Blue Skies - T.C. Boyle - E-Book
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Blue Skies E-Book

T. C. Boyle

4,5

Beschreibung

Was passiert, wenn die Natur zurückbeißt? – Der neue Roman von T.C. Boyle

Der Countdown zur Apokalypse läuft: Kalifornien geht in Flammen auf, Überschwemmungen bedrohen Florida. „Der Planet stirbt, siehst du das nicht?", wirft Cooper seiner Mutter vor, die ihre Küche gehorsam auf frittierte Heuschrecken umstellt. Heftige Diskussionen gibt es auch mit Schwester Cat. Sie hat sich als Haustier einen Tigerpython namens Willie angeschafft, die sie sich wie ein glitzerndes Juwel um die Schultern hängt. Die Frage nach dem Verhältnis zur Umwelt geht wie ein Riss durch die Familie, bis eines Nachts Willie aus dem Terrarium verschwindet. Mit „Blue Skies“ hat T.C. Boyle den ultimativen Roman über den Alltag in unseren Zeiten geschrieben. Unheimlich, witzig und prophetisch.

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Das ist das Cover des Buches »Blue Skies« von T.C. Boyle

Über das Buch

Was passiert, wenn die Natur zurückbeißt? — Der neue Roman von T.C. BoyleDer Countdown zur Apokalypse läuft: Kalifornien geht in Flammen auf, Überschwemmungen bedrohen Florida. »Der Planet stirbt, siehst du das nicht?", wirft Cooper seiner Mutter vor, die ihre Küche gehorsam auf frittierte Heuschrecken umstellt. Heftige Diskussionen gibt es auch mit Schwester Cat. Sie hat sich als Haustier einen Tigerpython namens Willie angeschafft, die sie sich wie ein glitzerndes Juwel um die Schultern hängt. Die Frage nach dem Verhältnis zur Umwelt geht wie ein Riss durch die Familie, bis eines Nachts Willie aus dem Terrarium verschwindet. Mit »Blue Skies« hat T.C. Boyle den ultimativen Roman über den Alltag in unseren Zeiten geschrieben. Unheimlich, witzig und prophetisch.

T. Coraghessan Boyle

Blue Skies

Roman

Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren

Hanser

Für Marie Alex und Griff Stevens

Blue Skies

Smiling at me,

Nothing but blue skies

Do I see.

Irving Berlin

TEIL I

1

SIE WAREN WIE SCHMUCK

SIE WAREN wie Schmuck, wie ein lebendiger Schmuck, und sie stellte sich vor, wie sie sich eine um die Schultern legen und vor Bobo oder dem Cornerstone an einem Tisch auf dem Bürgersteig sitzen würde, und Leute würden vorbeigehen und so tun, als würden sie sie nicht bemerken. Es wäre ein Statement, so viel war sicher. Sie würde ein Tube-Top tragen, das einen schönen Kontrast zu ihrer nackten Haut bildete — in Schwarz, auf jeden Fall in Schwarz, und dazu eine schwarze Jeans und vielleicht ihren Fedora —, und sie würde einfach ihr Glas oder Todd ansehen, als wäre alles ganz normal. Und er würde mitspielen, da war sie ganz sicher — sie waren jetzt in dieser Phase ihrer Beziehung: Er hatte ihr einen Ring geschenkt, sie waren zusammengezogen, und sie konnte praktisch alles haben, was sie wollte.

Außer einem Baby. Soll das ein Witz sein oder was? Ich bin nicht mal annähernd so weit, dass ich bereit dazu wäre. Mal ganz abgesehen davon, was das kostet, Herrgott. Nicht mal einen Hund oder auch nur eine Katze wollte er ihr erlauben. Er war allergisch. Haare. Hautschuppen. Flöhe. Hatte sie eigentlich eine Vorstellung davon, wie viel seine Eltern für Inhalatoren und Spritzen und den ganzen Rest hatten ausgeben müssen, als er ein Kind gewesen war? Nein, hatte sie nicht. Und im Moment war es ihr auch vollkommen egal. So was nannte man Impulskauf: Kaum war sie eingetreten und hatte sie schimmernd in ihren Plexiglasterrarien liegen sehen, da hatte sie gewusst, dass sie unbedingt eine haben wollte.

Der Laden hieß Herps und lag am Rand des Einkaufsviertels, wo die Schnellimbisse waren und die Autowerkstatt und ein paar haitianische und kubanische Klitschen. Sie hätte ihn gar nicht bemerkt, geschweige denn betreten, wenn sie sich nicht so gelangweilt hätte. Todd ließ gerade den Wagen durchsehen und auf Hochglanz bringen, aber er konnte das Ding nicht einfach abliefern und darauf vertrauen, dass die Leute schon wussten, was zu tun war — nein, er musste ihnen über die Schulter sehen, während sie sich mit Poliertüchern und Zahnbürsten und Versiegelungen darüber hermachten. Es sollte alles schön gründlich sein. So war er eben, ein Perfektionist, und er sagte gern, dass sie gut zusammenpassten, denn sie sei eine Unperfektionistin. Was vielleicht ein bisschen passiv-aggressiv, aber eigentlich nicht so weit von der Wahrheit entfernt war. Gegensätze zogen sich an — war das nicht geradezu biologisch vorgegeben?

Sie war auf der Suche nach einer Bar, denn sie fand, ein Mojito würde ihren Nachmittag vielleicht ein bisschen aufhellen, da fiel ihr Blick auf die Schlange im Schaufenster: Dick wie ein Lastwagenreifen lag sie ausgestreckt auf einem diagonal aufragenden künstlichen Ast. Sie war schokoladenbraun und mit einem goldenen Geflecht überzogen, das wie ein Muster in einem Katalog aussah. Ihre Augen waren kalte, harte Perlen, ihre Zunge schnellte vor und zurück. Vor allem aber war sie auf eine Weise präsent, wie die meisten anderen Dinge auf dieser Welt es mit Sicherheit nicht waren. Sie starrte die Schlange für einen langen Augenblick an und fiel in eine Art Trance, bis die Reflexion eines hinter ihr vorbeifahrenden Wagens sie zurückholte. Natürlich hatte sie schon mal Schlangen gesehen — im Zoo, in Dokumentarfilmen oder plattgefahren auf dem Asphalt irgendwelcher Landstraßen —, doch erst jetzt sah sie sie wirklich, erst jetzt, da Abstraktion und Wirklichkeit zu einer Idee verschmolzen, zu einem Wunsch, einem Bedürfnis, so dringend, dass es ihr die Kehle zuschnürte. Sie kramte die Mineralwasserflasche aus ihrer Handtasche, trank einen großen lauwarmen Schluck, wandte sich zur Tür und trat in den Laden.

Er war trübe beleuchtet, alles Licht kam von den Terrarien, die an den Wänden und auf niedrigen Tischen mitten im Raum gestapelt waren. In manchen waren Eidechsen, Frösche oder Schildkröten, doch die meisten enthielten Schlangen, die reglos dalagen wie Tuchballen in einem Stoffgeschäft. Ein zarter, trockener Geruch lag in der Luft, ein Geruch nach Stoffwechsel, und sie dachte daran, dass Schlangen ihren Unterkiefer aushakten, wenn sie ihre Beute verschlangen — meist Mäuse oder Ratten, nicht? Die größeren bekamen vielleicht Kaninchen. Und was wurde aus denen? Wahrscheinlich Scheiße. Schlangenscheiße, und wie sah die wohl aus? War es das, was sie hier roch? Eigentlich müssten sie ja auch pinkeln, aber hatte sie nicht irgendwo gelesen, dass Schlangen den größten Teil ihrer Körpersäfte resorbierten? Vielleicht hatte Cooper es ihr mal erzählt, ihr Bruder, der Biologe, der alles wusste.

Die Schlangen rührten sich kaum, nur eine, genau vor ihr, reckte den Kopf in Zeitlupe zum durchsichtigen Plastikdeckel des Terrariums, so gelassen und gemächlich, als wäre sie betäubt. Eine Schlange in einem Kasten, und sie konnte nirgendwohin — der Kasten war alles, der Kasten war die Welt. Das fand Cat irgendwie traurig. Sollten diese Tiere nicht viel mehr Platz haben — ein Terrarium, wo sie sich in voller Länge ausstrecken konnten, mit Steinen und Erde oder wenigstens Sand? Das mochten Schlangen doch, oder? Oder galt das nur für Wüstenschlangen? Das Wort Sidewinder schoss ihr durch den Kopf, zusammen mit einer kurzen Sequenz aus einem Dokumentarfilm: eine braune Schlange, die sich durch eine kahle Landschaft schlängelte, eine zielgerichtete Maschine. Aber die hier, die Schlange direkt vor ihr, war schön, sie waren allesamt schön. Als hätte jemand den Pinsel in Acrylfarbe getaucht und Linien gezeichnet, die in den Winkeln des Mauls mit einem V begannen und sich auf dem Rücken und an den Seiten zu einem Netzmuster verflochten. Sie ging jetzt von einem Terrarium zum nächsten und schaute hinein, sichtete das Angebot, als plötzlich aus einer Tür im hinteren Teil, die sie bis dahin gar nicht bemerkt hatte, ein Mann auftauchte, und ihr wurde bewusst, dass er sie bestimmt auf dem Bildschirm der Überwachungskamera beobachtet hatte, vielleicht hingefläzt in einem dieser ergonomischen Bürosessel, die man in eine beinahe liegende Position kippen konnte, denn es gab ja keinen Grund, warum er zur Mittagszeit in einem Laden ohne Kunden herumstehen sollte.

