Gschlamperte Verhältnisse - Felicitas Gruber - E-Book
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Gschlamperte Verhältnisse E-Book

Felicitas Gruber

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Beschreibung

Zefix, was ist los in diesem Münchner Sommer? Eine männliche Leiche schwimmt in der Isar, drei Frauen verschwinden spurlos. Wer hat sie auf dem Gewissen, und was hat es auf sich mit den beinernen Schädelreliquien, die als Diebesgut von Kirchenräubern sichergestellt werden? Dazu kommt der gruselige Kellerfund in Charly Loessls neuem Haus. Zusammen mit Kriminalhauptkommissar Joe Lederer beginnt Dr. Sofie Rosenhuth tiefer zu graben und stößt dabei auf unerfüllte Sehnsüchte, weibliche Zukunftsträume und einen skrupellosen Täter, der unerkannt im Netz agiert – bis schließlich sogar Sofies Chefin Dr. Iglu in akute Lebensgefahr gerät …

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Seitenzahl: 332

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Der Roman

Ein Leichenfund am idyllischen Isarstrand sprengt nicht nur die Taufe von Spikes kleiner Tochter, sondern ruft sofort die Münchner Kripo inklusive Rechtsmedizin auf den Plan. In der Wohnung des Opfers finden Dr. Sofie Rosenhuth und Hauptkommissar Joe Lederer Statuen und Kultgegenstände aus einem Kirchenraub und sogar drei Schädelreliquien. Sofie schaltet ihre alte Schulfreundin Dr. Maria Hierlmeier ein, die sich als Leiterin des Diözesanarchivs mit »Heiligem« bestens auskennt – und Joe unwiderstehlich findet. Dann der Schock: Die Fundstücke sind keineswegs mittelalterlich, sondern datieren aus der Gegenwart. Wer sind diese drei toten Frauen – und wer hat sie ermordet?

Aber es bleibt nicht bei diesen drei Frauenschädeln. In Charly Loessls neuem Haus bringt ein unverwechselbarer Geruch Sofies Nasenflügel zum Kribbeln. Die Jägerin in ihr ist erwacht und so hat Sofie bald Gewissheit, was sich dort in den Kellerräumen verbirgt.

Und was ist los mit Sofies Chefin Dr. Elke Falk? Dr. Iglu sucht auf der Dating-Plattform »Mein Hund & Du« nach dem Mann fürs Leben und mutiert dabei zu Dr. Hot. Sakrisch gefährlich, denn diese Art der Partnersuche kann mörderische Folgen haben …

Die Autorin

Felicitas Gruber ist das Pseudonym der Autorinnen Brigitte Riebe und Gesine Hirsch. Brigitte Riebe ist promovierte Historikerin und begeistert seit vielen Jahren mit ihren historischen Romanen ihre zahlreichen Leserinnen und Leser. Gesine Hirsch ist Kunsthistorikerin und entwickelte die erfolgreiche Serie »Dahoam is Dahoam« für das Bayerische Fernsehen mit. Beide Autorinnen leben in München, wo auch ihre Krimireihe mit der sympathischen Rechtsmedizinerin Dr. Sofie Rosenhuth spielt.

Felicitas Gruber

Gschlamperte

Verhältnisse

Ein Fall für

die Kalte Sofie

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Originalausgabe 10/2018

Copyright © 2018 by Diana Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Robert Fischer

Umschlaggestaltung: t. mutzenbach design, München

Umschlagmotive: © grossishut; Reinhold Leitner; jannoon028; irin-k/Shutterstock

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

e-ISBN 978-3-641-21192-9V003

www.diana-verlag.de

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Wenn Ordnung das halbe Leben ist,

dann ist Chaos das ganze.

Volksweisheit

Für Oliver

1

Alles auf Anfang

Noch schliefen die südlichen Isarauen, während der Himmel vom zarten Rosa in ein noch zarteres Blau wechselte. Zum Glück waren die fleißigen Müllmänner schon vor Ort gewesen, um den ganzen Krempel der allabendlichen Griller zu beseitigen. Jetzt waren die Wiesen und Kiesbänke sauber, der Fluss glitzerte im Morgenlicht. Eine Drossel sang ihr Lied, Möwen kreischten, eine leichte Brise wehte. Fast hätte man meinen können, alles sei gerade wie neu erschaffen worden.

»Schee!«, murmelte Vroni ergriffen und hielt einen Moment inne, bevor sie weiter ihre Frühstücksutensilien auspackte. »An bessern Zeitpunkt hättet ihr gar ned aussuchen können. Mei, der Herrgott halt …«

Florian Denninger, ihr silberhaariger Lebensgefährte, drückte sie zärtlich an sich.

Sofie Rosenhuth, ihres Zeichens promovierte Rechtsmedizinerin, wusste genau, was Vroni meinte. Manchmal beneidete sie ihre geliebte Tante um deren ebenso tiefen wie pragmatischen Glauben, der es der frommen Katholikin erlaubte, am einen Tag intensive Zwiegespräche mit der Gottesmutter in der Gnadenkapelle von Mariahilf zu führen und am nächsten ganz entspannt an einer freien Taufe teilzunehmen. Vielleicht hatte es Vronis Entscheidung erleichtert, dass auch Hochwürden David Karisimbi dieser ungewöhnlichen Zeremonie beiwohnte, der Stadtpfarrer eben jener Kirche, die sie so gern besuchte. Ganz in Weiß gekleidet, stieg er gerade von seinem Fahrrad, einen großen Korb in der Hand.

»Guten Morgen«, grüßte er gut gelaunt. Niemand konnte so mitreißend lächeln wie dieser freundliche Mann aus Ghana, der viel Schwung in die ehemals konservative Gemeinde gebracht hatte.

»Schön, dass Sie da sind, Hochwürden«, begrüßte ihn Sofie. »Allerdings hätte ich Sie heute ein bisschen bunter erwartet.« Damit spielte sie auf seine farbenfrohe Nationaltracht an, in die er sich bei festlichen Anlässen gerne hüllte.

»In meiner Heimat sind wir bei Taufen traditionell immer ganz weiß oder ganz schwarz«, erwiderte er. »Außerdem bin ich heute ja im Dienst, auch wenn ich das kleine Mädchen noch lieber in meiner Kirche zur Taufe empfangen hätte.« Er hielt kurz inne, dann setzte er lächelnd hinzu: »Na, das wird schon noch. Wenn sie erst einmal groß genug ist, um Gottes Güte zu verstehen.«

Das kleine Mädchen, von dem die Rede war, schlummerte selig im Tragetuch an der Brust seiner Mama. Behutsam strich Shirin ihr über die feinen dunklen Härchen.

