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Christine Brand

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Beschreibung

»Eine genial spannende Idee meisterhaft umgesetzt. Krimikunst vom Feinsten!« Sebastian Fitzek

Nathaniel hört einen Schrei, dann bricht die Verbindung ab. Gerade noch telefonierte er mit einer Frau. Eine anonyme App verband die beiden, die Frau half Nathaniel dabei, das richtige Hemd zu wählen. Denn Nathaniel ist blind, doch der Schrei klang eindeutig. Was, wenn der Frau etwas angetan wurde? Er ist sich sicher: Es muss ein Verbrechen sein. Doch keiner glaubt ihm, es gibt keine Beweise, keine Spur. Gemeinsam mit einer Freundin, der Journalistin Milla, macht sich Nathaniel selbst auf die Suche nach der Wahrheit. Er ahnt nicht, dass er für die fremde Frau die einzige Chance sein könnte – oder ihr Untergang ...

Die unabhängig voneinander lesbaren Krimis um Milla Nova und Sandro Bandini bei Blanvalet:

1. Blind

2. Die Patientin

3. Der Bruder

4. Der Unbekannte

5. Der Feind

Lesen Sie auch »Wahre Verbrechen»: Christine Brand schreibt über ihre dramatischsten Fälle als Gerichtsreporterin.

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Seitenzahl: 469

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Das Buch

Nathaniel hört einen Schrei, dann bricht die Verbindung ab. Gerade noch sprach er im Videochat mit einer Frau. Eine anonyme App verband die beiden, die Frau half Nathaniel dabei, das richtige Hemd zu wählen. Denn Nathaniel ist blind. Und er ist sich sicher: Ein Verbrechen ist geschehen. Doch keiner glaubt ihm, es gibt keine Beweise, keine Spur. Gemeinsam mit einer Freundin, der Journalistin Milla, macht sich Nathaniel selbst auf die Suche nach der Wahrheit. Er ahnt nicht, dass er für die fremde Frau die einzige Chance sein könnte – oder ihr Untergang ...

Die Autorin

Christine Brand, geboren und aufgewachsen im Schweizer Emmental, arbeitete als Redakteurin bei der »Neuen Zürcher Zeitung«, als Reporterin beim Schweizer Fernsehen und als Gerichtsreporterin. Im Gerichtssaal und durch Recherchen und Reportagen über die Polizeiarbeit erhielt sie Einblick in die Welt der Justiz und der Kriminologie. Sie schrieb bereits Romane und Kurzgeschichten bei Schweizer Verlagen. »Blind« ist ihr erster Roman bei Blanvalet. Christine Brand lebt in Zürich, reist aber die meiste Zeit des Jahres um die Welt.

C H R I S T I N E    B R A N D

BLIND

K R I M I N A L R O M A N

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2019 by Blanvalet, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Umschlaggestaltung: www.buerosued.de Umschlagabbildung: Gettyimages / Minfeng Wu / EyeEm Trevillion / Stephen Carroll JB Herstellung: sam Satz und E-Book: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-641-22471-4V003 www.blanvalet.de

Prolog

»Das Kind lebt! Es lebt!«

Plötzlich geriet alles in Bewegung. Der Notfallarzt hetzte die Stufen hoch, zwei Sanitäter eilten mit einer Trage hinterher, darauf diverse Koffer, Sauerstoff und eine Accuvac-Absaugpumpe. Felix Winter presste sich an die Wand des Treppenhauses, um ihnen Platz zu machen. In der Wohnung hörte er seinen Kollegen rufen, dass die Rettung sofort einen Hubschrauber herschicken solle. Es folgte unverständliches Geknarze aus dem Funkgerät. Als Winter über die Türschwelle trat, vernahm er aus dem Wohnzimmer die ruhige Stimme des Arztes, der die Sanitäter mit knappen Worten anwies, was zu tun war. Alles ging schnell, jeder Handgriff saß, schon wenig später trugen die Männer den auf der Trage fixierten Jungen an Felix Winter vorbei. Fast zeitgleich vernahm er draußen das Sirren des Hubschraubers. Winter musste den Blick abwenden, als er den Kopf des Buben sah. Er hätte für den Jungen gebetet, würde er an Gott glauben.

Felix Winter hatte gedacht, er sei hart im Nehmen. Doch als er sich in der Wohnung umsah, wurde ihm übel. Nicht wegen der Leichen; die Anwesenheit des Todes war erträglich. Sondern weil sich hier alles irritierend normal anfühlte. Die nicht leer getrunkenen Gläser mit Schokomilch auf dem Küchentisch. Die kalt gewordenen Rühreier in der Bratpfanne. Die Kinderzeichnungen am Kühlschrank. Und die Sonne, die ein goldgelbes Rechteck in Form des Fensters auf den Boden zeichnete und einen schönen Tag versprach. Lügnerin, dachte Winter. Vor der Küche lagen neben einem umgestürzten Regal Playmobilfiguren auf dem Boden. Im Wohnzimmer: die Leichen. Sie passten nicht hierher, als hätte sie jemand hier drapiert, wie nachträglich in ein bestehendes Bild gemalt.

Mit einem Nicken grüßte Winter die Kollegen von der Spurensicherung und den Rechtsmediziner, die in diesem Moment die Wohnung betraten. Der medizinische Forensiker beugte sich als Erstes über das tote Mädchen, das unter dem Stubentisch lag, als hätte es versucht, sich zu verstecken.

»Drei Tote. Darunter ein Mädchen, zirka zwölf Jahre alt. Sein Bruder ist so schwer verletzt, dass auch er die nächsten vierundzwanzig Stunden kaum überleben wird«, sagte der Rechtsmediziner. Winter war sich nicht sicher, ob die Worte an ihn gerichtet waren. Er blickte auf die Leichen. Das Mädchen, zusammengerollt, als ob es schliefe. Die Mutter, auf dem Bauch liegend, das Gesicht ihrem toten Kind zugewandt. Der Vater etwas abseits, als gehörte er nicht dazu. Und überall Blut. Zu viel Blut. Winter musste würgen. Er machte kehrt, rannte die Treppe hinunter und erbrach sich hinter dem Gebüsch vor der Eingangstür des Mehrfamilienhauses. Ein älterer Kollege nickte ihm wissend zu.

So hatte sich Winter seinen ersten Tag nicht vorgestellt. Ob es richtig gewesen war, zur Mordkommission zu wechseln? Was, wenn er dies alles nicht ertrug? Wenn es ihm zu naheging?

Winter wischte sich das Gesicht mit einem Taschentuch ab. Er holte sich neue Handschuhe aus dem Wagen der Spurensicherung, fand eine Wasserflasche, spülte sich den Mund und begab sich zurück in die Wohnung, die zu einem makabren Familiengrab geworden war.

1

»Wunderbar sieht das aus.« Der rotgekrauste Haarschopf zwischen Caroles gespreizten Beinen nickt anerkennend. »Alles genau so, wie es sein muss. Der Kleine kann kommen.«

»Ich krieg die Panik, wenn ich nur dran denke.«

»Ginge mir genauso.«

Carole schluckt. Das ist nicht das, was sie von ihrer Frauenärztin hören wollte. Doch als Chantal Tischler ihren Blick von Caroles Intimbereich abwendet und ihr in die Augen schaut, erkennt Carole, dass sie es nicht ernst gemeint hat.

»Wissen Sie, wie viele Kinder schon von Frauen auf die Welt gebracht worden sind?«

Carole zuckt mit den Schultern.

»Eben. Milliarden von Frauen haben Kinder geboren. Dann werden Sie das wohl auch hinkriegen.«

Carole versucht zu lachen. Es misslingt ihr. Sie kann sich schlicht nicht vorstellen, wie der Kleine, der ihren Bauch innerhalb von neun Monaten in einen überdimensionierten Medizinball verwandelt hat, es aus ihrem Körper hinausschaffen will. Sie nimmt die Füße von den zwei Metallstützen und setzt sich wieder aufrecht hin. Die Peepshow ist beendet.

»Sie können sich anziehen. Sind Sie immer noch sicher, dass Sie den Vater bei der Geburt nicht dabeihaben wollen?«

»Hundertprozentig sicher. Ich weiß ja nicht einmal, wer der Vater ist.«

Carole stemmt sich aus dem Stuhl, greift nach Slip und Hose, die sie hinter dem Paravent, der mit japanischen Schriftzeichen verziert ist, unordentlich auf einem Schemel abgelegt hat.

»So viele werden dafür ja wohl nicht infrage kommen«, hört sie ihre Ärztin sagen.

Wenn Sie wüssten, denkt Carole. »Ich will gar nicht wissen, wer der Vater ist«, ruft sie über die Trennwand hinweg. »Und ich bin mir sicher, dass auch die potenziellen Väter es lieber nicht wissen möchten.«

Sie setzt sich hin, versucht, die Socken überzustreifen. Was früher ein Kinderspiel war, ist heute wegen des Kindes in ihrem Bauch ein Kunststück. Carole fragt sich, ob alle Frauen sich die Mühe machen, die Socken auszuziehen, bevor sie auf dem gynäkologischen Stuhl ihr Intimstes präsentieren. Aber anders geht es für Carole nicht: Nackt auf dem Stuhl zu sitzen und Socken zu tragen, würde sich ähnlich schrecklich anfühlen, wie in Socken Sex zu haben. Carole gewinnt schließlich den Kampf und tritt vollständig angezogen hinter dem Paravent hervor.

