Drop City - T.C. Boyle - E-Book

Drop City E-Book

T. C. Boyle

4,6

Beschreibung

Boyles grandiose Geschichte einer Hippie-Kommune, die von Kalifornien nach Alaska zieht, mit allen berechenbaren und unberechenbaren Folgen. "Drop City" ist der Roman einer naiven und idealistischen Generation, die das Lebensgefühl von vielen von Grund auf verändert und bis auf den heutigen Tag geprägt hat. Satirisch, realistisch, skurril.

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Hanser eBook
T. Coraghessan Boyle
DROP CITY
Roman
Aus dem Amerikanischen von Werner Richter
Carl Hanser Verlag
Die amerikanische Originalausgabe erschien
erstmals 2003 unter dem Titel Drop City
bei Viking Penguin in New York.
Die Arbeit des Übersetzers am vorliegenden Text wurde
vom Deutschen Übersetzerfonds e.V. gefördert.
Danksagung
Der Autor möchte sich bei Chuck Fadel, Jorma Kaukonen,
Russell Timothy Miller, Alan Arkawy und Jim Perry
für ihre Hilfe und Ratschläge bedanken.
ISBN 978-3-446-23968-5
© T. Coraghessan Boyle 2003
Alle Rechte der deutschen Ausgabe:
© Carl Hanser Verlag München Wien 2012
Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch
E-Book-Konvertierung: Beltz Bad Langensalza
Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen finden Sie unter:
www.hanser-literaturverlage.de
www.tc-boyle.de/

Inhalt

Teil I DROP CITY SÜD
Teil II THIRTYMILE RIVER
Teil III MITTSOMMERTAG
Teil IV DER TRUNKENE WALD
Teil V DROP CITY NORD
Teil VI ALTE NACHT
Für die Schwestern Kathy, Linda, Janice und Christine
Denkt an unser Leben in der Natur – täglich die Materie zu sehen, mit ihr in Berührung zu treten – mit Steinen, Bäumen, dem Wind auf unseren Wangen! der festen Erde! der wirklichen Welt! dem gesunden Verstand! Berührung! Berührung! Wer sind wir? wo sind wir?
Herny David Thoreau, »Ktaadn«
Let me tell you about heartache and the loss of god,
Wandering, wandering in hopeless night.
Out here in the perimeter there are no stars,
Out here we is stoned
Immaculate.
Jim Morrison, »The WASP (Texas Radio and the Big Beat)«

Teil I DROP CITY SÜD

C’mon people now
Smile on your brother
Everybody get together
Try to love one another right now.
Chet Powers: »Get Together«

