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Cécile und Tristan kämpfen gegen das Unheil, das sie selbst entfesselt haben. Seitdem sie die Trolle aus ihrem finsteren Gefängnis unter der Insel des Lichts befreit haben, breitet sich das Böse unaufhaltsam in Trianon aus. Und schon bald werden ihre schlimmsten Vermutungen bestätigt: Ein Krieg braut sich zusammen, und ihre Feinde lauern überall. Für die junge Hexe und den Trollprinzen gibt es nun kein Zurück mehr. Sie werden sich im Kampf behaupten müssen. Doch die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen. Es ist schwieriger denn je, Seiten zu wählen. Um die Inselbewohner zu schützen und die Tyrannei des Trollkönigs zu beenden, setzen die beiden alles aufs Spiel: ihr Leben, ihre Liebe und die Zukunft ihrer Welt. Romantic-Fantasy für Fans von Sarah J. Maas und Rebecca Yarros; als Printausgabe und Hörbuch bei SAGA Egmont erhältlich sowie als eBook bei dotbooks
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Über dieses Buch:
Cécile und Tristan kämpfen gegen das Unheil, das sie selbst entfesselt haben. Seitdem sie die Trolle aus ihrem finsteren Gefängnis unter der Insel des Lichts befreit haben, breitet sich das Böse unaufhaltsam in Trianon aus. Und schon bald werden ihre schlimmsten Vermutungen bestätigt: Ein Krieg braut sich zusammen, und ihre Feinde lauern überall. Für die junge Hexe und den Trollprinzen gibt es nun kein Zurück mehr. Sie werden sich im Kampf behaupten müssen. Doch die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen. Es ist schwieriger denn je, Seiten zu wählen. Um die Inselbewohner zu schützen und die Tyrannei des Trollkönigs zu beenden, setzen die beiden alles aufs Spiel: ihr Leben, ihre Liebe und die Zukunft ihrer Welt.
»Blood of the Witch« erscheint außerdem als Hörbuch und Printausgabe bei SAGA Egmont, www.sagaegmont.com/germany.
Über die Autorin:
Danielle L. Jensen ist Autorin mehrerer Romantasy-Reihen. Bekannt wurde sie mit ihrer »Malediction«-Trilogie, die prompt die Bestsellerlisten stürmte. Nun erscheint die Erfolgsserie des BookTok-Stars erstmals auch auf Deutsch.
Bei dotbooks erscheinen außerdem ihre Romane »Song of the Witch« und »Heart of the Witch« als eBook.
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eBook-Ausgabe Dezember 2024
Die englische Originalausgabe erschien erstmals 2016 unter dem Originaltitel »Warrior Witch« bei Strange Chemistry, einem Imprint von Angry Robot, Nottingham.
Copyright © der englischen Originalausgabe 2016 Danielle L. Jensen
Copyright © der deutschen Erstausgabe 2024 Danielle L. Jensen und SAGA Egmont
Copyright © der eBook-Ausgabe 2014 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung eines Motives von © Adobe Stock / safia sowie mehrerer Bildmotive von © shutterstock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (fe)
ISBN 978-3-98952-405-7
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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!
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Danielle L. Jensen
Blood of the Witch
Roman. Malediction 3
Aus dem Amerikanischen von Kerstin Fricke
dotbooks.
Für KG, weil ich gerade noch genug Schlaf bekam, um diesen Roman beenden zu können.
Cécile
Meine Stimme, das Einzige an mir, das stets geschätzt worden war, schien inmitten der Kakofonie auf dem Hof auf einmal unbedeutend geworden zu sein. Fragen und Forderungen hallten ebenso durch die Luft wie die Rufe jener, deren Nerven im Angesicht dieses unbekannten Gegners versagten. Das Getöse trieb mich Schritt für Schritt weiter nach hinten, bis ich ein Stück abseits allein im Schnee stand.
Tristan hob eine Hand und brachte die Menge zum Schweigen. »Eure Fragen werden beantwortet, jedoch nicht hier und nicht jetzt.« An den Regenten gewandt, der ihn mit finsterer Miene anstarrte, fügte er hinzu: »Ruft Euren Rat zusammen. Wir müssen Pläne schmieden, und dafür bleibt uns nur wenig Zeit.«
»Du maßt dir an, mir Befehle zu erteilen, Junge?«, entgegnete der Regent eisig. Er schien der Einzige zu sein, dem das Ganze hier nichts auszumachen schien. Ich bewunderte ihn beinahe dafür, denn er musste schließlich wissen, was Tristan war, auch wenn er vielleicht nicht ahnte, wen genau er vor sich hatte. Beinahe deshalb, weil sich sein Zorn gegen den einen Jungen richtete, der in der Lage war, uns alle zu retten.
Als ich Tristans Frustration sah, biss ich die Zähne aufeinander und verspannte beunruhigt die Schultern, um dann einen Blick in Richtung Trollus zu werfen. Wie bald werden sie kommen? Und was werden sie tun, wenn sie hier sind? All diese Fragen belasteten Tristan stark, und wir wussten beide, dass uns keine Zeit für Streitereien auf dem Hof blieb.
»Ihr sprecht von Anmaßung?« Tristans Stimme klang nahezu unbewegt, dennoch war die Anspannung der Menge deutlich zu vernehmen. »Habt Ihr vergessen, warum Ihr und all jene, die vor Euch kamen, Euch nur als ›Regenten‹ bezeichnen dürft? Oder wisst Ihr möglicherweise gar nicht, was dieser Titel bedeutet?«
»Ich habe rein gar nichts vergessen«, fauchte der Regent. »Ich kenne unsere Geschichte.«
»Dann wisst Ihr auch, dass dies keine Anmaßung ist«, erwiderte Tristan. »Ihr seid meiner Familie und unserer Krone zur Treue verpflichtet, und wenn Ihr das nicht freiwillig tut, ist es mein Recht und durchaus auch in meiner Macht, Euch dazu zu zwingen.«
Er schwieg einen Moment. Ich hielt den Atem an und war mir nicht sicher, was er als Nächstes sagen würde oder wieso er glaubte, dass es der richtige Weg wäre, diesem Mann zu drohen. Schließlich wollten wir ihn doch auf unserer Seite haben.
»Doch ich lasse Euch stattdessen die Wahl«, fuhr Tristan fort. »Stellt Euch auf meine Seite, und kämpft für die Freiheit Eures Volkes.«
»Oder?« Der Regent war kein schwacher Mann – er war ebenso wie Tristan in die Politik hineingeboren worden und damit aufgewachsen. Dennoch entging mir seine leicht schwankende Stimme nicht.
»Oder lasst es bleiben. Dann verschwinde ich, und Ihr könnt diesen Krieg allein bestreiten, wobei ich davon ausgehe, dass er in diesem Fall morgen früh bereits vorbei sein wird. Ihr werdet verloren haben – das Leben vieler, die Euch lieb und teuer sind, und Eure Freiheit –, was allein Eure Schuld sein wird. Sollte mein Vater Euch denn lange genug am Leben lassen, damit Ihr die gesamten Konsequenzen Eurer Entscheidung mit eigenen Augen erblicken könnt.«
Das Blut der ganzen Welt wird an Euren Händen kleben … Die Worte meiner Mutter, nein, Anushkas, gingen mir durch den Kopf, und ich biss mir auf die Unterlippe.
Der Blick des Regenten wanderte zu meinem Bruder, der noch immer als Lord Aiden verkleidet war. »Du wusstest, dass es so kommen würde, und hast nichts gesagt?«
Mein Bruder war schlau genug, um zu begreifen, dass der Mann seine Stimme nicht mit der seines Sohnes verwechseln würde, nickte daher nur und ließ den Kopf hängen.
Die Hörner von Trollus verstummten, schienen in der Stille jedoch nur noch präsenter zu sein. Unheilvoller.
»Entscheidet Euch«, verlangte Tristan. Lediglich unser Band verriet mir, wie nervös er war.
Der Regent stieß bebend die Luft aus und neigte leicht den Kopf, wobei die Muskeln an seinem Hals deutlich hervortraten, als würde sich sein gesamter Körper gegen diese unterwürfige Geste wehren. »In Ordnung.« Er wandte sich dem Mann links neben sich zu. »Ruft den Rat zusammen.«
Die Menge teilte sich und schuf einen Weg zum Palasteingang, doch der Regent trat beiseite. »Nach Euch, Eure Hoheit.«
Tristan setzte sich in Bewegung, und Fred sowie der Regent folgten ihm. Keiner der drei warf einen Blick zurück. Ich hob einen Fuß, um hinterherzugehen, und trat beim Absenken in die Pfütze, die dank der an meiner Haut haftenden Magie im Schnee entstanden war. Dabei ging mir auf, dass ich bei dieser Besprechung nicht erwünscht und aufgrund meines zerfetzten und blutbedeckten Kostüms vermutlich auch nicht willkommen war.