»Suchen Sie was Bestimmtes?«

Er lehnte sich lässig an einen hüfthohen Tisch mit ein paar Terrarien. Sein Gesicht wurde von unten beleuchtet und sah aus wie eine Halloweenmaske, das Licht schien in seine Nasenlöcher und ließ die Nase spitzer wirken. Er war etwa so alt wie sie selbst, vielleicht ein, zwei Jahre älter, und nicht stämmig oder dick, sondern bloß unförmig wie so viele Männer seiner Generation, die jeden Tag zwanghaft und stundenlang Videospiele spielten und zu denen Todd Gott sei Dank nicht gehörte.

»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Erzählen Sie mir was über sie. Ich meine, sie sind fantastisch. Und die Zahlen an der Seite sind die Preise?«

»Ja, genau. Aber wenn Ihnen eine besonders gefällt, lässt sich über den Preis reden. Ich züchte sie, müssen Sie wissen. Meine Leidenschaft.«

»Die da zum Beispiel«, sagte sie und beugte sich zu dem Terrarium vor ihr, in dem eine vollkommen reglose, ins Nichts starrende, milchig bleiche Schlange lag, einen halben Meter lang und mit klar umrissenen zitronengelben Streifen geschmückt. »Was ist mit der da?«

»Das ist eine amelanotische Form. Eine Königspython-Hybride.« Er machte eine ausladende Geste. »Das sind alles Königspython-Hybriden. Ich bin gerade von der Repticon in Kissimmee zurück — Sie wissen schon, die große Reptilienausstellung.«

Sie nickte, hatte aber keine Ahnung, wovon er da redete. Er versuchte, ihr etwas zu verkaufen, und sie war bereit, es zu kaufen. Das hier war nur die Einleitung. Dass sie ihm zuhörte, war Bestandteil des Preises.

»Ich hab sie gerade erst ausgelegt, sogar meine selteneren Hybriden, nur für den Fall, dass mal jemand reinschaut. Die wirklich erstklassigen nehme ich mit nach Hause, wenn ich um sieben zumache, aber ich bin natürlich Geschäftsmann, und das meiste von dem, was Sie hier sehen, ist zu verkaufen.«

»Sieht gut aus«, sagte sie und zeigte dann auf eine andere, dunkelrot wie getrocknetes Blut, mit einem schwarzen Netzmuster, das aussah wie ein Top von Anthropologie. »Und die da auch. Aber so richtig ins Auge gestochen ist mir die im Schaufenster, nur dass sie zu groß ist. Haben Sie vielleicht so eine? Ich meine, mit diesem Muster, aber nicht größer als die hier?«

»Ja, ich hab ein paar, auch wenn die meisten Leute Königspythons wollen. Die sind jetzt schwer in Mode.« Sie folgte ihm durch den Raum zu einem anderen Tisch, auf dem vier Terrarien mit Schlangen standen, die genauso aussahen wie die im Schaufenster, nur kleiner, viel kleiner, zehn- oder vielleicht sogar zwanzigmal kleiner. Sie waren irgendwie … süß, sofern man das von einer Schlange sagen konnte. Eigenständig, geschmeidig, lebendig — ihr fiel das richtige Wort nicht ein, aber in dieser Größe waren sie genau richtig. Hübsch, wie ihre Mutter gesagt hätte. »Sind das Babys?«

»Mehr oder weniger. Das sind Tiger — Dunkle Tigerpythons. Vor ein paar Jahren waren sie für eine Weile verboten, wegen den Problemen in den Everglades.«

»Da sind welche ausgebrochen, oder? Ich glaube, ich hab mal was darüber gelesen.«

»Manche Leute sind einfach total verantwortungslos — denken Sie bloß mal an die Tausende Hunde und Katzen, die jedes Jahr in den Tierheimen eingeschläfert werden müssen. Aber wir haben erfolgreich gegen das Verbot geklagt. Das Recht, eine Schlange zu halten, ist ein durch die Verfassung geschütztes Grundrecht. Sie wissen schon: Leben, Freiheit und Glück. Und nichts macht einen glücklicher, als eine Schlange zu haben. Die Anolis und Agamen und so sind zwar auch nicht schlecht, besonders für Kinder, aber so eine Schlange … Sie werden sehen, das ist schon was Besonderes.« Er hielt inne. Um den Hals hatte er ein gepunktetes Taschentuch gebunden, vermutlich, um den Schweiß aufzusaugen. Draußen war es heiß, hier drinnen war es noch heißer. Er löste den Knoten des Tuchs, schlug es zwei-, dreimal an den Oberschenkel, als würde das irgendwas nützen, und steckte es in die Tasche. »Ihr erstes Mal, stimmt’s?«

»Ist das so offensichtlich?«

»Nein, nein, es ist eher aufregend«, sagte er. »Willkommen im Klub. Und mir gefallen die Tiger auch, verstehen Sie mich nicht falsch — das sind tolle Haustiere, aber sie werden ganz schön groß.« Er sah sie jetzt unverwandt an und spulte sein Verkaufsgespräch ab, und sie fragte sich, ob die eigenartige Beleuchtung ihr Gesicht ebenso flach erscheinen ließ wie seins, was natürlich der Fall sein musste, und das verstärkte diese Atmosphäre der Intimität und Initiation, denn das hier war cool, sehr, sehr cool: An einem Tag, der so gewöhnlich war wie die beiden pochierten Eier auf Toast, die sie im Diner gegessen hatte, bevor sie den Wagen in die Werkstatt gebracht hatten, eröffnete sich ihr eine ganz neue Welt.

»Und wie unterscheiden sie sich? Wenn ich einen von diesen vier Burschen hier nehme — die sind alle gleich, oder? Ich meine, ist einer gesünder als die anderen oder sonst irgendwie anders? Welchen würden Sie nehmen?«

»Suchen Sie sich einen aus. Sie sind alle von derselben Mutter.«

Sie stutzte. »Sie meinen, von der im Schaufenster?«

»Wie gesagt: Sie werden ganz schön groß. Sie werden ihn sein ganzes Leben lang haben — und das werden Sie auch wollen, das verspreche ich Ihnen, denn das ist ein echter Trip, und Sie werden eine echte Beziehung entwickeln —, aber da reden wir von zwanzig bis fünfundzwanzig Jahren. Dieses Kerlchen hier« — er tippte mit dem Finger an die Scheibe das Terrariums neben ihm — »könnte fünfeinhalb bis sechs Meter lang werden. Der Durchschnitt liegt allerdings bei dreieinhalb bis vier Metern.« Er sah sie an. Aus irgendeinem Grund hatte sie plötzlich den Mojito vor Augen, nach dem sie ursprünglich gesucht hatte, das verlockend beschlagene Glas. Sie spürte den Schweiß auf der Kopfhaut. Ihre Kehle war ausgetrocknet. Die Shorts klebte an ihrer Haut, als würde sie einen langsamen Tanz mit einem unsichtbaren Partner tanzen. »Die Königspythons sind kleiner«, sagte er, »und das ist, ehrlich gesagt, auch der Grund, warum sie beliebter sind. Wie auch die echt coolen Hybriden, die man gezüchtet hat.«

Todd würde überrascht sein. Er würde lächeln und sagen: »Cool«, aber innerlich würde er dagegen sein. Oder vielleicht auch nicht — vielleicht würde er zusammen mit ihr darauf einsteigen, und sie würde ihm ebenfalls eine kaufen, die er dann tragen könnte, wenn sie ausgingen, um ein bisschen anzugeben, und warum auch nicht? Warum nicht mal anders sein? Zum Leben gehörte doch noch mehr als Arbeit und geliefertes Essen und Netflix und auf der Veranda sitzen und zusehen, wie die Flut den Strand abtrug, als wäre man schon jetzt hundert Jahre alt. Aber sie griff zu weit vor. Und eigentlich brauchte Todd keine Aufmerksamkeit — die bekam er ja schon in seinem Job. Sie zeigte auf das Terrarium vor ihr. »Und die Zahl auf der Scheibe ist der Preis? Dreihundertfünfzig?« Der Python schien zu ihr aufzusehen, doch seine Augen waren so dunkel, dass sie nicht sicher war.

