschritten und machte ihr die Arbeit nicht gerade einfacher.
»Das schau ich mir alles im Institut genauer an«, murmelte sie vor sich hin, als plötzlich Charly Loessl im Türrahmen stand. Mit weißem, erschrockenem Gesicht, als sei ihm soeben ein Geist begegnet, starrte er auf die Tote, die Wanne, den Beistelltisch und schließlich auf Sofie, die den Polizeireporter noch nie zuvor in solch einer Verfassung erlebt hatte.
»Wer hat dich denn schon herbestellt?«, rief sie ihm zu. »Ich bin ja noch nicht einmal ganz fertig!«
Er huschte wieder zur Tür hinaus, als sei er heilfroh, das Weite suchen zu können. Sofie hörte ihn im Schlafzimmer halblaut mit Joe reden, aber nicht einmal seine gepresst klingende Stimme erinnerte an den sonst so versierten Charly, der für gewöhnlich in jeder Lage den richtigen Ton traf.
Sofie konzentrierte sich erneut auf die Leiche, um ihre Untersuchungen abzuschließen. Dann erhob sie sich mit leisem Ächzen und nahm sich vor, ab jetzt wirklich jeden Morgen im Schyrenbad ihre Bahnen zu ziehen – solange Sommer war und diese Gloifeln offen hatten!
Nun konnte die Leiche samt Bergefolie in den Bergesarg gelegt werden. Die Obduktion würde weitere Aufschlüsse über die Todesursache geben.
Zu Sofies Überraschung hatte Charly die Wohnung bereits wieder verlassen.
»So einfach würde ich mein Geld auch gern verdienen«, raunzte Joe, der seinen ehemaligen Konkurrenten um Sofies Gunst inzwischen beinahe ins Herz geschlossen hatte, sich aber ein paar despektierliche Bemerkungen hie und da trotzdem nicht ganz verkneifen konnte. »Der spaziert da wie ein Schachterldeifi rein und schnell wieder raus, stellt drei schnelle Fragen – und morgen steht dann wieder ein solcher Stuss in der Zeitung! Anrufen will er mich später noch einmal, der Herr Polizeireporter, hat er gesagt. Anrufen! Ist das vielleicht eine Arbeitsauffassung?«
»Der Charly wird schon wissen, was er tut«, meinte Sofie, die jetzt nur noch eines im Sinn hatte. Sie schälte sich aus dem weißen Anzug, befreite sich von Mundschutz und Handschuhen und griff nach ihrem Koffer.
»Und heute Abend?«, fragte Joe erwartungsvoll. »Biergarten, gleich nach der Arbeit bei mir?«
»Wir telefonieren, ja?«
Da war sie schon an der Tür, lief die Treppe hinunter, überquerte die Straße und atmete erst wieder aus, als sie in dem kleinen Friseursalon gegenüber angelangt war.
»Sie haben einen Termin?«, säuselte die aufgebrezelte, nicht mehr ganz taufrische Rothaarige am Empfang und beäugte sie argwöhnisch.
»Naa, leider ned. Aber Sie nemma mi jetz trotzdem dro, des waoß i. I bin nämlich a Notfall.«
Sofie zog sich die verschmierte bunte Mütze zum Kopf.
»Und jetzt erlösen Sie mi von dem grauen Elend, aber bittschön dalli!«
3
Wüstenfuchs I
Bald nach seiner Ankunft in Tanger hatten sie ihm den Spitznamen »Wüstenfuchs« verpasst, und der war ihm geblieben wie eine zweite Haut. Die heiße Sonne dort hatte ihn schneller verbrannt, als er sich das hätte vorstellen können, und ihm Tage voller Übelkeit und Schmerzen beschert, die er in einem viertklassigen Hotel ausharren musste, in dem Bettwanzen und Küchenschaben seine Begleiter waren. Anfangs fand er das noch exotisch, doch als ihm eines Nachts ein paar harte Jungs zeigten, was mit Fremden passiert, denen nach ein paar verlorenen Zockerrunden die Kohle ausgeht, war er äußerst unsanft wieder auf dem Boden der Tatsachen gelandet.