Während die Adligen davonströmten und hektisch nach ihren Kutschen verlangten, um sich in die zweifelhafte Sicherheit ihrer Häuser zurückzuziehen, eilten andere nach vorn und spähten durch das herabgelassene Fallgatter. Der Wind hatte den Drachen jedoch längst weggeweht, sodass nur noch ein Schneehügel zu sehen war. Viele warfen mir misstrauische Blicke zu und schienen zu begreifen, dass ich in irgendeiner Weise damit zu tun hatte, wenngleich keiner mehr darüber zu wissen schien. Niemand wusste, dass ich die Verantwortung dafür trug. Dass ich uns alle innerhalb weniger Herzschläge zu diesem Schicksal verdammt hatte.
Fast von dem Augenblick an, in dem ich von der Existenz der Trolle erfahren hatte, stand mein Zweck fest. Mein bekanntes Ziel. Die Hexe töten. Den Fluch beenden. Tristan retten. Meine Freunde befreien. All das hatte ich erreicht.
Und jetzt?
Ich hatte die Trolle und noch Schlimmeres auf die Welt losgelassen, allein aufgrund der vagen Hoffnung, dass alles gut gehen würde. Ich war davon ausgegangen, dass wir triumphieren und Frieden finden würden, ohne auch nur einmal darüber nachzudenken, welche Rolle ich dabei einnehmen sollte. Über Tristans Part an der ganzen Sache war ich mir in der Tat im Klaren gewesen. Ebenso war ich mir gewiss, dass der Großteil der Trolle anständig war. Dass meine Freunde das Böse niederzwingen könnten. Doch ich …
Schwer schluckend kämpfte ich gegen die in mir aufsteigende Panik an. Tristan war weggegangen, ohne anzuerkennen, wer ich war oder was ich getan hatte. Ohne sich auch nur einmal umzudrehen. Meine Logik sagte mir, dass er so etwas nie ohne Grund getan hätte. Ohne guten Grund. Aber die schrecklichen Zweifel, die an mir nagten, raunten mir etwas anderes zu.
Die Blicke aller, die sich noch im Freien aufhielten, wirkten nicht länger misstrauisch, vielmehr schienen sie mich zu beschuldigen und mir Vorwürfe zu machen. Mich überkam der Drang, wegzulaufen, aber wo sollte ich denn hin? In das Haus der Frau, die ich ermordet hatte? In das Hotelzimmer voller Erinnerungen? In Trianon gab es nicht einen Ort, an dem ich Hilfe finden würde. Mit Ausnahme von …
Meine Füße bewegten sich wie aus eigenem Antrieb, und ich rannte die Stufen hinauf ins Schloss. Immer schneller lief ich durch die dunklen Korridore, bis ich vor der Tür stand, nach der ich Ausschau gehalten hatte. Ich riss sie auf und stürzte hinein. »Sabine?«
Die Szene vor mir ließ mich abrupt innehalten. Julian kniete mit tränenüberströmtem Gesicht auf dem Boden und hielt den Leichnam meiner Mutter in den Armen. Seine Augen loderten vor Zorn. Er griff mit einer Hand nach der Pistole an seinem Gürtel und richtete sie auf meine Brust. »Mörderin«, zischte er.
Damit hatte er durchaus recht.
Tristan
Sieh sie nicht an!, befahl ich mir innerlich, doch mich umzudrehen und diese ersten Schritte zu machen, schien mir nahezu unmöglich zu sein.
Allerdings war es auch dringend erforderlich.
Sie durften nicht erfahren, dass Cécile Anushka getötet hatte. Es war schon schlimm genug, sie als eindeutige Komplizin erkannt zu haben. Doch wenn die Menschen erfuhren, dass sie das Messer geführt hatte, würden sie ihr auch die Schuld an allem geben, was noch kommen würde. Außerdem waren ohnehin schon zu viele auf ihren Tod aus, demzufolge hielt ich es für schlauer, dass sie mich für den Schuldigen hielten und all die Gewalt und den Hass gegen mich richteten.
Doch die Gewissheit, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, linderte den Schmerz nicht, den ich empfand, als ich sie allein und mit blutbefleckten Händen im Schnee stehen ließ. Es war Anushkas Blut, nicht das ihrer Mutter – denn Genevieve war schon seit vielen Jahren tot –, doch ich bezweifelte stark, dass sie bereits in der Lage war, die beiden auseinanderzuhalten.
Unverhofft musste ich erneut daran denken, wie sie mit dem Messer zugestoßen hatte, einerseits kraftlos und ungeschickt, andererseits aber auch erfüllt von untypischer Gewaltbereitschaft. Der zweite Stoß: selbstsicherer und tief genug, um zu töten. Auch geisterten mir die Gründe durchs Gehirn, die sie mir dafür genannt hatte … Sie waren gut und gerechtfertigt gewesen; da ich sie so gut kannte, ließen sie sich durchaus nachempfinden. Nichtsdestotrotz fragte ich mich, was sie wirklich dazu getrieben hatte. Die ganze Zeit über hatte sie unter diesem Drang gestanden, womit es jetzt, nachdem sie ihr Versprechen eingelöst hatte, vorbei war. Bereute sie ihre Tat nun?
Tue ich es?
Ich verdrängte all diese Gedanken. Was geschehen war, war geschehen, und ich musste mich darauf konzentrieren, einen Plan zu schmieden, um zu verhindern, dass mein Volk – und die Feen – die Insel ins Chaos stürzten. Danach wäre der Rest der Welt dran. Ich musste meinem Vater die Kontrolle abnehmen. Angoulême ein Ende bereiten und … irgendwie mit Roland fertigwerden.
Beinahe hätte ich Fred angesehen, tat es jedoch nicht. Diesen Betrug würde ich früher oder später noch bereuen, denn Aiden hatte sich in der Zeit, in der ich meiner Macht beraubt gewesen war, befreien können. Es war meine Schuld, da ich die Magie nicht festgezurrt hatte, mit der er belegt worden war. Die Tatsache, dass er noch nicht aufgetaucht war, machte mich ungemein nervös. Er wurde von meinem Vater beeinflusst, und ich hatte keine Ahnung, wie sich das auswirken würde. In diesem Spiel gab es einfach zu viele Teilnehmer und zu viele bewegliche Teile. Ich hatte den Eindruck, über nicht genug Informationen zu verfügen, um eine Entscheidung treffen zu können.
Untätigkeit würde allerdings nur zu unserer Niederlage führen. Es stand so gut wie fest, dass unsere Feinde hier einmarschieren würden – Pläne, die über Monate, wenn nicht gar Jahre geschmiedet worden waren, würden nun umgesetzt, während ich mitzuhalten versuchte.
Vor mir wurde die Tür zu einer Kammer geöffnet, und die Wachen zu beiden Seiten beäugten mich nervös, als ich hindurchging. Ich ignorierte den von Stühlen umgebenen Tisch und erklomm die gemauerte Treppe am anderen Raumende. »Geht es hier zum Turm?«, fragte ich niemanden im Besonderen.
»Ja«, antwortete Fred, und mir entging der schneidende Blick nicht, den der Regent ihm zuwarf. Innerlich flehte ich Fred an, den Mund zu halten, bis ich seine Enthüllung anständig über die Bühne bringen konnte.
Ich nahm immer drei Stufen auf einmal und drückte die mit Eisen beschlagene Eichentür am oberen Treppenende auf, um in die bitterkalte Winterluft hinauszutreten. Aus dieser Höhe breitete sich ganz Trianon vor mir aus. Auf den Mauern standen in regelmäßigen Abständen brennende Fackeln, und der Großteil der Stadt leuchtete dank der Gaslaternen auf den Straßen. Es war unheimlich ruhig, doch die Anspannung, die aus jedem Gebäude herauswaberte, ließ sich selbst aus dieser luftigen Höhe deutlich vernehmen. Die Menschen fürchteten sich, und so ungern ich es auch zugab, so hatte mir die Winterkönigin in dieser Hinsicht einen Gefallen getan. Angst konnte die Massen einigen, und wenn ich sie zu nutzen vermochte, wäre das umso besser.
Während ich den Blick Richtung Trollus wandern ließ, stützte ich die Ellbogen auf die steinerne Zinne und war mir nur vage bewusst, wer mir alles gefolgt war. Mein Vater hatte Cécile gesagt, er habe vor, die Insel friedlich einzunehmen, und bis zu einem gewissen Grad glaubte ich ihm das sogar. Demzufolge wusste ich auch, dass sein Ziel Trianon sein würde. Derjenige, der die Hauptstadt und ihre Anführer in seiner Gewalt hatte, kontrollierte die Insel. Im Augenblick war ich das, und wenn es nach mir ging, sollte das auch so bleiben.
Eine Vision von dem, was ich brauchte, entstand in meinem Kopf, und ich ließ die Magie ausschweifen, um es mit Willenskraft und Übung zu erschaffen. Die Mauern um Trianon leuchteten auf einmal in einem silbernen Licht, bis sie eher wie Magie denn Stein erschienen. Danach ließ ich sie höher werden. Immer weiter glitt das Licht an der Mauer hinauf und schwang sich nach innen, bis sich eine gewaltige magische Kuppel über die Stadt erstreckte.