»Ja. Und die hier sind ein Schnäppchen. Im Vergleich zu den Königspythons.«

»Und Sie würden noch ein bisschen runtergehen?«

»Sagen wir: dreihundert.«

DRINNEN WAR es wahrscheinlich noch wärmer als draußen, aber wenigstens war man nicht in der Sonne, die in dem Augenblick, als Cat, beschwingt von ihrem Einkauf, hinaustrat, unsichtbare Wände um sie errichtete. Es war Herbst, Hurrikan-Saison, und obwohl sie Todd und Florida liebte, fehlte ihr Kalifornien an Tagen wie diesen, wenn man sich in eine schweißproduzierende Maschine verwandelte und die Luft so feucht und drückend war, dass es einem vorkam, als würde man sich in einem schultertiefen Fluss bewegen. Ihre Beine wurden schwer. Das T-Shirt klebte am Rücken, und die BH-Träger fühlten sich an wie nasses Rohleder. Mojito, murmelte sie und wiederholte es ein paarmal — Mojito, Mojito, Mojito —, als gehörte es zu einem Spiel, und dann lachte sie in sich hinein, während sich die Wagen auf der Straße durch das gleißende Licht schoben, einer nach dem anderen, mit geschlossenen Fenstern und aufgedrehten Klimaanlagen

Moment mal — war da drüben eine Bar? Tatsächlich. Sie hieß Cora’s: eine Neonreklame, eine Doppeltür, eingerahmt von Fenstern mit Markisen, davor keine Tische, bloß schmutziger, mit Kaugummiflecken besprenkelter Bürgersteig. In einer der zerrupften Palmen, die rechts und links der Straße auf verlorenem Posten standen, kreischte ein Sittich. Und da war ein Flugzeug und hing am Himmel, dick wie ein Zeppelin, im Anflug auf den Flughafen. Sie ging nicht gern allein in eine fremde Bar, wo irgendwelche Kerle — alte Kerle! — herumsaßen, die sie womöglich anmachen wollten, und wie die einen schon ansahen — aber hier handelte es sich um einen Notfall. Und sie hatte etwas zu feiern. Sie würde einen Mojito trinken und dann Todd anrufen und ihm sagen, dass sie eine Überraschung für ihn hatte, und wenn er noch nicht fertig und es dort drinnen erträglich war — im Grunde brauchte sie jetzt vor allem eine Klimaanlage —, würde sie vielleicht noch einen trinken.

Die Schlange war in einem Stoffbeutel mit dem Aufdruck des Ladens, als wäre sie irgendein Einkauf. Man konnte sie nicht in eine Plastiktüte stecken, denn dann wäre sie erstickt, wie der Verkäufer — R. J. — ihr erklärt hatte, obwohl das ja eigentlich auf der Hand lag. Er hatte ihr auch ein Terrarium verkauft, vierhundert Liter, was ihr viel vorkam, bis sie an die Mutter im Schaufenster dachte, und außerdem hatte sie drei Säcke Streu aus Espenrinde und Kokosnussschalen und ein Dutzend tiefgefrorene Mäuse gekauft (Flauschies, im Gegensatz zu Pinkies, wie die Neugeborenen ohne Fell hießen — auch etwas, das sie heute gelernt hatte), und das alles würden Todd und sie auf dem Heimweg abholen. Das war also geregelt, und sie dachte schon darüber nach, wo sie das Terrarium aufstellen würde: im Wohnzimmer neben dem Fernseher, wo es gleich ins Auge fiel, oder vielleicht lieber im Schlafzimmer, wo es das Erste war, was sie sah, wenn sie morgens die Augen aufschlug, abgesehen von Todd natürlich. Aber Todd schimmerte nicht. Er wand sich nicht. Außer wenn sie miteinander schliefen — und in diesem Augenblick musste sie laut lachen, denn plötzlich war ihr ein Name für die Schlange eingefallen: Willie. Wenn man sie danach fragte — und das würde man —, würde sie große Augen machen und sagen: Das ist ein privater Witz.

R. J. hatte ihr angeboten, sie könne die Schlange später abholen, doch sie hatte den Kopf geschüttelt. Sie wollte den Kitzel genießen, sie mit sich herumzutragen wie irgendeinen normalen Gegenstand, den sie gekauft hatte, und obwohl das Tier kaum mehr wog als eine Dose Tomaten, gefiel es ihr, das kompakte Gewicht in dem Beutel an ihrem rechten Handgelenk zu spüren, während sie überlegte, ob sie die Straße gleich hier überqueren oder bis zur Ampel gehen sollte … aber Herrgott, es war heiß. Was Willie wahrscheinlich ganz schön fand, sie aber nicht. Sie sah nach rechts und links, wartete auf eine Lücke im Verkehr, ging dann mit raschen, hüpfenden Schritten über die Straße, öffnete die Tür der Bar und ging hinein.

Der Laden gefiel ihr sofort, hauptsächlich, weil er praktisch leer war bis auf die Barfrau — die mittleren Alters war, Korallenohrringe trug, ein typisch nordeuropäisches Gesicht hatte, das eigentlich nicht viel anders aussah als das von Cats Mutter, und sich als niemand anderes als Cora erwies — und ein Paar, ebenfalls in mittleren Jahren, das an der Theke Taquitos aß. Alle begrüßten sie mit einem Nicken, als wäre sie in den vergangenen sechs Jahren jeden Nachmittag um zwei hier hereingeschneit. Was ihr das Gefühl gab, heute sei ihr Glückstag, als sie zur Theke ging und sich, um dem Pärchen nicht zu sehr auf den Leib zu rücken, in einiger Entfernung von den beiden setzte und darauf wartete, dass die Barfrau ihr die Frage stellte, auf die sie seit fast einer Stunde eine Antwort hatte. Die Musik war unaufdringlich — Jazz oder so —, die Klimaanlage sorgte für eine geradezu arktische Temperatur, und im Regal hinter der Theke waren die üblichen Flaschen aufgereiht, darunter, wie sie sogleich feststellte, auch eine mit Flor de Caña, dem ihrer Meinung nach einzigen weißen Rum, der diesen Namen verdiente. Jedenfalls, wenn es um Mojitos ging.

Sie hatte bereits das halbe Glas hinuntergestürzt, als sie merkte, was sie da tat — sie war aber auch so durstig. Also bestellte sie noch ein Glas Eiswasser, und dann holte sie ihr Handy hervor, um Todd anzurufen.

»Hallo«, sagte er nach dem ersten Läuten.

»Bist du schon fertig?«

»Ich weiß nicht, Cat — es dauert vielleicht noch eine halbe Stunde. Alles okay? Wo bist du?«

»In einer Bar.«

»In einer Bar? Ist es dafür nicht noch ein bisschen früh?«

»Ich hab eine Überraschung für dich.«

»Ach ja? Eine von den Überraschungen, bei denen du ein paar hundert Dollar gespart hast, weil das Kleid, das du gekauft hast, runtergesetzt war? Die Art von Überraschung?«

»Nein. Es ist was für uns beide.«

Sie hörte Geräusche im Hintergrund, das übliche Hämmern und Klopfen, Männerstimmen, Rock-Oldies, die von den Wänden widerhallten, und dachte, er würde noch etwas sagen, einen weiteren bissigen Kommentar abgeben oder wenigstens fragen, was es denn war, doch das tat er nicht, und so sagte sie nur: »Ruf mich an, wenn du fertig bist.«

MIT DEM zweiten Glas ließ sie sich Zeit. Sie spielte mit dem Handy und fischte hin und wieder eine Nuss aus der verschmierten Glasschale auf dem Tresen vor ihr. Im Fernseher lief ein Fußballspiel. Nicht dass es ihr irgendwas bedeutet hätte — es war einfach da, wie immer, wie in jeder Bar, die es gab, und hämmerte einem den ganzen Tag Bilder ins Gehirn. Und nachts ebenfalls. Irgendwo auf der Welt wurde auch nachts Fußball gespielt, und selbstverständlich gab es Wiederholungen für diejenigen, die den ganzen Spaß beim ersten Mal verpasst hatten: zweiundzwanzig Männer in kurzen Hosen, die auf einem Spielfeld, so grün wie Crème de Menthe, ununterbrochen einem Ball hinterherrannten. Sie hasste Crème de Menthe. Wie konnte man so was nur trinken? Oder Chartreuse? Oder Pernod? Oder, schlimmer noch: Wie konnte man so was trinken und sich dabei ein Fußballspiel ansehen?

Sie hatte die Handtasche über die Lehne des Barhockers gehängt, doch den Beutel behielt sie auf dem Schoß, wo sie das Gewicht spüren und dem kleinen Willie etwas von ihrer Körperwärme abgeben konnte für den Fall, dass ihm die Klimaanlage zu viel wurde, wobei sie allerdings gar nicht wusste, was zu viel war, denn das alles war neu für sie.

Bei diesem Gedanken wurde sie ungeduldig. Sie wollte nach Hause, sie wollte ihn sehen, ihn bewundern, mit ihm spielen — oder ihn wenigstens halten, um eine Beziehung aufzubauen, denn das war, unterstützt durch Futtergaben, der erste Schritt. Schlangen konnten einen Menschen nicht so lieben wie Hunde oder Katzen — ihre Gehirne waren zu primitiv für höhere Emotionen —, aber R. J. hatte ihr versichert, dass Willie sie definitiv erkennen und ihr im Lauf der Zeit wenn schon nicht mit Liebe, so doch mit Gelassenheit begegnen würde. Mehr solle man allerdings nicht erwarten. »Kann ich mit ihm in die Öffentlichkeit gehen?«, hatte sie ihn gefragt. »Ich meine, ihn mir um die Schultern legen, wie man es manchmal in der Werbung sieht? Oder wie diese Frau, die ich in South Beach gesehen habe — ich glaube, sie war ein Model, und sie hatte sich eine Schlange umgelegt. Es war, ich weiß nicht, ein ziemlicher Hingucker.«

R. J. hatte die Schultern gezuckt. »Eigentlich können sie sich an alles gewöhnen.«

Und jetzt, weil Todd nicht da war und auch nicht anrief und weil sie ebenso aufgeregt wie gelangweilt und vielleicht ein kleines bisschen betrunken war, löste sie die Schnur an dem Beutel und beugte sich hinunter, um einen Blick hineinzuwerfen und ihren Einkauf zu bewundern. Willie lag zusammengeringelt da und sah sie ganz ruhig und vollkommen gleichgültig an. Wenn ihm kalt war, so merkte sie nichts davon, doch im selben Augenblick wurde ihr bewusst, dass sie keine Ahnung hatte, woran sie es denn hätte merken können. Was sollte er tun — zittern?