1

Der Morgen war ein Fisch im Kescher, glitzernd und zappelnd am pechschwarzen Rand ihres Bewußtseins, aber sie hatte noch nie einen Fisch mit einem Kescher gefangen, ebensowenig wie mit der Angel, so daß sie nicht recht sagen konnte, ob oder wie oder warum. Der Morgen war ein Fisch im Kescher. Das sagte sie wieder und wieder vor sich hin, machte einen Singsang daraus – ein Mantra –, während sie Quecken mit der Guillotine ihrer Hacke köpfte, die schlitzäugigen Ziegen melkte und dann gemeinsam mit sechzig ekstatischen Gleichgesinnten schlürfend und kauend vor dem saß, was irgend jemand sich unter Haferbrei vorstellte.
Draußen brannte die Sonne Kaliforniens ein Statement in den Staub und zeigte den Nebengebäuden und den Bäumen zehn oder halb elf an. Ringsum erklangen Stimmen, lautes Lachen, vormittägliches Scherzen und Sticheln, sie selbst aber genoß das Schweben und ließ nur ihr Ein-Millionen-Kilowatt-Lächeln aufstrahlen, nahm den Keramiknapf mit den Nüssen und Körnern und Rosinen in Ziegenmilch und einem klebrigen Haferflockenklecks darin und wanderte zur Tür hinaus auf den Hof, um sich auf einem Baumstumpf niederzulassen und zu spüren, wie der heiße Staub des Tages zwischen ihre nackten Zehen kroch. Essen war kein privater Akt – auf Drop City war überhaupt nichts privat –, aber dafür gab es hier auch keine Aufseher im Schlafsaal, keine Animateure, weder Eltern noch Chefs, und sie hatte endlich das Gefühl, ihr eigenes Ding durchzuziehen. Nämlich locker abzuhängen. Denn darum ging’s ja wohl bei allem, oder? Sich die kalifornische Sonne ins Gesicht scheinen zu lassen, ohne Spielchen, ohne die Plastikgesellschaft – nichts als Freiheit und verwandte Seelen, lauter Brüder und Schwestern.
Star – Paulette Regina Starr, die ihren Namen und ihr Wesen auf vier Buchstaben reduziert hatte – war inzwischen schätzungsweise drei Wochen auf Drop City. Schätzungsweise. In Wirklichkeit hätte sie nicht sagen können, wie lange sie nun schon auf einer bestimmten Matratze in einem bestimmten Zimmer zwischen einem Haufen unbestimmter Leute pennte, und das war ihr auch nicht wichtig. Sie zählte keine Tage, Wochen und Monate – nicht mal die Jahre. Und Äonen auch nicht. Urknall. Wer hat das Universum erschaffen? Gott hat es erschaffen. Der Morgen ist ein Fisch im Kescher. War es nicht ein Dienstag gewesen, als sie eingetrudelt waren? Am Dienstag war abends immer eine Session, und heute ... Heute war Freitag. Das sagte ihr schon der Trubel rund um die Kochtöpfe in der Küche – die Wochenendhippies rollten an, samt den Gaffern und den Spannern –, aber was die Zeit anging, so hatte sie damit wenig Probleme, wie ja wohl aller Welt klargeworden sein dürfte, als sie in Taos ihre Tissot mit dem Goldarmband abgestreift und einem Indianerkind geschenkt hatte – ohne daß der Junge sie angeglotzt oder gar angebettelt hätte, er stand einfach so an der Bushaltestelle, an der Hand seiner Mutter. »Hier«, hatte sie gesagt und sich das Ding vom Handgelenk gezogen, »willst du die haben?« Sie war noch nie an der Westküste gewesen, hatte so etwas wie ihn noch nie gesehen, aber da war er, die schwarzen Haare hingen ihm über die schwarzen Augen, ein tief in sich gekehrtes Indianerkind, und sie mußte ihm einfach irgendwas geben. In den Hügeln tummelten sich die Kakteen. Die Abgase des Busses stiegen ihr in die Nase, und ihre Augen tränten.
In den Westen war sie mit einem Typ von zu Hause gekommen, Ronnie Sommers, der sich Pan nannte, und sie hatten unterwegs etliche Abenteuer erlebt, Star und Pan – ein bißchen wie die Entdecker Lewis und Clark, nur greller in der Optik. Ronnie nahm an Trampern alles mit, was lange Haare hatte, und das machte sich immer sagenhaft gut, denn es eröffnete ihnen eine riesige Welt von Schlafgelegenheiten mit Essen und Drogen gratis. Einmal pennten sie in Arizona eine Nacht in einem Tipi, bei einem Typ, der ganz braungebrannt und mager war und sich das Haar mit einem Stirnband aus Schlangenhaut zurückgebunden hatte. Sie kochten braunen Reis mit Blumenkohl am Lagerfeuer und warfen Peyote-Buttons ein, die er in den grellweißen Hügeln selbst gesammelt hatte. »Jäger und Sammler«, wiederholte er ständig, »genau das sind wir«, und jedesmal, wenn er es sagte, prusteten sie los, und dann baute Ronnie einen Joint, und sie fühlte sich so großartig, daß sie es gleich mit beiden machte.
Sie sang immer noch vor sich hin, die Blätter an den Bäumen brutzelten unter ihren Augen, und der Haferflockenklecks starrte sie aus der gelblichen Ziegenmilch heraus an wie etwas, was aus ihrem Körper gekommen war, ausgespuckt, erbrochen, im eigenen Saft glänzend, als ein Schatten über sie fiel, und da war er, Ronnie, schwebte im Rahmen ihres Bildausschnitts wie ein Schemen. »Hey«, sagte er und kauerte sich in seinen Riemensandalen und den abgeschnittenen Bluejeans vor sie hin, »du hast mir gefehlt, wo warst du denn?« Dann hob er ihren Fuß aus dem Staub, ihren rechten Fuß, den mit der angelhakenförmigen Narbe, einer Kindheitserinnerung, und er küßte sie dort, der feuchte Abdruck seiner Lippen glitzerte in der Sonne.
Sie starrte auf ihren Fuß, auf seine schlanke Hand und seine abgekauten langen Nägel, auf die Silber-Türkis-Ringe, die das Licht einfingen. »Ringo-Pan«, sagte sie.
Er lachte. Sein Haar wurde im Nacken lang, es floß wie Garn über seinen Kopf, und der Bart wuchs allmählich zusammen. Doch sein Gesicht – sein Gesicht war klein und weit entfernt, wie ein Luftballon, der in den Himmel hinaufstieg.
»Ich hab die Ziegen gemolken«, sagte sie.
Zwei Kinder – kleine Kinder, blond, nackt und dreckig – kamen vorbei, plumpsten auf die Knie und rangelten miteinander. Irgend jemand schlug ein Tamburin, und jetzt hob auch eine Blockflöte an, trällerte und verstummte und hob wieder an wie Vogelgesang. »Gutes Dope, was?« sagte er.
Ihr Lächeln kehrte zurück, ganz selig und sonnenerfüllt. Alles lebte, überall. Sie fühlte die Erde als große Kugel unter ihren Füßen rotieren. »Yeah«, sagte sie. »Allerdings. Echt irre.«
Und dann war es Abend. Sie war langsam heruntergekommen, im Laufe eines langen, lässigen Nachmittags, der sich gerekelt und gewälzt hatte wie ein Hund auf seiner Decke, später hatte sie mit ein paar anderen in der Küche gewerkelt, Kräuter, Zwiebeln und Tomaten für die Linsensuppe kleingeschnitten und dabei zu Jefferson Airplane und Country Joe and the Fish mitgesungen. Irgend jemand ließ eine Pfeife herumgehen, und sie nahm ein, zwei Züge, außerdem achtete sie darauf, daß ihr Marmeladenglas immer voll mit Rotwein war, beim Kochen und beim Abwaschen ebenso wie beim Essen, das sich hinzog wie das Letzte Abendmahl, während ein Typ namens Sky Dog – oder hieß er Junior Sky Dog? – auf der Gitarre spielte und dazu Texte sang, die er sich offenbar ad hoc ausdachte. Die blonden Kinder vom Vormittag waren auch da, immer noch nackt, die Linsensuppe fleckte ihre Bäuche wie Kriegsbemalung, und eine große hagere Frau mit Augen, die wie zwei Krater in ihrem Kopf lagen, hatte sich ihr Baby in einem Weidenkörbchen auf den Rücken geschnallt. Überall waren Menschen, die sie fast alle noch nie gesehen hatte – die Wochenendhippies aus der Stadt –, und ihre Brüder und Schwestern waren auch da. Qualm stieg auf, von Räucherstäbchen und Gras- und Haschischjoints, die gewissenhaft von Hand zu Hand gereicht wurden, als wollten sie alle gemeinsam eine riesige Stickerei in der Luft anfertigen. Zwei magere hellbraune Hunde beschnüffelten die Füße der Leute und stießen die Schnauzen in die Futternäpfe, die überall auf dem Boden standen.