»Wollt Ihr damit Euer Volk raushalten oder unseres einsperren?«
Ich drehte mich um. Fred, der Regent sowie ein anderer Mann, den ich für seinen Ratgeber hielt, standen hinter mir und blickten nach oben. Lady Marie, die ebenfalls hinausgekommen war, erschauderte und presste die Lippen fest aufeinander, während sie darauf wartete, dass ihre Frage beantwortet wurde.
»Beides«, erwiderte ich, fügte jedoch nicht hinzu, dass mein Vater und eine Handvoll anderer genug Macht besaßen, um die Stadt zu stürmen, sollten sie dies denn wünschen. Diese Kuppel sollte nicht etwa einen Frontalangriff aufhalten, sondern vielmehr verhindern, dass sich jemand in die Stadt schlich, ohne dass ich es mitbekam. Mein Vater wollte keinen Krieg anzetteln, sondern die Fäden ziehen, bis sich alles von selbst ergab. Was jedoch nicht bedeutete, dass er nicht zu Gewalt greifen würde, wenn es notwendig war. »Es verschafft uns Zeit zum Planen.«
»Uns?«, fauchte sie. »Wenn Eure Interessen den unseren derart ähneln, wieso habt Ihr Anushka nicht einfach weitermachen lassen? Wäre sie noch am Leben, könnte all das hier nicht passieren.«
Dann wäre Cécile tot und ich wahrscheinlich ebenfalls. Mein Volk wäre weiterhin in der Hand meiner Feinde. »Der Preis war zu hoch.« Ich zögerte. »Außerdem bin ich zu der Ansicht gelangt, dass es einen besseren Weg gibt.«
»Habt Ihr das auch Cécile erzählt, um sie davon zu überzeugen, Euch dabei zu helfen, ihre Mutter zu ermorden?«
Es war vielmehr andersrum gewesen, doch ich ließ sie nur zu gern in dem Glauben, ich wäre der Anstifter gewesen. Der Regent starrte seine Gattin an, als wäre sie eine Fremde, also hatte er offensichtlich nicht gewusst, dass Marie die Hexe versteckt hatte, die er in unserem Auftrag gejagt hatte.
»Genevieve de Troyes war einer der vielen Decknamen, die Anushka im Laufe der Jahre verwendet hat«, erläuterte ich.
»Und du hast das gewusst?«, verlangte der Regent von seiner Frau zu erfahren. »Du hast ihr Unterschlupf gewährt? Hast du auch nur eine Ahnung, was sie mit uns gemacht hätten, wenn unser Verrat ans Licht gekommen wäre?« Dann dämmerte ihm, dass einer von ihnen direkt neben ihnen stand. »Ich wusste nichts davon.«
»Offensichtlich«, sagte ich und fragte mich, wie er wohl auf die Enthüllung des Verrats durch seinen Sohn reagieren würde. »Aber es ist nicht länger von Bedeutung. Jetzt zählt nur noch Trianons Verteidigung.«
Sie traten beiseite und ließen mich passieren, als ich zu der schweren Tür zurückschritt. Cécile bewegte sich durch das Schloss, und ihre Bestürzung nagte an meiner Konzentration. Ich wollte mit ihr reden und herausfinden, was in ihr vorging, musste mich stattdessen jedoch der Aufgabe widmen, mehr über das in Erfahrung zu bringen, was mein Vater und Angoulême vorhatten. Sowie die Machenschaften der Winterkönigin aufdecken.
»Was ist mit diesen fliegenden Kreaturen? Wird Eure Kuppel sie abhalten?«, verlangte Marie zu erfahren und folgte mir die Stufen hinunter.
Da die Feen in der Lage waren, einen Weg zwischen den Welten hindurch zu nahezu jedem Ort zu erschaffen, bezweifelte ich das stark, musste allerdings zugeben, dass dies eine gute Frage war. Sie schien als Einzige die Dringlichkeit unserer Situation zu erfassen. »Nur Eisen…« Ich stockte, als mich Angst durchflutete. Cécile.
»Eisen?«, wiederholte sie. »Was ist damit?«
Wo war sie? Hatten die Schergen meines Vaters uns erreicht, bevor ich ihnen den Weg versperren konnte? Oder Angoulêmes?
»Sei still, Marie«, zischte der Regent. »Er hat kein Interesse daran, die Fragen einer Frau zu beantworten.«
Schmerz.
Ich rannte die letzten Stufen hinunter und durch den Raum, kam dabei an Aiden-Fred vorbei. Erst, als meine Hände bereits die Tür berührten, ging mir auf, dass seine Anwesenheit keinen Sinn ergab. Fred hatte zusammen mit uns oben auf dem Turm gestanden. Er war dem Regenten lautlos die Stufen hinuntergefolgt. Was wiederum bedeutete, dass der Mann, den ich eben gesehen hatte, nicht Céciles Bruder sein konnte.
Marie schrie auf, und als ich mich umdrehte, sah ich gerade noch, wie Aiden du Chastelier seinem Vater ein Schwert ins Herz rammte.
Cécile
Mein erster Instinkt war, auf den Korridor hinauszulaufen, aber Julian schien das zu spüren, da er den Finger fester auf den Abzugshebel legte, woraufhin ich erstarrte. So viel Glück, einer Kugel aus nächster Nähe ausweichen zu können, würde mir niemals vergönnt sein, schließlich war ich kein Troll.
»Tu das nicht, Julian.« Ich legte so viel Kraft in den Befehl, wie es mir möglich war, doch er schnaubte nur und schnippte gegen den Zweig mit Vogelbeeren, wobei er das tränenüberströmte Gesicht zu einer Grimasse verzog.
»Dachtest du, ich wäre für deine Tricks anfällig?«
Ich schluckte die Galle herunter, die mir in der Kehle aufstieg. »Es tut mir leid, Julian. Wenn du die Wahrheit kennen würdest, dann könntest du verstehen, dass ich …«
»Halt den Mund!« Seine Worte waren kaum lauter als ein Flüstern, dennoch brachten sie mich effektiver zum Schweigen, als es ein Schrei vermocht hätte.
»Ich weiß alles«, fuhr er fort, wobei seine Stimme zitterte, die Pistole in seiner Hand jedoch ganz ruhig blieb. »Du magst wenig mehr als eine törichte Hinterwäldlerin sein, aber du hattest recht, als du sagtest, sie hätte mir mehr Geheimnisse anvertraut als dir. Sogar ihr größtes Geheimnis. Ich weiß, wer sie war, wer du bist, wer er ist, was er ist und mehr über sie, als du dir jemals erträumen könntest.« Er wischte sich mit der freien Hand das Gesicht ab. »Aber vor allem weiß ich, dass du diejenige bist, die sterben sollte, und nicht etwa … « Sein Blick zuckte zum Leichnam meiner Mutter, bevor er abermals mich ansah. »Nun bleibt mir nur noch die Rache.«
Er umklammerte die Pistole mit beiden Händen und zielte auf mein Gesicht. Es darf jetzt nicht enden. Nicht nach allem, was passiert ist. Nicht so. »Bitte.«
Julian bleckte die Zähne. »Wenn dein Troll nicht da ist, um dich zu beschützen, bist du wohl nicht mehr so mutig?«
»Sie braucht keinen Troll, um vor deinesgleichen beschützt zu werden.« Sabine trat aus dem Schlafzimmer und drückte ihm den Lauf der Pistole meiner Mutter gegen den Hinterkopf. »Ein Mensch reicht da schon völlig aus.«
Einen Augenblick lang schwieg Julian. Einen zweiten. Und einen dritten. Dann grinste er. »Wenn man den Grund verloren hat, für den es sich zu leben lohnt, ist es vieles wert, dafür zu sterben.«
Der Knall der Pistole dröhnte in meinen Ohren, und ich spürte einen Schmerz im Gesicht. Mit klingelndem Kopf und heißem Blut, das mir über die Finger strömte, die ich an meine Wange presste, taumelte ich zur Seite. Doch das war nichts im Vergleich zu der Blutmenge, die sich zu Sabines Füßen sammelte.
»Idiot«, sagte sie und ließ die noch rauchende Waffe sinken. »Was bringt es denn bitte schön, für die Toten zu sterben? Denen ist das doch völlig egal.«
Sabine hob den Kopf und sah mich an. Auf einmal ließ sie die Waffe fallen und schlug sich eine Hand vor den Mund. »Oh, Cécile! Dein Gesicht!«
»Ist nicht so schlimm«, behauptete ich, obwohl meine Wange brannte und die Kugel eine Linie auf meine Haut gebrannt hatte, die sehr tief war und vermutlich nie mehr verheilen würde. Nur ein kleines Stück weiter und ich wäre tot gewesen. Diese Tatsache überwog sämtliche Eitelkeit.
Wir stolperten beide vor und fielen uns in die Arme. »Ich wusste, dass er es tun würde«, sagte Sabine. »Ebenso wusste ich von dem Augenblick an, in dem du reingekommen bist, dass ich ihn erschießen musste. Er neigte noch nie dazu, über den Moment hinauszudenken.«
Dasselbe konnte man allerdings auch über mich sagen. Die Welt bebte noch immer aufgrund der Entscheidung, die ich in einem Moment getroffen hatte. Sie war erschüttert ob der Konsequenzen meiner Taten, die sich mit bleiernen Flügeln herabgesenkt hatten, sobald der Schrei des Drachen durch die Nacht gehallt und durch den Rausch der vom Adrenalin hervorgerufenen Furcht gedrungen war. Er hatte mich im Hof durchdrungen, nachdem mich Tristan allein im Schnee stehen gelassen hatte. Nun spürte ich die gesamte Last auf meinen Schultern und stellte fest, dass ich nicht mehr klar denken konnte. Ich bekam kaum noch Luft.