Als sie aufblickte, stand Cora direkt vor ihr und beugte sich über den Tresen, um zu sehen, was Cat auf dem Schoß hatte. »Herps? Sagen Sie bloß, Sie haben sich eine Schlange gekauft. Bei R. J.?«

Sie nickte. Die beiden an der Theke — motorbootgebräunt, das Haar in exakt demselben verwaschenen Rostbraun gefärbt, als hätten sie sich eine Packung Nice’n Easy geteilt — wandten den Kopf.

»Ich hab auch zwei. Königspythons. Mojave Mystics. Kennen Sie Mystics?«

Cat spürte einen heimlichen Kick. Sie hatte eine Schlange in einem Beutel und hatte sie noch nicht einmal hergezeigt, und doch spürte sie schon die Kraft, die von ihr ausging. »Nein, tut mir leid«, sagte sie. »Das hier ist … meine erste.«

Dieses Eingeständnis ließ die Kraft gleich wieder verschwinden, doch Cora schien es nicht zu stören. Sie hatte eine Tonne Lippenstift aufgelegt, und ihr Grinsen war empathisch. »Na los, nicht so schüchtern, lassen Sie doch mal sehen.«

»Sie meinen hier?«

»Wo denn sonst? Ich bin eine absolute Schlangenliebhaberin, und Lois und Larry lieben alles, stimmt’s, Lo? Jedenfalls nach dem zweiten Drink.« Das kakelnde Lachen der beiden endete damit, dass Lois in ihre Faust hustete. Im Fernseher rannten die Männer hinter dem Ball her. »Kommen Sie, kommen Sie«, drängte Cora, »nun holen Sie sie schon raus, wir wollen sie auch mal sehen.«

Die Drinks, verstärkt durch den Flüssigkeitsmangel, machten sich bemerkbar, doch sie war noch nicht so weit, dass sie einfach die Hand in einen Beutel gesteckt hätte, in dem sich eine lebende Schlange befand. »Sind Sie sicher?«

»Wenn es ein junger Python ist, wird er Sie nicht beißen, glauben Sie mir. Bei einer Gabunviper wäre es was anderes, aber ich weiß, dass R. J. nichts anfasst, was Giftzähne hat.« Sie sah zu dem Paar. »Das ist ja schon mal was.«

Weiteres Gelächter. Es war schön. Es war gesellig. Es war genau das, was sie wollte. Sie öffnete den Beutel, schob die Hand hinein und wusste nicht, was sie erwartete — immerhin konnten Pythons beißen, auch wenn ihre Zähne eher zum Festhalten geeignet und nach hinten gekrümmt waren, damit sie ihre Pinkies und Flauschies oder was auch immer besser verschlingen konnten, hatte R. J. gesagt. Was sie spürte — der Körper, der lebendige Körper der Schlange —, war so glatt und geschmeidig wie Leder, nicht anders als das Täschchen aus Schlangenleder, das sie zu Hause hatte (»Dieses kleine, aber äußerst wirksame Accessoire kann jeden Look in Sekunden von null auf hundert bringen«). Im nächsten Augenblick wand dieser Körper sich um ihr Handgelenk und dann um ihren Unterarm, und als sie die Hand aus dem Beutel zog, kam mit ihr die Schlange zum Vorschein, als wäre sie eine Erweiterung von Cats Körper. Ihr Kopf schob sich pendelnd voran, so dass Cat die andere Hand zu Hilfe nehmen musste, während Willie sich hin und her wiegte und züngelte und sich wiegte und voranschob und versuchte, eine Leiter zu erklimmen, die nur er sehen konnte.

»Hoh!«, sagte Lois, hob die Füße vom Boden und hakte die Absätze ihrer Schuhe hinter die Fußstütze ihres Hockers. »Sie wollen das Ding doch wohl nicht auf uns loslassen, oder?«

Der Jazz, oder was da im Hintergrund lief, schien seinen Rhythmus an Willies Bewegungen anzupassen, und als sie ihre Hand zu einem Trichter machte, schob er sich hindurch und dann durch den Trichter der anderen Hand und wieder zurück. Sie fühlte sich, als würde sie jonglieren, sie fühlte sich verbunden, sie war verzückt, es war, als wäre sie ihr ganzes Leben auf diesen Augenblick vorbereitet worden, und ja, sie überließ sich dem Fluss seiner Bewegungen. Buchstäblich.

Cora sagte: »Er ist schön. Tolles Muster. Aber das ist kein Königspython, oder?«

»Nein, ein Tigerpython«, sagte sie, und da war er wieder, der Kick, gewaltig verstärkt. Von nun an würde sie dies und alles, was dazugehörte, jedem erklären, wo auch immer sie war — was für ein Supergesprächsthema …

»Die werden wirklich riesig, das wissen Sie, oder? Hat R. J. Ihnen das erklärt?«

Sie grinste. »Je größer, desto besser, stimmt’s?« In Wirklichkeit konnte sie sich eigentlich nicht vorstellen, dass dieses kleine Ding, nicht dicker als eine Bratwurst und kaum einen halben Meter lang, so groß wie der Lastwagenreifen im Schaufenster des Ladens gegenüber werden könnte, aber so war das Leben, nicht? Darauf lief es doch hinaus. Sie selbst hatte, als sie herangewachsen war, große Ähnlichkeit mit ihrer Mutter bekommen, jedenfalls so viel, dass alle immer gedacht hatten, sie wären Schwestern, was für ihre Mutter sicher schmeichelhaft, für sie als Teenager aber das reinste Gift gewesen war. Aber hier war Willie und bestickte mit der beharrlichen Nadel seines Kopfs die Luft, und nun wollte er auf die Theke, und weil sie nicht wusste, was sie tun sollte, ließ sie ihn. Im nächsten Moment schlängelte er sich an Coras Arm hinauf, und Cora sagte: »Ja, er ist wirklich eine coole Schlange, absolut, und ich will Ihnen nicht den Spaß verderben oder so, aber ich an Ihrer Stelle hätte einen Königspython genommen.«

Danach wurde Willie noch etwa sechzig Sekunden lang bewundert und bestaunt, bevor Cora ihn ihr zurückgab und sie ihn durch den Trichter ihrer Hand wieder in den Beutel gleiten ließ und noch einen Mojito bestellte, der, wie Cora sagte, aufs Haus ging.

SIE NIPPTE an ihrem Drink, spielte mit dem Handy und rief Todd dreimal an — erfolglos, denn er nahm nicht ab. Gerade schlürfte sie den Rest, fischte mit der Zunge nach zerrissenen Minzblättern und wollte gerade anfangen, sich zu ärgern, als Todd endlich erschien. In der Zwischenzeit waren zwei jüngere Typen mit Marlins-Caps in einem plötzlichen Aufblitzen von Tageslicht hereingekommen und hatten sich wortlos ans andere Ende der Theke gesetzt. Sie hatten keineswegs versucht, sie anzumachen, sie hatten sie nicht mal angesehen. Was sie natürlich ganz in Ordnung, angesichts ihres derzeitigen Gemütszustands aber irgendwie auch enttäuschend fand. Willie war im Beutel. Sie stand nicht mehr im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Und sie war betrunken, an einem Samstagnachmittag um Viertel nach drei.

All die Erregung, die sie gespürt hatte, hatte sich verflüchtigt, und das war deprimierend. Sie hatte bereits angefangen, sich an Situationen wie diese zu erinnern und alte Selbstvorwürfe aufzuwärmen, und vielleicht auch ein bisschen vor sich hin gemurmelt, doch da trat Todd durch die Tür, und alles war anders: Sie hatte eine Überraschung für ihn, und in nicht mal einer Stunde würden sie zu Hause sein und das Terrarium aufbauen, das, wie ihr jetzt einfiel, perfekt zu dem Paul-Klee-Druck passen würde, den ihre beste Freundin Melody ihr zum Collegeabschluss geschenkt hatte. Oder vielmehr: Willie würde perfekt dazu passen. Er war wie das Negativ von Klees Bild, und auch die Farbtöne waren genau richtig — nur dass das Bild statisch war und Willie nicht. Plastische Kunst, und was könnte plastischer sein als das hier?

