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Ein entlaufener Tiger in einem Vorgarten und eine verwitwete Altenpflegerin, die sich mit einem vagabundierenden Katzenhasser einlässt. T.C. Boyle At His Best.
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Seitenzahl: 42
Hanser eBook
T. Coraghessan Boyle
Frage 62
Carl Hanser Verlag
ISBN 978-3-446-23947-0
Sonderausgabe 2012
Alle Rechte vorbehalten
Frage 62 © Carl Hanser Verlag 2012
Originalausgabe: Wild Child © T. Coraghessan Boyle 2010
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Sie kniete im Blumenbeet und zerquetschte Schnecken – davon später mehr –, als sie zufällig den Kopf hob und in die glühenden Augen einer optischen Täuschung blickte. Weil sie ihre Brille nicht trug und die Krempe des Strohhuts ihr in die Stirn rutschte, wenn sie den Kopf senkte, und ihr Sichtfeld verengte, war sie zunächst nicht sicher. Sie trug den Hut, obwohl es ein bedeckter Tag war, denn der Arzt hatte ihr vor sechs Monaten ein Basaliom am linken Ohrläppchen entfernt, und sie ging kein Risiko ein, nicht angesichts dieses Lochs in der Ozonschicht und der Verdünnung – oder war es eine Verdichtung? – der Atmosphäre. Sie hatte auch Sunblocker aufgetragen, obgleich es die ganze Woche schon kühl und grau gewesen war, grauer, als sie es sich im letzten Winter ausgemalt hatte, als sie bei ihrer Schwester Anita in Waunakee, Wisconsin, gelebt und an Palmen und eine dicke, warme Postkartensonne gedacht hatte, die alles, was sie beschien, schmelzen ließ. Schließlich regnete es nie in Südkalifornien – nur dass es jetzt die ganze Woche, den ganzen Monat geregnet hatte, und den Schnecken, die auf ihren Schnellstraßen aus Schleim dahinglitten, gefiel das. Sie waren überall, fraßen Löcher in ihre Kapuzinerkresse, verliehen dem Grün der Lilien ein kränkliches Gelb und saugten an den leuchtend orangeroten Blüten, bis die zarten Blütenblätter sich braun färbten und abfielen.
Das war der Grund, warum sie so früh im Garten war, zu einer Zeit, als Doug noch schlief, während der Morgennebel wie Gaze am Boden klebte und die L. A. Times mit einem dumpfen Knall in der Einfahrt landete, warum sie im Beet kniete und mit dem Pflanzenheber Schnecken zerquetschte. Sie war Vegetarierin wie ihre Schwester – das hatten sie einander auf der Junior High School geschworen – und tötete keine Lebewesen, nicht einmal die Fliegen, die sich in wimmelnden Scharen auf dem Fensterbrett niederließen, aber das hier war etwas anderes, das hier war eine Art Krieg. Die Schnecken gehörten zu einer eingeschleppten Spezies, es waren die Escargots, für die irgendwelche Leute im Restaurant fünfzehn Dollar pro Portion bezahlten und die ein französischer Koch an der Wende des vergangenen Jahrhunderts hierhergebracht hatte, der nicht darauf geachtet hatte, dass sie in ihren Ställen oder Käfigen oder was auch immer blieben. Sie zerstörte sie, weil sie ihre Pflanzen zerstörten. Sie setzte die Spitze des Pflanzenhebers auf das Gehäuse einer Schnecke, drückte kräftig zu und wurde mit einem vernehmlichen Knacken belohnt. Sie wollte nicht zusehen, wie der nackte Fleischklumpen versuchte, seinen tastenden Fühlern aus den Ruinen seines Hauses zu folgen, und drückte noch einmal zu, bis das Ding unter der Erde war, und so fand eine Schnecke nach der anderen ihr Grab.
Und dann blickte sie auf. Was sie sah, fügte sich nicht ins Bild, nicht gleich jedenfalls. Vor ihr, jenseits des schmiedeeisernen Zauns, den Doug aufgestellt hatte, damit die Rehe nicht in den Garten kamen, schien eine große Katze sie zu beobachten, eine große, gestreifte Katze, so groß wie ein Pony – ein Tiger, ja, das war es, ein indischer Tiger mit einem Kopf, der so breit war wie die große Zinnplatte, auf der sie jedes Jahr an Thanksgiving das Gemüse anrichtete. Sie war verblüfft – wer wäre das nicht gewesen? Sie hatte Tiger im Zoo gesehen, in Tierfilmen im Fernsehen, in Zirkuskäfigen, aber nicht in ihrem Garten in Moorpark, Kalifornien – das wäre ja gerade so, als würde ein Eisbär auf den Bahamas auftauchen oder ein Warzenschwein im Dorothy Chandler Music Center. Ihre Sicht war getrübt, der Hut rutschte ihr immer wieder in die Stirn, und so verging, während sie aus zehn Metern Entfernung die gelben Augen und die zottige Schnauze betrachtete, eine Weile, bis sie daran dachte, Angst zu haben. »Doug«, rief sie leise, als könnte er sie durch den Garten und die rosarot verputzten Wände des Hauses hören, »Doug, Doug.« Sie fragte sich, ob sie sich bewegen sollte, ob sie aufstehen und mit den Armen fuchteln sollte – war das nicht das, was in einem solchen Fall empfohlen wurde: mit den Armen fuchteln und schreien? Doch der Tiger fletschte, so unwahrscheinlich es auch war, weder fauchend die Zähne, noch sprang er über den Zaun oder verschwand in einem Winkel ihrer Phantasie. Nein, nur sein Schwanz zuckte hin und her, und beim Klang ihrer Stimme spitzte er die Ohren.