Star hatte es sich in der Ecke auf einem Thron aus alten Sofakissen gemütlich gemacht, zusammen mit Ronnie und einer neuen Frau, deren Namen sie vergessen hatte. Sie verspürte nichts als Müdigkeit, und obwohl die ganze Szene einfach phantastisch war, wie ein Sommerlager ohne Aufsicht, wie eine Party, die nie zu Ende ging, fand sie doch, daß es allmählich genug war, und hätte sich am liebsten davongestohlen und einen Platz zum Hinhauen gesucht, um vom Schlaf davongespült zu werden wie von einer dunklen Flut des Nichts. Ronnies Bein lag über ihrem, und sie spürte die Berührung des Haars der neuen Frau an ihrer Schulter, wie eine Prise Salz oder Zucker. Sie schloß die Augen, ließ sich treiben. Die Musik versickerte wie Wasser in einem Ausguß, Wasser, das sie jetzt überspülte, ein Bach, ein Fluß, ein Bassin ergoß sich ins nächste ... Doch dann stieß plötzlich eines der Kinder einen gellenden Klagelaut aus, und sie kehrte zurück in die Wirklichkeit. Es war der kleine nackte Junge, der mit seinen baumelnden Geschlechtsteilen und den fehlenden Vorderzähnen wie ein Mini-Dämon aussah und der gerade seiner Mutter – Reba, so hieß sie, oder vielleicht Rena? – irgend etwas aus der Hand schlug. Er kreischte noch einmal auf, aber damit war der Spuk auch schon vorbei, denn Reba hielt ihm einfach einen Joint an die Lippen und sank dann zurück in die Kissen, als wäre nichts geschehen.
Und so war es ja auch. Niemand schien es zu bemerken oder sich drum zu kümmern. Zu Sky Dog hatte sich jetzt ein zweiter Gitarrenspieler gesellt, und sie arbeiteten sich durch die stetigen, stockenden Modulationen eines Blues. Eine Frau mit nacktem Oberkörper, die bisher noch keiner gesehen hatte, stand auf und fing an, mit den Hüften zu wackeln und ihre gewaltigen Brüste im Rhythmus der Musik zu schwenken; es dauerte nicht lange, da erhoben sich auch ein paar der ständigen Mitglieder der Kommune und taten es ihr gleich, wiegten sich im Takt und schlängelten die Arme in die Höhe wie Hindu-Mystiker.
»Touristin«, sagte Ronnie, und die Silben perlten ihm hart und trocken über die Zunge. »So ein Wochenendhippie.« Er trug ein T-Shirt aus Baumwolle, das Star an ihrem ersten Tag hier für ihn gebatikt hatte, mit orangefarbenen Supernovä, die in Galaxien von tiefem Rosa und Lila explodierten, und als er sich zu der neuen Frau umwandte, ließ das Licht seinen Bart zur schimmernden Aura werden. »Aber du bist keine Touristin«, sagte er. »Stimmt’s, Merry?«
Merry lehnte sich gemütlich in seine Ellenbeuge. »Ich geh nie wieder zurück«, sagte sie, »das kann ich euch versprechen.«
»Genau«, sagte Ronnie, »genau, denk nicht mal dran.« Dann legte er den freien Arm um Stars Schultern und drückte sie kurz, er sagte: »Hey«, ganz mitgerissen von der bedächtigen Motorik des Moments, »wollen wir nicht runter zum Fluß, uns eine Decke unter den Sternen ausbreiten und eine Nummer schieben – wir drei hier, meine ich? Hast du das drauf?« Sein Blick lag auf der tanzenden Frau, folgte ihren Kurven hinauf und hinunter. »Das wär doch echt riesig, oder?«
Und nun die Wahrheit: Star hatte es nicht drauf. Und entgegen allem, was sie sich vormachte, hatte sie es auch in jener Nacht im Tipi nicht draufgehabt. Das war Ronnie gewesen. Ronnie hatte auf sie eingeredet, bis sie sich vor dem anderen Typ ausgezogen hatte – oder nein: Ronnie hatte sie so lange beschämt, bis sie es tat. »Du willst doch keine verklemmte bürgerliche Fotze sein wie deine Mutter, oder etwa doch?« hatte er gefragt, ein grimmiges Raunen in ihrem Ohr. »Oder wie meine Mutter, Scheiße noch mal. Komm schon, das geht in Ordnung, der menschliche Körper ist schließlich was völlig Natürliches – ich meine, was soll denn das?«
Der andere Typ – seinen Namen hatte sie nie erfahren – glotzte sie an wie einen Film, den er zum erstenmal sah. Er hockte im Yogasitz da, die reinste Verkörperung von Frieden und Liebe, aber es war klar zu sehen, daß er innerlich total verbiestert war. Er hatte etwas Angestrengtes, geradezu Irres an sich. Sie spürte es, irgendeine schlechte Aura, aber dann sagte sie sich, sie sei vielleicht nur etwas paranoid vom Peyote. Also legte sie sich zurück, kreuzte die Knöchel und starrte ins Feuer. Einen ewigen Moment lang sprach niemand. Und als sie endlich wieder aufsah, waren die Augen des Tipi-Typs so hell, daß gar keine Iris mehr zu sehen war, oder fast keine. Ronnie drehte einen Joint und half ihr, die blaue Jeansjacke abzustreifen, auf deren Ärmeln und Schultern sie alle zwölf Sternzeichen aufgestickt hatte, er selbst stand schon in der Unterhose da, der Tipi-Typ – nein, der Freak, der Tipi-Freak, denn Ronnie verbesserte sie dauernd und meinte, man sagt nicht Typ zu Männern, man nennt sie Freaks – trug eine Art Lendenschurz, und sie war bis zur Hüfte nackt. Das Feuer flackerte auf den Wänden, und der Rauch ringelte sich durch das Loch in der Spitze.
»Genau wie die Sioux an den Hängen des Little Big Horn, was, Alter?« sagte Ronnie und gab den Joint weiter. Und dann schien die Zeit zu wabern, alles funkelte rot, blaugrün und golden, Ronnie lag auf ihr, und der Tipi-Typ sah ihnen zu, aber es war ihr egal, oder doch nicht, aber es ging schon. Sie machten es auf einer Indianerdecke, und dieser Freak sah zu, aber es war Ronnie, und sie paßte perfekt in die Konturen seines Körpers, kannte seine Schultern und seine Zunge und seine Art, sich zu bewegen. Ronnie. Pan. Von zu Hause. Dann aber rollte er von ihr runter, saß eine Minute lang da und murmelte: »Wow, echt stark, Mann«, schwer atmend, mit Schweiß auf der Stirn und einem winzigen Tröpfchen davon an der Nasenspitze wie ein kleines Juwel, machte eine Handbewegung in Richtung des Tipi-Typs und sagte: »Nur zu, Alter, es ist okay ...«
Draußen, am Eingangstor der Drop City Ranch, war ein Sperrholzschild windschief an den Querpfosten genagelt: Keine Männer, keine Frauen – nur Kinder. Genau darum ging’s, dachte sie, sie waren nichts als Kinder in einer Welt zum Anfassen und Immer-wieder-Anfassen. Ronnies Arm lag wie etwas Lebloses auf ihr, wie ein Zwei-Tonnen-Gewicht, ein gefällter Baumstamm, der sie vom Hals abwärts niederdrückte. Die große Frau tanzte immer noch oben ohne. Got to keep movin’, sang Junior Sky Dog, movin’ on down the line.
»Also, was sagt ihr dazu?« wollte Ronnie wissen. Sein Gesicht war nur Zentimeter von ihrem entfernt, der helle Pelz seines Barts, die baumelnden Haarsträhnen. In seinen Augen verliefen feine Bruchlinien, als wären es Keramikplättchen, die in den weißen Schimmer hineingehämmert und dann in tausend Stücke zerschlagen worden waren. Sie sagte gar nichts, also wandte er sich an Merry, und Star beobachtete das Gesicht der neuen Frau.
Merry hatte ihre eigene Version des Ein-Millionen-Kilowatt-Lächelns, breit und hübsch, und sie zeigte jede Menge Bein in ihrem hellgelben Minikleid, das den Eindruck machte, als wäre es monatelang nicht in der Wäsche gewesen. Sie sah erst zu Ronnie und dann kurz direkt in Stars Augen, ehe sie den Blick durch den Raum schweifen ließ, als wäre sie viel zu bekifft, um es wichtig zu nehmen, aber sie nahm es wichtig, sehr wohl – das sah Star an der unsicheren Art, wie sie leicht den Kopf senkte und am Saum ihres Kleids zupfte, an dem dunklen Dreckrand dort, weil sie an der Stelle schon tausendmal gezupft hatte. »Ich weiß nicht«, sagte sie, ihre Stimme ein Lufthauch. Dann zuckte sie die Achseln. »Wieso nicht?«