Sie beobachtete Todd. Er war gleich hinter der Tür stehen geblieben und versuchte, sich zu orientieren. Sie winkte nicht, obwohl sie nicht sauer war, jetzt nicht, nicht mehr. Er nahm die Sonnenbrille ab, und seine Miene veränderte sich von milder Verärgerung (Bin ich hier richtig? Sie hat doch was von Cora’s gesagt, oder?) hin zu Erleichterung und Erkennen: Da war sie, vor einer Wand aus funkelnden Flaschen, Samstagnachmittag, die Party kommt in Schwung, Liebe mit allem Drum und Dran, wie im Film. Er winkte ihr zu, kam durch den Raum zu ihr und gab ihr einen knappen, öffentlichkeitstauglichen Begrüßungskuss. »Tut mir leid, Cat, aber die haben’s einfach nicht so gemacht, wie ich es gemacht haben wollte, und ich musste —« Er hielt inne. »Ist das dein zweiter?«

»Ja«, sagte sie, was der Wahrheit entsprach, wenn man mit dem Zählen bei zwei anfing.

»Dann hab ich ja einiges aufzuholen«, sagte er und winkte Cora, die in ein Gespräch mit den beiden Marlin-Fans am anderen Ende der Theke vertieft war.

»Das ist Todd Rivers, mein Verlobter«, sagte Cat, als Cora kam, um die Bestellung aufzunehmen, und hob unwillkürlich die linke Hand mit dem Ring und dem in Platin gefassten zweikarätigen Brillanten mit Idealschliff, der Todds Mutter gehört hatte. Die vor drei Monaten gestorben war, was auch der Grund war, warum sie in Florida in einem Strandhaus wohnten, das sie sich aus eigener Kraft niemals hätten leisten können. Was machte es schon, dass der Strand immer schmaler wurde? Immerhin war es ein Strand. Und somit Welten entfernt von dem Apartment in Sherman Oaks, in dem sie seit dem College gewohnt hatte, mit dem Panoramablick auf den Ventura Boulevard und die fünfzigtausend Wagen, die jeden Tag röhrend, blitzend, hupend hin und her fuhren. Es tat ihr leid, dass Todds Mutter tot war. Dass sie die Hochzeit nicht miterleben würde. Es tat ihr leid für Todd. Aber in einem Haus am Strand zu wohnen, auf der einen Seite das Meer, auf der anderen eine Bucht, wog jeden Kummer auf, den sie sich vorstellen konnte.

»Was hattest du?« Todd nahm ihr leeres Glas und schnupperte daran. »Bitte sag nicht, es war wieder dieser Flor de Caña. Wie oft muss ich dir noch erklären« — hier sah er Cora an und schüttelte den Kopf — »für mich gibt es nur einen Ron: Bacardi. Den Carta Reserva. Haben Sie den da hinten irgendwo?« Obwohl er nicht mehr als zehn spanische Sätze konnte, rollte er die R, dass es eine Pracht war. Sie nahm es ihm nicht übel — immerhin war er ja Bacardi-Botschafter. Davon lebten sie. Bevor sie hier rausgingen, würde er von seinem Botschafterkonto eine Runde für alle ausgeben und Cora seine Visitenkarte überreichen. Wie ein Vertreter. Dabei war er kein Vertreter, sondern stand eine Stufe höher und verdiente gutes Geld, was das Leben noch angenehmer machte, wenn man mietfrei im eigenen Haus wohnte und nur Grundsteuer und laufende Kosten bezahlen musste.

Als Cora sich entfernte, um ihre Drinks zu machen — ja, sie nahm noch einen —, legte sie die Hand auf Todds Arm, beugte sich zu ihm, drückte die Stirn an seine Schulter und stieß dann zweimal damit zu, als wäre ihr Kopf eine Axt und sein Körper ein Baum. »Ich mag eben Flor de Caña«, sagte sie. »Ich kann nichts dafür.«

Sein Gesicht verdüsterte sich. »Du weißt, dass das ein Geschäftsding ist, oder? Jedenfalls in der Öffentlichkeit.« In Wirklichkeit — aber dieses Geheimnis hätte sie nicht mal unter der Folter preisgegeben — hatte Todd für Rum gar nichts übrig. Als sie sich kennengelernt hatten, war sein Drink Wodka Tonic gewesen, aber das war ja unsinnig, wenn der Bacardi umsonst war, und Todd konnte, wie er fand, ebenso gut Rum Tonic mit einem Stückchen Zitronenschale trinken.

»War nur ein kleiner Scherz«, sagte sie, und das stimmte. Sie fühlte sich beflügelt, sie war so glücklich in diesem Augenblick, dass es war, als würde sie aus großer Höhe auf diesen Raum hinuntersehen: Das Paar an der Theke schrumpfte auf halbe Größe, und die beiden jungen Männer waren praktisch unsichtbar. Wände und Decke verschwanden, der Himmel leuchtete. Sie konnte die andere Straßenseite sehen, wo Willies Mutter sich im Schaufenster des Tiergeschäfts um den künstlichen Ast geschlungen hatte. »Willst du nicht sehen, was ich gekauft habe?«

Er versuchte, die Beunruhigung oder den Ärger oder was immer es war, zu verbergen — er war ein guter Schauspieler und ein guter Typ, und er liebte sie, wirklich, das wusste sie so genau wie nur irgendwas. Liebe war ständiges Verhandeln, das wusste sie ebenfalls. »Doch, na klar«, sagte er und zeigte ihr sein großes Lächeln, sein Botschafterlächeln, das Lächeln für einen Samstagnachmittag, an dem nichts anderes vor ihnen lag als Nichtstun und Müßiggang und dann noch mehr von beidem. »Was ist es?«

»Eine Schlange.« Sie ließ seinen Arm los, um die Schnur an dem Beutel auf ihrem Schoß mit beiden Händen lösen zu können.

»Eine Schlange? Das ist ein Witz, oder?«

Aber da war Willie, er wand sich um ihren Arm und stieß mit dem Kopf nach der Leiter, die nur er sehen konnte, und Todd rief: »Scheiße, Herrgott!«, und fuhr mitsamt seinem Barhocker zurück. Beinahe hätte sie gelacht. Er sah so komisch aus mit den weit aufgerissenen Augen und dem verkrampften Mund — wenn er sich nur sehen könnte, dachte sie und spürte wieder die Kraft. »Tu sie wieder in den Beutel! Du kannst doch nicht … Was denkst du dir denn?«

»Es ist okay, Cora hat nichts dagegen, sie hat selbst zwei Schlangen. Ist er nicht wunderschön?«

»Tu sie weg!«

Die Wände und die Decke erschienen wieder, und das Motorbootpaar ploppte wie zwei Aufblaspuppen zur ursprünglichen Größe auf. Ihr kam der Gedanke, dass Todd ein Trottel war. Sie hatte nichts gesagt, als er losgezogen und ein Drittel der Lebensversicherung seiner Mutter für das Spitzenmodell von Tesla ausgegeben hatte, oder als sie die geliebte Heimat hinter sich lassen und hierher, nach Schwitzland, hatte ziehen müssen. Sie bildete mit der Hand einen Trichter, Willie schlüpfte hindurch, und dann ließ sie ihn wieder in den Beutel gleiten. Neben ihrem Ellbogen stand ein frischer Drink. Sie sah Todd unverwandt an, prostete ihm spöttisch zu, trank das Glas halb aus und stellte es wieder ab.

»Herrgott«, sagte er, »du bist wirklich erstaunlich. Eine Schlange? Wer kauft eine Schlange?«

»Viele Leute. Cora zum Beispiel. Frag sie.«

»Ich frage aber nicht sie, sondern dich. Wo willst du sie halten? Wer soll sich um sie kümmern, hm? Kannst du mir das mal sagen?«

Cora beobachtete sie vom anderen Ende der Bar, und das war peinlich. Sie stritten sich in der Öffentlichkeit, und warum? Sie hatte ihn überraschen wollen, und er machte alles kaputt.

»Ich dachte, neben dem Fernseher, dann könnten wir ihm in den Werbepausen zusehen oder wenn der Film langweilig ist wie neulich auf HBO der mit dem Rennfahrer, den du unbedingt sehen wolltest … also wirklich.« Sie griff nach ihrem Glas, schnappte es sich von der Theke, als würde es gleich explodieren, und was machte es schon, wenn sie dabei ein, zwei Tropfen verschüttete? Na und? »Und wenn du’s genau wissen willst: Ich habe für das Terrarium eine Konsole aus Walnussholz gekauft, und das Ganze kommt dann dahin, wo jetzt die hässliche Kommode von deiner Mutter ist, und wie irgendjemand auf die Idee kommen kann, schönes, natürliches Holz anzumalen, verstehe ich sowieso nicht. Und außerdem habe ich Streu und Flauschies und den ganzen anderen Kram gekauft und ein Buch über Schlangen. Und keine Sorge: Ich werde mich um ihn kümmern. Hundertprozentig. Ich dachte, du würdest dich freuen. Ich dachte, er wäre für uns beide.«

»Genau«, sagte er. »So wie du dich um die Pflanzen gekümmert hast.«

»Ich hab dir doch gesagt: Die waren überwässert. Das war deine Mutter, die hat das jahrelang gemacht, die Erde war fast ganz rausgespült.«