Wie wenig man doch braucht!
Das war sein neues Mantra geworden, das ihn nun auch schon seit mehr als zwanzig Jahren durchs Leben führte. Sein Haar war schon lange nicht mehr fuchsrot wie einst, sondern schimmerte silbern; auch sonst waren die Jahre nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Er hatte alle Illusionen verloren, aber sein Kopf arbeitete so zuverlässig wie nie zuvor. Außerdem hatte er jetzt jede Menge Zeit – das half, wenn man wie er Witterung aufgenommen hatte.
Allerdings kostete es ihn einige Überwindung, das zu tun. Denn eigentlich hatte er mit allem, was früher gewesen war, längst abgeschlossen. In einer sternenklaren Wüstennacht hatte er sich geschworen, nie mehr an das Vergangene zu denken. Doch Gefühle waren mächtiger als alle Vorsätze, das wusste er inzwischen, und so hatte er eines Tages trotz aller Bedenken wieder europäischen Boden betreten. Dann war es nur noch eine Frage der Zeit gewesen, bis ihn sein Weg nach München führte.
Einerseits wollte er mit jenen, die seinen Ruin herbeigeführt hatten, nichts mehr zu tun haben – andererseits vermisste er sie auf eine Weise, die ihn selbst beunruhigte.
Lag es daran, dass jeder von ihnen tat, was er tun musste, als ob er einem Auftrag folge, den einem die Ahnen erteilt hatten?
Oder weil Blut eben doch stärker ist als Wasser – und blaues Blut allemal?
Egal, jetzt war er jedenfalls wieder in ihrer Nähe, auch wenn sie nichts davon ahnten. Er umrundete sie in weiten, konzentrierten Kreisen, witterte, spürte, lauschte, beobachtete.
Sie hatten sich nicht sonderlich verändert in all den Jahren, und wenn doch, dann eher noch mehr zu ihrem Nachteil – bis auf den Jungen, der ihm immer noch sehr gefiel, weil er einiges an ihm entdeckte, das ihn einst selbst ausgemacht hatte: Neugierde, Mut, Verwegenheit, ein bisschen Eleganz …
Der Junge lag ihm am Herzen, immer schon, und das nicht nur, weil sein Traum vom eigenen Sohn unerfüllt geblieben war. Gern hätte er wie ein guter Geist stets eine unsichtbare Hand über ihn gehalten. Aber wenn er sich jetzt so ansah, vom Schicksal gebeutelt und von Krankheit gezeichnet – bezweifelte er stark, ob sich der Junge von einem wie ihm helfen lassen wollte. Doch seine Zuneigung zu ihm blieb unverändert, und er würde nicht zulassen, dass ihm jemand willentlich wehtat.
Über Monate war alles unverändert geblieben, den ganzen Winter über. Auch im Frühjahr hatte es nur winzige Anzeichen gegeben, doch seit der Sommer in der Stadt buchstäblich explodierte, kam er kaum noch mit seinen Runden hinterher.
Etwas ging hier vor, das spürte er ganz genau – ein Wüstenfuchs lässt sich nicht täuschen! Er zog seine Kreise enger, verzichtete oftmals auf Schlaf, war bis spät in der Nacht unterwegs und schon ganz früh morgens wieder auf den Beinen.
Es stank nach Tod.
Das zumindest konnte er jetzt schon sagen.
Ein süßlicher, widerlicher Geruch, der ihm leider zutiefst vertraut war, seit er in den Metzgergassen von Marrakesch hatte leben müssen, so ziemlich die unterste Stufe seiner turbulenten nordafrikanischen Erlebnisse.
Ein Geruch, der dich niemals wieder verlässt, wenn du ihn einmal in der Nase hattest, widerlich, betäubend, angsterregend.