»Nun gut, es ist Ihre Entscheidung. Dann müssen wir die Geburt eben alleine durchstehen.« Etwas Warmes liegt im Blick der Frauenärztin. »Sie werden das Kind schon schaukeln.«

»Hoffentlich.« Jetzt bringt Carole doch so etwas Ähnliches wie ein Lächeln zustande.

Sie vereinbart mit ihrer Ärztin in sieben Tagen den nächsten und wohl letzten Untersuchungstermin vor der Geburt. Chantal Tischler ermahnt sie, nicht zu übermütig zu sein; von nun an könne es jederzeit losgehen. Ein Hinweis, der nicht zur Beruhigung Caroles beiträgt.

Bevor sie die Praxis verlässt, muss sie noch rasch aufs Klo. Sie muss jetzt ständig aufs Klo, was auch kein Wunder ist, turnt ihr der Kleine doch dauernd auf der Blase herum. Die Toilette in der Praxis ist liebevoll eingerichtet. An der Decke dreht eine geflügelte Kuh an einem Faden ihre Runden. Vor dem Spiegel sind in bunt bemalten Holzkästchen Tampons, Damenbinden und Briefchen mit Kondomen aufgereiht.

Carole mustert ihr Spiegelbild. Auch ihr Gesicht hat sich verändert. Es wirkt weicher, als wären ihre Züge nicht mehr kantig mit Tusche gezeichnet, sondern in Aquarell gemalt. Ihr blondes Haar hat seinen Glanz verloren. Stumpf sieht es aus. Stroh, denkt Carole. Sie bündelt es hinter ihrem Kopf zu einem Knäuel, streicht sich mit der anderen Hand die langen Strähnen aus der Stirn, schaudert kurz und lässt die Haare wieder fallen. Sie hat sich geschworen, sich nicht wie viele andere Mütter nach der Geburt einen Kurzhaarschnitt zuzulegen.

Wie viel von ihrem alten Ich wohl übrig bleiben wird, wenn das Kind mal da ist? Und wem es wohl gleichen wird? Ihr selbst? Oder wird sie ihm ansehen, wer sein Vater ist?

Sie hatte nicht lange darüber nachdenken müssen: Sie hatte ein Kind gewollt, aber keinen Mann. Schon als sie ein Teenager war, hatten sich Jungs mit ihrem Drang nach Unabhängigkeit schwergetan – was mit dazu beitrug, dass sie sich zunehmend schwertat mit Jungs. Bis ihr auf einmal klar wurde, dass sie ganz auf sie verzichten wollte. Es dauerte eine Weile, aber schließlich hat sie ihr Ziel erreicht. Der Gugelhupf-Bauch ist der Beweis dafür.

Carole wendet sich von ihrem Spiegelbild ab, quetscht sich aus der Hose, Modell extra weit und extra hoch geschnitten. Beides trifft auch auf die Unterwäsche zu, die sie seit einiger Zeit trägt; Marke Lusttöter. Sie pinkelt eine gefühlte Ewigkeit und ist dem nicht enden wollenden Sprinkeln ihrer Blase machtlos ausgeliefert. Zwei Wochen noch, denkt sie, zwei Wochen, dann hat sie ihren Körper wieder.

2

»Es ist siebzehn Uhr dreizehn.«

Eine unsympathische Frauenstimme rattert die Zeit herunter. Immer sind es Frauenstimmen. Die Stimme in seinem Handy, die Stimme in seinem Computer, die Stimme in seiner Uhr. Nathaniel fragt sich, warum. Er ist im Moment nicht gut auf Frauen zu sprechen. Brigitte hat ihm gestern nach zweiwöchiger Sendepause geschrieben, sie wünsche keinen Kontakt mehr. Dabei hatte er das erste Mal seit Ewigkeiten das Gefühl, dass sich jemand für ihn interessiert. Sie hatten hin und her gechattet, humorvoll, auch ein wenig flirty, und er hatte sich dabei ein bisschen in Brigitte verliebt. Klar, es war bei geschriebenen Worten geblieben, aber daraus hätte mehr werden können. Hatte er gedacht.

Bis er Brigitte Alishas Weckmethode beschrieben hat, die jeden Morgen ihre Pfote auf sein Gesicht knallt, wenn sie beschließt, dass es Zeit zum Aufstehen sei.

»Wer ist Alisha?«, hatte Brigitte gefragt.

»Meine Hündin.«

»Du hast einen Hund?«

»Natürlich, einen Blindenhund.«

»Du bist blind???«, schrieb sie zurück, doch das konnte er nicht sehen, sondern nur hören. »Du bist blind Fragezeichen Fragezeichen Fragezeichen«, las ihm die Frauenstimme in seinem Computer mit nervtötender Monotonie vor. Drei Fragezeichen. Dabei steht es zuoberst im Begrüßungstext seines Profils auf der Online-Dating-Seite: »Hallo, ich bin Nathaniel, und ich bin blind.« Sogar seinen Profilnamen hat er so gewählt, dass kein Missverständnis möglich ist: Nathaniel Blind. Wie blind muss man denn sein, um das zu übersehen? Offenbar hat Brigitte sein Profil gar nicht gelesen. Nach dieser letzten Konversation hatte sie geschwiegen, bis gestern. Bis zum Kontaktabbruch.

Die Gedanken an Brigittes stillosen Abgang haben Nathaniel die Zeit vergessen lassen. Erneut drückt er den Knopf auf seiner Uhr.

»Es ist siebzehn Uhr einundzwanzig.«

Mist, denkt Nathaniel. Er ist spät dran, er ist immer spät dran, stets braucht er für alles länger, als er meint.

»Wir müssen uns beeilen, Alisha. Avanti.«

Seine Blindenhündin lässt sich nicht zweimal bitten. Selbst wenn sie nicht in Eile sind, legt die langhaarige Schäferhündin ein Tempo vor, das ihn beinahe in den Laufschritt zwingt. Nathaniel weiß, dass sie beide ein ungewöhnliches Bild abgeben: Alisha, die vorwärts drängend an ihrem Geschirr zerrt, und er, der in leichter Rücklage hinter ihr her eilt. Alisha entspricht grundsätzlich nicht dem Idealbild, das man sich gemeinhin von einem Blindenhund macht. Nicht nur wegen ihres enormen Tempos, das sie meist anschlägt. Oft ist sie auch ungeduldig. Zudem verfügt die Hundedame nicht über den besten Orientierungssinn; angeblich ein typisch weibliches Phänomen. Vor ein paar Monaten, als der Winter sich gerade mal wieder von seiner fiesesten Seite zeigte, legte Nathaniel für den Radiosender RABE Musik auf. Alle drei Wochen macht er dort von zehn bis Mitternacht eine eigene Sendung. Als er sich nach Feierabend nach Hause begab, versperrte ihnen ein Schneewall, den eine Räummaschine mitten auf seiner Route angehäuft hatte, den Weg. Nathaniel konnte Alisha nicht dazu bringen, über den Wall zu klettern. Die Wegänderung brachte das Tier dann dermaßen durcheinander, dass Nathaniel geschlagene zwei Stunden lang durch die sterbensleere Stadt irrte, bevor Alisha endlich den Heimweg fand. Weil wie immer in solchen Momenten nicht nur Alisha, sondern auch der Akku seines Handys versagt hatte.

Nathaniels Freunde verstehen nicht, warum er die Hündin nicht längst gegen einen besseren Blindenhund ausgetauscht hat. Doch das ist für Nathaniel undenkbar. Er liebt Alisha über alles, und ja, er liebt sie vor allem auch dafür, dass sie anders ist als alle anderen, dass sie ihren eigenen Kopf hat und nicht so treudoof spurt wie die meisten ihrer Berufskollegen – wortwörtlich in hündischer Ergebenheit.

Und manchmal hat sie ihren Job perfekt im Griff, zum Beispiel heute. Alisha stoppt, als sie vor dem Hintereingang des Restaurants angekommen sind.

»Gut gemacht, Alisha.« Nathaniel klopft ihr kurz auf die Flanke, klaubt ein Leckerchen aus der Hosentasche, wirft es in die Luft und vernimmt ein Schnappen, gefolgt von einem kurzen Kauen. Er bringt die Hündin in den Vorraum, wo eine Decke – ihre Decke – für sie bereitliegt.

»Es ist siebzehn Uhr neunundfünfzig«, sagt die Frau in seiner Armbanduhr. Gerade noch rechtzeitig.

Als er hört, dass sich Alisha hingelegt hat, folgt er den Gerüchen und den Geräuschen, die ihm den Weg in die Küche weisen. Gedünstetes Gemüse, geröstete Zwiebeln, Olivenöl. Das Brutzeln von Fleisch. Besteck, das gegeneinanderklimpert. Das Saugen des Dampfabzuges. Und dann eine wohlvertraute Stimme: »So pünktlich warst du ja noch nie!«

Nathaniel kann nicht deuten, ob Olivia es lobend oder tadelnd meint, aber er beschließt, es als Kompliment zu nehmen. Olivia erklärt ihm rasch, welche zwei Menus heute auf der Karte stehen und was es zu beachten gilt. Nathaniel macht diesen Job noch nicht lange. Und er macht ihn noch nicht besonders gut. In dem Moment, als er den Zeiger der Küchenuhr auf die volle Stunde klicken hört, vernimmt er, wie im Saal nebenan der Schlüssel der Eingangstür gedreht wird.