»Ist sie tot? Deine Mutter – ich meine, Anushka?«
Ich presste die Finger zusammen, an denen mein Blut klebte. Ihr Blut.
»Und die Trolle? Sind sie frei?«
Welche Macht dieser Welt kann sie jetzt noch aufhalten?
»Wo ist Tristan?«
Er ist weggegangen.
»Cécile? Cécile!«
Mein Kopf wurde durch die Wucht ihres Schlags zur Seite geschleudert. Ich starrte sie an, und sie schüttelte den Kopf. »Entschuldige, aber ich musste das tun. Dies ist der falsche Zeitpunkt, um die Nerven zu verlieren.«
Nachdem ich mehrmals zittrig Luft geholt hatte, straffte ich die Schultern. »Da hast du recht.«
Ich ließ mich von Sabine ins Nebenzimmer führen, wo die Worte nur so aus mir heraussprudelten, während sie meine Wange untersuchte, bis ich schließlich sagte: »Ich war derart damit beschäftigt, Anushka zu finden und den Fluch zu brechen, dass ich nie darüber nachgedacht habe, was wir tun würden, wenn wir Erfolg haben.« Ich drückte mir ein Taschentuch auf die Verletzung und nutzte den Schmerz, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. »Sie könnten inzwischen längst hier sein.«
Meine Haut prickelte, als ich mir vorstellte, wie Lessa oder Roland durch die Straßen von Trianon liefen. Nun, wo die Trolle frei waren, konnte sie nichts mehr davon abhalten, auf Tristan loszugehen. Oder mich.
»Das ist bestimmt nicht passiert.« Sabine ging ans Fenster und deutete auf die leicht leuchtende Kuppel über der Stadt. »Ich habe gesehen, wie sie entstand, als ich mich vor Julian versteckt habe. Das ist Tristans Werk, nicht wahr? Er hält sie damit fern?«
Ich nickte und war nur minimal erleichtert, denn die Kuppel konnte lediglich eine vorläufige Maßnahme darstellen. Tristan war nicht in der Lage, seinem Vater die Krone abzunehmen oder Angoulême aufzuhalten, indem er sich hinter Mauern verbarg. Zudem war mir bewusst, dass er nicht die ganze Stadt vor einem direkten Angriff zu schützen vermochte. »Unsere Familien sind da draußen«, sagte ich. »Die Trolle wissen, wer sie sind und wo sie sie finden können.«
Sabine presste sich eine Hand an die Schulter, an der das Blut durch ihr Kleid gesickert war, und rieb sie sich wie eine alte Verletzung. »Tristan hat Chris mit Anweisungen zurück ins Hollow geschickt. Sie werden gewappnet sein.« Doch ihr Gesichtsausdruck verriet mir, dass wir dasselbe dachten und uns fragten, welche Vorbereitungen sie wohl zu ihrem Schutz treffen würden.
Ich stieß die Luft aus und beobachtete, wie die Fensterscheibe kurz beschlug. »Wir können nicht abwarten, was sie tun. Stattdessen müssen wir zuerst handeln und herausfinden, was sie vorhaben.«
»Doch wie?«, fragte Sabine. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sich leicht ausspionieren lassen, und wenn derjenige, den wir zu ihnen schicken, erwischt wird …«
»Werden die Trolle ihn töten«, beendete ich ihren Satz. Doch der Regent und Tristan würden trotzdem Spione aussenden, da uns schlichtweg keine andere Option blieb. Allerdings bezweifelte ich stark, dass sie uns etwas Nützliches mitteilen würden, selbst wenn es ihnen gelang, zu den Trollen und zu uns zurückzukehren. Sie zu zählen und uns in Position zu bringen, wie man es in einem Krieg zwischen menschlichen Armeen tun würde, brachte uns rein gar nichts, da die Trolle völlig anders kämpften. Daher mussten wir vielmehr in Erfahrung bringen, zu wem die Trolle und die Halbblute hielten, wie es um das Machtgleichgewicht zwischen dem Herzog und dem König stand. Wichtiger jedoch war, in Erfahrung zu bringen, was in Thibaults Kopf vor sich ging.
Ich atmete erneut aus und beobachtete, wie der Dunst auf dem Glas zu einem verschnörkelten Muster gefror, während sich in meinem Kopf nach und nach ein Plan herauskristallisierte. Wir mussten es sehen, und dazu benötigten wir die Hilfe von jemandem, der alles erblicken konnte. »Ich habe eine Idee«, setzte ich an. »Aber wenn wir sie umsetzen wollen, müssen wir in die Stadt.«
Tristan
Die Woge der Erleichterung, die von Cécile ausging, spendete mir nur geringen Trost; die Ablenkung war von kurzer Dauer, doch eindeutig belastend. Ich verbannte sie mit Gewalt aus meinen Gedanken und betrachtete die Szene vor mir.
Der Regent war tot.
Aiden stand wie erstarrt da. Das Schwert glitt ihm aus den Fingern und landete klappernd auf dem Steinboden. »Was habe ich getan?«, flüsterte er. »Was habe ich nur getan?«
Das, was er meinem Vater versprochen hatte.
Ich stieß ihn mit mehr Gewalt als notwendig zu Boden, woraufhin er das Bewusstsein verlor. Danach verriegelte ich die Türen und sorgte vor allem dafür, dass Lady Maries Schluchzen nicht länger zu vernehmen war. Ihr Kleid war bereits mit dem Blut ihres Gatten getränkt. Sie schaukelte vor und zurück und drückte seinen Leichnam an ihre Brust.
»Wie ist das möglich?«, fragte der Ratgeber, dessen Blick ständig zwischen dem bewusstlosen Aiden und Fred mit seiner Aiden-Maske hin- und herschnellte. »Was für ein Teufelswerk ist das?« Er zog sein Schwert, das eher dekorativen Zwecken zu dienen schien, denn eine Waffe zu sein. Bevor er sich entscheiden konnte, welchen Mann er angreifen sollte, riss Marie es ihm aus den Händen.
»Monster!«, schrie sie und richtete die Spitze auf den am Boden liegenden Aiden. »Hör auf, dich als mein Sohn auszugeben, du Unhold.«
Die Schwertspitze prallte gegen meine Magie. Sie schrie auf und schlug wieder und wieder dagegen, als könnte sie die Waffe mit bloßer Gewalt hindurchstoßen. Ich ließ sie gewähren und nutzte die Gelegenheit, um erst richtig zu begreifen, wie schnell sich die Umstände verändert hatten. Wie rasant mir die Kontrolle entglitten war.
Aiden kam langsam wieder zu sich und lag mit tränenüberströmtem Gesicht am Boden. Sein ersticktes Schluchzen kitzelte an meiner Magie, und ich musste gegen den Drang ankämpfen, seine Knochen für das, was er getan hatte, zu Staub zu zermahlen. Zum einen wegen der Schwäche, die ihn dazu getrieben hatte, ein Abkommen mit meinem Vater zu schließen, und zum anderen wegen seines Mangels an Willenskraft, durch den er innerhalb einer Stunde dem Troll erlegen war, dem Cécile wochenlang widerstanden hatte.
Der Regent war ein fähiger Herrscher und bei seinem Volk beliebt gewesen. Mir fehlte die Zeit, um die Inselbewohner für mich zu gewinnen, falls das denn überhaupt möglich war. Ich hatte ihn gebraucht, weil die Menschen ihm gefolgt wären. Doch nun stand ich mit einem Mann da, der seinen Vater und Herrscher ermordet und durch diese Tat dafür gesorgt hatte, dass ihm niemand, der noch bei Verstand war, folgen würde.
»Tu etwas.« Maries Stimme holte mich aus meinen Gedanken. Sie hatte das Schwert fallen gelassen und kroch durch die Blutlache auf Fred zu, wobei sie eine Hand nach ihm ausstreckte. »Tu etwas, Aiden. Räche deinen Vater.«
Fred wich einen Schritt zurück und sah mich Hilfe suchend an. »Tristan?«
Marie erstarrte. »Ihr seid nicht mein Sohn.«
Jemand hämmerte gegen die Tür. Mir blieben nur noch wenige Minuten, um zu entscheiden, was ich tun, wie ich die Lage retten sollte. Ich entschied mich, die Magie fallen zu lassen, die Fred verhüllte. »Nein, das ist er nicht.«
Sie wurde kreidebleich und drehte sich wieder zu Aiden um. Die Erkenntnis, dass ihr eigener Sohn seinen Vater getötet hatte, spiegelte sich auf ihrem Gesicht wider. Obwohl ich sehr wütend auf Aiden war, traf mich dieser Anblick. Würde mich meine Mutter genauso ansehen, wenn die Zeit gekommen war? Würde sie sich meine Rechtfertigung anhören oder lediglich einen kaltblütigen Mörder vor sich sehen, der seinen eigenen Vater um die Ecke gebracht hatte?