»Jetzt ist sie bald fünf Monate«, sagte sie. »Inzwischen platzt unsere Wohnung aus allen Nähten mit diesem ganzen Babyplunder, der überall herumliegt. Nicht einmal die Katzen wissen mehr wohin, und im Tattoostudio, wo ich wenigstens ein bisschen Auslauf hätte, bin ich momentan ja nur ganz selten. Wenn wir nicht bald was Größeres finden, krieg ich noch die Krise. Spike ist nämlich leider ziemlich schlampig – dabei könnte er sein Zeug durchaus aufräumen, im Gegensatz zu unserer Kleinen.«

Stefan Moosbichler, wie der junge Obduktionsgehilfe mit bürgerlichem Namen hieß, zuckte verlegen die Schultern. Im Institut für Rechtsmedizin hatte Dr. Elke Falk ihn zu peinlicher Ordnung erzogen, ohne die die dortige Arbeit gar nicht denkbar wäre. Womöglich war der häusliche Schlendrian, unter dem nun Frau und Kind zu leiden hatten, eine Art Ausgleich für Falks strenges, zuweilen äußerst frostiges Regiment, die nicht zufällig »Dr. Iglu« genannt wurde. Just in diesem Moment kam sie auch schon herbeigeradelt, gehüllt in fließende aquatische Gewänder, die ihr ausgezeichnet standen, sich bei Sofie jedoch garantiert nach wenigen Metern in der Fahrradkette verheddert hätten. Dynamisch und makellos zugleich stieg sie von ihrem Fahrrad und winkte kurz in die Runde. Augenblicklich schoss Murmel auf sie zu und begrüßte sie stürmisch. Die Falk herzte den blonden Mops und verwöhnte ihn mit einem Leckerli aus ihrer bestickten, garantiert sündteuren Seidentasche, die sie lässig geschultert hatte. Dann erst sah sie sich nach ihrem Begleiter um, der noch an seinem Rennrad hantierte.

»Du wirst immer lahmer, Berndie-Schatz«, meinte sie spöttisch. »Dabei weißt du doch, wie wenig ich mit lahmen Typen anfangen kann!«

Joe Lederer aber, der seine alte BMW ein Stück entfernt abgestellt hatte und zu Fuß über die Kiesbank geschlendert kam, erhielt von ihr ein hinreißendes Lächeln.

»Sieh einer an, der Herr Hauptkommissar! Und so fesch heute – ganz in Blau!«

Joe lächelte geschmeichelt zurück und zog auch noch seine rechte Augenbraue hoch, was Sofie, seine Ex, mal sehr gern gemocht hatte. Jetzt tat sie so, als würde sie seinen Blick gar nicht bemerken, auch wenn sie zugeben musste: Ja, er sah schon wirklich verdammt gut aus in seinen knackigen ausgewaschenen Jeans und dem hellblauen, an den Ärmeln lässig nach oben gekrempelten Hemd. Aber sie wusste halt auch schon seit Langem, dass Joe auf alles ansprang, was weiblich und halbwegs ansehnlich war …

Ein kurzer prüfender Blick nach unten – zum Glück mochte Sofie, was sie da sah: weiße Pünktchen auf fliederfarbenem Musselin; ein Sommerkleid, so geschickt geschnitten, dass die kleinen Speckröllchen um die Leibesmitte dezent verhüllt wurden, darunter braune, gut geformte Beine mit schlanken Fesseln. Am linken Handgelenk klimperten die ziselierten Silberreife aus Marokko, die sie sich selbst zum letzten Geburtstag gegönnt hatte.

»Sommer pur!«, sagte Charly Loessl leise neben ihr, und eine kleine warme Glückswelle durchflutete Sofie. Niemand konnte so schöne Komplimente machen wie er, und sie kamen auch immer genau im richtigen Moment.

»Sorry, ich bin mit dem Auto da«, setzte Charly hinzu. »Ich werde wohl kein Radfahrer mehr. Außerdem habe ich Max mitgebracht.«

Charlys Onkel hielt sich noch immer lieber draußen auf als in geschlossenen Räumen. Aber seine Haare waren ordentlich geschnitten, er trug keinen Bart mehr, und nichts an ihm verriet mehr den einstigen Nomaden – bis auf seinen alten, inzwischen allerdings gereinigten Trenchcoat, in dem er all die langen Jahre auf der Straße überstanden hatte.

»Jordanwasser.« Charly reichte den jungen Eltern ein Fläschchen. »Angeblich original. Und falls doch nicht, stellen wir es uns einfach vor, okay?«

Nun war die Runde komplett: Hochwürden David Karisimbi, Spikes Mutter Karin, Dilan, die Mutter von Shirin und ihrem Bruder Aram, Tante Vroni, Flo, Elke Falk und Bernd, Joe, Charly, dessen Onkel Max, Sofie, das junge Ehepaar Moosbichler und natürlich dessen Kleine.

Aber was hatte die rothaarige Frau hier zu suchen, die soeben in einem aufregenden Magentakleid und auf gefährlich hohen Pumps über den Kies stöckelte?

»Ich dachte, Gina singt uns was Schönes«, erklärte Charly. »Es soll doch ein bisschen feierlich sein, oder?«

Gina Matteo, engagiert als Mezzosopranistin an der Münchner Staatsoper und Charlys Nachbarin, stellte sich in Position, nicht ganz einfach auf dem unebenen Grund. Dann lächelte sie verschmitzt und schlüpfte aus den Mörderschuhen.

»Viel besser!«, seufzte sie.

Sofie mochte das Halleluja eigentlich lieber in der rauchig-gebrochenen Version von Leonard Cohen, aber diese volle, warme Frauenstimme hatte auch ihren Reiz. Arams Triangel setzte klingende Akzente, und am Ende applaudierten alle gerührt. Sogar Murmel ließ ein zartes Beifallsbellen hören.

Shirin hielt ihr Kind jetzt in den Armen.

»Wir heißen dich willkommen auf dieser Welt«, sagte Spike mit feuchten Augen. Sein Irokesenschnitt leuchtete im fröhlichsten Frühlingsgrün, das schmale Jungmännergesicht wirkte konzentriert und gerührt zugleich. »Du bist für uns die Liebe, die Gestalt angenommen hat. Du bist ein Glück, für das es keine Worte gibt. Du bist für uns, deine Eltern, deine Großmütter und deinen Onkel, das Wertvollste auf dieser Welt. Deine beiden Patinnen« – er schaute zu Sofie und Elke Falk, die neben ihm standen – »haben dir auf einem bunten Faschingsfest ins Leben geholfen. Nun werden sie dich begleiten in einem Leben, das hoffentlich genauso bunt und glücklich wird. Nach ihnen sollst du heißen: Ayrun Sofie Elfe.«

Spike öffnete das Fläschchen und benetzte das dunkle Köpfchen mit ein paar Tropfen. Die Kleine rührte sich kaum.