»Es kann losgehen«, sagt Olivia.

Auf in den Kampf, denkt Nathaniel.

3

Vanessa wartet bereits, als Carole kurz nach halb sieben am unteren Ende der Berner Altstadt ankommt. Sie lehnt an einer Laubensäule und tippt auf ihrem Handy herum. Carole hält einen Moment inne und studiert die konzentrierten Gesichtszüge ihrer Freundin. Erinnerungen blitzen auf. Dann stupst sie mit dem Fuß gegen Vanessas Zehen. Erschrocken blickt sie auf.

»Danke, dass du draußen wartest, drinnen hätte ich dich nicht gefunden.«

Die zwei Frauen umarmen sich und müssen lachen, weil ihnen Caroles Bauch in die Quere kommt.

»Himmel, bist du rund geworden. Wer hätte gedacht, dass du jemals in Umständen bist. Ich hätte auf alle anderen gewettet, aber niemals auf dich.«

Carole pufft ihre Freundin sanft gegen die Schulter. »Ich doch auch nicht!«

»Ist da drin alles in Ordnung?«

»Alles so, wie es sein soll. Aber ich sag’s dir: Schwanger sein ist gar nicht lustig. Geschwollene Füße, Atemnot nach dem Treppensteigen, Hitzewallungen, als wäre ich mitten in den Wechseljahren – mit dreiunddreißig … Und mein Busen! Kürzlich sah ich Bilder von überzüchteten Milchkühen im Fernsehen – ihre prallvollen Euter haben mich total an meine Brüste erinnert. Du würdest sie nicht wiedererkennen!« Carole deutet mit beiden Zeigefingern auf ihren Vorbau, der unerwartete Dimensionen angenommen hat. »Glaub mir, ich gäbe meine Gucci-Tasche, könnte ich endlich wieder mal joggen gehen. Und würde mich der kleine Kerl in der Nacht nicht immer mit seinem Strampeln wach halten. Ich glaube, er übt schon jetzt für eine Kickbox-Weltmeisterschaft in siebzehn Jahren.«

»Das mit dem Joggen wird schon wieder. Und um die Kickbox-Karriere deines Kleinen kümmern wir uns später. Jetzt gehen wir erst mal essen.«

Vanessa stößt die Tür auf. Kaum stehen die beiden Frauen im Restaurant, umgibt sie nachtdunkles Schwarz. »Blinde Kuh« heißt das Lokal. Wer hier isst, soll sich wie ein Blinder fühlen, sodass die geschärften Geschmackssinne für einen kulinarischen Höhenflug sorgen. Erlebnisgastronomie nennt sich das. Das Restaurant Blinde Kuh gehört zu einer Kette, die diese Filiale in Berns Altstadt erst vor Kurzem eröffnet hat. Grund genug, sie gleich zu testen, hat Carole sich gedacht. Doch jetzt ist sie nicht mehr sicher, ob das eine gute Idee war. Denn dieser erste Moment besteht aus nichts als Unsicherheit. Instinktiv tastet Carole nach irgendetwas, an dem sie sich festhalten kann. Sie stößt mit ihrer Hand auf etwas, das sich bewegt. Erschrocken zuckt Carole zurück.

»Sie haben reserviert?«, fragt eine freundliche Stimme. Die Frau muss direkt vor ihnen stehen. Carole hat auf der Website des Restaurants gelesen, dass die meisten Angestellten blind seien; sie haben sozusagen Heimvorteil.

»Stein, ich habe auf den Namen Stein reserviert.«

»Herzlich willkommen«, verkündet die Stimme. »Ich nehme Sie beide jetzt an den Händen und bringe Sie an Ihren Tisch.«

Carole tapst durch die Finsternis und fühlt sich schutzlos. Doch dann führt die Kellnerin ihre Hände an die Stuhllehne und hilft ihr, sich zu setzen. Sitzen fühlt sich gut an. Sicherer Halt. Vorsichtig tastet Carole nach dem Besteck. Messer, Gabel, Löffel, ein Glas, alles da. Wenn das nur gut geht.

Es geht gut, mehr oder weniger. Schon nach fünfzehn Minuten ist Carole froh, dass sie das Tischtuch nicht sehen kann. Sie hat bestimmt schon für etliche Kleckse gesorgt. Wie unbeholfen man sich anstellt, wenn man auf den wichtigsten seiner Sinne verzichten muss. Und wie schwierig es sein muss, ein Leben lang mit einer solchen Behinderung zurechtzukommen. Kurz blitzt die Angst in ihr auf: Hoffentlich ist der Kleine gesund.

»So, wie dein Bauch aussieht, kann der Kleine jederzeit herausploppen«, unterbricht Vanessa ihre Gedanken.

»So ist es auch. Die Ärztin sagt, er könne von nun an jeden Moment kommen.«

»Na dann hoffe ich, dass er sich noch ein paar Stunden geduldet!« Vanessa tastet sich mit der Gabel voran, um den Chèvre chaud auf dem Jungblattsalat zu finden. »Aber sonst ist alles in Ordnung? Schaffst du es? Ohne deine Mutter, meine ich?«

Carole zuckt kaum merkbar zusammen, als Vanessa auf jenes Thema zu sprechen kommt, über das sie noch immer kaum reden kann, ohne dass ihr Tränen in die Augen schießen und sich ihre Kehle anfühlt wie zugeschnürt.

»Wie lange ist es jetzt her?«, hakt Vanessa nach und unterbricht die Stille.

»Fünf Monate und elf Tage.« Mehr sagt Carole nicht, sie muss schlucken.

»Wir müssen nicht darüber sprechen, wenn du nicht möchtest.«

»Es geht schon.« Carole ist froh, dass Vanessa sie nicht sehen kann. Sie würde in ihrem Gesicht die Lüge erkennen. Carole räuspert sich. »Das Traurigste ist, dass sie ihren Enkel nie kennenlernen wird. Ich weiß, wie sehr sie sich gefreut hätte.«

»Deine Mutter wäre unglaublich stolz auf dich.«

»Manchmal kann ich mir immer noch nicht vorstellen, dass sie wirklich tot ist. Es gibt Momente, da rechne ich jederzeit mit einem Anruf von ihr. Oder dass sie um die nächste Ecke biegt. Ich kriege auch immer noch Post, die an meine Mutter adressiert ist – als hätte die Welt da draußen nicht mitgekriegt, dass sie nicht mehr da ist. Das fühlt sich jedes Mal an wie ein Stich ins Herz. Ich öffne ihre Post schon lange nicht mehr. Ich ertrage es einfach nicht.«

Vanessa nickt. »Das verstehe ich«, schiebt sie nach. Sie überlegt sich, kurz aufzustehen, um ihre Freundin zu umarmen. Doch da verrät ein Räuspern, dass die Bedienung wieder am Tisch steht. Die Kellnerin von vorhin erkundigt sich, ob der Salat geschmeckt habe und ob sie fertig seien. Kaum sind die mutmaßlich leeren Salatteller verschwunden, ist die Frau schon wieder da. Carole hört, wie etwas vor ihr auf den Tisch gestellt wird.

»Stellen Sie sich vor, der Teller ist eine Uhr«, erklärt nun plötzlich eine männliche Stimme. »Zwischen zwölf und sechs Uhr finden sie den Kartoffelbrei, zwischen sechs und neun Uhr liegt das niedergegarte Rind an einer Portwein-Soße und zwischen neun und zwölf das Gemüsebouquet. Guten Appetit!«

»Guten Appetit. Und lass uns von etwas anderem reden«, sagt Carole, als sich der Kellner entfernt hat. Ihre Stimme verrät, dass das Thema »tote Mutter« beendet ist.

Es ist Vanessa gerade recht. »Wo stand ich in meinem Leben, als wir uns das letzte Mal getroffen haben?«, fragt sie, um dem Gespräch eine andere Richtung zu geben.

»Du hattest kürzlich Patrizia vor die Tür gesetzt, mitten in der Nacht …«

»Ach ja, das. Diese Geschichte ist jetzt endgültig vorbei.«

»Das hast du beim letzten Mal auch schon gesagt.«

»Ich weiß. Aber dieses Mal meine ich es ernst.«

Carole verdreht ungesehen die Augen. Vanessas Liebesleben ist kompliziert. Das war es schon immer, auch damals vor beinahe fünf Jahren, als Carole und Vanessa mehr als nur Freundschaft verband. Ihre Beziehung hatte gerade mal knapp zwei Monate gedauert; sie hatten sich schnell und heftig ineinander verliebt, aber als Paar überhaupt nicht funktioniert. Eigentlich verstehen sie sich erst seit ihrer Trennung richtig gut.