»Flauschies?«, sagte er. »Was zum Teufel sind Flauschies?«

AUF DEM Heimweg sandten die Wolken ihr verschiedene Botschaften, die meisten positiv. Sie fühlte sich jetzt besser, viel besser. Das Zeug lag im Kofferraum, und die durch die offenen Fenster strömende Luft ließ den Wagen förmlich singen. Alle Menschen stritten manchmal, und Paare, die behaupteten, sie täten das nicht, waren Lügner, die Art von Leuten, die oberflächlich betrachtet wie alle anderen waren, in der Wahlkabine aber Rassisten und Fremdenfeinden ihre Stimme gaben. Sie und Todd hatten sich längst wieder versöhnt, und zwar auf die beste Art, nämlich mit einem höchst kommunikativen Kuss auf dem Hof hinter Herps, wo er sie mit seinem Körper an den Wagen gepresst hatte, der so makellos aussah, als hätten sie ihn gerade aus dem Schaufenster des Händlers geholt. Die Luft auf ihrem Gesicht fühlte sich gut an. Sie war schwerer, dichter als die kalifornische, erfüllt vom Geruch der Gezeiten, und das gab ihr das Gefühl, nicht in einem Wagen, sondern auf einem Segelboot zu sein, das quer über die Bucht fuhr. Sie war noch immer halb betrunken, obwohl sie klugerweise auf Wasser umgestiegen war, als Todd seinen zweiten Drink bestellt hatte. Die Reifen summten, die Wolken sprachen zu ihr, das Radio spielte einen Song, von dem sie gar nicht genug bekommen konnte, und all die Erregung, die ihr zuvor abhandengekommen war, kehrte mit einem Mal zurück.

Sie konnte es kaum erwarten, das Terrarium aufzustellen und Willie sein neues Heim erkunden zu lassen: die Steine, den künstlichen Ast, die Streu und das sogenannte Versteck, das im Grunde aussah wie einer der Tunnel der Modelleisenbahn, die sie und Cooper als Kinder gehabt hatten, und wo Willie einen Raum hatte, in dem er sich sicher fühlen konnte. Da drinnen würde er sich zusammenrollen und die Augen schließen. Schliefen Schlangen denn überhaupt? Sie hatten ja nicht mal Augenlider. Aber natürlich mussten Schlagen schlafen wie alle anderen Wesen. Vielleicht träumten sie sogar — wer wusste das schon? Schlangenträume. Wenn ihr jemand am Morgen, als sie aufgestanden war, gesagt hätte, dass sie noch heute über Schlangen und Träume nachdenken und die beiden Wörter vermutlich zum ersten Mal in ihrem Leben zusammensetzen würde, hätte sie laut gelacht. Was das alles sollte? Sie wusste es nicht. Es war ihr egal. Sie sah den Abend vor sich wie einen auf die konkave Windschutzscheibe projizierten Film: Sie würde Pizza bestellen und dazu einen Salat machen, sie würde ein Glas Wein trinken und einfach nur zusehen, wie Willie sich zusammenringelte und wieder streckte wie ein Band in einer Brise, und das Licht über der Bucht würde sanfter werden und vergehen, und sie würde die Beleuchtung des Terrariums einschalten und ihm weiter zusehen.

Todd war vielleicht nicht ganz so begeistert wie sie, doch er gab sich Mühe. Er hatte über die Kosten gemeckert (»Dreihundert Dollar für eine Schlange?«), aber dann hatte er gemerkt, wie viel es ihr bedeutete, und einen Moment Zeit gehabt, darüber nachzudenken, wie oft sie ihm in den vergangenen Monaten nachgegeben hatte, und um was für eine Kleinigkeit es sich doch im Grunde genommen handelte, und so hatte er schließlich damit aufgehört, und es dauerte nicht lange, da klopfte er mit den Fingern aufs Lenkrad und sang den Song im Radio mit — nichts als Liebe und Sonnenschein. Zu Hause klappte er gleich den Kofferraum auf und schleppte die Konsole hinauf, wo er ihr half, die Kommode aus dem Weg zu räumen. Dann holte er das Terrarium, und sie trug den ganzen Rest, darunter auch den Star der Show — Willie — und die Flauschies, die tiefgekühlt bleiben und für seine wöchentliche Mahlzeit einzeln aufgetaut werden mussten. (»Einen Flauschie dürfen Sie nie in der Mikrowelle auftauen«, hatte R. J. ihr eingeschärft. »Er könnte innerlich noch gefroren sein, und das würde die Schlange umbringen, denn vergessen Sie nicht: Sie sind Kaltblüter und können nichts ausscheiden, was nicht verdaut ist. Es besteht die Gefahr, dass ihre Körpertemperatur so weit absinkt, dass sie sterben. Das Beste ist, etwas Wasser oder besser noch Hühnerbrühe — für den Geschmack — warm zu machen und über den Flauschie zu gießen, damit er nach und nach auftaut. So würde ich’s jedenfalls machen.«)

Es dauerte nicht lange, bis alles fertig war: Das Versteck stand an der Rückwand aus künstlichen Felsen, die das Terrarium wie eine Höhle erscheinen ließen — nicht dass irgendeine dieser Schlangen je eine Höhle gesehen hätte, aber es befriedigte die ästhetischen Ansprüche des Besitzers, ihre ästhetischen Ansprüche, denn sie stellte sich das Ganze als eine Szene aus der Natur vor, wie in den Dioramen im Museum für Naturgeschichte, nur dass dort alles tot und ausgestopft war. In der Ecke eine Wasserschüssel. Noch war die Streu kunstvoll auf dem Boden verteilt, doch Willie würde sie umherschieben, wie es ihm gefiel. Und er würde natürlich hineinscheißen, weswegen sie gleich drei große Säcke Streu gekauft hatte, um sich einen Weg zu ersparen. Die Steine waren handverlesen und stammten aus einem Fass weiter hinten im Geschäft. Sie sollten dem Terrarium ein realistischeres Aussehen verleihen, und während Todd in der Küche den Wein öffnete, hockte sie auf allen vieren und arrangierte sie in verschiedenen Konfigurationen, bis sie schließlich zufrieden war. Dann setzte sie sich auf den Orientteppich, über den die Motten in Scharen herfielen — kahle Stellen, so groß wie Fingerabdrücke, ganz gleich, wie oft sie Spray und Staubsauger einsetzte —, und bewunderte ihre Arbeit. Es war perfekt, eine von ihr selbst geschaffene Welt, in die sie mit ihrer Fantasie eintauchen konnte, und die es ihr ermöglichte, etwas Wildes ins Haus zu holen. Abgesehen von Fliegen und Skunkschaben. Oder Motten. Und wo kamen die eigentlich her? Cooper jammerte ja immer darüber, dass die Zahl der Fluginsekten auf der Welt abnahm, und das war natürlich schlimm, aber was war mit Teppichmotten? Mit Moskitos? Mit Kriebelmücken? Die würden ihr nicht fehlen, so viel war sicher.

Aus der Küche hörte sie es gluckern und plätschern, als Todd zwei Gläser einschenkte, das heimeligste Geräusch der Welt, und sie genoss den Augenblick: Möwen schrien wie die Wachen, die sie ja waren, Pelikane flogen schwebend leicht und wie an einer Schnur gezogen dicht über dem gekräuselten Meer dort unten dahin.

»Ich bin so weit«, rief sie. »Der große Augenblick. Komm, lass uns sehen, wie ihm sein neues Zuhause gefällt.«

Todd kam aus der Küche und reichte ihr das Glas mit dem Paso Robles Zinfandel, den er kartonweise bekam und der so körperreich war, dass man ihn beinahe kauen konnte, und sie trank einen Schluck, stellte das Glas auf den Boden und stand auf. Willie war eine S-förmige Falte in dem Beutel, so brav, wie man es sich nur wünschen konnte, und lag reglos auf dem Couchtisch, wo sie ihn abgelegt hatte. Sie schob den mit Maschendraht bespannten Deckel des Terrariums ein Stück beiseite, öffnete den Beutel ein letztes Mal und legte ihn auf die Streu, damit Willie selbst bestimmen konnte, wann er hervorkommen wollte. Sie hatte gedacht, er würde scheu sein, aber das Gegenteil war der Fall: Er glitt heraus wie aus einem Spritzbeutel gedrückt und begann, seine Umgebung zu erkunden. Bestimmt war er froh, nicht mehr eingesperrt zu sein, erst recht nicht in dem engen Plexiglasbehälter, in dem R. J. ihn ausgestellt hatte — das war sicher nicht sehr bequem gewesen. Und so künstlich.

»Ta-da!«, rief sie und wandte sich zu Todd, drückte seinen Arm, zog ihn an sich und gab ihm einen Kuss, einen tiefen, seelenvollen Kuss, und im nächsten Augenblick fielen sie übereinander her. Sie wusste nicht, wie sie wohl riechen mochte nach diesem langen, verschwitzten Tag, doch dies war der Augenblick, und sie war ganz im Jetzt und zog sich das T-Shirt über den Kopf, und er half ihr mit dem BH, und dann trieben sie es auf dem Teppich. Und natürlich läutete der Pizzabote, und Todd musste rausziehen und in seine Shorts steigen und an die Tür gehen, aber sie rührte sich nicht, und er kam sofort zurück, und durch die Unterbrechung war es, auch wenn das irgendwie widersinnig war, nur noch besser. Und dann aßen sie die Pizza und tranken mehr Wein, und sie waren beide so scharf, dass sie es gleich noch mal machten, direkt vor dem Terrarium.