»Wasser vom Fluss des Lebens«, sagte er. »Unsere Wünsche sind alle bei dir. Deine Religion suchst du dir dann später selbst aus.«

Gleich darauf zeichnete David Karisimbi das Kreuz auf dem zarten Kinderköpfchen. »Ich segne dich im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes«, sagte er. »Und ich hoffe, du triffst zur rechten Zeit die richtige Entscheidung.«

Sofie hätte beinahe laut aufgelacht, während Elke Falk kurz davor war zu platzen. »Wieso denn ›Elfe?‹«, murmelte sie aufgebracht. »So heißt doch kein Mensch und ich schon gar nicht. Ich wette, das hat er absichtlich gemacht!«

Jetzt zog Max einen Zettel aus der Manteltasche und setzte eine randlose Brille auf, mit der er wie ein Professor aussah.

»Eure Kinder sind nicht eure Kinder«, las er vor, Wort für Wort betonend. »Sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selber. Sie kommen durch euch, aber nicht von euch, und obwohl sie mit euch sind, gehören sie euch doch nicht …«

Sofie kannte die oftmals zitierten Worte des Dichters und Philosophen Khalil Gibran, doch an diesem verzauberten Isarmorgen klangen sie ganz neu. Als Max geendet hatte, gab es erneut Beifall.

Ayrun Sofie Elfe sah mit großen Augen in die Runde und begann gleich darauf herzhaft zu gähnen.

»Und jetzt: Frühstück!«, verkündete Vroni resolut. »Damit mia fertig san, bevor die ganzen Nackerten kemma. I hob an Guglhupf und an Aprikosenstreusl, Brezn san do, Obatzda, frische Radieserl, dieses Fu…« Sie schaute Hilfe suchend zum Pfarrer. »Wie haoßt des von Eahna glei noch amoi?«

»Fufu«, erwiderte er. »Und dazu gibt’s scharfes Hühnchen, deshalb Obacht!«

»Fufu und Hendl oiso – sowie jede Menge Kaffee. Oiso, greift’s zua!«

Das ließ sich keiner der Gäste zweimal sagen. Keiner – bis auf Elke Falk, die mäkelig an einer Breze herumpickte und sich ansonsten auffallend abseits hielt.

»Wo ist denn Ihr Freund abgeblieben, der nette Zahnarzt?«, erkundigte sich Sofie nach einer Weile, als sie sich den zweiten Kaffee aus der Thermoskanne holten.

»Den hab ich gerade eben in die Wüste geschickt. Er fühle sich noch zu jung, um an ein eigenes Kind zu denken, hat er gesagt – mit Mitte vierzig! Was soll ich denn mit solchen Zauderern? Andere Mütter haben schließlich auch hübsche Söhne, nicht?«

Sie nickte Joe zu, der lächelnd zurücknickte, obwohl er zu weit entfernt war, um etwas verstanden zu haben, und Sofie ärgerte sich erneut über seine Freundlichkeit. Gut, das gemeinsame Wohnungsprojekt war vorerst auf Eis gelegt, das Thema Nachwuchs war auch zwischen ihnen beiden recht heikel, und in den vergangenen Monaten hatten sie so viel mit neuen Fällen zu tun gehabt, dass ihr Privatleben entschieden zu kurz gekommen war. Aber gab ihm das schon das Recht, gleich wieder der alte Stenz zu sein?

Doch bevor sie weitergrollen konnte, kam ein Mann auf sie zugerannt. Mit wachsbleichem Gesicht sagte er zu ihnen: »Da drüben is was passiert. Da muss sofort die Polizei her. Hätten Sie vielleicht a Handy? Ich hab meins nämlich daheim liegen lassen.«

»Was ist passiert?«, fragte Sofie besorgt. »Was haben Sie denn gesehen?«

»A Leich«, antwortete der Mann knapp. »Und zwar koa scheene. Drüben, hinterm Wirtshaus Zum Flaucher, da hams wen dastocha.«

2

Mitten ins Herz

Ganz schön praktisch, wenn das Fachpersonal gleich neben dem Leichenfundort frühstückt«, meinte die Falk. »Also, was mich betrifft, so werde ich in dieser Wirtschaft nie wieder einen Bissen anrühren!«

»Der Tote lag hinter der Wirtschaft, nicht in der Wirtschaft«, korrigierte Sofie sie. »Und von den zwei anwesenden Rechtsmedizinerinnen hatte es eine plötzlich sehr eilig.«

»Mir war nicht gut.«

Dr. Iglu klang an diesem sonnigen Montagmorgen frostiger denn je. »Selten genug, dass ich eine kleine körperliche Schwäche für mich reklamieren muss, aber gestern war es so. Dieses Taufgedöns mit all den Sprüchen und Gesängen hat mir irgendwie auf den Magen geschlagen. Hatte ich mir eigentlich anders vorgestellt. Ich bin doch eher der klassische Typ – Tradition ist mir wichtig.«

Ayrun Sofie Elfe, dachte Sofie. Das hat dich geärgert. Und auch, dass du Joe keine schönen Augen mehr machen konntest, als er nun plötzlich im Dienst war.

»Franz Auerbach, vierunddreißig Jahre, vorübergehend als Spüler in der Gaststätte tätig. Alles andere als ein unbeschriebenes Blatt«, sagte die Falk nun wieder ganz professionell. »Diverse Vorstrafen wegen Einbruch, Hehlerei, Urkundenfälschung. Mehrere Haftstrafen. Tatsächlich war er erst seit einem halben Jahr wieder auf freiem Fuß …«

»Leiche von athletischem Körperbau«, diktierte Sofie ihrerseits ungerührt. »Einen Meter siebenundachtzig groß, Körpergewicht 85 Kilogramm.«

Das kriminelle Vorleben des Toten gehörte in Joes Tätigkeitsbereich. Ihre Aufgabe war es, zu beschreiben, wie das Opfer zu Tode gekommen war.