Die beiden blonden Kinder tanzten jetzt auch, der vier- oder fünfjährige Junge mit dem leeren Blick und seine kleine Schwester, sie sahen auf ihre Füße, keinerlei Rhythmusgefühl, nicht die Bohne, und der kleine Pummelpenis des Jungen flog wie ein Metronom zu einem völlig eigenen Takt hin und her. »Cool«, sagte Ronnie. Dann wandte er sich wieder zu ihr um, zu Star, und fragte: »Was ist jetzt, Star, was meinst du?«
Sie antwortete: »Ich glaube nicht. Nicht heute abend. Ich fühl mich irgendwie – ich weiß nicht, komisch.«
»Komisch? Was zum Teufel meinst du damit?« Ronnies Augenbrauen ringelten sich, und sein Mund war zu einem kleinen Loch geschrumpft – diesen Blick kannte sie. Obwohl er sich kaum bewegt hatte, obwohl er für alle Welt der hipste, coolste, am wenigsten verklemmte Blumenkinder-Freak im ganzen Universum blieb, plusterte er sich innerlich auf, wurde voll von Zorn und Ronnie-Genervtheit. Er würde seinen Willen bekommen. Er bekam immer seinen Willen, ob es nun darum ging, wen er vögelte oder wann und welche Schnellstraße sie nehmen oder wo sie die Nacht verbringen oder sogar was sie zusammen essen sollten. Es war ihm schnurz, daß sie gerade durch ein Kaff wie Buttwash, Texas, fuhren und von einem Dexamil-Trip runterkamen und daß sie von nichts anderem als Rührei träumte, bis es ihr zur Obsession, ja zur Halluzination wurde, er wollte Tacos und Salsa und Chilis und ein Tecate-Bier dazu, und genau das bekamen sie dann.
»Jetzt mach schon, sei kein Spielverderber, Paulette. Du weißt doch, was die Kerista-Gesellschaft sagt, hast es doch schwarz auf weiß im Speeler gelesen, na? Oder etwa nicht?«
Natürlich wußte sie es. Weil er die Stelle jedesmal zitierte, wenn er geil war. Wer immer diese Typen waren, die Keristaner oder Keristanten oder wie die sich auch nannten, sie predigten freie Liebe ohne Einschränkung – das heißt, es mit jedem zu treiben, der einen fragte, egal, welche Rasse, Religion oder Hautfarbe er hatte oder ob er nun fett und alt oder zurückgeblieben war oder so roch wie das Futter eines alten Schuhs. Es galt als feindseliger Akt, zu jemandem nein zu sagen, ganz egal, ob man sich danach fühlte oder nicht – es ist sieben Uhr früh, du hast einen Kater und deine Haare sehen aus, als wären sie auf die Schädeldecke geklebt, und irgendein Typ kommt rein und will bumsen? Dann bumst du ihn eben. Entweder das, oder du kommst total uncool rüber, weil du von kleinbürgerlichen Komplexen befallen bist, genau wie deine verklemmten Eltern und der Rest der Spießerwelt. Soviel hatte die Kerista-Gesellschaft dazu zu sagen, aber für Star, so wurde ihr allmählich und auf höchst rudimentäre Weise klar, war freieLiebe nichts als die Erfindung von irgendeinem Freak mit Pickeln und widerlich fettigen Haaren, der vielleicht auch noch schielte und sonst, nach anderen Regeln, einfach nie jemanden zum Vögeln finden würde, und das war nicht ihr Ding, nicht heute nacht, nicht mit Ronnie und Wie-hieß-sie-noch-gleich?
»Nein, Ronnie«, sagte sie, nahm seinen Arm von ihren Schultern und ließ ihn fallen wie die tonnenschwere Last, die er war, »nein!« Sie war jetzt auf den Beinen, sah auf ihn hinab, auf den kleinen hellen Fleck seines Gesichts und auf die Frau, die zu ihr emporstarrte und deren Lächeln erstarb wie bei einem Stromausfall. »Die Kerista-Gesellschaft interessiert mich einen Dreck. Ich geh jetzt ins Bett. Und nenn mich nicht so.«
Er war gekränkt, vernichtet und klammerte sich an die neue Frau – Merry, so hieß sie, Merry –, als wäre sie ein Koffer auf hoher See und sein Schiff soeben gesunken. »Wie?«
Brüste klatschten, der kleine Schwanz schlenkerte, die Leute schlugen sich Tamburine gegen die Handflächen, und der Qualm von Gras und Räucherstäbchen waberte über den Boden. »Nenn mich nicht Paulette«, sagte sie, und dann war sie weg, ihre bloßen Füße suchten sich einen Weg durch die wogenden Hüften und nackten Gliedmaßen ihrer Brüder und Schwestern.
Es war ein anderer Morgen. Dieser kam mit einem Glühen über die Baumwipfel, das ganz natürlich war, weil sie seit drei Tagen nicht mehr high gewesen war, denn Ronnie war schwer beschäftigt mit Merry und der Frau mit den großen Brüsten, die siebenundzwanzig war und als Sekretärin bei irgendeiner Spedition arbeitete. Sie hieß Lydia, und sie fand auf Drop City eine oder auch mehrere gastliche Matratzen, woraufhin sie gleich beschloß, zu bleiben und auf ihren Job, die Plastikwelt, ihre riesigen, ins Fleisch schneidenden BHs, die Haarnadeln, das Make-up und den Rest zu scheißen. Star war das gleichgültig. Es war ja nicht so, daß sie in Ronnie verliebt war oder so. Er kam nur eben aus demselben Ort wie sie, und sie waren so lange gemeinsam unterwegs gewesen, durch das weite flache Becken von Iowa, das gelbe Nebraska, durch New Mexico in seinem Mantel aus bröckligem Braun und das ziegelrote Arizona, und dabei hatten sie zu den Stones mitgesungen: Under My Thumb, Goin’ Home, home, home, home. Das war schon was. Sicher doch. Aber während sie den Melkeimer unter die erste Ziege bugsierte, wurde ihr bewußt, daß sie zum erstenmal, seit sie sich überhaupt erinnern konnte, ein richtig gutes Feeling hatte, sauber und rein und gut, kein Streß, kein Nerv.
Der Augenblick war elektrisierend, und sie spürte ihn durch die nackten Fußsohlen hindurch, durch jede Pore ihres Körpers: so hatte sie sich das Leben vorgestellt, als sie von zu Hause wegging, ein Leben in Frieden und Gelassenheit, ein Leben in Liebe und Meditation und Vertrauen auf das Einfache, keine Verstellung, keine Spielchen, keine Plastikbegierde auf der Jagd nach dem Dollar. Ihre erste Ahnung, wie so etwas sein könnte, hatte sie schon zu Hause bekommen, wo Ronnie ein paar Leute kannte, die eine Reihe von Steinhäuschen mitten im Wald gemietet hatten, etwa anderthalb Kilometer von der Schnellstraße entfernt. Ronnie und sie gingen damals fast jeden Abend rüber, sogar wenn sie am nächsten Morgen aufstehen und arbeiten mußte, weil sie noch bei ihren Eltern wohnte, aber bei diesen Leuten konnte man so wunderbar die Seele baumeln lassen. Die Bewohner der übrigen Häuschen versammelten sich meist im letzten der Reihe – es gehörte zwei Schwestern aus Florida, JoJo und Suzie –, weil es das größte war und einen gemauerten Kamin besaß, den Suzies Freund ständig befeuerte.
JoJo war schon älter, vierundzwanzig oder fünfundzwanzig, und hatte eine Zeitlang bei einer Kommune in Vermont gelebt, die sich Further nannte, und an guten Abenden, wenn nicht alle so stoned waren, daß sie wortlos in die Kissen auf dem Boden sanken und sich völlig dem Puls der Stereoanlage überließen, schwelgte JoJo in Erinnerungen. Sie war mit sechzehn Jahren dorthin gekommen, von zu Hause davongelaufen, hatte sich mit einem der Freaks zusammengetan und war drei Jahre geblieben. Beim Erzählen drehten sich ihre Augen nach innen, und die Asche ihrer Zigarette wurde weiß. Sie saß oft am Küchentisch und erzählte Star davon, wie es war, mit Menschen zusammenzuleben, die einen Tag und Nacht echt anturnten, mit mystischen Brüdern und Schwestern, die wirklich für einen bestimmt waren, extra ausgesucht auf der weiten Welt, und von den einfachen Freuden beim Brotbacken, beim Eierholen oder beim Einkochen des dünnen, leicht süßlichen Safts der Ahornbäume, bis man einen Sirup hatte, der wie flüssiges Gold war, wie man ihn im Laden niemals kaufen könnte.