»Ich habe nämlich einen Entschluss gefasst«, fährt Vanessa fort. Ein Klimpern verrät, dass sie mit dem Besteck gegen irgendetwas gestoßen ist. Ihr Glas womöglich. »Ich habe beschlossen, mich wieder mal in einen Mann zu verlieben.«

»Um Himmels willen! Warum das denn?«

»In den letzten fünf Nächten habe ich von Sex mit einem Mann geträumt.«

»Das ist natürlich ein überzeugendes Argument.« Carole lacht und sticht in eine Masse, die sie für Kartoffelbrei hält.

Auch Vanessa scheint mit der Suche nach Essbarem auf ihrem Teller beschäftigt zu sein. Als sie beide einen Moment lang schweigen, realisieren sie, wie auffällig ruhig die anderen Gäste sind. Wahrscheinlich hat Vanessa mit ihren Sex- und Liebeseskapaden gerade das ganze Lokal unterhalten. Zum Glück kann uns hier keiner sehen, denkt Carole.

»Und du, erzähl, gibt’s was Neues in Sachen Sex und Liebe?« Vanessa fragt leiser jetzt, sie flüstert fast.

»Machst du Witze? Bei mir gibt es vor allem eines: einen runden Bauch mit einem strampelnden Kleinen drin.«

»Ach komm schon.«

»Meine Flegeljahre sind vorbei. Mein Sexleben ist tot. Und dass es je wieder in neuer Blüte erstrahlen wird, ist in etwa so wahrscheinlich, wie dass ich mal zum Mond fliegen werde.«

»Das werden wir ja sehen. Weißt du mittlerweile, wer der Vater ist?«

Carole hasst diese Frage. Als ob es eine Rolle spielen würde. Energisch schüttelt sie den Kopf, bis ihr einfällt, dass Vanessa es gar nicht sehen kann. »Nein. Und das ist auch gut so. Dabei belassen wir es.«

»Männer werden sowieso überbewertet.«

»Eben! Total überbewertet!«

Ohne sich zu sehen oder sich abzusprechen, greifen die beiden Frauen gleichzeitig zu ihren Gläsern und prosten sich zu. Vanessas Weinglas klirrt gegen Caroles Wasserglas.

»Wie viele kommen denn überhaupt als Vater infrage?«, fragt Vanessa dann doch nach.

»Fünf. Vier oder fünf.«

»Und du bist keinem von ihnen hochschwanger über den Weg gelaufen?«

»Zum Glück bis jetzt nicht. Ich hoffe, Klein Silas wird mir und nicht seinem Vater ähnlich sehen. Stell dir vor, wie ich eines Tages mit Silas im Kinderwagen dem Vater begegne und der in ihm sein Ebenbild erkennt.«

»Silas! Er hat schon einen Namen! Freust du dich?«

»Auf Silas: ja. Auf das Leben als Mutter: jein. Ich merke schon jetzt, dass ich mich verändere. Andere Dinge werden plötzlich wichtig. Und mein Gehirn wird träge.«

»Wie meinst du das?«

»Ich führe mich auf wie eine schusselige, alte Oma. Schwangerschaftsdemenz! Kürzlich habe ich eine halbe Stunde lang meine Schlüssel gesucht. Ich hätte schwören können, dass sie in meiner Tasche sein müssen! Und weißt du, wo ich sie gefunden habe? Zu Hause auf der Kommode, die Wohnung war nicht abgeschlossen. Oder als ich vorgestern aufstand, war mein Laptop aufgeklappt und eingeschaltet. Ich klappe ihn immer zu. Immer.« Carole hält inne und meint zu spüren, dass Vanessa sie skeptisch anschaut. »Blickst du mich jetzt gerade skeptisch an?«

»Das tue ich. Bist du sicher, dass dies auf deine Schusseligkeit zurückzuführen ist? Klingt irgendwie seltsam.«

»Worauf denn sonst? Jemand klaut meinen Schlüssel, um ihn zu Hause auf meine Kommode zu legen? Kaum. Da sind keine Diebe am Werk, sondern Hormone. Scheiß Hormone, ich sag’s dir!«

»Darauf trinken wir! Auf die scheiß Hormone!«

Als die beiden Frauen erneut mit den Gläsern anstoßen wollen, verfehlen sie sich gegenseitig, und Vanessas Wein sowie Caroles Wasser schwappen über. In der gleichen Sekunde, in der sie erschrocken ein »Ups!« ausrufen, peitscht ein Schrei durch das Restaurant, gefolgt von schepperndem Lärm. Danach verschluckt die Stille jedes Geräusch. Als würde die Welt die Luft anhalten.

4

»Himmel, Nathaniel!«

Die Zeit setzt sich wieder in Bewegung. Mühsam rappelt sich Nathaniel hoch. Kartoffelbrei klebt an seiner Wange. Er tastet sich ab und spürt, dass auch seine Kleider bekleckert sind. Zum Glück sieht das hier niemand.

»Was war denn das?«, hört er hinter sich eine Frau erschrocken fragen.

»Keine Ahnung«, antwortet eine andere Stimme.

»Nichts passiert!«, ruft die Oberkellnerin in den Raum. »Ein Kollege von mir ist gestürzt, aber es ist alles in Ordnung.«

Als ob die das weiß, denkt Nathaniel. Doch tatsächlich scheint zumindest an ihm alles ganz geblieben zu sein. Was man von dem Gedeck, das er auf dem Tablett getragen hat, nicht behaupten kann. Vor ihm muss eine mit Scherben durchmischte Pampe aus Kartoffelbrei, Rüben, Rinderfilet und Wein auf dem Boden liegen. Beim Anblick des Menu surprise würde den Gästen jetzt bestimmt der Appetit vergehen.

Nathaniel weiß nicht genau, was ihn zu Fall gebracht hat. Er muss an einem Stuhlbein hängen geblieben sein. Zum zweiten Mal in dieser Woche. Wenn er so weitermacht, ist er den Job bald wieder los, fürchtet er.

»Du musst dich konzentrieren«, reklamiert Tobias, sein Chef, ein Sehender, kaum ist Nathaniel zurück in der Küche.

»Tut mir leid.« Mehr kann er dazu nicht sagen. Nathaniel schiebt nicht mal ein »wird nicht wieder vorkommen« nach, weil er es schlichtweg nicht versprechen kann. Er ist nicht geübt, sich sicher zu bewegen, wenn er keine Hand frei hat. Und das Restaurant, der Raum, die Einrichtung sind ihm noch nicht vertraut. Überdies muss ein Gast nur seinen Stuhl verrücken, und schon ist ihm ein Hindernis im Weg, das zwei Sekunden zuvor noch gar nicht existierte.

Aber sein Chef hat recht. Er muss sich besser konzentrieren und vorsichtiger sein. Dieser Job ist für Nathaniel ein Glücksfall; er will ihn unbedingt behalten. Denn Kellnern ist eine richtige Arbeit, Kellnern tun auch Sehende. Nur fallen die nicht ständig auf die Nase und landen mit ebendieser mitten im Kartoffelbrei, denkt Nathaniel verärgert. Seine Wut richtet sich gegen ihn selbst. Er kann sich seine Fehler nicht verzeihen. Er kann auch seinen Makel schlecht akzeptieren. Es sind solche Momente, in denen er es hasst, blind zu sein.

Nathaniel flucht leise vor sich hin, als er versucht, sich am Spülbecken so gut als möglich zu waschen.

»Alles in Ordnung?«, fragt Olivia. Er hört sie hinter der Kochinsel hantieren.

»Geht schon wieder.«

Nathaniel tastet auf der Theke nach den nächsten Tellern.

»Welche Tischnummer?«, fragt er.

»Acht.«

Auf ein Neues, denkt Nathaniel, als er ins Restaurant zurückkehrt. Seine Schritte sind kleiner jetzt, er tappst langsam vor, er ist verunsichert. Doch Unsicherheit ist schlecht. Unsicherheit provoziert Stürze. »Reiß dich zusammen«, flüstert sich Nathaniel zu.

Als seine Schicht zweieinhalb sturzfreie Stunden später zu Ende geht, fällt die Anspannung von ihm ab. Er zieht seine Lederjacke über, für die es selbst nachts schon bald zu warm sein wird, und verabschiedet sich von seinen Kollegen. Im einstigen Geräteraum neben dem Hintereingang wird er mit einem freudigen Winseln begrüßt. Alisha springt an ihm hoch und bringt ihn beinahe aus dem Gleichgewicht. Schon wieder.

»Ruhig, Alisha, ruhig.« Es nützt nichts. Nathaniel muss warten, bis sich das aufgeregte Fellwuschel beruhigt hat, bevor er der Blindenhündin das Geschirr überziehen kann.

Gemeinsam marschieren sie wenig später unter den Lauben die Berner Altstadt hinauf. Nathaniel mag diesen Weg, weil er genau hören kann, wo er sich befindet. Seine Schritte hallen in den Lauben und wiederholen sich in einem leisen, dumpfen Echo. Beim Bahnhof geht er weiter geradeaus und biegt dann rechts ab Richtung Länggass-Quartier. Nach einem gut dreißigminütigen Fußmarsch ist Nathaniel zu Hause.