Die von seinem Blut waren zu allem bereit, das hatte er schon einmal erleben müssen.
Wen hatten sie sich als neues Opfer auserwählt?
Der Wüstenfuchs hob die Nase in den Wind und witterte. Bald, sehr bald schon würde er mehr wissen …
4
Frau mit Vergangenheit
Geht’s wieder?«
Kriminalkommissar Joe Lederer beäugte die Frau mit dem grau melierten Dutt, die sich gerade heftig schnäuzte. Danuta Dobes, so lautete ihr Name, hatte als Putzfrau für die Tote gearbeitet: schwarz, natürlich, das war allen hier klar.
»Sie war eine gute Frau!«, sagte sie inzwischen bestimmt schon zum vierten Mal. Ihr Deutsch war flüssig, doch der harte Akzent verriet sofort ihre Herkunft. »Nicht immer ganz einfach, aber ein treues Herz!«
»Haben Sie schon lange für sie gearbeitet?«
Inzwischen war auch Joes Kollege Mick Lorenz eingetroffen, der sich gerade auf dem dritten roten Stuhl am schwarz lackierten Küchentisch niederließ.
Danuta nickte so heftig, dass ihr Dutt bedenklich ins Wackeln geriet. »Mehr als zehn Jahre«, antwortete sie mit kehliger Stimme. »Damals war sie noch verheiratet. War alles nicht leicht für sie: Scheidung, neuer Beruf, andere Wohnung, Geld weg. Geklagt hat sie nur selten. Aber ich wusste immer, wie es da drinnen aussieht.« Sie klopfte an ihre Brust. »Hier ist es auch schön, sicherlich. Aber kein Vergleich mit der alten Villa in Harlaching …«
»Frau von Reinstein arbeitete heute als …?«
»Flugbegleiterin. Wechselnde Arbeitszeiten, immer andere Routen, alles sehr anstrengend. Aber sie war tapfer und meistens positiv.«
»Hatte sie einen aktuellen Lebensgefährten oder einen festen Freund?«
»Einen Freund? Nein.«
Ihre dünnen Lider gingen auf und zu. Sie hatte so hellgraue Augen, dass sie fast durchsichtig wirkten. »Verehrer hatte sie, das ja. So eine schöne Frau! Aber sie konnte ihren Mann niemals vergessen. Bis heute nicht.«
»Ihren Mann? Sagten Sie nicht gerade, sie sei geschieden gewesen?«, wandte Mick ein.
»Ja!«, erwiderte Danuta Dobes. »Auf dem Papier. Aber Ehen, die vor Gott geschlossen wurden, gelten ewig. In meinem Land glaubt man daran.«
Einen Augenblick wurde es still in der Küche.
»Es würde uns helfen, wenn Sie uns ein paar Namen nennen könnten«, meinte Joe. »Vielleicht fällt Ihnen ja etwas ein. Verwandte zum Beispiel. Freunde. Jemand, der sich über sie geärgert haben könnte. Oder der noch eine Rechnung mit ihr offen hatte.«
Sie schien zu überlegen und schüttelte dann den Kopf.
»Ich fürchte, da kann ich Ihnen nicht viel helfen«, sagte sie. »Ihre Eltern sind lange tot, Geschwister hat sie keine, glaube ich. Und wenn ja, dann habe ich sie nicht gesehen. Besuch? Wie soll ich das wissen? Ich war ja meistens nicht da, wenn Besuch kam. Da war Frau von Loessl sehr eigen.«
»Wie haben Sie sie gerade genannt?«, fragte Joe konsterniert.
»Frau von Loessl. So hieß sie vor ihrer Scheidung. Sie hat lange überlegt, ob sie wieder ihren Mädchennamen annehmen soll und sogar mich gefragt. Machen Sie das, hab ich ihr gesagt. Das hilft für einen Neuanfang. Aber danach hat sie stundenlang geweint.«
Mick und Joe warfen sich einen vieldeutigen Blick zu.