Ronnie saß dann meistens drüben im großen Raum – er war damals auf Heroin –, wo er döste, sich kratzte oder mit Grabesstimme über Autos, Anlagen oder Bands redete, und JoJo hatte immer einen Topf mit irgendwas auf dem Ofen, nur für den Fall, daß jemand Hunger bekam, und natürlich passierte das praktisch jeden Abend. Es war keine Kommune – es war eigentlich nicht viel mehr als ein Haufen ausgeflippter junger Leute, die miteinander leben wollten –, aber für Star schien es einmalig. Man konnte jederzeit dort auftauchen, in jedem der Häuschen, und fand immer irgendwen, mit dem man reden oder eine neue Platte genießen konnte – oder ein Gedicht oder Drogen oder was zu essen. Star machte es sich gern auf dem alten Flokatiteppich am Kamin gemütlich, Schulter an Schulter mit Ronnie, und dann hörten sie bis in den Morgen hinein Musik, während eine Pfeife oder eine Tüte kreiste, und wenn sie lieber quatschen oder ein neues Paar Stiefel oder ein Schmuckstück vorzeigen wollte, hatte sie Suzie und JoJo und noch ein halbes Dutzend Frauen als Ansprechpartner, die wie Schwestern für sie waren, wie Zimmergenossinnen im Studentenheim, nur besser.
Damals, das war ein Vorgeschmack, leider nur ein kurzer. Denn es dauerte nicht lange, da nahmen die Bullen die Siedlung aufs Korn und machten es echt nervig, auch nur die dunkle Waldstraße entlangzufahren, ständig rechts ran, raus aus dem Wagen, und wo wollen wir denn so spät noch hin, und kenn ich dich nicht von irgendwoher? Außerdem ging es viel zu sehr um Drogen, nach einer Weile waren alle total abgedreht, und es gab kein wirkliches Miteinander – die meisten hatten ja weiterhin ihre Jobs in der Plastikwelt. Suzie wurde mit Dope erwischt, dann Mike, ihr Freund, und bald löste sich die Sache sang- und klanglos auf. Jetzt aber war Star hier, in Kalifornien, den Sonnenschein auf den Schultern, mit Ziegen, die sie anmeckerten, und sie war zum erstenmal wirklich Teil von etwas, von etwas Bedeutsamem. Zum Beispiel das hier: bis vor zwei Wochen hatte sie noch keine einzige Ziege auch nur gesehen – oder wenn doch, dann in einem Streichelzoo oder auf einem Bauernhof, als sie zehn war und ihre Kiefer sich fest um die Zahnspange schlossen, weil sie nicht zu lächeln wagte mit dem vielen unschönen Metall, das in ihrem Mund aufblitzte –, und jetzt konnte sie diese hier sogar schon total routiniert melken, wie eine Magd in einem Roman von Thomas Hardy, Star von den D’Urbervilles, die Versorgerin der Kommune.
Also los. Die gelbliche Milch spritzte in den Eimer. Aber dann wurde die zweite Ziege unruhig – entweder war es Amanda oder Dewlap, sie verwechselte die beiden immer noch, obwohl sie jetzt schon den wievielten Morgen hintereinander an ihren Zitzen zerrte und drückte? – und latschte mitten hinein, so daß die Milch, die für Joghurt bestimmt war, ganz zu schweigen von Cornflakes und Kaffee, in den Dreck sickerte.
»Wow«, sagte eine Stimme hinter ihr, »ein Trankopfer für die Götter. Ich bin beeindruckt.«
Sie kauerte im Schatten der Eiche, an die sie die Ziegen über Nacht anleinten, damit sie nicht auch noch das letzte knospende Grün dieser Welt abfraßen, und indem sie ein Lächeln aufsetzte, schwang sie den Kopf herum. Sie war glücklich – beschwingt und kurz davor, ihren Frohsinn herauszuschreien, ob die Milch nun verschüttet war oder nicht –, weil sie sich genau das immer gewünscht hatte: gemeinsam mit ihren Brüdern und Schwestern von der Natur zu leben, und scheiß auf Ronnie, wirklich, scheiß auf ihn. Also schön. Prima. Aber sie lächelte ins Leere: es war niemand da.
Stand es so schlimm um sie? Flashbacks waren eine Sache, aber akustische Hallus?
»Hier oben«, rief die Stimme, also blickte sie hoch, an der breiten grauen Straße des Baumstamms entlang, und sah dort die Sohlen zweier schmutzstarrender Füße, Füße so schwarz wie das Innere eines Grabs, und den weißen Fleck der nackten Oberschenkel und Hüften eines Mannes, darüber seine ebenso unbekleidete Brust, sein Haar und sein Gesicht. Er grinste zu ihr hinunter, rittlings auf einem Ast sitzend, der so dick war wie die Wasserrohre in der Stadtrandsiedlung, wo sie inmitten tuckernder Rasenmäher und qualmender Holzkohlegrills aufgewachsen war. Grillpartys. Fliederbüsche. Grundschule.
Was konnte sie sagen? Sie hob die Handfläche an die Stirn, um die Augen gegen das grelle Licht zu schützen, aber da war kein Licht, da waren nur die tiefen Schatten des Laubs und darüber ein sanft schimmernder Fleck, die Sonne.
Gleich über ihm – und wie hatte sie das nur übersehen können? – war ein Baumhaus, das exakte Ebenbild von dem, das ihr Vater für sie in dem wilden Kirschbaum hinten im Garten gebaut hatte, als sie acht wurde, weil sie sich das und nur das zum Geburtstag gewünscht hatte. Seine Stimme drang zu ihr hinunter: »War die Ziege aufmüpfig, oder hast du wirklich den Göttern ein Sühneopfer gebracht?«
Sühneopfer? Was war denn das für ein Typ?
»Ich wollte Joghurt machen, aber Dewlap hier, oder vielleicht ist es auch Amanda, die spielt nicht mit.«
»Du brauchst einen Ziegenbändiger.«
»Genau. Du bist wohl einer, oder? – Rein zufällig, meine ich ...«
Er war einfach ein halbnackter Mann auf einem Baum. Er lachte. »Das hast du gut erkannt. Aber ehrlich, das ist nur ein Nebenjob – meine wahre Mission auf dieser Erde ist das Bauen von Baumhäusern. Übrigens, gefällt’s dir?«
Er hieß Marco, und Norm Sender, der Typ – Freak –, der diese zwanzig sonnenverbrannten Hektar Land über dem Russian River geerbt und darauf vor zwei Jahren Drop City gegründet hatte, war ihm beim Trampen begegnet, auf der Straße von Bolinas. Marco hatte sich das Baumhaus an einem einzigen Nachmittag aus Brettern zusammengezimmert – das war gestern, während sie eine Siesta eingelegt, ein bißchen meditiert, im Garten gewerkelt und die gemeinschaftlichen Töpfe gescheuert hatte –, und als er ihr den Arm entgegenstreckte, ergriff sie seine Hand, und er zog sie neben sich auf den Ast, als wöge sie nicht viel mehr als die Sommerluft. Sie saß fast in seinem Schoß, und er war nackt, hatte aber keinen Ständer, denn darum ging es hier nicht – hier ging’s um das Brüder-und-Schwestern-Ding und darum, daß man zu einer bestimmten Morgenstunde oben auf einem Baum thronte und die Welt darunter allein weiterlaufen ließ. »Das hier ist der Berg Olymp«, sagte er, »und wir sind die Götter, die Lichtbringer, und siehst du den kleinen Fleck da unten auf der unbedeutenden Erde, wo die Ziegenmagd ihr Opfer gebracht hat?«
Sie sah den Fleck, und das war witzig, das Witzigste auf der Welt, die Ziegenmilch im Staub, der umgekippte Blecheimer, die meckernden Ziegen, die ihre Bohnen auskackten, und eine Frühaufsteherin – es war Reba, bauschiges Blusengeflatter, die ewige Nährmutter Reba – trug aus der Küche des großen Hauses eine Schüssel Abwaschwasser, die sie sorgfältig über den Margeriten im Garten entleerte. Star lachte, bis ihr die Rippen schmerzten und der Sauerstoffmangel sich in ihrem Hinterkopf bemerkbar machte, und dann führte Marco sie in das Baumhaus, fast zwei Meter breit und zweieinhalb Meter lang, mit einem Teppich, einer Gitarre, einem aufgeschlagenen Schlafsack und einem Dach aus köstlich duftenden Zederschindeln. Und was tat er als erstes? Er drehte einen Joint, leckte ihn an beiden Enden an und reichte ihn ihr.