»In der zentralen Brustregion, zwei Querfinger links der Mittellinie und ein Querfinger unter der Brustwarzenebene, findet sich ein quer gestellter, glattrandiger Hautdefekt mit einem spitzen Wundwinkel nach außen und einem stumpfen Wundwinkel nach innen, der direkt in die zentrale Brustregion auf das Herz sondiert ist. Die Wundränder sind frei von Schürfungen, es finden sich keine Probestiche in der unmittelbaren Umgebung …«

»Das hat ihn also umgebracht: ein Stich mitten ins Herz.« Elke Falk klang irgendwie zufrieden. »Findet man relativ selten in einer solch eindeutigen Ausprägung. Da muss jemand schnell und routiniert gewesen sein.«

»Oh, ja – und dieser Jemand konnte auf jeden Fall verdammt gut mit einem Messer umgehen«, meinte Sofie. »Gefunden wurde die Tatwaffe meines Wissens bisher noch nicht. Obwohl die Kollegen von der Spurensicherung das ganze Gelände gründlich durchkämmt haben – was nicht ganz einfach war, weil die anrückenden Badegäste nur wenig Verständnis dafür hatten, dass ihr nackter Freizeitspaß ausnahmsweise entfallen sollte. Vielleicht wurde das Messer ja in der Isar entsorgt. Das wäre dann allerdings eher auf Nimmerwiedersehen …«

»Er könnte das Opfer gekannt haben«, spann Elke Falk ihren Gedanken weiter, »denn wir haben keinerlei Abwehrverletzungen an Händen oder Unterarmen. Demzufolge sieht es auch schlecht aus mit DNA-Spuren unter den Fingernägeln. Aber vielleicht findet sich ja etwas auf der Kleidung. Wird alles bereits gründlich untersucht.«

»Er?«, hakte Sofie nach. »Woher wollen Sie wissen, dass es ein Mann war?«

»Diese Tötungsart direkt von vorn wird größtenteils von Männern durchgeführt.« Falks Stimme klang mal wieder sehr belehrend. »Denken Sie doch nur einmal an die klassischen Größen- und Gewichtsunterschiede zwischen den Geschlechtern. Eine zarte Frau mit einem Messer in der Hand und so ein kräftiger Kerl?« Sie schaute zu Sofie und zeigte ein anzügliches Grinsen. »Obwohl es ja auch durchaus Damen gibt, die so einiges an Kampfgewicht auf die Waage bringen …«

Sofie hasste sie.

Das war schon vom allerersten Moment an so gewesen, und daran hatte sich bis heute nichts Wesentliches geändert – nicht einmal durch Murmel, den sie gemeinschaftlich betreuten und der diese seelisch verkrüppelte Frostbeule offenbar durchaus gernhatte.

Sofies Gedanken verfinsterten sich: Aber wer weiß? Tante Vroni, die mit ihrem neuen Kniegelenk wieder so gern spazieren ging, hätte garantiert nichts dagegen, den liebenswerten Mops zu hüten, während Sofie im Institut beschäftigt war. Dann sähe die Falk aber dumm aus der Wäsche …

Gleich darauf konzentrierte sich Sofie wieder ganz auf ihre Arbeit.

Beim Öffnen der Bauchhöhle entströmte der Leiche ein deutlich wahrnehmbarer alkoholischer Geruch, was sie ebenfalls sogleich in ihrem Diktat vermerkte.

»Das ist noch reichlich untertrieben, Frau Kollegin«, kommentierte Dr. Falk. »Der stinkt doch wie eine ganze Schnapsfabrik! Manche dieser strammen Herren aus Bayern scheinen ihr Essen vorzugsweise in flüssiger Form einzunehmen, das ist mir schon öfter aufgefallen.«

»Gsuffa wird überall in der Republik«, entgegnete Sofie, die so schnell nichts auf ihre geliebte Heimatstadt kommen lassen wollte, schon gar nicht von der Falk. Wenn es der Bissgurken in München nicht mehr taugte, sollte sie doch wieder abhauen in ihr Hannover, wo angeblich alles viel besser war.

Betont nüchtern fuhr sie fort: »Die exakte Promillezahl wird die Auswertung der Blutuntersuchung zeigen. Und was er als Letztes gegessen hat, wissen wir, nachdem der Mageninhalt analysiert wurde.«

Dann wandte sie sich an Spike, der die ganze Zeit über schweigend zugehört hatte, und meinte mit deutlich freundlicher klingender Stimme: »Wenn ich bitten dürfte, Herr Moosbichler. Ab damit zu den Kollegen, damit uns die Erhellung ereilt!«

Der Obduktionsassistent mit dem grünen Iro grinste sie an und verschwand mit einem Nicken.

Danach fiel kein persönliches Wort mehr zwischen den beiden Rechtsmedizinerinnen, bis Sofie ihr Diktat abgeschlossen hatte. Spike, wieder zurück im Sektionssaal, übernahm die Aufräumarbeiten, und Sofie wollte nichts lieber als so schnell wie möglich nach Hause.

»Was ist Ihnen eigentlich über die Leber gelaufen, Frau Kollegin?«, fragte die Falk in spitzem Ton, noch ehe Sofie in die Umkleidekabine verschwinden konnte. »Sind Sie mal wieder auf Diät und deswegen so unleidlich, oder sollte ich mir etwa ernsthaft Sorgen …«

Sie hielt inne. »Ja, der Herr Hauptkommissar«, begann sie unvermittelt zu gurren. »Welch hoher Besuch in unserer bescheidenen Hütte!«

Joe lächelte unverbindlich.

Das wollte Sofie ihm auch geraten haben. Nach der Taufe am Flaucher hatte sie ihm einmal mehr zu verstehen gegeben, dass sie es überhaupt nicht schätzte, wenn er anderen Frauen schöne Augen machte. Was er natürlich abgestritten hatte, worauf ein Wort das andere gab und am Ende mal wieder die Fetzen flogen, wie so oft.

»Du lernst es nie!«

»I hab doch gar nix gmacht …«

»Ang’sülzt hast sie, die doofe Krampfhenna. Moanst vielleicht, i bin blind? Is dei hormoneller Überschuss jetzt scho so groß, dass du sogar bei dera land’n wuist?«

»Mei, jetzt spuist wieder die Eifersüchtige, wegen nix und wieder nix …«

Am Ende hatte Joe dann doch Besserung gelobt, schon um des lieben Friedens willen. Und nun verhielt er sich merklich zurückhaltender.