Seine Wohnung im dritten Stock eines alten Mehrfamilienhauses ist klein, und das ist gut so. Die wenigen Möbel hat er an die Wand geschoben: ein Tisch, auf dem sein Computer steht, ein gebrauchtes Sofa, das ihm ein Freund besorgt hat, und ein schlichtes Regal. Links ist es gefüllt mit Musik-CDs. Auf jeder Hülle klebt eine Etikette, auf der er in Brailleschrift den Namen der Band und des Albums vermerkt hat. Auf der anderen Seite des Regals stehen aus Draht geformte Motorräder unterschiedlichster Größen. Nathaniel würde es lieben, Motorrad fahren zu können, wie sein Vater es mit ihm getan hat. Leider findet er nicht mal jemanden, der ihn als Sozius mitnimmt. Darum sammelt Nathaniel Motorräder aus Draht. Manchmal nimmt er eines aus dem Regal und fährt die Formen mit den Fingern nach. Als versuche er, nach einem Traum zu greifen.

Nathaniel befreit Alisha von ihrem Geschirr und begibt sich vom dunklen Wohnzimmer in die dunkle Küche. In seiner Wohnung ist immer Nacht. Selbst bei Tag dringt das Licht nur durch kleine Ritzen zwischen den heruntergelassenen Rollläden herein. Lampen und Glühbirnen existieren nicht in seinem Haushalt. Noch nie hat Nathaniel einen Lichtschalter betätigt. Warum auch? Nichts kann Licht in sein Leben bringen. Nicht im wörtlichen Sinne.

Doch sein neuer Job ist ein Fortschritt. Und nicht nur der, auch diese Wohnung im Länggass-Quartier. Nathaniel ist vor einem Dreivierteljahr eingezogen und weiß schon jetzt, dass er nie mehr weg möchte. Er mag die Leute hier, die freundlich und hilfsbereit sind. Und er liebt es, morgens im Bett liegend die Vögel singen zu hören. Nathaniel greift in den unteren Küchenschrank. Er braucht gar nicht erst mit der Schachtel zu rascheln, er weiß, dass Alisha schon neben ihm steht. Er kann ihr Gehechel hören. Dass ihr längst der Speichel von der Zunge tropft, weiß er hingegen nicht.

»Na, hungrig? Dann schauen wir doch mal, was wir hier Leckeres für dich haben.«

Als er sich wenig später an seinen Computer setzt, hört Nathaniel Alisha in der Küche schmatzen. Eigentlich sollte er müde sein. Aber die Dunkelheit, seine persönliche ewige Nacht, hat ihm das Zeitgefühl geraubt.

Mithilfe eines Programms, das speziell für Blinde entwickelt wurde, öffnet er seine Mailbox. Er könnte sich die eingegangenen Nachrichten vorlesen lassen, aber er verzichtet auf die monotone Frauenstimme und liest sie lieber selber. Das Programm übersetzt Zeile um Zeile in die Brailleschrift und überträgt diese auf seine Tastatur; die Punkte erheben sich reliefartig auf einem Band oberhalb der Tasten, wo Nathaniel sie mit seinen Fingerspitzen erfühlen kann.

Zwischen der täglichen Flut von Spam und anderen sinnlosen Angeboten entdeckt er eine Nachricht seiner Schwester. Sie ist nicht seine leibliche Schwester, weshalb er sie gelegentlich seine falsche Schwester nennt; aber nur, wenn sie es nicht hören kann.

Hallo Nathaniel, schreibt sie. Nicht vergessen, morgen ist Mutters Geburtstag, und wir sind zum Essen eingeladen.19 Uhr. Lieber Gruß, Barbara.

Natürlich hat Nathaniel es nicht vergessen. Sogar ein Geschenk hat er bereits gekauft. Doch seine falsche Schwester behandelt ihn noch immer, als wäre er ein kleines Kind. Als könnten Blinde nie erwachsen werden.

»Nicht wütend sein«, ermahnt sich Nathaniel laut. »Sie meint es nur gut.« Das macht er oft; mit sich selber reden. Oder mit Alisha, der besten Zuhörerin der Welt. Ihr erzählt er Dinge, die er niemandem sonst anvertrauen würde.

Alles klar, ich werde da sein, schreibt er Barbara zurück.

Er schätzt seine Pflegeeltern und ist ihnen dankbar. Sie haben versucht, sein Leben nach dem Unfall erträglich zu gestalten. Doch als neue Eltern hat er sie nicht akzeptieren können. Menschen, die er nie mit seinen Augen gesehen hat. Herzensgute Menschen zwar, deren Existenz ihn jedoch jedes Mal daran erinnert, was er verloren hat. Aber er wird sich Mühe geben morgen. Und irgendwie freut er sich sogar auf den Besuch. Er schaltet den Computer aus. Im Schlafzimmer krault er Alisha ein letztes Mal zwischen den Ohren, dann schlüpft er unter die Decke.

Nathaniel liegt lange da, reglos, mit geöffneten Augen. Er redet sich ein, dass er nicht träumen muss, solange er sie nicht schließt. Der Traum kommt zwar nicht jede Nacht. Aber wenn er kommt, ist es jedes Mal die Hölle.

5

In jener Zeit, bevor ein Sperma sich in einem ihrer Eier eingenistet hat, wäre Carole nach dem Essen mit Vanessa auf einen Schlummertrunk ins Café Adriano’s gegangen, wo sie bis Beizenschluss hängen geblieben wären. Anschließend hätten sie beschlossen, in die Kreissaal-Bar weiterzuziehen, ihr Stammlokal zu später Stunde, dort, wo der beste Gin Tonic der Stadt serviert wurde, selbstredend mit Gurke. Doch seit in ihrem Bauch ein kleiner Mensch heranwächst, weckt allein der Name der Bar ganz andere Assoziationen in ihr, obwohl sie doch alle Gedanken an den bevorstehenden Geburtstermin nach Kräften zu verdrängen versucht.

»Es tut mir leid, ich muss passen. Du siehst: Ich bin innerhalb von neun Monaten um Jahre gealtert, ich mach schon schlapp, bevor wir unsere Tour durch Berns Kneipen richtig begonnen haben.«

»Macht nichts, ich muss morgen eh früh raus«, meint Vanessa. Sie wissen beide, dass dieser Umstand sie früher nie davon abgehalten hat, einen Großteil der Nacht in den Lokalen der Stadt statt im Bett zu verbringen.

»Werden wir uns nochmals sehen, bevor du zu zweit bist?«

»Ich fürchte, nein. Ich muss noch tausend Dinge erledigen, und es kann jederzeit losgehen.«

»Dann warte ich auf deinen Anruf und düse ins Spital, sobald Silas angekommen ist.«

»Drück mir die Daumen.«

»Mach ich! Wird schon gut gehen.«

»Hoffentlich«, wiederholt Carole vage.

Die beiden Frauen umarmen sich. Es fühlt sich beinahe an, als wäre es ein Abschied für immer. Oder wie ein Abschied von ihrer unbeschwerten, wilden Zeit. Der Ernst des Lebens wird bald Einzug halten. Er wird den Namen Silas tragen.

Carole nimmt den Bus bis zur Militärstrasse. Früher wäre sie zu Fuß gegangen, doch heute … Zu Hause angekommen, stellt sie fest, dass die Eingangstür des alten Sechsfamilienhauses nicht abgeschlossen ist. Dabei hat die Vermieterin einen Zettel an die Tür geklebt, auf dem in Großbuchstaben geschrieben steht, dass ab acht Uhr abends abgeschlossen werden muss. Carole dreht brav den Schlüssel im Schloss, leert ihren Briefkasten und schleppt sich die Treppen hoch. Sie kann sich kaum mehr vorstellen, dass sie einst Bergläufe absolviert hat. Allein die paar Stufen bringen sie völlig außer Atem. Oben angekommen, dreht Carole den Schlüssel einmal im Schloss, drückt gegen die Tür – und prallt dagegen.

»Verflucht! Was zum Teufel …?«

Die Tür lässt sich nicht öffnen. Carole steckt den Schlüssel erneut ins Schloss, dreht ihn noch einmal um. Jetzt springt die Tür sofort auf.

Seltsam. Carole schließt niemals doppelt ab. Oder hat beim ersten Aufschließen der Schlüssel im Zylinder nicht richtig gegriffen?

»Hallo?«, ruft sie in den Flur und kommt sich im gleichen Augenblick ziemlich dämlich vor. Wäre nämlich jemand in ihrer Wohnung, hätte der wohl kaum abgeschlossen. Oder?

Carole horcht in sich hinein, ob sie spüren kann, dass jemand Fremdes hier war. Aber da ist nichts. Eigentlich glaubt sie auch gar nicht daran, dass sich so etwas erfühlen lässt. Also lauscht sie nicht länger in sich, sondern in den Flur hinein. Auch da nichts als Stille. Trotzdem schaltet Carole das Licht nicht ein. Die Straßenlaterne vor dem Haus taucht die Zimmer in ein diffuses Licht und wirft lange Schatten auf die Wände. Carole greift sich den Schirm, der neben der Tür angelehnt ist, packt ihn wie einen Baseballschläger und pirscht von Zimmer zu Zimmer. Nichts. Sie lässt den Schirm sinken und lacht unsicher auf. Weil sie sich vorstellt, wie sie gerade eben ausgesehen haben muss: eine Hochschwangere, die bewaffnet mit einem Schirm durch ihre dunkle Wohnung schleicht.