»Er hat die Kontrolle über seinen Verstand verloren«, teilte ich ihr mit, auch wenn ich mir nicht sicher war, ob das einen Unterschied machen würde. »Meines Wissens hat er meinem Vater versprochen, ihm die Insel zu übergeben, und er verspürt den unbändigen Drang, dieses Versprechen einzulösen.«
»Warum sollte er so etwas tun?« Ihre Stimme bebte.
Zuerst glaubte ich, Aiden würde nicht antworten, wäre überhaupt nicht in der Lage dazu. Bis er es doch tat. »Ich hätte nie gedacht, dass es dazu kommen würde. Ich hatte nie damit gerechnet, dass sie irgendwann frei sein könnten.«
Das war eine Ausrede, keine Antwort, und es sprach für Marie, dass sie das ebenfalls erkannte. »Warum hast du alldem zugestimmt?«
Bevor Aiden auch nur ein Wort erwidern konnte, polterte etwas Schweres gegen die Tür. Die Leute versuchten, in den Raum zu gelangen, da sie zweifellos davon ausgingen, ich hätte die gesamte Herrscherfamilie ausgelöscht. Wenn sie die blutige Szene in der Ratskammer erblickten, würden sie sich garantiert nicht als Erstes gegen Aiden wenden.
Ich ging vor Marie auf ein Knie und legte ihr die Hände an die Schultern. »Uns bleibt keine Zeit für Erklärungen. Wir haben nur noch wenige Stunden, um uns auf den Angriff meines Vaters vorzubereiten, und ich bezweifle, dass Eure Soldaten Aiden nach dieser Tat noch folgen werden.« Bei diesen Worten warf ich dem weinenden Lord einen Blick zu. »Und selbst wenn sie es tun, dürfen wir dieses Risiko nicht eingehen, solange er unter diesem Drang steht.«
Knack! Das Holz der Tür zersplitterte. Zwar würden sie meine Magie nicht durchdringen können, aber sobald sie durch die Tür gebrochen waren, mussten sie erkennen, dass ich sie fernhielt. Ich schüttelte Marie leicht. »Werden Eure Soldaten Eurem Befehl folgen?«
»Das kann nicht Euer Ernst sein.« Der Lord, dessen Waffe Marie genommen hatte, war während unseres Wortwechsels langsam in Richtung Tür gegangen, blieb nun jedoch abrupt stehen. »Sie ist eine Frau!«
Marie ignorierte ihn. »Wie kann ich meinen Sohn von diesem Drang befreien?«
Knack! Ich verzog das Gesicht. »Nur durch den Tod meines Vaters.«
»Und dann wird Aiden wieder der Alte sein?«
Keiner konnte vorhersagen, wie es Aiden ergehen würde, ob sein gesunder Menschenverstand überlebte, ob er wieder so wäre wie zuvor. »Er wird erneut die Kontrolle über seinen Willen und sich selbst haben.«
Sie saß ganz still da.
»Wir haben keine Zeit für so etwas, Marie.« Mein Herz drohte aus meiner Brust zu springen, und ich schaffte es nur mit Mühe, nicht zur immer stärker demolierten Tür zu blicken. »Werden sie Euch folgen?«
»Nehmt die Hände von mir, Troll«, wisperte sie.
Ich stieß die Luft aus und ließ die Hände sinken, während in mir die Gewissheit reifte, dass ich die Kontrolle über Trianon wohl oder übel mit Gewalt an mich reißen musste.
»Tretet zurück«, sagte sie und griff nach dem Schwert, das neben ihr auf dem Boden lag.
Ich tat, was sie verlangte.
Sie sah den Lord an, der nun vergebens gegen meine Magie anzukommen versuchte. »Mylord Lachance, kommt her und helft mir, auf Abstand zu dieser Kreatur zu gehen.« Sie reichte ihm flehentlich eine Hand.
Lachance versteifte sich und kehrte mit sichtlichem Widerstreben zu Marie zurück. »Hinfort mit Euch, Teufel«, fauchte er, und unter anderen Umständen hätte ich glatt gelacht.
»Mylady.« Er streckte eine Hand nach ihr aus, ohne mich aus den Augen zu lassen.
Sie rammte ihm die Schwertspitze durch die Kehle.
Ich sah verdutzt zu, wie der sterbende Mann zusammenbrach, und hatte nicht die geringste Ahnung, was das bedeutete.
Marie legte den Schwertgriff neben Lachances Hand und stand auf. »Lachance war ein Verräter«, erklärte sie. »Ein Spion und Attentäter zu Diensten des Trollkönigs. Er hat meinen Gatten getötet und hätte auch mich umgebracht, wäre mein Sohn nicht rechtzeitig eingeschritten.« Mit diesen Worten ging sie zu Fred, nahm ihm die Klinge aus der Hand, tauchte sie in die Blutlache und gab sie ihm zurück. »Lasst ihn wieder wie Aiden aussehen.«
Da mir dämmerte, was sie vorhatte, tat ich es.
»Wenn irgendjemand erfährt, was Aiden getan hat, wird er dafür hängen müssen«, sagte sie. »Ich habe durch Euch Trolle schon meinen Mann verloren und werde nicht auch noch meinen Sohn verlieren. Wir verstecken ihn, bis wir diesen Krieg gewonnen haben, und dann wirst du«, sie zeigte mit dem Finger auf Aiden, »den Rest deines Lebens für deine Tat Buße tun.«
Sie wandte sich an mich. »Fesselt ihn. Versteckt ihn. Und dann lasst sie herein.
Cécile
»Ich habe noch nie derart gefroren«, sagte Sabine und zog den Mantel enger um sich, doch der eisige Wind riss ihn sofort wieder auf, als wir die Brücke überquerten. »Und dieser Schnee … Das ist doch nicht normal.«
Da mir die Schneemassen bis über die Knie reichten und ich in jede Richtung nur wenige Schritte weit sehen konnte, war ich geneigt, ihr zuzustimmen.
»Das sind die Feen«, rief ich über das Tosen hinweg. »Das ist ihr Werk.« Oder zumindest das einer ganz bestimmten Fee, denn meiner Meinung nach konnte man nicht behaupten, die Königin einer Jahreszeit zu sein, ohne eine gewisse Kontrolle über das Wetter zu besitzen.
»Warum?«, verlangte Sabine zu erfahren. »Wenn sie jede x-beliebige Welt aufsuchen können, was macht unsere dann so besonders? Was wollen sie?«
Irgendetwas. Die Prophezeiung stammte von den Feen, was auch bedeutete, dass das Brechen des Fluchs in ihrem Interesse gelegen hatte. Ich zweifelte stark daran, dass es ihnen nur darum ging, ungehindert in diese spezielle Welt gelangen und sie wieder verlassen zu können. Zudem lag ihnen auch nichts an den Trollen. Die Feen taten niemandem einen Gefallen. Der Sommerkönig hatte definitiv irgendetwas durch ihre Freiheit zu gewinnen, allerdings war mir schleierhaft, was das sein konnte.
»Vielleicht sollten wir besser umkehren.« Sabine blieb auf einmal stehen und ließ den Saum ihres feinen Kleides fallen, der sich um ihre Knie ballte. »Tristan hat gesagt, die Feen kämen nicht am Stahl vorbei, der in die Schlossmauern eingelassen wurde – und dass wir im Schloss sicher wären.«
Ich steckte mir die Hände unter die Achseln und beäugte den grauen Dunst, der das Schloss des Regenten vor unseren Blicken verbarg. Tatsächlich behagte es mir ebenfalls nicht, noch weiter in die Stadt vorzudringen, falls wir uns schnell wieder zurückziehen mussten. »Die Trolle werden dadurch nicht aufgehalten werden, daher ist das wohl eher eine relative Sicherheit. Außerdem stellen die Trolle die unmittelbare Gefahr dar. Wenn wir auch nur darauf hoffen wollen, diesen Krieg zu gewinnen, müssen wir mehr über ihre Pläne in Erfahrung bringen. Wir können nicht mit den Feen reden, solange wir uns an einem Ort aufhalten, an dem sie uns nicht erreichen.« Ich setzte mich wieder in Bewegung und zwang sie dadurch, mir zu folgen. »Wir tun das Richtige.«
»Hast du Tristan deshalb nicht verraten, wohin wir gehen?«
Ich stolperte über etwas, das unter dem Schnee verborgen war, und fiel hin, um lauthals zu fluchen, als meine geborgten Röcke an etwas hängen blieben und zerrissen. »Er hat mit dem Regenten schon mehr als genug zu tun.« Angesichts der Emotionen, die ich von ihm empfing, lief es nicht besonders gut.
»Wir müssen uns beeilen«, beharrte ich und versuchte, mich aus den Schneemassen zu befreien. »Deshalb können wir nicht untätig herumsitzen und darauf warten, dass uns Tristan jeden einzelnen Schritt ausdrücklich erlaubt.«
»Was machst du denn da, um Himmels willen?« Sabine fasste mich unter die Achseln und half mir auf.