»Ich möchte dir gern etwas zeigen, Sofie«, sagte er zu ihr. »Bevor es in der Asservatenkammer verschwindet. Des hast vermutlich sogar du noch nie gesehen. Jedenfalls noch ned so.«

»Jetzt machen Sie es aber spannend, Herr Lederer«, flötete Elke Falk weiter. »Geht es etwa um den aktuellen Fall?«

»Ja und nein«, erwiderte Joe. »Es geht um einen Fund in der Wohnung des Opfers, und der ist …« Er zögerte. »Wie sag ich das jetzt am besten? Ziemlich ungewöhnlich …«

»Ich beeil mich«, sagte Sofie.

»Ich wart dann draußen, ja?«

Joe machte ein verschmitztes Gesicht, als er hinzufügte: »Heut’ ist der beste Tag für eine Motorradfahrt!«

3

Scheinheilig

Solche Tage hatte es in ihrer Kindheit oft gegeben: weder schwül noch tropisch heiß, sondern angenehm warm unter einem hellblauen Himmel, über den weiße Wölkchen friedlich wanderten. Die ganze Stadt roch nach Sommer, daran konnten selbst die Autos vor und hinter ihnen nichts ändern, die ihren Feinstaub ungehemmt in die Luft pusteten. Überall sah man Menschen in luftiger Kleidung flanieren, viele schleckten dabei ein Eis, und die Straßencafés waren brechend voll.

Joe so nah zu sein war gar nicht so schlecht …

An seinen Rücken geschmiegt, zogen andere Motorradfahrten durch Sofies Erinnerung. Unterwegs hatten sie sich eigentlich immer verstanden. Vielleicht mussten sie endlich mal wieder raus aus dem Alltagsstress, weg von den Leichenfunden und Mordermittlungen, irgendwo hinfahren, wo es schön ist, ein ganz normales Paar sein wie andere auch.

Sofie schloss die Augen und genoss den Fahrtwind, bis Joe anhielt und sagte: »Wir sind da. Bitte absteigen, die Dame!«

»Aber des is ja glei bei uns ums Eck«, sagte Sofie, als sie den Helm abnahm.

»Ganz genau: Alpenstraße. Wo man in Giesing noch halbwegs günstig wohnen kann. Weil: garantiert unrenoviert.«

Schon von außen machte das zweistöckige Haus einen leicht runtergekommenen Eindruck, der sich noch verstärkte, als sie das Treppenhaus betraten. Ein uralter Geruch von Bohnerwachs hatte sich im Lauf der Jahrzehnte mit allen nur erdenklichen Gerüchen vermischt, darunter offenbar viel Knoblauch und einiges an Urin.

Sofie war eigentlich nicht sehr empfindlich, was Gerüche anging, schon von Berufs wegen. Und doch hielt sie sich die Nase zu, als sie nach oben stiegen.

»Des werd no besser«, warnte sie Joe und schloss die Wohnung auf.

Sofort schlug ihnen ein kaum auszuhaltender Mief entgegen. Im Flur stolperten sie über Berge von Pizzakartons, leere Bier- und Wodkaflaschen, bis sie endlich das Wohnzimmer erreichten – das allerdings kaum noch etwas Wohnliches hatte, so zugemüllt war es.

»Da stehen ja lauter Heiligenfiguren«, wunderte sich Sofie, nachdem sie sich mühsam einen ersten Überblick verschafft hatte.

»Genau«, bestätigte Joe. »Und wohl alle geklaut. Die Kollegen gehen gerade die Einbrüche der letzten Zeit durch. Kam schon vor, dass da auch der eine oder andere Heilige gefehlt hat. Nicht nur in Kirchen und Kapellen. Auch Antiquitätenhändler waren dabei.«

»Du meinst, der stiehlt so was, damit er das an andere verkaufen kann, die sich die Figuren dann aufstellen wollen?«

»Ganz genau«, nickte Joe. »Der Markt ist angeblich riesengroß. A bissl was Heilig’s geht immer, auch wenn der Lebenswandel sonst vielleicht nicht so heilig ist. Die lassen Unsummen am Fiskus vorbeirauschen, aber so a Heiliger im Sechzig-Quadratmeter-Wohnzimmer, der sois na richten.«

»Ganz schön scheinheilig«, brummte Sofie, »aber in Bayern passt des scho so!«

Jetzt lenkte Joe ihren Blick in eine andere Richtung.

»Aber deshalb sind wir nicht hier. Sondern deshalb: Hast du so was schon einmal gesehen?«

Er deutete auf drei große Glasgefäße, in denen je ein Totenkopf ruhte, geschmückt mit goldenen Litzen und Borten sowie bunt funkelnden Steinen.

»Das sind Reliquiare«, erkannte Sofie sofort. »Als Kind hat mich die Tante Vroni sonntags oft in den Alten Peter geschleppt. Zur heiligen Munditia, oder genauer: zu ihrer Reliquie. Weil sie doch die Patronin aller alleinstehenden Frauen ist …«

»Und das soll echt sein?«

Joe klang alles andere als überzeugt.

»Die Munditia?«, antwortete Sofie. »Keine Ahnung! Angeblich wurde sie in Rom wegen ihres Glaubens enthauptet, lag lange in einem Nischengrab in den Katakomben und ruht nun schon seit dem 17. Jahrhundert in ihrer eigenen Kapelle im Seitenschiff von St. Peter.«

»Und das hier?«, fragte Joe. »Echt oder fake?«

Sofie hob eines der Glasgefäße vorsichtig hoch.

»Der Schädel ist echt, das kann ich schon mal sagen. Plastik oder Wachs würden anders aussehen. Aber wie alt er ist? Dazu müsste man ihn gründlich untersuchen. Kümmer du dich drum, dann nehmen wir die Reliquiare im Institut genauestens unter die Lupe.«

Sofie stellte das Gefäß wieder ab.

»Wo hat er sie denn her?«

»Es gibt dazu keine Diebstahlanzeige, das wissen wir schon. Und das ist ja das Komische daran: Wenn mir so etwas Heiliges abhandenkommt, dann geh ich doch zur Polizei, oder nicht?«

»Es sei denn, ich hätte sie auch nicht ganz legal erworben …«

»Bingo!«, sagte Joe.