»Ich werde langsam paranoid.« Carole legt den Schirm beiseite und klickt das Licht an. Ihr Zuhause sieht genau so aus, wie sie es verlassen hat: ziemlich unordentlich. Das wäre mal was, denkt Carole, wenn es Einbrecher gäbe, die mein Geschirr abwaschen und mein Chaos aufräumen würden. Aber man muss ja immer alles selber machen.

Carole schaltet den Wasserkocher ein, setzt sich an ihren Laptop, checkt kurz, was ihre Freunde auf Facebook schreiben, sichtet die Mails; nichts, was dringend wäre. Sie hat ihre Arbeit in ihrem Atelier bereits beendet; eine befreundete Grafikerin übernimmt ihre Aufträge in den nächsten acht Wochen, in denen sie sich eine Auszeit »gönnt«, bevor sie ihren Job – bei reduziertem Pensum – wieder aufnehmen und den Kleinen in die Tageskrippe bringen wird. Eigentlich wäre sie jetzt bereit. Sie streicht sich über den Bauch. »Silas, du kannst kommen«, flüstert sie, nur um lauter nachzuschieben: »Ich hasse es, dass ich mit meinem Bauch rede.« Er gibt keine Antwort. In ihr drin rührt sich nichts. Ein Klacken aus der Küche verrät ihr, dass das Wasser gekocht hat. Sie erhebt sich, öffnet den Schrank, greift nach ihrer Teetasse. Doch die steht da nicht.

»Himmelarsch«, wettert Carole. Sie nimmt es sich langsam übel, dass sie so zerstreut ist. »Wo habe ich die jetzt wieder hingestellt?« Sie findet die Tasse im Spülbecken. Einen Moment lang blickt sie sie irritiert an. Dann schüttelt sie den Kopf, spült die Tasse aus und brüht sich Tee auf. Schlaftee. In der Hoffnung, dass er insbesondere auf Silas eine beruhigende Wirkung haben wird.

Kaum liegt Carole auf dem Rücken im Bett, spürt sie einen Tritt mit dem Fuß. Dann noch einen. Und noch einen.

»Scheiße«, flucht sie laut.

Silas ist aufgewacht. An Schlaf wird kaum mehr zu denken sein. Da hätte sie ja ebenso gut in der Kreissaal-Bar abhängen können. In Carole regt sich der Verdacht, dass Alain der Vater des Kleinen sein muss; auch er weist das Verhalten einer Fledermaus auf – tagsüber schläft er, dafür ist er überaus nachtaktiv. Kann ja heiter werden.

Nachdem sich Carole gefühlte hundert Mal von der einen auf die andere Seite gewälzt hat, steht sie noch einmal auf. Barfuß tappt sie durch den Flur, drückt auf die Klinke ihrer Eingangstür. Abgeschlossen. Sie war sich plötzlich nicht mehr sicher. Sie nimmt den Schlüssel von der Kommode, steckt ihn ins Schloss und dreht ihn um. Dann kriecht sie wieder unter die Decke.

Als siebenundfünfzig Minuten später ein leises Schaben verrät, dass jemand die Tür aufzuschließen versucht, träumt Carole gerade, wie sie durch nicht enden wollende Spitalgänge hetzt und den Geburtstermin ihres eigenen Kindes verpasst.

6

Nathaniel hat den Nacken auf die abgerundete Kante des Waschbeckens gelegt und wünscht sich, dass Karina nie mehr damit aufhört, ihm die Haare zu waschen.

»Wann warst du das letzte Mal hier?«, fragt sie, hinter ihm stehend.

»Keine Ahnung. Ist schon eine Weile her.«

»Das sieht man.«

»So schlimm?«

»Mittelschlimm. Aber das kriegen wir wieder hin.«

Karina rubbelt und presst mit einem Frottiertuch seine Haare halb trocken und rollt ihn auf dem Stuhl zu einem anderen Platz. Er weiß, dass er jetzt vor einem Spiegel sitzen muss. Weil man beim Frisör immer vor einem Spiegel sitzt. Als ob man dadurch unter Kontrolle hätte, was der mit seiner Schere anstellt. Nathaniel ist froh, dass sich Karina seit Jahren schon um sein Aussehen kümmert. Er vergisst das einfach immer wieder: dass die Haare wachsen, dass einem durch die langen Haare die Frisur abhandenkommt.

»Weißt du eigentlich, was du für eine Haarfarbe hast?«, fragt Karina.

»Schwarz.«

»Nun, nicht mehr ganz.«

»Du willst doch nicht etwa behaupten, dass …«

»Doch, da haben sich schon etliche graue Haare reingeschmuggelt.«

»Das will ich gar nicht hören!«

»Du hast es gut. Du kannst dir einfach vorstellen, deine Haare wären weiterhin schwarz. Du wirst nicht jeden Morgen mit der eigenen Vergänglichkeit konfrontiert, sobald du in den Spiegel blickst.«

Dafür muss ich mich mit anderen Wahrheiten auseinandersetzen, denkt Nathaniel. Er hört das leise Schleifen der Scherenblätter, das Geräusch des Schneidens. Spürt hin und wieder, wie ein Haarbüschel auf den Umhang fällt, den Karina ihm umgebunden hat.

»Weißt du, was die Definition von blindem Vertrauen ist?«, fragt er nach einer Weile.

»Nein.«

»Bei dir unter der Schere zu sitzen.«

Karina lacht laut auf. »Ich könnte dir die Haare heimlich violett färben. Oder grün! Kümmern dich Haarfarben überhaupt?«

»Bei Männern ist mir die Haarfarbe egal.«

»Und bei Frauen nicht?«

»Nein. Wenn ich eine Frau treffe oder kennenlerne, stelle ich mir stets ihre Haarfarbe vor. Es ist mir wichtig, dass sie auf dem Bild, das ich mir von ihr mache, eine Haarfarbe hat.«

»Das ist interessant. Das hätte ich nicht gedacht.«

»Meine Lieblingsfarbe ist blond.«

»Warum das denn?«

»Meine Mutter war blond. Und auch Kim Wilde. Meine Mutter war ein Fan von Kim Wilde, und ich erinnere mich, dass Kim mir gefallen hat.«

»Wie alt warst du, als der Unfall geschah?«

»Elf. Ich war elf.«

»Ich bin übrigens ebenfalls blond.«

»Nein, unmöglich!«

»Doch! Warum? Klar bin ich blond!« Karina hält mit ihrer Arbeit inne und schaut Nathaniels Spiegelbild in die Augen, oder besser: ins Auge, denn das andere ist immer geschlossen. Es erwidert ihren Blick nicht, es blickt verloren ins Unendliche, während das andere wie ein Fremdkörper in dem sonst symmetrischen, fast bubenhaften Gesicht wirkt. Ein attraktiver Mann, denkt Karina. Sein Teint ist blass wie Elfenbein. Als wäre Nathaniel ein lichtscheues Wesen aus einer Fabelwelt. Das lässt ihn, obwohl er großgewachsen ist, zerbrechlich wirken.

»Dann sind sie gefärbt.« Nathaniel holt Karina aus ihren Gedanken zurück.

Sie pufft ihn sanft gegen die Schulter. »Sind sie nicht!«

»Sind sie doch!«

»Wie kommst du drauf?«

»Ich kenne dich jetzt schon eine Weile. Und für mich hast du seit jeher kurzes schwarzes Haar.«

»Du bist lustig. Ich trage meine Haare lang. Meine blonden ungefärbten Haare.«

Nathaniel stöhnt auf. »Ich hätte wohl mal fragen müssen.«

»Hättest du wohl.«

Als sich Nathaniel in seinem neuen Look, den er niemals kennen wird, von Karina verabschiedet, entschuldigt er sich dafür, dass sie in seiner Vorstellung noch immer schwarzhaarig sei. Aber er werde versuchen, das Bild in seinem Kopf bis zum nächsten Besuch zu revidieren.

Nathaniel ruft Alisha, die bei der Tür gewartet hat, fasst das Geschirr und macht sich auf den Nachhauseweg. Mit dem neuen Haarschnitt fühlt er sich für das Familienessen gleich viel besser gewappnet. Obwohl er bereits ein Geschenk für seine Mutter besorgt hat, beschließt er, unterwegs noch Blumen zu kaufen. Er fragt sein Handy, wo der nächste Blumenladen liegt, und lässt sich dorthin dirigieren. In der Hoffnung, dass der Akku des Geräts nicht leer ist, bevor er am Ziel angekommen ist, was mit unerschütterlicher Regelmäßigkeit immer wieder passiert. Doch dieses Mal passt es. Er entscheidet sich für Sonnenblumen, denn er erinnert sich vage daran, wie sie aussehen; die Tapete im Schlafzimmer seiner Eltern zeigte ein Sonnenblumenfeld. Sonnenblumen verbindet er mit Wärme. Vielleicht, weil er als kleiner Knirps früh morgens oft zwischen seine Eltern ins warme Bett gekrochen ist.