2

Der Straßenrand war seidig weich von Farn, Wildblumen und nassem Gras, das sich emporreckte, um den Bauch der Nebelschwaden zu erwischen, und er stand da in seinen löchrigen Jeans und hielt den Daumen raus. Er trug eine blaue Jeansjacke, ein T-Shirt, das seit einer Woche nicht gewaschen worden war, und ein Paar handgenähte schwarzrote Cowboystiefel, die er in Mexicali zu etwa einem Fünftel des Preises von San Francisco gekriegt hatte, allerdings waren sie nicht von allzu guter Qualität. Die Hacken waren ungleichmäßig abgetreten, und das Oberleder war so oft klatschnaß geworden, daß es die Farbe fast völlig ausgelaugt hatte. Oben, unter den Hosenbeinen, glänzten die Stiefel noch wie neu, aber was man von ihnen zu sehen bekam, erinnerte eher an die Rohlederknochen, die sie in der Zoohandlung im Grabbelkorb verkauften. Seine Gitarre war auch so ein Ding. Einen Kasten für sie hatte er nie besessen, jedenfalls konnte er sich nicht erinnern, deshalb wickelte er sie zum Schutz in einen schwarzen Müllsack. Während er mit herausgerecktem Daumen an der Straße stand, lehnte sie aufrecht an seinem Bein wie ein absurder Glitzerpilz, der aus dem Boden gesprossen war, als gerade niemand hingesehen hatte.
Es regnete nicht, nicht richtig, aber die Bäume fingen den Nebel ein, und er hatte sich die Haare mit einem roten Halstuch zurückgebunden, um die triefnassen Strähnen aus dem Gesicht zu halten. Am Gürtel trug er ein Messer in einer fünfzehn Zentimeter langen Scheide, das aber nur für gewaltlosen Gebrauch gedacht war, etwa zum Abrinden von Manzanitazweigen oder zum Ausnehmen von Forellen, bevor er sie in Alufolie auf einem Bett aus glühenden Kohlen garte. In seiner ledernen Feldflasche war Wasser, kein Wein (diese Lektion hatte er auf die harte Tour gelernt, damals in der Sonora-Wüste), und der alte Armeerucksack enthielt einen Schlafsack, eine grobe Decke für den Boden, ein paar Gerätschaften und eine feuchte Taschenbuchausgabe von Steinbecks Von Mäusen und Menschen. Am Morgen hatte er die ersten Seiten mal wieder gelesen – wie George und Lennie vor einem Feuer aus Schwemmholz sitzen, in einer Welt, die alles verspricht und nichts hält –, während die Dämmerung grau durch die Bäume gesickert war und er sich Kaffee gekocht und eine Dose Eintopf über seinem eigenen Lagerfeuer gewärmt hatte. Marco dachte gerade darüber nach, wie Lennie immer wieder seinen Refrain »Und leben vom Fett der Erde!« durchhielt, trotz der tristen Beweise des Gegenteils, als das erste einer ganzen Prozession von Autos aus dem Nebel auftauchte und an ihm vorbeizischte, als würde er gar nicht existieren.
Ihm war das egal. Er hatte keine Eile. Er ließ sich eher treiben, anonym wie der Morgen, und ja, er hatte einigen Ärger mit der Polizei wegen Drogenbesitzes gehabt, hatte mit dem College aufgehört, seinen Job gekündigt, dann den nächsten und den übernächsten, und ja, er hatte auch die harte, kalte Kartonpostkarte bekommen, mit dem unwiderlegbaren Einberufungsbescheid schwarz auf weiß in dem Briefkasten aus grausilbernem Blech vor dem Haus seiner Eltern in Connecticut, aber das war schon zwei Jahre her. In der Zwischenzeit – und hier dachte er an seinen Lieblingsroman von Steinbeck: Tortilla Flat – hatte er versucht, die Dinge anders anzugehen, alternativ zu leben, einfach dort abzuhängen, wo es lustig war. Alle redeten ja immer davon, zurück zur Natur zu kommen, als wäre das an sich schon ein Fortschritt. Er wußte inzwischen, was die Natur war – er hatte auf ihr gepennt, war in ihr gewandert, hatte ihre grellen alkalischen Ebenen durchquert und sie körperlich gespürt, wie eine gewaltige ein- und ausatmende Lunge, während er in der Stille des Morgens unter den Bäumen dahinschritt. Das war schon was ... und einstweilen das Beste, was er tun konnte. Was die Autos anging: auch am Abend davor hatte er keinen Lift bekommen, daraufhin hatte er diese Stelle gefunden – eine scharfe Biegung der Straße, gesäumt von Eukalyptusbäumen, die nach Tau und Menthol und allen Möglichkeiten des Lebens dufteten – und sich am Ufer eines Bachs schlafen gelegt, damit er beim Plätschern des Wassers und nicht bei Verkehrslärm aufwachen würde.
Als die Wagenkolonne außer Sicht war, kehrte eine überirdische Stille ein, nur Vogelgezwitscher und das Rauschen der tropfnassen Bäume. Er wartete einen Moment, achtete auf Motorengeräusche, dann hängte er sich die Gitarre über die Schulter und marschierte die Straße hinauf in Richtung Olema und Point Reyes. Er versank im Rhythmus seiner Schritte, spürte ihn in den Unter- und Oberschenkeln wie eine Art Kraft, ein Mann, der am Straßenrand entlangging, und er hätte immer weiter so gehen können, quer über den Kontinent und wieder zurück, dabei würde seine Miene jedem vorbeifahrenden Auto sagen, daß er sich einen Scheiß drum kümmerte, ob sie nun anhielten oder nicht. Fünfundzwanzig oder dreißig Autos waren vorbeigefahren, und die Sonne hatte sich aus den Wiesen erhoben, um den Nebel wegzubrennen, als endlich ein VW-Bus für ihn bremste. Er war fast nagelneu, dieser Bus, oben weiß, unten ein dunkles Orange, doch als Marco ihn keuchend erreichte, sah er das Peace-Zeichen, ungelenk mit weißer Farbe auf die Seite gepinselt, und da wußte er, daß er angekommen war.
Am Steuer saß ein älterer Typ – Mitte, vielleicht sogar Ende Dreißig – mit einem wilden Bart, der ihm über den Overall hing und in die Haare hinaufwucherte. Er trug eine Brille mit klobigem schwarzem Plastikgestell, und in seinem Grinsen blinkten mindestens zwei Goldzähne. »Spring rein, Alter«, sagte er. »Wo soll’s denn hingehn?«
Das Zuknallen der Tür, ein Aufheulen des scheppernden Motors, Kamikaze-Insekten und Staub, Rucksack und Gitarre auf den Rücksitz gepfeffert wie Schmuggelgut, jeder Aufbruch ein Ritual, jedes Ritual ein Aufbruch. »Nach Norden«, sagte Marco. »Hey, das ist echt stark, Alter«, fügte er hinzu, »einfach irre«, dann fuhren sie los, und aus dem Radio fetzte der elektrische Sturmangriff von Rockmusik.
Die sichtbare Welt flog volle sechzig Sekunden lang an ihnen vorbei, ehe der Fahrer sich zu ihm umdrehte und gegen die Musik anschrie: »Nach Norden? Verdammt allgemeine Richtungsangabe. Woran dachtest du denn so – vielleicht Sitka, Alaska? Oder Nome? Wie wär’s mit der Werkstatt des Weihnachtsmanns? Den Weihnachtsmann kriegen wir hin.«
Marco grinste ihn nur an. »Eigentlich wollte ich nach Sonoma rauf – kennst du die Drop City Ranch?«
»Drop City? Du meinst diese Hippiekommune? Wo sie alle nackig rumlaufen und den ganzen Tag lang nur bumsen und Dope rauchen? Auf so was fährst du ab?«
Marco überlegte. Dieser Typ könnte sonstwer sein – zum Beispiel ein Zivilbulle oder ein Nazi oder ein Börsenmakler, sogar der Oberscherge von der Einberufungsbehörde. Aber der Bart – der Bart verriet ihn einfach. »Klar, Mann«, sagte Marco, »genau darauf fahr ich ab.«
Es konnte nicht lange nach zwölf gewesen sein, als sie durch den Viehzaun rollten und dann in den tiefen Fahrrillen der Schotterstraße zum Haupthaus rumpelten. Es war die absolut irrste Mitfahrgelegenheit, eine Fahrt, die einen geradewegs an die Veranda und bis zur Eingangstür führte, und Marco hatte schweigend in dem VW-Bus gesessen, ganz Ohr, als Norm Sender auf seine Antwort hin losbrüllte: »Gute Antwort, Bruder« und dann mit einem halbstündigen Vortrag über sein Lieblingsthema – sein einziges Thema – loslegte: Drop City.
Er war auf irgendwas drauf – Speed wahrscheinlich, so wie er aussah und drauflosbrabbelte –, aber das spielte weiter keine Rolle für Marcos Einschätzung, weil praktisch jeder, dem er in den letzten zwei Jahren begegnet war, entweder high war oder gerade von irgendeinem Trip runterkam, und ihm selbst war es wohl ebenso ergangen, öfter, als er selbst zugegeben hätte. Zu Anfang, mit neunzehn, zwanzig, da war es eine Sache des Angebens – Aha, du hast also bei dem Konzert DMT eingeworfen und dann noch O geraucht? Echt cool, aber ich drücke seit neustem, Mann, das isses für mich. Und Acid. Logisch, Acid. Aber da geht’s mir nicht um Bewußtseinserweiterung oder irgendwelchen mystischen Quatsch – ich will nur gut draufsein, Alter, alles klar? –, aber inzwischen wiederholten sich die Dinge. Wie viele solcher Unterhaltungen hatte er schon geführt? Zehn Millionen, heiße Luft rein, heiße Luft raus. Trotzdem, als Norm Sender einen Joint anrauchte und ihm hinüberreichte, nahm er ihn und zog daran. So machte man das eben. Das war das Ritual.
Sie saßen da, starrten durch die Windschutzscheibe und rauchten. Als der Joint runtergebrannt war, zündete Norm eine Zigarette an und reichte auch die an Marco weiter; Marco nahm einen Zug und gab sie zurück. Die Straße war wie jede andere Landstraße, brennende Seide in feurigem Glanz, die Bäume rasten vorbei wie Tiefflieger. Marco lehnte sich zurück und ließ den Bus schaukeln und ruckeln, auch als der Rauch die Fenster vernebelte und Norm sich ständig die Brille zurechtschob, als wäre das Gestell voller Öl. Er trug einen Gürtel aus geflochtenem Seil, der aber seinen mächtigen Schmerbauch nicht bändigen konnte, aus den Ohren und Nasenlöchern wuchsen ihm schwarze Stoppelhaare, und seine Arme waren viel weißer, als man es bei Leuten vom Land erwartet hätte. Er redete, und Marco hörte zu, seine Stimme war ein heiseres Keifen, das durch die Lärmsuppe aus dem Radio drang und vom Brummen des Motors abprallte.
»Also meine Eltern, ja?« (Dies kam als Auftakt, obwohl Marco kein Wort über irgend jemandes Eltern gesagt hatte – sie hatten nur ein bißchen gequatscht, guter Stoff und echt stark und so weiter, und im Radio war nichts als Rauschen gekommen, während Norm mit seinen ramponierten Wurstfingern daran herumgedreht hatte.) »Also, meine Alte, die mich gestillt hat, und mein alter Dreckskerl von Spießervater, ja? Die sind abgekratzt. Rumsdiebums. Frontalzusammenstoß mit einem Lastwagen voller 1-a-Grillpoularden, der auf der 116 von Petaluma unterwegs war, und das mag vielleicht witzig klingen, aber es ist nicht witzig, denn der alte Kacker war sturzbesoffen, und meine Mutter hätte was Besseres verdient gehabt, aber jedenfalls kriegte ihr Sohn und Erbe – das bin ich, mit Verlaub – die Ranch in den Bergen, aber ich fand das einfach uncool, diesen ganzen Trip mit dem Landbesitz, weil Grund und Boden ja nicht einfach irgendwem gehören können, also dachte ich so in Richtung Timothy Leary: Laß uns mutieren, Mann, hab das Konzept des ›Freiwilligen Urzustands‹ entwickelt, und das darf ich dir mal kurz buchstabieren: LADJEAH – Land, Auf Das Jeder Ein Anrecht Hat, kapiert? Wenn du nach Drop City kommen willst, wenn du dich anklinken-einklinken-ausklinken und einfach mit der Natur leben und dein eigenes Ding durchziehen willst, ob das nun Ziegenmelken ist oder Abwaschen oder den Garten bestellen oder Sachen reparieren oder Rehe auf den Grill spießen oder auch nur in aller Seelenruhe zu den Sternen raufblicken – und mir ist wirklich egal, was davon du lieber hast –, dann bist du willkommen bei uns, hallo, nur hereinspaziert!«