»Aber wo sollen die Kollegen denn suchen? Das ist ja endlos!«

»Ja, das hab ich zuerst auch befürchtet, aber schau mal: Neben den Schädeln liegen noch zwei silberne Schalen, womöglich für Weihwasser. Und die sind auf der Unterseite beschriftet. Vielleicht hilft das ja weiter.«

Sofie schaute auf die Inschrift. »Kurios. R. König. Schweigerstraße 4.« Sie blickte Joe verblüfft an. »Du, den Laden kenn ich. »Da hat mich die Vroni mal vor Urzeiten hingeschleift.«

»Und weiter?«

»Krusch und Kram, so weit das Auge reicht. Ein richtiger Tandler halt. Wenn ich mich nicht täusche, stellt der sogar auf der Auer Dult aus.«

»Dann fotografier ich das jetzt, und danach werden wir dem Herrn König mal auf den Zahn fühlen«, sagte Joe. »Danke, Spatzl, du warst mal wieder ganz wunderbar!«

4

Träume und Schäume

Freilich kenn i den«, versicherte Vroni, als Sofie zu ihr kam, um Murmel abzuholen. Der Hund konnte sein ausführliches Gassigehen kaum erwarten und sprang stürmisch an ihr hoch. Kurz zuvor war sie mit Joe vergeblich vor dem geschlossenen Kurios gestanden.

»Den kennt hier jeder«, ergänzte Vroni, »als Stenz von der Au!«

»Du meinst scho den Richard König?«

»Genau den. Noch vor a paar Jahr waren die Frauen ganz wuid auf den, bei jedem Faschingsball, jedem Maitanz war er der absolute King mit freier Wahl, wennst verstehst, was i moan. Buchstäblich Schlange sans gstandn bei dem. Du woaßt des nimmer, du warst damals no z’jung und außerdem scho fest mitm Joe verbandelt. War aa a richtig fescher Kerl mit seine schwarzen Locken und seine unverschämt blauen Augn – fast a bissl wia der junge Ludwig hat er damals ausgschaut. Aber die Zeit macht eben aa vorm scheensten Stenz ned halt. Jetzt isser grauer worn, de Weiber von fria san unter da Haubn; wegzogn oder anderweitig interessiert. Dafür hat er sich an Hund angschafft.«

»Und woher weißt du das alles?«

»Weil i eahm immer mal wieder begegne, wenn i mitm Murmel unterwegs bin. Der King, der ghört jetzt nämlich in die Riege der HmT.«

Sofie blickte sie fragend an.

»Des san die Herrn mit Tagesfreizeit, solche, die entspannt durch die Gegend flanieren, wenn andere arbeiten müssen.«

»Und das kann er sich leisten?«, hakte Sofie nach. »Von außen sah der Laden ned berauschend aus, eher wie Kraut und Rüben. Ob der viel abwirft? Ist der King denn anderweitig vermögend?«

»Da bin i überfragt. Den Laden hat scho sei Onkel selig geführt, glei ums Eck von der Dult. War der ned aa no Präparator? Des woaß i jetzt nimmer so genau, aber ausgstopfte Viecherl hat er jedenfalls verkauft und ned zu wenige, des is gwiss. Vielleicht hat er den Laden ja dem King vererbt? Und jetzt macht der nur no auf, wenn er mog.«

Tante Vronis graue Augen blickten sie skeptisch an. »Is des etwa oana von eure Ganoven, oder warum fragst du mi des ois?«

»Wir bräuchten nur a paar Informationen von ihm«, erwiderte Sofie. »Du magst ihn ned besonders, den King, gell?«

»Des siehst du ganz richtig, Sofie. Schönlinge und Angeber auf Kosten von uns Frauen, die waren noch nie mein Fall. I mog scho, wenn a Mannsbild ansehnlich is – und charmant erst recht. Aber Charakter gehört für mi unbedingt dazu. Ohne den geht bei mir gar nix.«

Nachdenklich nahm Sofie die Steige hinunter zum Mariahilfplatz. Murmel lief voraus, begrüßte unterwegs ein paar vierbeinige Freunde, kam aber immer wieder brav zurück, wenn Sofie nach ihm rief. Der Weg war schattig und nicht zu steil, und trotzdem geriet sie leicht außer Atem, ehe sie unten ankam.

Alles wieder viel zu lange vernachlässigt, nölte ihre innere Stimme, die erfreulich lange still geblieben war. Mit ein bisschen Radeln ins Institut und zurück ist es eben nicht getan. Walken wolltest du ab Frühling regelmäßig, um deine Fitness zu verbessern, und deinen Heimtrainer hast du auch schon lange vernachlässigt …

»Schnauze!«, konterte Sofie halblaut wie in ihren besten Berliner Tagen. »Wenn es noch wärmer wird, dreh ich wieder meine Runden im Schyrenbad, host mi? Und jetzt hab ich frei!«

Sie überlegte kurz, ob sie auf dem Absatz umdrehen und gleich wieder nach oben steigen sollte – doch dann hielt sie die Vision eines schaumigen Latte macchiato, entspannt im Freien genossen, davon ab. Sofie überquerte den leeren Platz, auf dem im nächsten Monat die Jakobidult stattfinden würde. Da hörte sie auch schon den Auer Mühlbach murmeln, und die gelben Sonnenschirme vor dem kleinen Café kamen ihr erfreulich nahe.

Aufatmend ließ Sofie sich auf einen der Stühle fallen, bestellte ein Schälchen Wasser für den Mops sowie einen Latte und eine klitzekleine Erdbeerrolle, die dann aber doch erfreulich üppig ausfiel, als die junge Bedienung sie vor ihr auf den Tisch stellte.

»Gute Wahl!«, hörte sie eine sonore Männerstimme sagen, als sie gerade den ersten Bissen in den Mund geschoben und die unvergleichliche Fusion von Biskuit, Sahne und Erdbeeren auf ihrer Zunge genoss. »Ich darf doch, schöne Frau?«

Und schon saß Charly Loessl ihr gegenüber.

Spitzbübisch grinsend bestellte er »das Gleiche wie die Dame!« und meinte: »So glücklich möchte ich auch einmal aussehen!«

»Heute gar nicht am Schreibtisch?«, fragte Sofie, die von seinem Buchprojekt wusste, aus dem er immer noch ein Geheimnis machte.

»Seit Wochen schon nicht mehr.«

Sein sympathisches Grinsen verfestigte sich.

»Ich hab mich nämlich unsterblich verliebt.«

Das saß.

Natürlich hätte Sofie damit rechnen müssen. Lange schon. So ein attraktiver Mann wie Charly blieb eben auf Dauer nicht allein, aber dass er ihr das so mir nichts, dir nichts einfach ins Gesicht sagte, kam für sie doch sehr überraschend. Fast hätte ihr die Erdbeerrolle nicht mehr geschmeckt – aber irgendeinen Trost braucht der Mensch ja, also vertilgte sie die Kalorienbombe lieber zügig.

Charly schaute ihr lächelnd zu.

»Nachschub?«, fragte er, während er seine Portion Erdbeerrolle deutlich langsamer genoss.