»Dann haben Sie den Geschiedenen auch gekannt?«, fragte Joe.
Danuta Dobes nickte. »Natürlich. Feiner Mann. Immer höflich und kultiviert. Nur allein gelassen hat er sie oft …«
»Wissen Sie, welchen Beruf er hat?«, fragte Mick Lorenz.
»Er ist Journalist. Oft im Ausland unterwegs. Kriegs- und Krisengebiete. Manchmal hat sie wochenlang nichts von ihm gehört.«
»Und er heißt …?« Joe starrte sie gebannt an.
»Karl Maria Ritter zu Loessl«, erwiderte sie prompt. »Gute, alte Familie. Aber ich glaube, er hat sich nicht viel daraus gemacht. Herr Loessl sollte ich zu ihm sagen. Das hat ihm schon genügt.«
»Und die Scheidung war im Jahr …«, soufflierte nun Joe, der auf einmal ein seltsames Flackern in seinen braunen Augen hatte.
»Lassen Sie mich nachdenken!«, sagte sie schluchzend. »Ja, genau, mein Enkel Kristof kam damals gerade in die Schule. Und heuer wird er schon gefirmt. Das muss also vor gut sechs Jahren gewesen sein.«
»Hatten die beiden denn weiterhin Kontakt, auch nach der Scheidung?«, fragte Mick Lorenz.
Danuta zog die Schultern hoch. »Sie hätte das gern gewollt, glaube ich. Aber er wohl eher nicht. Wie Männer eben so sind. Vorbei. Vergessen.«
Sie rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her.
»Aber er hat alles hier bezahlt. Das hat sie mir gesagt. Er war immer sehr großzügig. Auch zu mir.«
Sie angelte nach ihrer großen schwarzen Tasche.
»Brauchen Sie mich noch? Ich möchte nach Hause. Kristof kommt von der Schule und muss essen …«
»Schreiben Sie uns bitte Ihre Daten auf. Adresse, Festanschluss- sowie Handynummer.«
Mick Lorenz streckte ihr Zettel und Kugelschreiber entgegen. »Gut möglich, dass wir noch einmal auf Sie zukommen müssen.«
»Für heute können Sie gehen«, sagte Joe, nachdem sie alles notiert hatte. »Schaffen Sie das alleine?«
Sie nickte.
»Und lassen Sie uns bitte Ihren Schlüssel da. Die Wohnung wird polizeilich versiegelt.«
Danuta Dobes stand schon an der Tür.
»Die Tante fällt mir noch ein«, sagte sie. »Amalie von Loessl. Früher war sie öfter zu Besuch, nach der Scheidung nicht mehr. Aber jetzt hat sie sich wieder gemeldet. Alte Dame, sehr fein. Gnädige Frau vom Scheitel bis zur Sohle, Sie verstehen?«
Kaum war sie draußen, stand Joe auf und öffnete das Fenster. Aber die hereinströmende Luft war so warm und benzinschwanger, dass er es schnell wieder schloss.
»Das ist ja der Hammer!«, sagte er langsam. »Charly Loessl, Polizeireporter seines Zeichens und Sofies nimmermüder Verehrer! Wenn der wirklich der Ex von der Toten ist, dann …«
»Das lässt sich doch ganz einfach überprüfen«, meinte Mick. »Worauf warten wir noch, Joe? Auf zu unserem schlauen Computer!«
5
Einer zu viel
Sofies Haar war wieder locker und duftig – eine Wohltat! Aber das war auch schon so ziemlich das Beste, was der restliche Tag zu bieten gehabt hatte. Von Erik war zum Glück keine Spur zu sehen, als Sofie in der Rechtsmedizin ankam. Spike winkte sie gleich in den Seziersaal, wo die Leiche eines gewichtigen Anfangssechziger auf sie wartete, den sie zusammen mit einer ungewöhnlich flattrigen Elke Falk nach allen Regeln der Kunst obduzieren sollte.