»Mein Rock hängt an irgendetwas fest«, antwortete ich und zappelte mit den Beinen.
Sie zog fester, und wir schnappten beide nach Luft, als eine erfrorene Leiche unter dem Schnee auftauchte. Eine halbe Leiche noch dazu.
»Der Drache.« Ich befreite meinen Rock, der am zertrümmerten Brustkorb hängen geblieben war. Mein Plan kam mir auf einmal weitaus gefährlicher vor. Wir blickten beide beunruhigt gen Himmel.
Etwas, das sich wie eiskalte Finger anfühlte, strich mir über die Stirn, und die Welt schien zu erschaudern. Das Gefühl war im nächsten Augenblick vergangen, aber Sabine schüttelte ebenfalls den Kopf, als müsste sie ihn wieder freibekommen. Mir lief ein Schauder den Rücken herunter. »Vielleicht sollten wir zurückgehen.«
Sabine legte die Finger fester um meine Arme. »Ich weiß nicht, ob wir das können.«
Als ich mich umdrehte, zog sich mein Magen zusammen. Schatten waberten unter der Brücke hervor und verschlangen das Licht der Gaslaternen zu beiden Seiten, bis der Weg zum Schloss zurück einem klaffenden Schlund voller Finsternis glich. Zudem übertönten die Geräusche durch die Luft jagender krallenbewehrter Kreaturen das Tosen des Windes.
»Wir gehen in die Stadt. Irgendjemand wird uns Unterschlupf bieten.« Sabine nahm meine Hand und zog mich zu einem Café, aber bevor wir weit gekommen waren, fuhr ein heftiger Windstoß von oben herab und trieb den Schnee so zusammen, dass sämtliche Türen und Fenster versperrt wurden und uns nur noch die Straßenmitte blieb. Ein offenkundiger Weg.
»Man sollte mir einfach nicht erlauben, Pläne zu schmieden«, hauchte ich und kämpfte gegen meine Angst an.
»Vielleicht solltest du versuchen, Tristan zu rufen?« Sabine wollte sich durch den Schnee graben, aber der Wind machte ihre Bemühungen sofort wieder zunichte und schien sie mit seinen kleinen, neckenden Windstößen zu verspotten.
»Nein.« Ich musste beweisen, dass ich auch nach dem Moment, in dem Anushka ihren letzten Atemzug getan hatte, noch von Wert war. Nicht Tristan, sondern mir selbst. Ich hatte die Trolle freigelassen, was auch bedeutete, dass ich für alles, was daraufhin geschah, verantwortlich war. »Würden sie uns schaden wollen, wäre das längst geschehen. Das hier ist … etwas anderes.«
Wir hielten uns fest an den Händen und folgten dem Weg durch die Straßen, wobei wir Trianon mit der Zeit immer weniger wiedererkannten. Die Schneewehen vor den Gebäuden wurden höher und verwandelten sich in Mauern aus durchsichtigem Eis, während sich vor unseren Augen Wirbel und Muster bildeten, als würde eine unsichtbare Hand seltsame Gebilde erschaffen.
»Der Weg führt nach Hause.« Ich wandte den Blick von einer Frau ab, die unheimlich reglos neben einer Mauer stand und den Mund geöffnet hatte, als wäre sie mitten im Satz erstarrt. Es gab noch Dutzende wie sie – Männer und Frauen, die allem Anschein nach an Ort und Stelle festgefroren waren.
»Sieh nur.«
Ich schaute in die Richtung, in die Sabine zeigte, und keuchte auf. Schwach erhellt von Tristans magischer Kuppel erhob sich ein Eispalast aus dem Boden. Turm um Turm materialisierte sich, wobei jeder mit verzierten gefrorenen Simsen, zarten Balkonen und durchsichtigen Spitzen versehen war. In den eisigen Räumen tanzten geflügelte Kreaturen, die sich abgehackt und merkwürdig bewegten. Die ummauerte Straße führte um eine Ecke, hinter der sich das Stadthaus meiner Mutter befand.
Jedenfalls hatte es früher dort gestanden.
Der gesamte Häuserblock bildete nun das Erdgeschoss des Palasts, und die Reihe aus gemauerten Stadthäusern war mit einer dicken Eisschicht bedeckt, die sämtliche Türen und Fenster versperrte. Die einzige Ausnahme bildete die Tür meines Zuhauses, die weit offen stand und unter den frostigen Verzierungen kaum noch wiederzuerkennen war. Ich bahnte mir einen Weg um die Brunnen herum, die aus dem Nichts entstanden und Schnee aus den Mäulern fangzahnbewehrter Kreaturen herausschießen ließen, die uns mit ihren eisigen Augen zu beobachten schienen.
Sabine löste sich von mir und ging die Stufen zu einer der Türen hinauf. Der Eingang war mit einer Wand aus durchsichtigem Eis bedeckt, und dahinter sah es so aus, als wäre eine meiner Nachbarinnen auf dem Weg zur Tür eingefroren worden. »Sie sieht aus, als wäre sie noch am Leben«, sagte Sabine und legte eine Hand auf das Eis.
Ich spähte hindurch und sah die Brust der Frau gebannt an. »Sie atmet nicht.«
»Das kannst du nicht mit Sicherheit sagen.« Sabine hob einen Ziegelstein hoch und schlug damit gegen das Eis. Risse breiteten sich von der Stelle aus, wurden jedoch sofort wieder kleiner, als würde sich das Eis heilen. Wieder und wieder hämmerte sie dagegen, doch es passierte stets dasselbe. Irgendwann hielt ich ihr Handgelenk fest und schüttelte den Kopf.
Von unserer Position auf den Stufen aus konnten wir erkennen, dass die Eismauern von der Dunkelheit erfüllt waren, die sich durch Trianon und bis zum Schloss erstreckte. Doch die Stadt hatte sich weitaus mehr verändert. Inzwischen glich sie einem fantastischen Land aus glitzernden Türmen und Spitzen, die hinsichtlich ihrer Höhe und ihres Aussehens jeglicher Logik und den Naturgesetzen widersprachen. Es sah wunderschön, gleichzeitig aber auch entsetzlich und furchteinflößend aus, weil es hier keinerlei Leben zu geben schien.
»Als wir das Schloss verlassen haben, waren dort noch alle am Leben.« Wie immer konnte ich Tristan in meinem Kopf spüren, aber als ich mich auf ihn konzentrierte, fiel mir etwas Seltsames auf: Seine Gefühle wirkten so statisch … wie eingefroren.
»Wäre er erfroren, dann müsste er tot sein, und du würdest es wissen«, murmelte ich zu mir selbst und sah kurz darauf Sabine an. »Wenn wir am Leben sind, dann gibt es keinen Grund zu der Annahme, dass es bei den anderen nicht ebenso ist.« Ich schüttelte den Kopf. »Außerdem sind wir schon so weit gekommen …« Ich beendete den Satz nicht, denn wenn jeder auf der Insel tot war, hätten wir doch ohnehin verloren, oder nicht?
Hand in Hand gingen wir die Stufen hinunter und auf die Treppe zu, die zur offenen Tür meines Zuhauses führte. »Hallo?« Mein Atem ließ kleine Wölkchen entstehen, als wir eintraten. »Ist hier jemand?«
Ich wischte Schnee von einer Lampe auf dem Tisch in der Diele, die seltsamerweise noch brannte, und versuchte, die Flamme hochzudrehen, was mir jedoch nicht gelang. Das Licht blieb statisch. Unverändert. Merkwürdig. »Hallo?«
Zaghaft gingen wir weiter ins Wohnzimmer, wo wir uns instinktiv dem Kamin näherten, in dem die aufgetürmten Kohlen noch kirschrot glommen. Sabine streckte die Hände aus und zog sie sofort zurück. »Das Feuer spendet keine Wärme«, stellte sie fest, bückte sich und pustete auf das verkohlte Holz in dem vergeblichen Versuch, die Flammen anzufachen. »Hier stimmt doch was nicht.« Sie griff mit einer behandschuhten Hand nach dem eisernen Schürhaken und schien erpicht zu sein, diese eine, im Angesicht der vielen anderen seltsamen Dinge, triviale Sache in Ordnung zu bringen. Derweil drehte ich mich um und rief abermals: »Hallo?«
Es kam keine Antwort. Um uns herum blieb es still.
»Und jetzt?«, schrie ich. »Wir sind hier. Und da Ihr mir Eure Freiheit verdankt, könntet Ihr ruhig etwas mehr Höflichkeit an den Tag legen.«
Ein unheimliches Kichern erfüllte den Raum, und ich stolperte gegen Sabine, als die Luft vor mir wie ein Stück Seidenstoff aufriss. Die Öffnung wurde immer breiter und enthüllte nach und nach einen Thron aus Eis, der an sich wenig bemerkenswert gewesen wäre, hätte es die zahllosen Augen in allen Größen und Farben nicht gegeben, die in seinen Tiefen eingefroren waren. Augen, die mich angesichts der blutigen Venen und der herabhängenden Gewebefetzen vermuten ließen, dass sie mit Gewalt herausgerissen worden waren. Zu beiden Seiten des Throns saßen zwei riesige wolfartige Kreaturen und bleckten die schwarzen Lippen, um ihre Fangzähne zu enthüllen, die so lang wie meine Hand sein mussten. Doch es war die Kreatur auf dem Thron, die ich entsetzt anstarrte.