»Bloß nicht. Ich muss dann auch bald wieder …«

»Moment! Ich lass dich jetzt nicht wieder gehen, bevor ich sie dir vorgestellt habe.«

Das wurde ja immer besser!

Vor Sofies innerem Auge tauchte die Vision einer lebhaften Rothaarigen auf hohen Pumps auf, die eine Spur zu laut lachte und wunderschön singen konnte – Gina Matteo!

Hatte sie es nicht von Anfang an im Blut gehabt?

Manchmal hasste sie ihre Fähigkeit, Dinge vorauszuahnen.

Charly legte Geld auf den Tisch und stand auf.

»Wollen wir?«, fragte er. »Sind wirklich nur ein paar Schritte.«

»Jetzt?«

Alles in Sofie sträubte sich dagegen.

Gut, irgendwann würde sie um die Begegnung nicht herumkommen. Was wollte sie überhaupt? Sie waren gute Freunde, nichts weiter, und natürlich würde sie irgendwann die Frau an seiner Seite näher kennenlernen. Aber doch nicht gerade heute …

»Jetzt!«, bekräftigte Charly ungewohnt nachdrücklich.

»Du wirst begeistert sein. Zumindest hoffe ich das.«

Widerstrebend erhob sich Sofie und folgte ihm mit dem Murmel an der Leine. Charly machte derart große Schritte, dass sie ihm beim besten Willen kaum hinterherkam – hatte er es so eilig, bei seiner Liebsten zu sein?

Zefix, das tat weh!

Charly bog in die nächste Straße ein, ging noch ein paar Meter weiter, um dann vor einem frei stehenden gelben Haus mit dunkelgrünen Fensterläden stehen zu bleiben. Gemütlich sah es aus, auf beste Weise eingewohnt, heimelig. Links und rechts standen zwei ähnliche Gebäude, aber das in der Mitte war zweifelsohne am ansehnlichsten.

»Und?«, fragte er strahlend. »Hab ich zu viel versprochen?«

»Das ist …?«, stotterte Sofie.

»Ganz genau.« Charly nickte. »Das ist meine neue große Liebe, und stell dir vor: durchaus bezahlbar! Beim Notar war ich schon. Die alte Wohnung ist auch schon gekündigt – meine Nachmieterin hatte es offenbar sehr eilig. Und das Beste daran ist, dass ich nun hier in meiner Gegend bleiben kann, an die mich so vieles bindet.«

Charly sah Sofie so intensiv an, dass kaum ein Zweifel blieb, was – oder besser: wen – er damit meinte.

Sofie konnte seinem Blick kaum standhalten, so schämte sie sich. Charly hatte also die ganze Zeit von einem Haus geschwärmt, nicht von einer Frau. Sie war auf einer ganz falschen Fährte gewesen – und selbst überrascht, wie erleichtert sie darüber war.

»Schön«, versicherte sie nun eifrig. »Wirklich sehr, sehr schön!«

»Es gibt sogar eine Terrasse und einen kleinen Garten, und das mitten in der Au«, meinte Charly mit leicht verklärtem Blick. »Da werde ich draußen schreiben können – oder wir grillen abends mal zusammen …«

Er öffnete das Türchen zum Vorgärtchen.

»Ich zeig es dir von innen, damit du dir ein richtiges Bild machen kannst. Oder magst du vielleicht zuerst einen Blick auf den Grundriss werfen? Ich hab ihn jetzt immer dabei. Fühlt sich schon fast wie ein Talisman an …« Er zog ein Stück Papier aus der Hosentasche und faltete es auf.

»Gern.«

Sofies Augen flogen über den Plan.

»Alles da, was man braucht«, meinte sie dann. »Schaut richtig gemütlich aus: unten wohnen, oben arbeiten und schlafen. Sogar das Dach ist ausgebaut. Und einen anständigen Keller hast du auch. Darum beneide ich dich. Der fehlt nämlich in meiner Wohnung.«

»Und jetzt in echt!«

Charly ließ sie hinein. »Ich bin natürlich noch lange nicht fertig mit Renovieren. Aber ein paar Wände hab ich schon rausreißen lassen, damit es offener wirkt, und der dunkle Holzboden im Erdgeschoss wird diese Woche verlegt. Der kommt überall hin, nur nicht in die Küche. Ja, ich glaube, hier lässt es sich dann einmal ganz gut leben …«

Er öffnete die Terrassentür. Murmel riss sich von der Leine und stürmte in den Garten.

»Hier gibt es allerdings noch ein Problem«, meinte Charly zu Sofie, die ihm nach draußen gefolgt war. »Erdwespen. Die können ganz schön lästig sein.«

»Da hat die Tante Vroni jede Menge Hausmittel parat: Teller mit Zitronenscheiben, gespickt mit Nelken, Kaffeepulver – oder Weihrauch, wenns a bissl heiliger sein soll.«

Sofie lachte, aber Charly zog die Stirn kraus. »Mir hilft das leider nicht. Ich bin megaallergisch gegen jede Art von Insektenstichen, wie du weißt. Bei mir schwellen die über die Maßen an und jucken so höllisch, dass ich über kurz oder lang gar nicht anders kann, als zu kratzen. Dann entzünden sie sich. Da hätte ich schon mehr als einmal leicht eine Sepsis bekommen können. Einmal, im Atlasgebirge mutterseelenallein – das war alles andere als lustig. Und das Nest hier scheint riesig zu sein. Da, schau!«

Er führte sie ein Stück am Haus entlang.

»Der Kammerjäger hat schon mit Wasser und Zucker gearbeitet – allerdings mit mäßigem Erfolg: Die Wespen sind immer noch da. Jetzt versucht er es mit großzügigem Umgraben des Erdreiches, denn ausräuchern lassen will ich sie nicht. Angefangen hat er bereits. Morgen geht es dann weiter.«

Sofie trat gerade näher heran, als ihr ein schwacher, aber unverwechselbarer Geruch in die Nase drang. Sie begann zu schnüffeln. Ja, jetzt roch sie es noch deutlicher.

»Da muss eine Leiche sein«, meinte sie konsterniert. »Hier riecht es eindeutig nach Verwesung.«

Charly sah sie verdutzt an, dann besann er sich und sagte: »Kann es sein, dass du immer noch den Geruch von eurem Seziersaal in der Nase hast, meine Liebe? Du kommst nicht zufällig unmittelbar vom Obduktionstisch?«

»Das schon«, gab ihm Sofie recht, »aber Murmel riecht es auch. Schau doch mal: Der drückt sich ja fast am Boden platt vor lauter Aufregung.«

»Na, dann sind das vielleicht die sterblichen Überreste einer Spitzmaus, die er da wittert. Aber mein schöner kleiner Garten ist garantiert leichenfrei, liebste Sofie!«

Sofie wollte weder streiten noch Charly die Freude an seinem Schätzchen verderben. Doch die Jägerin in ihr war erwacht. Sie würde wiederkommen – und zwar ganz früh am Morgen, wenn ihr sensibles Riechorgan noch ganz unbeeindruckt von allen sonstigen Gerüchen des Alltags war.