NOCH BEVOR sie am nächsten Morgen Kaffee aufsetzte, sah sie nach Willie. In Anbetracht der Tatsache, dass sie gestern eine ganze Menge getrunken hatte, fühlte sie sich gut. Allerdings spürte sie auch die ersten Anzeichen von Kopfschmerzen, und tief unten in den Diamantenminen ihres Magens war ein leises säuerliches Nagen, das der Kaffee verstärken würde. Normalerweise hätte sie sich Rührei und einen Obstsalat gemacht — Papaya, Kiwi, Honigmelone, Blaubeeren, Himbeeren oder was immer im Supermarkt gut ausgesehen hatte —, doch um ihren Magen zu beruhigen, würde sie heute nur einen Blaubeermuffin mit etwas Puderzucker essen und den Kaffee weglassen. Die Luft war so dicht, dass man darauf hätte sitzen können. Alles roch nach Fäulnis. Der Boden unter ihren nackten Füßen fühlte sich irgendwie vegetativ an, als wäre dort über Nacht ein Miniaturwald gewachsen: Schimmel, der allgegenwärtige Schimmel, auf den dieser ganze Staat gebaut zu sein schien. Der Himmel war dunkel und hing tief, am Strand zischte das Meer, und von irgendwoher zerschnitt das hohe Wimmern eines Motorboots die Endlosschleife der Schreie von Möwen, die sich über das hermachten, was die Flut gebracht hatte. Aus dem Schlafzimmer kam ein anderes Naturgeräusch: Todds kaskadenartiges Schnarchen, das wie das letzte Schnaufen eines Ertrinkenden klang, oder nein, einer Seekuh, sofern Seekühe ertrinken konnten, was sie stark bezweifelte.

Wenn er auf der Seite schlief, war es okay, doch sobald sie aufstand, drehte er sich auf den Rücken und legte los. Er war erst sechsundzwanzig, doch der Arzt hatte eine Schlafapnoe festgestellt und ihm einen Vortrag über Alkohol gehalten, der diese Apnoe verschlimmern werde, aber für Todd — und für sie selbst ebenfalls, wie sie gerne zugab — gehörte das Trinken zum Lebensstil. Seit der Highschool, wo sie beim Crosslauf in der Junioren-Mannschaft gewesen war und Todd, wie sie sich zu erinnern glaubte, Baseball gespielt hatte, trieben sie keinen Sport mehr. Hin und wieder machten sie einen Spaziergang am Strand oder schwammen über die Brandung hinaus, wenn ihnen gerade danach war, doch Joggen oder Tennis oder so kamen in ihrem Leben nicht vor. Sie mochten Bars. Und obwohl sie nicht jeden Abend ausgingen, tranken sie doch jeden Nachmittag zur Cocktailzeit, um sich zu entspannen, denn dafür war die Cocktailzeit erfunden worden, und außerdem gehörte es zu Todds Job, als Werbemaßnahme Partys zu veranstalten, bei denen getrunken wurde. Wenn er schnarchte, dann schnarchte er eben. Außer wenn es sie vom Schlafen abhielt. Dann stupste sie ihn an, worauf er keuchte, als würde sie ihn von einer Klippe stoßen, aber dreißig Sekunden später schnarchte er schon wieder.

Das Terrarium war dunkel, denn sie hatte vor dem Zubettgehen das Licht ausgemacht, obwohl Tigerpythons in freier Wildbahn nachtaktiv waren, doch da gab es ja auch keine Infrarotlampe. Oder ein Nachtlicht. Sie schaltete die Terrarienbeleuchtung ein und setzte sich auf den Teppich, damit sie ihn ansehen konnte, wie andere sich etwas im Fernsehen ansahen, und das gab ihr ein gutes Gefühl, ein Gefühl der Überlegenheit, denn im Frühstücksfernsehen kam sowieso nur Mist. Die Sache war nur, dass sie ihn nicht sah. Sie rückte näher, bis sie nur noch wenige Zentimeter vom Glas entfernt war, und suchte jeden Winkel ab, und natürlich konnten Schlangen sich unsichtbar machen, das war ja der ganze Sinn dieser hinreißenden Muster — Tarnung —, aber trotzdem konnte sie ihn nirgends entdecken. Sie klopfte an die Scheibe, denn sie dachte, er sei vielleicht im Versteck, doch nichts rührte sich. Sie wollte ihn wirklich nicht stören, sah aber keinen anderen Weg, als aufzustehen und die mit Maschendraht bespannte Abdeckung des Terrariums abzunehmen, wobei ihr nicht auffiel, dass der Schnappverschluss an der einen Ecke nicht geschlossen war, denn das alles war neu für sie, und sie hätte ein so kleines Detail ohnehin nicht bemerkt, besonders an einem Morgen, an dem sie noch keinen Kaffee getrunken hatte und wegen ihres Magens vermutlich auch keinen trinken würde. Sie griff in das Terrarium und hob den Tunnel hoch in der Erwartung, Willie zu sehen, der dort zusammengeringelt schlief, der Faulpelz — doch er war nicht da.

2

ENTOMOPHAGEN

OTTILIE HATTE beschlossen, Insekten zu essen, weil ihr Sohn Entomologe war und sie ihn liebte und weil es richtig war. Anfangs hatte sie sich geweigert, aber Cooper hatte sie schließlich überzeugt. Der Tod des Planeten, das war sein Thema. Das Anthropozän, die Spezies Homo sapiens, die ein Fluch war, und so weiter. Die Eisbären. Die Monarchfalter. Die Frösche. »Der Planet stirbt, siehst du das nicht?«, hatte er sie gefragt, nein, geradezu angeherrscht, als er das letzte Mal zum Abendessen da gewesen war, und seitdem waren jetzt fast zwei Monate vergangen, genug Zeit, um die Sache von allen Seiten zu betrachten.

Ja, sie sah es. Und sie fühlte sich schuldig für den Anteil, den sie daran hatte. In westlichen Industriegesellschaften verbrauchte jeder Mensch fünfunddreißigmal mehr Ressourcen als der durchschnittliche Inder oder Afrikaner, doch was konnte sie schon tun, außer ihre Kreditkarten zu zerschneiden und alles, was ins Haus kam, bis auf den letzten Rest zu recyceln? Mit dem Letzteren hatte sie kein Problem: Sie trennte den Müll ohnehin und kompostierte den größten Teil der organischen Abfälle. Das mit den Kreditkarten war schwieriger, denn man musste ja Dinge kaufen, um die Wirtschaft in Schwung zu halten. Also ließ sie sich ihre Kreditkartenabrechnungen und alle anderen Rechnungen papierlos übermitteln — das war immerhin ein Schritt in die richtige Richtung.

»Aber der Planet stirbt ja gar nicht«, hatte sie gesagt und von dem Brett aufgesehen, auf dem sie Zwiebeln, Paprikaschoten und Auberginen für die Marinarasauce schnitt, die es später geben sollte (ohne Putenwurst, die sie aus Rücksicht auf ihren Sohn separat briet — er hatte sich schon zweimal über den Geruch beklagt). »Soviel ich weiß, dauert es noch mindestens viereinhalb Milliarden Jahre, bis die Sonne anschwillt und uns alle wie Hummer kocht. Oder fünf Milliarden? Ich glaube fünf.«

»Also bitte. Rinder, Schweine, Ziegen — wir essen uns zu Tode.«

»Dein Vater hat nicht vor, Vegetarier zu werden, das weißt du.«

»Das sage ich ja: Man braucht Eiweiße, Vitamin B 12, Choline, Aminosäuren.« Er hatte sie angesehen. »Besonders im Alter. Ihr beide.«

Also ging sie online und bestellte bei Entomo Farm einen Grillen-Brutapparat, mit dem sie ständig fettarmes, ballaststoffreiches Eiweiß produzieren und obendrein die Küchenabfälle noch effizienter verwerten konnte. Ein Mausklick — und ja, ihre Kreditkartennummer —, und vier Tage später stand eine einen Meter hohe Kiste vor ihrer Tür, und dazu erhielt sie einen gepolsterten Umschlag mit dem Aufdruck LEBENDE TIERE, in dem es raschelte und zirpte, als sie ihn in die Hand nahm. Der Brutapparat war aus Plexiglas, damit man zusehen konnte, wie die Grilleneier sich zu Larven entwickelten, aus denen schließlich erwachsene Tiere wurden. Als wäre das Ganze ein anschauliches Biologieprojekt — wie die Ameisenfarmen, die in ihrer Kindheit große Mode gewesen waren. Nur dass es hier eben Grillen waren, und die würden als Lebensmittel geerntet und genutzt werden, um den Methanausstoß der etwa eine Milliarde Rinder, die es auf der Welt gab, zu reduzieren und die Rodung von Waldflächen für den Futtermittelanbau zu bremsen. Ganz zu schweigen davon, dass fühlenden Wesen der Horror der Schlachthöfe erspart blieb — ein weiteres Argument, das Cooper vorgebracht hatte. Ja, sie hatte die Filme gesehen, wo Hühner an den Beinen von Förderbändern hingen und von wirbelnden Messern geköpft wurden oder Rinder einen Schlag gegen die Stirn bekamen und in die Knie gingen und in einer Lawine aus Fleisch zusammenbrachen.