Wieder zu Hause, holt Nathaniel seine drei Hemden aus dem Schrank, tritt hinaus auf den Balkon, weil es dort heller ist als in seiner abgedunkelten Wohnung, und öffnet auf seinem Handy per Sprachbefehl die App Be my eyes. Ein nahezu blinder Däne hat sie aus der Not heraus erfunden, seither haben Zehntausende von Sehenden und Blinden sie heruntergeladen. Die Idee dahinter ist simpel: Es sind oft Kleinigkeiten des Alltags, die Blinde vor immense Probleme stellen – und bei denen ihnen Sehende aus der Ferne weiterhelfen können. Nathaniel nutzte die App zum ersten Mal, als er sich ein Sandwich streichen wollte und sich nicht sicher war, ob der Käse das Verfalldatum schon überschritten hatte und schimmlig war. Und jetzt will er wissen, welches der drei Hemden blau ist. Blau ist die Lieblingsfarbe seiner Pflegemutter.

»Be my eyes«, diktiert Nathaniel in sein Handy. Als die automatische Frauenstimme ihm sagt, er könne per Doppelklick ein Gespräch anfordern, tippt er zwei Mal auf das Gerät. Sofort wählt die App per Zufallsgenerator eine Mehrzahl von Sehenden an. Mit demjenigen, der am schnellsten rangeht, wird er in wenigen Augenblicken per Videochat verbunden sein. Seine Handykamera wird dem Sehenden zeigen, was Nathaniel selbst nicht sieht.

»Hallo?«, ruft Nathaniel in sein Telefon, als eine Verbindung zustande gekommen zu sein scheint.

Vorerst hört er einzig ein Rauschen.

»Hallo, hier ist Nathaniel. Können Sie mich sehen?«

7

Caroles Tasche vibriert. Ein ungewohnter Klingelton dringt aus ihrem Innern. Bitte lass mich diesmal schnell genug sein, denkt Carole, als sie realisiert, dass es sich nicht um einen normalen Anruf handelt. Dass es ein Blinder ist, der ihre Hilfe braucht. Vor gut einem Jahr hat sie Be my eyes heruntergeladen. Doch da sie im Schlund ihrer Tasche immer eine Ewigkeit nach dem Telefon angeln muss, war sie meist zu langsam, wenn eine Anfrage reinkam. Der Person konnte bereits geholfen werden, teilte ihr die App jeweils mit. Das letzte Mal, als ein Anruf einging, hatte sie das Telefon zwar rasch gefunden, sich aber beim Eintippen des Sperrcodes derart unbeholfen angestellt, dass der Anrufer aufgegeben hatte, wie ihr die Nachricht Dieser Person konnte nicht geholfen werden bestätigte. Sie hatte sich grün geärgert und den Sperrcode ihres Handys ausgeschaltet, damit ihr das nicht ein zweites Mal passiert. Und jetzt scheint es tatsächlich zu klappen.

»Hallo, hier ist Nathaniel. Können Sie mich sehen?«

»Im Moment höre ich Sie nur. Aber ich bin da. Voilà, nun hab ich auch ein Bild.«

Eine Frau, denkt Nathaniel. Jung muss sie sein. Hübsch hört sie sich an. Und irgendwie kommt ihm die Stimme bekannt vor.

»Hallo. Ich bin zu einem Essen eingeladen und möchte mein blau kariertes Hemd anziehen«, fährt er fort, während er das Handy vor sein Gesicht hält. »Können Sie mir helfen, es zu finden?«

»Klar.« Carole hält inne, als sie Nathaniel sieht. »Kennen wir uns nicht? Wir kennen uns!«

»Wir kennen uns?« Nathaniel weiß, dass diese Stimme keiner seiner Freundinnen gehört.

»Wir waren schon einmal miteinander auf diesem Kanal verbunden.«

Darum also kommt ihm die Stimme vage bekannt vor.

»Damals war ein Filmteam bei dir, und du hast ihnen gezeigt, wie die App funktioniert.«

Nathaniel registriert, dass die Frau vom Sie zum Du gewechselt hat. Er erinnert sich wieder an sie. »Ach, du bist das«, sagt er mit einem Schmunzeln und schiebt gleich nach: »Wer bist du denn?«

»Ich bin Carole. Und klar, ich werde dir gerne helfen. Mit dem Hemd.«

Genau, das Hemd, denkt Nathaniel, darum hatte er ja angerufen.

»Warum willst du wissen, welche Farbe dein Hemd hat?«, fragt Carole.

»Ich bin zum Essen eingeladen. Die Lieblingsfarbe meiner Mutter ist Blau. Darum will ich das blau karierte Hemd anziehen.«

Nathaniel schwenkt das Handy auf die drei Hemden, die er bereitgelegt hat.

»Wenn du einfach so vor die Tür gehst – überlegst du dir dann auch, welche Farben deine Kleidung hat?«

»Ja, schon.«

Er schwenkt zurück auf sein Gesicht.

»Warum?«, fragt Carole.

»Wenn ich gut gelaunt bin, möchte ich mich hell anziehen, wenn ich ernst drauf bin, eher schwarz. Doch oft greife ich daneben. Und kürzlich hat mir auf der Arbeit ein Kollege ein Kompliment für mein rosa Hemd gemacht. Dabei besitze ich gar keine rosa Hemden. Wir haben dann herausgefunden, dass es sich in der Wäsche verfärbt haben muss. Aber verlang mal von einem Blinden, die Wäsche nach Farben zu sortieren …«

Nathaniel sagt es mit einem Lachen, doch Carole fühlt Mitleid in sich hochsteigen. Das ist auch so etwas; sie ist viel gefühlsduseliger geworden, seit sie schwanger ist.

»Ja, das geht natürlich nicht.« Etwas Schlaueres fällt ihr nicht ein. Nathaniel hört im Hintergrund Verkehrslärm. Eine Tram quietscht in den Schienen, als sie an Carole vorbeifährt.

»Aber ich hab eine Lösung gefunden.«

»Wie denn? Mit der App?«

»Nein, es gibt spezielle Tüchlein, die man der Wäsche beilegen kann, damit sie nicht abfärbt.«

»Das wär auch was für mich!«, ruft Carole. »Meine Wäsche verfärbt sich nämlich auch ständig, obwohl ich die Farben sehen kann.«

Plötzlich ist es ruhiger am anderen Ende der Leitung. Nathaniel hört eine Tür zufallen, hört Caroles Schritte. Stufen steigen. Ein Treppenhaus.

»Können wir jetzt rasch nach dem Hemd schauen?«

»Entschuldige, natürlich.«

Nathaniel zeigt Carole mit der Handykamera seinen Hemdenstapel.

»Es ist das in der Mitte. Blaukariert.«

Ein Schlüssel klimpert, eine Tür wird aufgeschlossen.

»Danke. Darf ich dich noch was fragen?«

»Nur zu.«

»Welche Haarfarbe hast du?«

»Du willst wissen, welche Haarfarbe ich habe?«

»Ja.«

»Warum?«

»Nur so.«

Sie hat braune Haare, denkt Nathaniel, sie hört sich an, als hätte sie braune Haare.

»Meine Haare sind …« Carole hält abrupt inne.

Nathaniel hört sie atmen, doch plötzlich ist es ganz still, als würde sie die Luft anhalten. »Hallo?«, fragt er. »Bist du noch da?«

»Blond. Dunkelblond.« Caroles Stimme klingt auf einmal hektisch.

»Alles in Ordnung?«

»Wart mal einen Moment. Hallo?«

Nathaniel hört am anderen Ende der Leitung ein lautes »Was machen Sie …«. Ein schrilles Kreischen tötet den Satz. Nathaniel zuckt zusammen, der schreckliche Schrei bricht ab, es folgt ein Rumpeln, als falle ein Sack Kartoffeln auf den Boden. Ein schleifendes Geräusch. Der Summton.

»Hallo?«, brüllt Nathaniel in sein Telefon. »Hallo! Hallo!«

Doch die Leitung bleibt tot.

8

Im elften Stock des Hochhauses im Zürcher Leutschenbach liefern sich Wolfgang Schnell und Milla Nova einen Kleinkrieg. Vorerst kämpfen sie mit Worten, doch ihrer Lautstärke nach zu urteilen, könnte sich das bald ändern. Es kommt selten vor, dass die Reporterin und ihr Chef verschiedener Meinung sind. Aber wenn, dann wird es laut und mitunter persönlich. Die beiden streiten wie ein altes Ehepaar, bei dem der eine kein gutes Haar am anderen lässt. Es ist Mittwochmorgen, Redaktionssitzung der Sendung »Wochenthemen« beim Schweizer Fernsehen: Zwei Journalisten bombardieren sich mit Argumenten, und acht schweigen.

»Hat von euch eigentlich auch jemand eine Meinung?«, herrscht Milla ihre Teamkollegen an, die bis jetzt wohlweislich darauf verzichtet haben, sich zwischen die Fronten zu begeben.

»Also, was mich betrifft, ich bin auf Wolfgangs Seite«, sagt Evelyne.

Milla wirft ihr einen bösen Blick zu; genau das hat sie nicht hören wollen. Sie rollt ihr Haargummi vom Handgelenk und zurrt ihren schwarzen Lockenschopf zu einem Pferdeschwanz zusammen, so wie sie es immer tut, wenn sie sich aufregt, sich aber beherrschen sollte. Als könne sie sich selbst beruhigen, indem sie ihre Haare bändigt.