Dann würde man weitersehen …

5

(K)ein Hundeleben

Eine Klassefrau wie sie, hatte die so etwas überhaupt nötig?

Nachdenklich goss sich Elke Falk ein zweites Glas Rosé ein.

Eigentlich nicht.

Andererseits zeigte sich München gerade in seiner schönsten Jahreszeit, und sie hockte am frühen Abend allein auf ihrem geschmackvoll bepflanzten Balkon. Gerne zwar, aber eben doch auch: allein. Es wurde nicht einfacher, aufregende Männer kennenzulernen, wenn die Vierzig drohend näher kam oder einen bereits sang- und klanglos überrollt hatte. Was tun?

Elke Falk klappte den Laptop auf.

Das ganze klassische Zeug kam für sie ohnehin nicht infrage. Parship mit diesen akademischen Langweilern konnte ihr gestohlen bleiben, Partner-ab40 klang schon vom Namen her zum Abgewöhnen, und welche Typen frau auf 40gold.de treffen würde, wollte sie sich lieber erst gar nicht vorstellen. Zweisam.de ging sogar tatsächlich erst ab 50 los. Also, an Opas war sie nun wirklich nicht interessiert!

Missmutig scrollte sie weiter.

Mollylove.de – das wurde ja immer bizarrer!

Damit konnte sie beim besten Willen nicht dienen, so sportlich und grazil, wie sie nun einmal war. Da sollte sich besser diese Sofie Rosenhuth anmelden, die vor jeder Sahnerolle kapitulierte, anstatt sich einmal zusammenzureißen. Seltsamerweise schien ihr das die Männerwelt gar nicht übel zu nehmen, ganz im Gegenteil. Die konnte gleich zwei Galane auf einmal an der langen Leine führen, den weitgereisten, gebildeten Loessl aus allerbestem Hause und den Lederer Joe, der doch ein wirklich erfrischend smarter Hauptkommissar war – und zudem noch ihr Ex.

Schon der Gedanke an den feschen Joe ließ Elke unruhig werden. Der strahlte so viel Virilität aus, und ein Kostverächter schien er auch nicht gerade zu sein, was die Damenwelt anging; nach allem, was man so hörte …

Elke rutschte auf ihrem Stuhl hin und her, nahm einen ordentlichen Schluck und zwang sich, an etwas anderes zu denken. Doch es wollte ihr nicht so richtig gelingen an diesem verführerisch warmen Sommerabend. Nicht einmal Murmel war heute da, um ersatzweise mit ihr zu knuddeln. Eigentlich hatten sie ja vereinbart, sich gemeinsam um ihn zu kümmern, aber die unmögliche Rosenhuth führte sich immer mehr so auf, als läge die Entscheidung darüber, bei wem der Murmel sein durfte, allein bei ihr. Nur weil er damals angeblich nachts unter ihrem Fenster gewinselt hatte. Solche rührseligen Storys konnte sich auch nur diese moppelige Leberkästussi ausdenken!

Sie hatte sogar schon darüber nachgedacht, sich einen eigenen Hund anzuschaffen. Aber welcher Vierbeiner würde schon so drollig und liebenswert sein wie ihr kleiner blonder Mops?

Auf einmal stutzte die Falk.

Mein Hund & Du, das klang doch gar nicht schlecht!

Sie klickte weiter.

Gut, die Fotos der hier aufgeführten Herren waren auf den ersten Blick auch nicht übermäßig berauschend, aber wenn sie erst einmal ihr Porträt eingestellt hätte, würden vielleicht noch ganz andere Kandidaten aufscheinen. Versuchen konnte sie es ja mal, probeweise. Mal sehen, ob sich die dreißig Euro für die Anmeldung im ersten Monat als lohnende Investition erweisen würden …

Höchst motiviert machte sie sich an ihr Profil.

Das beste Foto vom letzten Sommer schien ihr gerade gut genug für den Zweck: zart gebräunt, in diesem karibikblauen Kleid, das ihre wunderschönen Augen so richtig zur Geltung brachte. Und dann saß ja auch noch Murmelchen auf ihrem Schoß – genau richtig in diesem Forum.

Alter?

33.

Sah sie vielleicht auch nur einen einzigen Tag älter aus?

Beruf?

Lebenskünstlerin.

Das mit der Rechtsmedizin machte die Kerle schon im Vorfeld nur unnötig nervös.

Name?

In solchen Foren nannte sich doch keiner, wie er richtig hieß.

Elfe.

Hübscher Nickname. Sie kicherte leise. Für irgendetwas war diese blöde Taufe dann doch noch gut gewesen.

Feste Bindung?

Sie musste kurz überlegen, dann wusste sie die Antwort.

Bin für alles offen.

Klang doch richtig prima, oder?

6

Verdacht im Morgengrauen

Früher hatte Sofie es gehasst, wenn sie so früh aus den Federn musste. Aber seit Murmel an ihrer Seite war, fand sie das gar nicht mehr so schlimm. Jedenfalls dann nicht, wenn draußen keine frostige Winterkälte auf sie wartete, sondern ein hellblauer Junimorgen wie heute.

Sofie ließ den Mops in aller Ruhe seinen Lieblingsbaum markieren, dann hob sie ihn in sein Körbchen, das sie sich extra vorn auf ihr Fahrrad hatte montieren lassen, setzte den Helm auf und fuhr los. Sie wählte den Weg über den Nockherberg, weil sie es jedes Mal wieder genoss, rasant nach unten zu rollen, ohne treten zu müssen. Nur wenige Minuten später war sie schon vor Charlys Traumhaus angelangt.

Sofie hob Murmel heraus.

Plötzlich wurde sie unschlüssig.

Wäre es nicht doch viel schlauer gewesen, ihn bei Tante Vroni zu lassen?

Aber die Falk hatte spätabends noch angerufen und vehement ihren Anteil an der Mopsbetreuung eingefordert. Mit ganz komischer Stimme allerdings. So verwaschen hatte sie sich noch nie angehört.

Ob diese Spinatwachtel ab und an zu tief ins Glas schaute? Wäre ja fast ein menschlicher Zug an ihr …