Sie hatte also ein gutes Gefühl, als sie die Teile auspackte, die Anleitung las und das Ding zusammenbaute, mitsamt dem Schubfach für die Küchenabfälle und, ganz unten, dem für die Exkremente, die laut Broschüre ein unübertroffener Dünger für Zimmer- oder Gartenpflanzen war. Gärtnern Sie gern? Haben Sie Begonien? Tomaten? Zucchini? Sie werden staunen, wie gut sie gedeihen, wenn Sie der Erde regelmäßig ein paar Teelöffel des Endproduktes hinzufügen!

Sie füllte das Futterfach mit Salatblättern und Kartoffelschalen vom gestrigen Abendessen und stellte den Brutapparat in die Spüle, bevor sie die Grillen in ihr neues Heim entließ, wo sie zirpen und sich fortpflanzen und wöchentlich bis zu einem Pfund Fleisch produzieren würden — ein Begriff, an den sie sich in diesem Zusammenhang erst noch würde gewöhnen müssen. Sie fand die Sache belebend wie jedes neue Projekt, besonders, weil es sich um etwas so Grünes und Segensreiches handelte, und am aufregendsten war der letzte Schritt, die Freisetzung der Grillen. Da waren sie, zappelig und wie wild mit den Beinen rudernd, allesamt in der unteren Ecke des schmalen, extralangen Plastikbeutels, in dem sie geliefert worden waren. Sie zirpten, schwenkten ihre Antennen und suchten nach Halt. Sie schüttelte den Beutel, um die abenteuerlustigeren zurückzubefördern und sie an einer Stelle zu konzentrieren, bevor sie den Verschluss öffnete und den Beutel über dem Brutapparat umdrehte, worauf die Schwerkraft und die Eigeninitiative der Grillen den Rest erledigten.

Die Sonne schien durch das Küchenfenster und beleuchtete die Kaffeemaschine und den Toaster auf der Arbeitsfläche. Die würde sie wohl wegräumen müssen, um Platz für die Grillenfarm zu schaffen. Alles war in ein weiches, rötliches Licht getaucht, ein Licht, das von Aschepartikeln hoch oben in der Atmosphäre gebrochen wurde, und diese Partikel stammten von den Bränden bei San Francisco. Obwohl sie wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis das Buschwerk auf den Hügeln rings um Santa Barbara in Flammen aufgehen würde, wie es das offenbar alle paar Jahre tat, fand sie das unwillkürlich schön. Es war jedenfalls anders. Eine Veränderung. Seit Monaten, seit dem Ende der Regensaison im März, war der Himmel strahlend blau, jeder Tag das Abbild des vorangegangenen, und das führte zu einer Art Überdruss und war eine tägliche Erinnerung an die Dürre, die jetzt schon vier Jahre anhielt — oder waren es fünf? Cooper war wie besessen, aber abgesehen davon, dass sie und Frank sorgsamer mit Wasser umgingen, hatte sich ihr Leben nicht sonderlich verändert, seit sie den Garten umgegraben und Hackschnitzel ausgebracht hatten, die Frank sicherheitshalber mit einem feuerhemmenden Mittel besprüht hatte. Sie beugte sich über den Apparat und betrachtete die Grillen, die gewissermaßen ihre Herde waren und in den leeren Eierkartons umherwuselten, die sie, wie empfohlen, ausgelegt hatte, damit die Tiere etwas Deckung hatten, und dann schob sie den Toaster ganz dicht an die Kaffeemaschine, hob den Brutapparat aus der Spüle und stellte ihn auf die Arbeitsfläche.

In diesem Augenblick bemerkte sie, dass bei dem Transfer zwei der schimmernden schwarzen Insekten entkommen waren und sich noch immer in der Spüle befanden, wo sie verwirrt an den glatten Porzellanwänden abrutschten und schließlich im Abflusssieb landeten. Sie war nicht zimperlich, nicht besonders jedenfalls, aber jetzt dachte sie plötzlich an die Studenten-WG, in der sie mit drei anderen gewohnt hatte, die durchaus sauberer hätten sein können, und sobald man nachts das Licht ausgemacht hatte, waren aus allen Winkeln jede Menge Kakerlaken gekrochen, und konnte man die etwa auch essen? Sie sahen nicht so sehr anders aus als Grillen. Aber Grillen waren sauber, oder? Und sie hatte ihr Zirpen schon immer mit ländlichen Szenerien verbunden, während Kakerlaken gar kein Geräusch machten und im Dreck lebten und einem diesen Dreck ins Haus trugen, wo er auf den Arbeitsflächen und schließlich im Essen landete. Aber laut Cooper waren Kakerlaken (Periplaneta americana) das eine, während Grillen (Acheta domesticus) etwas vollkommen anderes waren, und um Letztere hatte sie sich jetzt zu kümmern.

Aber wie sie fangen, ohne sie zu verletzen? Immerhin handelte es sich um den Grundstock ihrer Zucht, und natürlich würden die Tiere irgendwann getötet werden, aber diese Zeit war noch nicht gekommen. Sie sah, wie sie sich verwirrt in die Vertiefung duckten. Ihre Antennen registrierten den unwiderstehlichen Duft der faulenden Partikel am Edelstahlsieb des Abflusses, aber ihr Gehirn, sofern sie eins hatten — hatten sie ein Gehirn? —, sagte ihnen, dass sie von der Kolonie getrennt waren und dass Trennung im Augenblick und unter diesen neuen Umständen Gefahr bedeutete. Sie streckte die Hand nach einer von ihnen aus, die auf eingeknickten Beinen dahockte, und wollte sie sanft mit Daumen und Zeigefinger greifen, doch die Grille war zu schnell. Im nächsten Augenblick saß sie auf den Härchen an Ottilies Unterarm.

Bis jetzt waren Grillen hauptsächlich etwas Theoretisches gewesen — ein Foto im Internet, die Erinnerung an die Käfer, die Cooper als Junge in Marmeladengläsern gehalten hatte, verstohlene Wesen im Garten, die sich nie zeigten und verstummten, wenn man ihnen zu nahe kam —, doch diese Grille war jetzt, genau hier, vor ihren Augen, und klammerte sich an sie wie an ein Monument aus Fleisch. Und das war es, was sie in den Augen dieses Tieres wohl war: ein Fleischfresser, so groß wie ein Baum, der es bestimmt nicht gut mit ihm meinte. Die Fühler zuckten, doch davon abgesehen war es vollkommen reglos, als hätte der Sprung aus dem Abfluss all seine Energie verbraucht. Zugegeben, die Grille sah nicht besonders appetitlich aus, aber das konnte man von den mit ihnen verwandten Arthropoden, die den Meeresgrund und die Flussbetten bevölkerten, von den Krabben, Garnelen und Hummern der Welt ja auch nicht behaupten. Die Verwandtschaft war so augenfällig, dass in der Werbung ausdrücklich darauf hingewiesen wurde, Menschen mit Allergien gegen Meeresfrüchte sollten Vorsicht walten lassen.

Als sie jetzt nach der Grille griff, leistete diese keinen Widerstand. Sie fühlte sich hart und stachelig an, wie die Kletten, die sie nach einem Waldspaziergang aus dem Fell des Hundes zog, versuchte aber nicht, sie zu beißen — das Äußerste, wozu Grillen imstande waren, hatte sie gelesen, war ein leises Zwicken mit den Mandibeln, aber diese hier schien sich ergeben zu haben. Vielleicht war sie auch nur benommen. Sie stammte aus einem Zuchtlabor in Oakland, war aus dem einzigen Heim, das sie kannte, herausgefischt, in einen Umschlag gesteckt und hier freigelassen worden, in dieser Küche, die für sie so fremd sein musste wie für Menschen die Mondoberfläche. Egal. Sie öffnete den Deckel des Brutapparats, so dass das zaghafte Zirpen und das Rascheln krabbelnder Beine lauter wurden, und ließ die Grille hineinfallen. Dann griff sie nach der anderen.

IN DEN ersten Wochen experimentierte sie mit verschiedenen Rezepten. Meist waren es einfache Sachen wie Cookies und Brownies aus Grillenmehl, das sie online bei einer Firma namens Little Bits bestellte, aber auch selbstgemachte Nudeln und an einem Abend Tortillas, ein Konzept, das ihr gefiel, auch wenn sie es noch nicht über sich brachte, die gegrillten Hähnchenbruststreifen in der Füllung durch eine Handvoll sautierter Grillen zu ersetzen. In dem Moment, als sie die Tortillas servierte, während aus dem Radio in der Ecke Klaviermusik klimperte und die Neonröhren vor sich hin summten, blickte sie in die Zukunft: »Welche Tortillas möchten Sie, señora?«, würde der Ober in der Casa Lorena sie fragen. »Aus maíz, harina oder insectos?« Und sie würde von ihrer Margarita aufsehen und, damit es keine Missverständnisse gab, laut und deutlich sagen: »Insectos, por supuesto.«

Im Lauf der Zeit würde sie ihr eigenes Mehl herstellen und ein paar einfache Rezepte aus Michel Horans Cuisine de divers insectes ausprobieren — vielleicht Grillons poêlés roti