Was war nur in Dr. Iglu gefahren, die sonst nicht einmal Murmelchens geballte Charme-Attacken derart in Verzückung bringen konnten? Seit dem Aus mit dem geheimnisvollen Fahrradkurier, der sich seit einem Jahr nicht mehr im Institut blicken ließ, war sie nicht mehr derart von der Rolle gewesen. Sie verwechselte die Instrumente, drückte zu früh auf die Aus-Taste des Diktaphons und schmunzelte sogar, als Spike zur Untermalung seine Lieblings-Rammstein-Nummer laufen ließ.
Erst wenn die Wolken schlafen gehen …
Jetzt wurde es Sofie allerdings zu viel, weshalb sie ihn mit einem eisgrünen Blick über dem Mundschutz dazu brachte, den martialischen Sound wieder abzustellen.
Das Ergebnis ihrer gemeinschaftlichen Bemühungen ergab einen natürlichen Tod durch Herzinfarkt, dem nichts und niemand nachgeholfen hatten – sah man einmal von der bemerkenswerten Fettleber ab, die den ohnehin labilen Gesundheitszustand des Verstorbenen sicherlich nicht stabilisiert hatte. Jetzt bekam die wesentlich jüngere Zweitfrau die hohe Lebensversicherung, und die beiden Söhne, die die Obduktion angestrengt hatten, weil sie ihre Stiefmutter für eine potenzielle Gattenmörderin hielten, würden auf ihrem mageren Pflichtteil sitzen bleiben.
Ach, manchmal hatte Sofie wirklich genug von all den Abgründen, die sich im Schatten der Leichen auftaten, und genauso ein Tag war heute! Immerhin konnte sie sich beim Nachhauseradeln an der Steigung des Giesinger Bergs so richtig abstrampeln, sodass sie schweißnass, aber befriedigt oben ankam.
So schlecht war ihre Kondition ja gar nicht!
Weil du dir selbst in die Tasche lügst, meldete sich sofort wieder ihre strenge innere Stimme zu Wort. Eine einzige Steigung – was ist das schon? Denk lieber daran, wie der Bikini noch immer spannt und zwackt! Willst du Joe beim Baden etwa so unter die Augen treten?
Der kennt mich noch ganz anders, fauchte Sofie stumm zurück. Und zwar ganz ohne – das mag er. Jetzt sei endlich still, kapiert?
Im Hormonrausch vielleicht. Wenn ihm das Gehirn zwischen den Beinen steht. Heute war die Stimme besonders unausstehlich. Was aber, wenn er dich im Freibad zwischen lauter schlanken Frauen mit süßen Figürchen sieht?
Aus. Apfel. Amen!
Sofie hatte die Nase gründlich voll von dieser innerlichen Diktatorin, die niemals Ruhe gab, bremste vor der Zugspitzstraße schwungvoll ab und schob dann ihr Rad in den Hof.
Jetzt eine ausgiebige Dusche, danach in das türkise Batistkleid schlüpfen, und Joe würde für die mageren Schnepfen dieser Welt keinen einzigen Blick mehr haben …
»Sofie?«
Sie fuhr zusammen.
»Du?«
»Ja, ich«, sagte Erik und klang tatsächlich ein bisschen kleinlaut. »Sorry, das heute im Institut war wahrlich keine Glanzleistung. Ich hätte dir früher Bescheid geben müssen. Und nicht darauf bauen, dass du es von der Kollegin erfährst.«
Sie musterte ihn misstrauisch.
»Allerdings«, sagte sie. »Und noch lieber wär es mir gewesen, du wärst ganz an deiner Charité geblieben!«
Ihr Blick wurde frostig. Das konnte auch sie, nicht nur Elke Falk!
»Warum bist du also wirklich hier? Die Wahrheit, Erik!«