Die Diskussion dreht sich um den Studiogast, der zum Live-Interview in die Sendung eingeladen werden soll. Die »Wochenthemen« setzen diesen Donnerstag einen Schwerpunkt zur aktuellen Flüchtlingskrise. Wolfgang will den Politiker Kopp von der rechten Volkspartei einladen, der sich selbst Journalist nennt, eine populistische Zeitung unterhält und mit seinen stets bissigen Worten bestimmt für eine hohe Einschaltquote sorgen wird. Milla könnte kotzen, wenn sie sich nur vorstellt, dass ihre Sendung diesem Scharfmacher gegen Flüchtlinge eine Plattform bietet.

»Quote ist nicht alles, Wolfgang, ich appelliere an deinen politischen und menschlichen Verstand!« Milla ist verzweifelt. Sie hat alles gesagt, was sie einwenden kann, und trotzdem hat sie ihren Chef nicht überzeugen können.

»Milla, Janosch wird Kopp in die Zange nehmen, er wird ihn kritisch interviewen, das gibt ein spannendes Streitgespräch.«

Milla verdreht die Augen. Nichts gegen ihren Moderator Janosch, aber sie weiß, wer am Ende als Sieger aus diesem sogenannten Streitgespräch hervorgehen wird, alle wissen es; Janosch wird es nicht sein. Weil Kopp leider nicht nur ein gewiefter Redner, sondern auch ein heller Kopf ist.

»Den kriegt auch Janosch nicht zu fassen, Kopp ist glitschig wie ein Aal.«

»Gut jetzt.« Das ist Wolfgangs Machtwort. »Gut jetzt« bedeutet: Ende der Diskussion, der Chef hier bin immer noch ich.

Er weist seine Redaktionssekretärin an, bei Kopp eine Anfrage zu stellen. Milla zweifelt keine Sekunde daran, dass der sich die Gelegenheit zu diesem Auftritt nicht entgehen lassen wird. Schmollend lehnt sie sich in ihrem Stuhl zurück und beschließt, in dieser Sitzung gar nichts mehr zu sagen. Ein Beschluss, den sie freilich nur wenige Minuten später wortreich wieder umstößt. Die Klappe zu halten ist ihre Sache nicht, sonst wäre sie als Reporterin bei der Sendung »Wochenthemen« auch am falschen Ort.

Für ihren Beitrag hat Milla eine Woche lang in einem Flüchtlingscamp in Griechenland gedreht. Sie hat schon viele schwierige Themen bearbeitet und in heiklen Gebieten Reportagen realisiert, doch keine ging ihr so nahe wie diese. Sie spürt, dass dieser Auftrag sie verändert hat. Die Schicksale der Menschen haben sie persönlich berührt. Da war der irakische Familienvater Metaq, dessen jüngster Sohn in Bagdad bei einem Anschlag mit einer Autobombe gestorben ist. Er war gerade zwei Tage alt. Metaq hat ihr das Video gezeigt, in dem er den Säugling zu Grabe trägt. Sie hat es in ihren Beitrag einbauen können. Die irakische Familie ist mit dem Gummiboot nach Griechenland gekommen und lebt jetzt in unhaltbaren Zuständen seit Monaten in einem kleinen Zelt in einer verschmutzten, stinkigen Fabrikhalle. Der älteste der drei Söhne leidet an Epilepsie, die Mutter an Diabetes. Sie hat sich beim Abschied an Milla geklammert und ihr ins Ohr geflüstert, dass sie keine Kraft mehr habe. Oder Selwa aus Aleppo, genauso alt wie Milla und mit ihrem Mann und einem kleinen Buben vor den Bomben geflohen. »Aleppo, my Aleppo«, sagt Selwa in die Kamera, und ihre Augen beginnen zu leuchten. Sie erklärt, falls der Krieg morgen vorbei sei, fahre sie übermorgen zurück in ihre geliebte Stadt. Die es so gar nicht mehr gibt. Als die Kamera aus war, hat Selwa den Ärmel ihres Kleides hochgekrempelt und Milla gezeigt, dass die Hälfte ihrer Haut am Körper Narben von Verbrennungen trägt. Obwohl Milla gewusst hat, dass die Menschen aus dem Krieg kommen, dass sie höchst traumatisiert sein müssen – sie hat es erst in diesem Augenblick wirklich begriffen. Und nun stecken die Flüchtlinge in Griechenland fest, erneut gefangen in einer traumatisierenden Situation. Darüber berichtet Milla in ihrer Reportage. Das ist das Mindeste, was sie tun kann: aufzeigen, wie schlimm die Lage dieser Menschen ist.

Und jetzt soll also Hardliner Kopp in der Sendung auftreten, seine Sprüche klopfen und die Wirkung ihres Berichts zunichtemachen. Kopp, der den Weltuntergang wortgewaltig auf die Großleinwand in den Köpfen der Schweizer projiziert, falls die Eidgenossen ihre Grenzen nicht abriegeln. Am liebsten würde er rund um das Land eine Schutzmauer bauen. Jetzt, da Mauern an den Grenzen gerade wieder salonfähig geworden sind.

»Himmel, Arsch und Zwirn«, flucht Milla noch einmal laut vor sich hin, als sie wieder an ihrem Schreibtisch sitzt, im Wissen, dass an Wolfgangs Entscheid nicht zu rütteln ist. Sie schaltet ihren Computer aus, sie wird Feierabend machen für heute, am liebsten würde sie gleich für immer Feierabend machen. Das wäre was: Wolfgang – zack! – die Kündigung auf den Tisch knallen. Milla seufzt. Sie weiß, dass sie es doch nicht tun wird. Morgen wird sie brav wieder auf der Matte stehen, bei der Textabnahme erneut mit Wolfgang streiten, dann mit dem fertig geschnittenen Beitrag in die Vertonung gehen, wo der Sprecher Millas Kommentartext zum Film aufzeichnen wird. Während der Sendung wird sie in der Regie sitzen und sich grün und blau und violett ärgern, wenn Kopp seine Angstmacherei live zelebrieren kann.

Nein, das wirst du dir nicht antun, sagt sich Milla. Sie nimmt sich vor, am Sendeabend auszugehen, damit sie Kopp nicht ertragen muss. Sie könnte nach Bern zu Sandro fahren. In dem Moment, in dem sie an ihn denkt, vermisst sie ihn.

Hast du am Donnerstagabend Zeit für mich?, tippt sie in ihr Handy, drückt auf »Senden« und sieht, dass Sandro die Nachricht sofort liest. Das kommt selten vor. Doch die Antwort, die unmittelbar folgt, gefällt ihr gar nicht.

Ich kann nicht. Mich hält ein krasser Fall auf Trab, der immer irrer wird. Du würdest es nicht glauben. Ertrinke in Arbeit. S.

Was für ein Fall?

Milla … Mehr schreibt Sandro nicht.

Bitte!

Vergiss es, keine Chance, ich sage es dir nicht. Kein Wort.

Verflucht! Genervt stopft Milla ihr Handy in die Tasche. Heute scheint sich die ganze Welt gegen sie verschworen zu haben.

9

Nathaniel spürt das Zittern seiner Hand, die noch immer das Telefon festhält. Alisha stupst ihn mit ihrer kalten Schnauze an und winselt leise.

»Hast du das gehört? Der Frau muss etwas zugestoßen sein«, sagt Nathaniel. »Wir müssen etwas tun.«

Wieder ein Winseln.

Nathaniel streicht sich fahrig über die Stirn. Sie ist nass; kalter Schweiß. Er fährt mit dem Finger über das Display des Handys, aber es passiert nichts; auch seine Hände sind feucht. Hastig streicht er sie an der Hose trocken, tippt das Display erneut an und sagt: »Polizei anrufen.«

»Polizei anrufen«, wiederholt die Frauenstimme.

Kurz darauf hört Nathaniel den Klingelton. Ruhig bleiben, denkt er. Ich muss ruhig bleiben. Was zum Teufel geschieht hier gerade? Ruhig bleiben.

»Polizeinotruf Schertenleib. Kann ich Ihnen helfen?«

»Sie müssen sofort kommen, es ist etwas Schreckliches passiert!« Nathaniel erschrickt ob seiner Stimme. Er hört sich an wie ein verzweifeltes Kind.

»Können Sie mir Ihren Namen nennen?«

»Nathaniel. Nathaniel Brenner.«

»Wo sind Sie jetzt, Herr Brenner?«

»Ich bin zu Hause, aber es ist nicht bei mir passiert.«

»Wo sind Sie zu Hause?«

»An der Beaulieustrasse 81 in Bern. Aber nicht mir ist etwas zugestoßen, sondern der Frau!«

»Wie ist der Name der Frau? Wo befindet sie sich?«

»Sie heißt Carole, aber ich weiß nicht, wo sie ist, das müssen Sie herausfinden. Und zwar schnell!«

»Carole, und ihr Nachname?«

»Den kenne ich nicht.«

»Herr Brenner, beruhigen Sie sich. Können Sie mir von Anfang an erzählen, was genau geschehen ist?«