Ich hatte sie schon einmal erblickt.
»Verdanken?« Beim Klang ihrer Stimme bekam ich Kopfschmerzen und presste mir eine behandschuhte Hand gegen die Schläfe, um den Druck zu mildern, was mir jedoch nicht gelang. »Ich erinnere mich nicht daran, eine Abmachung mit dir getroffen zu haben, Mensch. Ebenso wenig wie ich wüsste, dass du mir irgendwelche Gefallen getan hättest.«
»Vielleicht nicht«, gab ich nach und ließ die Hand sinken. »Aber Ihr habt von meinen Taten profitiert.« Vor mir saß die Frau – die Fee –, die ich in meinem Traum gesehen hatte. Die, die der Sommerkönig als seine Frau bezeichnet hatte; und nun entdeckte ich auch die Bindungsmale an ihrer Hand. Allerdings hatte sie in meinem Traum und in diesem Land des endlosen Sommers so … passiv gewirkt. Was auf die Frau vor mir nun wirklich nicht zutraf. Dies war die Winterkönigin.
»Habe ich das? Bist du dir da sicher?«
Ich zögerte. »Ihr seid hier, nicht wahr? Vor einem Tag wäre das noch nicht möglich gewesen.«
Sie zuckte elegant mit einer Schulter, wobei ihr langes schwarzes Haar auf ihr Kleid aus Nebel und Sternen fiel, die sich auf eine Art und Weise bewegten und verlagerten, dass mir beim Hinsehen ganz schwindlig wurde. »Erwarte keine Dankbarkeit von mir, Sterbliche. Ich bin durch zahllose Welten gewandelt; was macht da der Gewinn oder Verlust eines dreckigen Stücks Erde schon groß aus?«
Zuerst machte ich den Mund auf, um zu erwidern, dass es ihr offenbar so viel auszumachen schien, dass sie hier ihren eigenen Winterpalast errichtete, nur um die Lippen dann doch aufeinanderzupressen. Indem ich nicht richtig zugehört hatte, war ich bei den Trollen schon sehr häufig in die Zwickmühle geraten. Sie mochte zwar unsterblich sein, unterschied sich ansonsten allerdings nicht groß von ihnen. Es gab durchaus einen guten Grund, aus dem sie sich mit diesem »dreckigen Stück Erde« beschäftigte, und der interessierte mich sehr. »Sagt Ihr es mir.«
Sie lächelte und zog die blassrosafarbenen Lippen zurück, um ihre vielen Fangzähne zu präsentieren. Mein Herz setzte einen Schlag lang aus, und ich blinzelte. Schon waren die Fangzähne verschwunden und sahen wie die eines normalen Menschen aus. »Du möchtest mich um einen Gefallen bitten, Cécile de Troyes.« Sie tippte mit einem langen Fingernagel gegen ihren Thron, und ich schluckte schwer, als das Auge darunter sich bewegte und sie ansah.
Da fielen mir die Worte des Sommerkönigs wieder ein. Ein geleisteter Gefallen ist ein geschuldeter Gefallen … »Nein«, erwiderte ich. »Aber ich wäre zu einem Handel bereit.«
Sie kniff die grünen Augen zusammen. »Wie kommst du darauf, du könntest irgendetwas haben, das ich begehre?«
Ich musste an die gewaltigen Eismauern denken, die sich allein zu dem Zweck gebildet hatten, uns hierher und zu diesem Treffen zu führen. Diese Selbstdarstellung und Effekthascherei hatten uns ganz eindeutig einschüchtern und beeindrucken sollen. »Ich kann mir nicht vorstellen«, murmelte ich und knickste tief, »dass sich die Königin des ganzen Winters dazu herablassen würde, sich mit einer Sterblichen wie mir zu treffen, wenn es da nichts gäbe, das ich für sie tun könnte.«
Ihr Lachen erinnerte an zerschmetterndes Glas, und ich kämpfte gegen den Drang an, mir die Ohren zuzuhalten. »Vielleicht ist der Grund dafür ja nur, dass eine Unsterbliche wie ich«, bei diesen Worten ahmte sie meine Stimme perfekt nach, »sich schlichtweg schnell langweilt.«
Sie stand auf, und zwei geflügelte Kreaturen eilten über die Empore, um ihr die Hände zu reichen, als sie die Stufen hinunterging. Dabei fragte ich mich unwillkürlich, wer – oder was – sich sonst noch in ihrem eisigen Thronsaal aufhielt. Wie als Antwort auf meine Frage legten sich Klauenhände um den Riss zwischen unseren Welten und zogen die Ränder weiter auseinander.
»Außerdem«, sie blieb direkt vor dem Riss stehen, »bist du nicht bloß irgendeine Sterbliche, sondern eine, die an den Trollprinzen gebunden ist.« Sie legte den Kopf etwas schief und spähte durch die Öffnung. »Er ist nicht bei dir.«
Ihre Stimme blieb tonlos, nichts in ihrer Miene verriet mir, ob sie Tristans Abwesenheit für gut oder schlecht befand oder überhaupt als wichtig erachtete. Bevor ich auch nur blinzeln konnte, war sie in unsere Welt übergegangen. Wobei gegangen nicht das passende Wort war – in einem Moment war sie dort, im nächsten hier. Zwar hatte sie dort so fest gewirkt, wie Sabine und ich es waren, hier schien sie hingegen eher eine Art Nebel zu sein, der sich in der Gestalt einer Frau zusammenzog, jedoch die ganze Zeit waberte und sich veränderte. Als sie mir in die Augen sah, hatte ich den Eindruck, sie könnte bis in die Tiefen meiner Seele blicken und meine Erinnerungen wie ein Buch durchgehen. Tristan hatte mir erzählt, dass die Magie der Trolle durch das Eisen und ihre Sterblichkeit beeinflusst worden war und sich nicht einmal ansatzweise mit der ihrer unsterblichen Vorfahren vergleichen ließ. Doch er hatte mir nie verraten, was sie zu tun vermochten, und so langsam befürchtete ich, es könnte höchst unangenehm werden, das herauszufinden.
»Was willst du, Prinzessin?« Die Stimme der Königin klang spöttisch, was mich jedoch weitaus weniger besorgte als mein wachsender Verdacht, sie könnte irgendetwas mit mir vorhaben. Etwas, das mir nicht im Geringsten gefallen würde. Höchstwahrscheinlich würde sie irgendetwas verlangen, das ich ihr nicht geben wollte. Doch ich hatte schon zu viel riskiert, um nun wieder mit leeren Händen zu gehen.
»Ihr könnt alles sehen, was Ihr wollt?«, fragte ich. »Jeden noch dazu?«
»Was gibst du mir für diese Antwort?« Das Sofa war mit einer Eisschicht bedeckt, gab unter ihr jedoch nach, als wäre es mit Daunen gefüllt, als sie sich setzte.
Ich kaute auf der Unterlippe herum. »Nichts. Ich weiß längst, dass Ihr das könnt. Es ist in meinem Interesse zu sehen … und zu hören, was unser Feind vorhat. Was er plant. Wo er sich momentan befindet.«
Sie tippte mit einer Kralle – nein, einem Fingernagel – gegen einen Zahn. »Was gibst du mir als Gegenleistung?«
»Was wollt Ihr haben?«, konterte ich.
Sie schürzte die Lippen und fuhr mit einer Hand durch die Luft, als würde sie ein Orchester dirigieren. »Ein Lied.«
Ich blinzelte und staunte mehr über diese seltsame Bitte, als wenn sie mein Leben verlangt hätte. »Ein Lied?«
Sie hob einen Finger. »Dein Lieblingslied.«
Ich warf Sabine einen Seitenblick zu, die bislang geschwiegen hatte. Sie stand mit den Rücken zur Wand. Trotz der Kälte war jegliche Farbe aus ihren Wangen gewichen, und das Weiß ihrer Augen glänzte im Lampenlicht. Ohne den Blick von der Fee abzuwenden, schüttelte sie den Kopf.
Während ich mit dem Kiefer mahlte, wandte ich mich erneut der Königin zu. Lediglich ihr bloßer Anblick bereitete mir Kopfschmerzen – ich bemerkte erst eine Sache und dann eine völlig andere, ohne zu wissen, welche davon real war. »Wie könnte ich Euch denn ein Lied geben?«
»Stimm dem Handel zu. Sing das Lied. Dann gehört es mir.«
So einfach konnte es ja wohl kaum sein, aber mir wollte keine Konsequenz einfallen, die es wert war, dieses Angebot auszuschlagen. »Und wenn ich das tue, gebt Ihr mir, was ich verlange? Jetzt gleich«, fügte ich hinzu, da mir gerade noch einfiel, wie wichtig es war, präzise Angaben zu machen.