Zwei Stunden. So ging es dahin. Marco war in der Phase, in der alle großen Erwartungen allmählich einem dunkleren, ranzigeren Gefühl weichen müssen, doch als er das hohe Gras sah, mit Senfblüten durchsetzt, und die Eichen und die umhertollenden Hunde, die Ziegen, Hühner, die langhaarigen Männer, alle so im Einklang mit dem, was sie taten, daß sie kaum aufblickten, und die Frauen – die Frauen! –, da spürte er, wie etwas in ihm völlig neu geboren wurde. Er beugte sich vor und ließ die Szenerie sich vor ihm entfalten: Hütten, Zelte, Gemüsebeete und Zitrusbäume, eine geodätische Kuppel – oder war das eine Jurte? Dann bog der VW-Bus um eine Kurve, und das große Haus blitzte hinter Bäumen auf. Es war zu sehen, dann war es wieder weg. Als es wiederauftauchte, nahm Marco ein einstöckiges Holzhaus mit diversen Nebengebäuden wahr, nicht viel anders, als man es in Kansas oder Missouri oder sonst einem Staat finden würde, wo brave Bauern die Erde bearbeiteten, nur daß irgendwer alle Kanten in Grellorange eingefärbt und die Flächen in einem Karomuster aus Grün und Rosa gestrichen hatte, womit das Haus kein Haus mehr war, sondern eine Art Reklameposter für die psychedelische Revolution. Der VW-Bus bog auf einen Kiesweg ein, Staub wirbelte auf und schwängerte die Luft, Norm grinste in die Runde und grüßte mit dem Peace-Zeichen, zwei hellbraune Hunde liefen neben der Wagentür her, dann kam der Bus auf einem rumpligen Parkplatz hinter dem Haus zum Stillstand, und Norm brüllte: »Gerade recht zu den Feiertagen zu Hause, ah, ja!«
Feiertage? Was denn für Feiertage? Marco überlegte, welcher Feiertag wohl Mitte Mai bevorstand – er war nicht sicher, welches Datum genau war, aber nicht später als vielleicht der fünfzehnte oder sechzehnte –, als Norm sich grinsend zu ihm umdrehte. »Ist nur so ’ne Redensart, Mann – und ich möchte der erste sein, der dir frohe Weihnachten wünscht! Nein, echt, auf Drop City ist jeder Tag ein Feiertag, weil hier die Spießerwelt verbannt ist, kategorisch und absolut: Wir müssen leider draußen bleiben, Mr. Normalo, kapiert?«
Was konnte er schon tun, außer grinsend zu nicken und seinem Wohltäter ein wenig zur Hand zu gehen, als dieser anfing, Vorräte aus dem Bus zu laden: Ketchup in Dosen, Erdnußbutter, Honig, säckeweise Bulgur, Sesamkörner, ganze Mandeln und Rollhafer, Werkzeug, einen reparierten Generator, ein riesiges Backblech voller Brot – »Tauschhandel, Alter: Brokkoli für Brot, Gurken für Brot, Auberginen auch, und schon mal solche Kohlrüben gesehen?« – und zwei große Papiertüten mit rund dreißig LPs drin. Und wohin sollte das alles? In das große Haus, vier Stufen rauf über die abgetretene Veranda und weiter mit vollen Armen in die Küche, auf den handgezimmerten Tisch damit, primitiv, aber ehrlich, Küchenkräutertöpfe auf den Fensterbrettern, Regale vom Boden bis zur Decke, darauf Riesendosen und Anstaltspackungen von allen erdenklichen Lebensmitteln, als rechnete man mit einer Belagerung. Und Frauen, gleich drei: Merry, Maya und Verbie.
Alle drei blickten auf, als Marco hinter Norm durch die Tür kam und seine Last auf dem Tisch ablud, sie lächelten, ja, aber er kannte dieses Lächeln schon – kannte es von Morning Star, Olompali, der Magic Farm und Gorda Mountain –, und daraus war bis auf Restmengen fast alles Brüder- und Schwesterliche ausgewaschen. Gemeint war es als ein Willkommen, dieses schmallippige Geschwisterlächeln, in dem auch die Sorge um angebrannten Haferbrei mitzuschwingen schien, denn wie viele hatten sie schon so willkommen geheißen? Er war neu. Ein neuer Freak. Ein weiteres Maul zu stopfen, und würde er mitarbeiten, würde er bleiben und den Garten jäten, das Dach reparieren, eine neue Abwasserleitung legen von den ständig verstopften Klos bis zu dem erst halbfertigen Rieselfeld, kurz gesagt: Würde er die Investition von Zeit und Atemluft wert sein, oder würde er sich nur durchvögeln, den ganzen Tag lang kiffen, billigen Wein saufen und zwischendurch mit einem Teller in der Hand zum Essen antreten? Diese Frauen lächelten mit Bedenkzeit, und er fühlte sich gehemmt und wertlos.
Er mußte die Stufen ein halbes Dutzend Mal hinaufgestiegen sein, die Arme mit Einkäufen beladen, bevor ihn jemand ansprach. Es war Merry, groß und dunkeläugig, ein Zweiglein Schleierkraut hinters Ohr gesteckt, die den Blick hob und leise fragte: »Schon lange unterwegs, hey?«
Norm antwortete nicht für ihn – er war lärmend in eins der anderen Zimmer gewandert, hatte am Plastik der neuen LPs gezerrt und insgesamt ein gewisses Vakuum hinterlassen. Maya und Verbie standen in der Ecke beim Ausguß und machten sich über die Berge von Jungzwiebeln, Paprika, Zucchini und Karotten her, die sie für einen Gemüsetopf zerkleinerten, sie sprachen dabei leise miteinander, und Merry war barfuß durch den Raum gehuscht, um die Sachen aus den Einkaufstüten zu nehmen und in die Regale zu räumen. Sie stand direkt neben ihm, ein Duft nach Knoblauch und Koriander, ihr Blick jagte der Frage hinterher. Marco zuckte die Achseln. Die richtige Antwort lautete: So etwa zwei Jahre. Aber das sagte er nicht. Er erwiderte nur: »Keine Ahnung. Eine Weile schon.«
Und das war das Ende der Unterhaltung. Merry kehrte ihm den Rücken zu, er sah ihr fließendes langes Haar, das sich wie in einer eigenen Strömung bewegte, die weißen Fingerknöchel, als sie Dosen in die Regale stellte, die Sonne prall und schwer in den Fenstern, die eingetopften Kräuter, und ein Kater, den Marco bis dahin gar nicht bemerkt hatte, hob den Kopf von seinem Ruheplatz auf dem Kühlschrank, um ihn mit einem stahlharten Blick seiner gelben Augen zu fixieren. Die Stille hielt noch einen halben Takt lang, bis sie gebrochen wurde, und zwar von dem enorm verstärkten Zischen einer abgenutzten Nadel, die sich auf jungfräuliches Vinyl hinabsenkte, und schon erfüllte ein wahnwitziges Gefetze von Schlagzeug und Gitarre das Haus. Marco blieb noch zwei Takte. Dann senkte er den Kopf und schob sich zur Tür hinaus.
Draußen, hinter dem Platz, wo Norm seinen Bus geparkt hatte, gab es einen ziemlich konventionellen Garten mit zwei Zitronenbäumchen, Blumenbeeten, dazu einen eingegrabenen Swimmingpool, in dem ein Schwimmer – auf diese Entfernung sah Marco nicht genau, ob es Frau oder Mann war – mit verrückter Beharrlichkeit seine Runden zog. Dunkles Haar, viel Haar. Hin und her, hin und her. Am liebsten hätte Marco sich die Kleider vom Leib gerissen und wäre auch hineingesprungen, um sich von all dem Klebrigen und Muffigen der Reise und dem Restgestank des Schlafsacks zu befreien, aber er kannte niemanden hier und ging einstweilen behutsam vor – bevor er in den Rhythmus dieser Kommune eintauchte, mußte er erst einmal klären, wo er zumindest diese Nacht schlafen würde, wenn nicht für die nächste Zeit. Norm hatte beim Ankommen auf einen Stapel Bauholz hinter einem der kleineren Gebäude gezeigt – »Bastle dir ruhig was zusammen«, hatte er gegen die Musik aus dem Radio angebrüllt, »tu dir keinen Zwang an, ich kehre hier sicher nicht die Baupolizei oder den Bürgermeister raus, also mach, was du willst« –, und Marco hatte beschlossen, sich auf jeden Fall mal zu überlegen, was sich daraus bauen ließ. Er war nicht gerade gelernter Zimmermann, aber ungeschickt war er auch nicht, und bis auf zwei Tage auf einer Baustelle in San Jose hatte er schon wochenlang nicht mehr richtig rangeklotzt. Wieso nicht? dachte er. Selbst wenn er nicht hierblieb, wär’s doch ein netter Zeitvertreib.
Er ließ Rucksack und Gitarre unter einer der gewaltigen verschlungenen Eichen vor dem Haus liegen und schlenderte den Weg entlang, um das Holz zu begutachten. Berauschend sah es nicht aus. Ein Haufen verwitterter Zaunpfosten, ein paar Sperrholzbretter, die sich extrem warfen, und diverse angekohlte Bretter, so daß man nicht Sherlock Holmes sein mußte, um zu ahnen, daß auf Drop City mindestens ein Gebäude ein Raub der Flammen geworden war. Er trennte gerade die besseren Stücke vom Schrott, als ein Mann von Anfang Zwanzig durch das hohe Gras auf ihn zukam. Seine Hüften wiegten sich geschmeidig, als würde er nicht gehen, sondern tanzen, aber er hatte einen zu großen Kopf und zu kleine Füße. »Was liegt an?« sagte der Typ, und als er heranwackelte, sah Marco, daß er eine Angelrute in der einen und ein paar aufgefädelte, etwas mickrige Flußbarsche in der anderen Hand hielt. Sein Blick war glasig und sprunghaft, als käme er nach einem sehr langen Rockkonzert aus der Halle gewankt. Was sonst noch? Tiefgebräunt, kurze Holzperlenkette, abgeschnittene Jeans, Ledersandalen und der schütterste Bart der Welt.
Marco nickte und gab den Stammesgruß zurück: »Und bei dir, Alter?«
Der andere betrachtete ihn eine Zeitlang mit allerleisester Belustigung. »Ich bin Pan«, sagte er dann, »oder eigentlich Ronnie, aber alle nennen mich Pan ... Und du bist ...?«
»Marco.«
»Cool. Willst du was bauen?«
»Denk grade drüber nach.«
Ronnie zog ein Gesicht und bohrte die Kante einer Sandale in den Staub. »Mit dem Scheiß hier?«
»Na ja, bescheidene Anfänge, bescheidene Hütte«, sagte Marco, aber er sagte es mit einem Grinsen. »Mann, Thoreau hat für sein Häuschen am Walden Pond achtundzwanzig Dollar oder so gezahlt, und darin hat er immerhin einen Winter an der Ostküste überstanden ...«
»Yeah«, sagte Ronnie, »aber die Preisentwicklung seit damals ist ja verrückt, was?«
»Genau. Völlig gratis, das Zeug hier. Die totale Deflation.«
Aber Ronnie kriegte den Witz offenbar nicht ganz mit. Er stand lange Zeit wortlos da und sah zu, wie Marco in dem Holzstapel wühlte, und die Fische auf seiner Schnur wurden langsam hart. Es war heiß. Ein Krähenschwarm ließ im Wald ein Keckern ertönen. »Und was baust du nun, Mann?« fragte Ronnie schließlich.
Die Idee kam Marco erst in diesem Moment, und er nutzte die Frage, um die Antwort aus sich hervorzulocken, denn bis dahin hatte er noch keine Form vor Augen gehabt. Jetzt fiel sein Blick auf die mächtige Eiche, auf ihre Krone und den steten Schatten, die Wurzeln wie Klauen in der Erde, und am Fuß des Stammes lehnten seine Gitarre und sein Rucksack. Er ließ ein Holzbrett zu Boden fallen.
»Ein Baumhaus«, sagte er.