Sie lächelte, und Sabine gab ein ersticktes Geräusch von sich. »Ja.«
»Na gut«, erwiderte ich. »Dann bin ich einverstanden.«
Die Luft wurde noch kälter, sodass jeder unbedeckte Hautfleck brannte und meine Knochen schmerzten. Ich spürte die Last dieses Handels, die sich schwer auf mich herabsenkte. Zwar hatte ich es immerhin geschafft, dem Drang des Trollkönigs zu widerstehen, doch das war bei ihr völlig unmöglich. Ich war eine Feder und sie ein Orkan. Vermutlich hätte ich mir eher selbst das Herz herausgerissen, als ihrer Macht zu trotzen. Daher fing ich an zu singen.
Mein Lied war kein halbherziges Mittel zum Zweck. Die Ballade kam mir mit all der Leidenschaft, dem Herzschmerz und der Freude, die ich mit dem Text verband, über die Lippen. Es fühlte sich an, als würde jedes Wort, jede Note, mit einer scharfen Rasierklinge herausgeschnitten. Ich wollte weinen, schreien, mich zu Boden werfen und die Finger in den Schädel krallen, tat jedoch nichts davon, da mir dadurch nur etwas von dem genommen worden wäre, was sie mir schuldete. Als es vorbei war, kniff ich die Augen zu, fiel auf die Knie und war derart ausgelaugt, dass ich nichts weiter tun konnte, als zu atmen.
»Das war wunderschön.«
Die Stimme war zu nah. Als ich die Augen aufschlug, sah ich das Gesicht der Winterkönigin direkt vor meinem. Ihr Atem roch nach einer Mittwintersnacht, und ich wäre beinahe zurückgeschreckt.
»Wunderschön«, wiederholte sie und bewegte den Kopf vor und zurück, als würde sie meiner Stimme in ihrem Kopf lauschen. »Ein wahrer Schatz.«
»Ihr seid an der Reihe.« Meine Stimme drang heiser aus meiner schmerzenden Kehle.
»Aber natürlich.« Sie richtete sich auf und drehte sich um. Die nebelhafte Erscheinung ihres Kleides glitt gänzlich immateriell durch meine Arme. Dann trat sie vor einen Wandspiegel und riss mit einer sorglosen Bewegung einen Spalt in die Welt. »Komm her«, verlangte sie mit einem Blick über die Schulter. »Und erblicke deinen Feind.«
Ich erhob mich, ging mit zitternden Knien zu ihr und spähte durch die Öffnung.
Tristan
Zwei Dutzend Soldaten strömten durch die zertrümmerte Doppeltür, wobei sich die eine Hälfte sodann der Verteidigung des Erben und seiner Mutter widmete, während sich die andere der augenscheinlichen Gefahr zuwandte.
Mir.
Ich zuckte zusammen, als die Echos der Schüsse lautstark durch die Luft hallten, und gestattete es den Geschossen, in eine magische Wand einzudringen, damit sie nicht irgendwo abprallten und noch jemanden verletzten.
»Feuer einstellen!« Freds Schrei übertönte den Lärm, und die verwirrten Soldaten ließen langsam die Pistolen sinken.
»Er war es nicht.« Schlauerweise übernahm Marie die Kontrolle über diesen entscheidenden Moment, während sich Fred in vermeintlicher Trauer über den Regenten beugte. »Lachance hat meinen Gatten ermordet. Er war ein Verräter – ein Spion und Attentäter des Trollkönigs.« Ihre Stimme bebte, und echte Emotionen schwangen darin mit, als sie mit ihren rot gefleckten Händen an ihrem blutgetränkten Kleid zupfte. »Schafft mir die Leiche dieses Schufts aus den Augen.«
Drei Soldaten traten vor, um ihrer Bitte nachzukommen, aber einer näherte sich mir, streckte eine Hand aus und berührte eine der mehreren Dutzend Kugeln, die in der Luft schwebten. »Können das alle Trolle?«
»Mehr oder weniger.« Ich ließ die Magie fallen, und die Metallstücke landeten klappernd auf dem Boden.
Er hob die Hand, in der er noch immer die Pistole hielt, und starrte die Waffe an, um den Arm dann schlapp sinken zu lassen. »Wie sollen wir gegen eine solche Macht bestehen?«
»Das werde ich euch zeigen.« Auch wenn diese Zurschaustellung der Magie nicht geplant gewesen war, konnte sie die Menschen doch sehr gut auf das vorbereiten, was sie erwartete.
Daher ging ich an ihm vorbei zu Fred, der neben dem toten Regenten kniete. »Wir brauchen so viele Leute auf den Mauern, wie wir entbehren können, und Kundschafter auf dem Weg nach Trollus. Wähle eine Handvoll deiner besten Männer aus, und lass sie möglichst viele Informationen sammeln. Ich muss wissen, ob sich mein Vater bereits in Bewegung gesetzt hat.«
Fred nickte. »Ich werde Reiter losschicken.«
Ich schüttelte den Kopf. »Sag ihnen, dass sie zu Fuß aufbrechen müssen. Nur indem sie sich unauffällig verhalten, lässt sich ihre Sicherheit gewährleisten – jeder Troll, der etwas wert ist, kann ein Pferd im Dunkeln überholen.«
Fred riss die Augen auf, nickte dann aber und erhob sich. »Ich werde die Befehle erteilen.«
Bevor er gehen konnte, hielt ich ihn am Arm fest und raunte ihm zu: »Kannst du das denn tun?«
»Es sieht nicht so aus, als bliebe mir eine andere Wahl.« Sein Blick zuckte zu Marie, die erneut neben ihrem toten Gatten auf die Knie gefallen war und tränennasse Wangen hatte.
Ich konnte einfach nicht anders, als sie für die Geistesgegenwart zu bewundern, die sie im vermutlich schlimmsten Augenblick ihres Lebens bewiesen hatte. Der Plan meines Vaters, Aiden zum Mord am Regenten zu drängen, war gut, denn auf diese Weise würde er auf jeden Fall die Kontrolle erlangen. Entweder akzeptierte das Volk Aiden – der noch immer von meinem Vater kontrolliert wurde – als Herrscher, oder er würde für seine Tat gehängt, womit die Insel führerlos bliebe. Doch in diesem entscheidenden Moment hatte Marie die Pläne meines Vaters sabotiert. Nun würde das Volk wissen, dass der Trollkönig hinter dem Mord am geliebten Regenten steckte, und sich gegen ihn vereinen, um unseren Aiden-Hochstapler zu unterstützen. Um das zu erreichen, hatte sie nur einen Unschuldigen ermorden müssen.
Mein Blick wanderte zu der Blutlache, die von Lachances Leiche zurückgeblieben war, und danach zu der Illusionswand, hinter der sich der wahre Aiden verbarg. Allerdings glaubte ich nicht, dass Marie so gehandelt hatte, damit ich triumphieren konnte – sie wollte einzig und allein ihren Sohn retten. Ihm eine Chance auf eine Zukunft ermöglichen. Ich würde gut daran tun, das nie zu vergessen.
»Schick Wachen los, um Cécile und Sabine zu suchen«, bat ich. »Sorge dafür, dass sie in Sicherheit sind.«
Cécile hielt sich am anderen Ende des Schlosses auf, und ich nahm sie nur sehr schwach wahr, als würde sie schlafen. Was mir nur recht wäre – sie konnte die Ruhe definitiv gebrauchen. Angesichts der Gnadenlosigkeit, die Marie eben an den Tag gelegt hatte, musste ich Cécile jedoch auch vor der Gefahr warnen, in der sie schwebte. Marie wusste, wie wichtig Cécile war, und ich traute ihr durchaus zu, dass sie versuchen würde, Cécile als Druckmittel gegen mich einzusetzen.
Ich zuckte zusammen, als ich spürte, wie etwas mit solcher Gewalt gegen die magische Kuppel prallte, dass es keinesfalls ein Mensch gewesen sein konnte. Bevor ich dazu kam, Alarm zu schlagen, fühlte ich mehrere Beben. Ein Muster. Eines, das ich seit den Tagen der geheimen Treffen in der Unterstadt nicht mehr vernommen hatte.
»Weißt du, wo sie ist?« Freds Stimme riss mich aus meinen Gedanken und holte mich zurück in die Ratskammer. Ich konzentrierte mich auf Cécile.
»Am anderen Ende des Schlosses«, antwortete ich und zögerte dann. Sie schien noch weiter entfernt zu sein, wenngleich nur ein Stück. Wenn sie allerdings schlief, ergab das keinen Sinn. »Irgendetwas stimmt nicht«, sagte ich, bevor mir auf einmal schwindlig wurde und ich taumelte. Eine plötzliche Wachsamkeit zeitgleich gepaart mit Schmerz und Panik überkam mich.
»Felsen und Himmel, Cécile«, fluchte ich und richtete mich wieder auf. »Was hast du getan?«
Cécile
Roland saß kerzengerade auf einem Stuhl vor einer Staffelei in Angoulêmes Salon. Seine Miene wirkte sanfter als sonst, seine Wangen rundlich, und ein Lächeln umspielte seine Lippen, als er einen Pinsel in einen Klecks scharlachrote Farbe tauchte und sich daranmachte, sein Werk geschickt zu verbessern. Er war erstaunlich talentiert und hatte sein Motiv äußerst detailliert festgehalten. Bedauerlicherweise.