3

Pan nahm sich den Tag frei. Pan wollte einfach mal seine fettige Matte pflegen, ein paar Pfeifchen rauchen und ein bißchen abhängen, kein Sex heute – er war schon richtig wund davon – und auch kein Streß, weder mit Merry noch mit Lydia, noch mit Star. Heute nicht. Der Morgen war bisher ziemlich alptraumhaft verlaufen: um neun hatte er sich von der Matratze im vorderen Schlafzimmer geschleppt, in der Kehle einen Geschmack wie aufgewärmte Scheiße, dann hatten sich alle in den verrosteten 1959er Studebaker geschmissen, mit dem er und Star quer durchs Land geschrotet waren, und ab ging’s nach Santa Rosa zum Sozialamt des Countys, Lebensmittelgutscheine beantragen. Es waren knapp vierzig Grad, die Straßen glühten, die Welt der Schlipse und Anzüge feierte den Beginn des Wochenendes, Ungetüme mit massigen Unterarmen steuerten ihre zwölf Meter langen Kombiwagen in die Supermärkte, und keiner hatte auch nur einen Jointstummel für ihn übrig, um den Schmerz zu lindern.
Jetzt war später Nachmittag, und Ronnie hatte sich am Pool ausgestreckt, die Haare klebten ihm am Kopf, nachdem er eine ganze Serie von Hüpfern in das grünlich-trübe Wasser hingelegt hatte – sollte da nicht mal irgendwer einen Sack Chlor reinkippen, so wurde das doch geregelt? –, die Sonne hielt ihren Teil der Abmachung, in den Bäumen zeterten die Vögel, irgendwer spielte Mundharmonika, und die Töne trieben über den Rasen, während sich in den großen Töpfen allmählich die ersten Gerüche des Abendessens verdichteten. Am vorigen Abend – oder doch schon vorgestern? – hatte es Gemüselasagne mit Tofu und Karotten statt Fleisch gegeben, und das war noch ein wahres Festmahl gewesen. Für gewöhnlich gab es nur eine Art Brühwürfel-Reispamp mit Kräutern, Jungzwiebeln und was sich sonst noch im Garten fand. Aber er beklagte sich nicht. Oder eigentlich doch. Seine Essensmarken vom Sozialamt gingen in den Gemeinschaftstopf, genau wie die von allen anderen, und damit konnte er leben, aber Norm – Norm war einfach wahnsinnig, denn er bestand darauf, jeden durchzufüttern, der eintrudelte, selbst die Penner und Rotweinbrüder und auch die schwarzen Freaks aus San Francisco, die übrigens seit letzter Woche das ganze hintere Haus übernommen hatten und keinerlei Anstalten machten, wieder zu verschwinden.
Sie waren am Wochenende gekommen, sieben Mann, reingequetscht in einen alten Lincoln Continental mit Heckflossen wie von einem Raumschiff, das sie glatt zum Mars und zurück hätte bringen können, alles cool und ganz friedlich, nur mal die Szene abchecken. Ronnie hatte mit Reba, Verbie, Sky Dog und ein paar anderen auf der vorderen Veranda gesessen, wo sie dem flimmernden Licht in den Bäumen zugesehen und sich redlich bemüht hatten, ein bißchen Kleingeld von den Touristen zu schnorren, die immer ganz schüchtern und richtig dankbar schienen, etwas beitragen zu können, um den Lebensstil zu unterstützen, weil sie total auf all das standen, was hier so ablief, ja ehrlich, das taten sie, aber ihre Mütter waren krank, und sie waren mit den Hypothekenzahlungen hinterher, und der Zahnarzt drohte damit, ihren Kindern die Spangen wieder aus dem Mund zu reißen, aber könnten sie nur mal einen Moment hier mit auf der Veranda sitzen, wäre das cool? Einige hatten Kameras mit, und pro Foto eines abgefackt-authentischen Hippies in voller Hippiemontur nahm ihnen Sky Dog einen Vierteldollar ab. Die mutigeren unter ihnen blieben zum Abendessen und stellten sich mit dem Blechnapf in der Hand in die Schlange, und vielleicht nahmen sie auch einen Zug oder zwei von dem kreisenden Joint, wenn später das große Feuer entzündet war und die Gitarren hervorgeholt wurden. Sie sangen sogar bei Buffalo Springfield mit, bei Judy Collins oder Bob Dylan, falls irgendwer den Text wußte. Wie im Sommerlager. Und dann stiegen sie wieder in ihre Fords und Chevys und VW-Käfer und Volvos und fuhren nach Hause.
Die Schwarzen waren anders. Sie entstiegen ihrem Wagen nicht, sie schlüpften heraus, mit ihrer gleitenden, leise bedrohlichen, obercoolen Schwarzen-Energie – und Ronnie war kein Rassist, keineswegs, er hatte nur vielleicht ein bißchen mehr Erfahrung als der Rest seiner Brüder und Schwestern hier auf Drop City, die letzten Endes ja alle etwas blauäugig und einfach lahm waren –, dann kamen sie über den Schotterplatz heran, bildeten eine Formation wie ein Footballteam. Der, der das Sagen hatte, hieß Lester. Er machte einen sanften Eindruck, klein und mit einem Gesicht wie aus Knete, und er trug ein Halstuch aus roter Seide und Stiefel mit hohen Absätzen. »Peace, Bruder«, sagte er, spreizte Mittel- und Zeigefinger und sah Ronnie direkt in die Augen. Ronnie antwortete nicht, aber Sky Dog und die anderen grüßten mit dem Peace-Zeichen und machten die üblichen Willkommensgeräusche. Im Handumdrehen saß Lester mit auf den Stufen der Veranda, nahm einen Zug aus der Pfeife, die gerade herumging, seine schwarzen Schlaghosen waren ein Stück hinaufgerutscht, so daß man rote Socken und die Gummischlaufen seiner Beatle-Boots sehen konnte, während seine Begleiter auf dem Platz herumstanden und bedürftige Mienen machten.
»Das ist also das berühmte Drop City«, sagte Lester und stieß dabei den Rauch aus. Seine Stimme war so leise, daß man sich anstrengen mußte, ihn zu verstehen, und das war eine Art Trick, weniger Affektiertheit als vielmehr eine Technik, mit der er sich Aufmerksamkeit verschaffte.
Verbie, die nie lange den Mund halten konnte, antwortete: »Ja, genau.«
»Wir – ich und meine Amigos hier –, wir haben alle möglichen irren Sachen über euch gehört, also in der Suppenküche der Diggers, ja? Ihr wißt schon, im Fillmore District.« Lester sah sich kurz auf der Veranda um, dann gab er die Pfeife an einen seiner Amigos weiter, der sie in seiner Gruppe zirkulieren ließ, bis sie wieder auf die Veranda hinaufgereicht wurde, und das war haargenau wie das Zusammentreffen zweier Stämme in der Prärie: Friede, Bruder, und lassen wir die Pfeife herumgehen. »Ist das hier echt so cool, wie sie alle sagen? Also, daß alle Typen hier willkommen sind?«
Die Hippies auf der Veranda hatten sich geradezu darin überstürzt, ihm zu versichern, dies sei sehr wohl der Fall, und alle dachten an Hendrix, Buddy Miles, Free Huey, nur Lester nicht, denn der hatte einfach die Beine ausgestreckt und es sich bequem gemacht.
Jetzt aber, jetzt lag Ronnie entspannt am Pool, nahm sich einfach mal den Rest des Tages frei, alles total lässig, und eine winzige Portion Meskalin ließ die harten Kanten der Realität etwas weicher werden. Rebas Kinder, Che und Sunshine, veranstalteten einen Mordsradau mit einem dieser Plastikdreiräder, das sie über den Zementstreifen auf der anderen Seite des Pools rattern ließen, und das Kommunenpferd – sie nannten es Charley, Charley Horse, so wie der Muskelkater, wie sonst? – stampfte und schnaubte vor Aufregung, weil irgendein durchgeknallter Typ aus Daly City, sein Name fiel Ronnie momentan nicht ein, seit längerem versuchte, es dazu zu bringen, über einen von der Sonne verkrumpelten Oleanderbusch am Ende des Rasens zu springen, aber das war alles in Ordnung, es bedeutete nichts. Ronnie sog die Eindrücke in sich auf und fühlte sich großmütig. Er war Pan. Er war stoned. Die Sonne stand am Himmel, und die Erde war ein guter Ort, ein ausgeflippter Ort, ein Ort, der von einer höheren Macht zur sinnlichen Erweckung und spirituellen Erbauung aller Brüder und Schwestern entworfen war.
Bis zum Abend hielt das Gefühl an. Die Nacht brodelte und gärte aus den dunklen Schatten heran, die sich am Fuß der Bäume und in den Sträuchern rund um den Hügel zusammenballten. Er fühlte sich inzwischen ein bißchen – na ja, ein bißchen hippelig. Es hatte am Nachmittag eine Phase gegeben, in der er die Dinge etwas aus dem Ruder laufen ließ: eine zweite Pille Meskalin, ein Fläschchen Rotwein und noch ein paar Züge von irgendwas, was irgendwer nach dem Abendessen geraucht hatte, aber er hatte das Abendessen verpaßt, oder nicht? Essen. Riesige Töpfe voller Pamp, Frauen mit Hängetitten, alles natürlich und gesund. Der Swimmingpool glänzte im schwindenden Licht wie Öl, wie Blut. Er hatte keinen Hunger.
Plötzlich bekam er das dringende Bedürfnis, bei Star zu sein, sich einfach irgendwo mit ihr hinzusetzen und über zu Hause zu reden, über die kleinen Alltagsdinge und Erinnerungen, die sie die ganze lange Fahrt über die flache Ödnis des Mittelwestens, durch die Rockies und weiter nach Kalifornien bei Laune gehalten hatten – Mr. Boscovich, ihren Biolehrer in der Zehnten, und wie er es dauernd mit dem Wort Material gehabt hatte, zum Beispiel diese Zellen bestehen aus zellulärem Material, oder die Art, wie die Bücher in der Schulbibliothek nach Seife und verbranntem Laub gerochen hatten, oder wie eines Nachmittags Robert Stellner, der sonst so absolut straight wie keiner sonst war, auf einmal den Kopf in eine Tüte mit Flugzeugmodellkleber steckte und sich auf der Jungentoilette vor dem Spiegel mit einem Taschenmesser die geheimnisvolle Botschaft Yahweh in die Brust geritzt hatte, lauter so Sachen –, aber Star hockte oben auf dem Baum bei diesem neuen Typ, und das nagte an ihm, doch wirklich, scheiß auf den Schmus von freier Liebe und der Kerista-Gesellschaft. Er erhob sich abrupt vom Steinboden, aber das war etwas viel für ihn, also setzte er sich wieder. Der Boden war noch warm, und dabei fiel ihm die Klapperschlange ein, die irgend jemand hier draußen vor zwei Tagen am Abend gesehen hatte. »Die suchen dort die Wärme«, so hatte Norm das erklärt, »damit muß man hier klarkommen. Natürlich kann man sie auch töten, abhäuten und aufessen, aber dann hat man ein Leben lang ein schlechtes Schlangenkarma, und im nächsten Leben vielleicht auch noch, also willst du das wirklich?«