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Eine einsame Insel vor der Küste von Kalifornien, die für die einen die Hölle ist, für die anderen das Paradies: Die schwindsüchtige Marantha verschlägt es 1888 nach San Miguel. Während sie sich, geplagt vom rauen Klima, von Monotonie und Einsamkeit, dem Leben entzieht, schafft es Adoptivtochter Edith, dem tyrannischen Vater und der verhassten Insel zu entfliehen. Jahrzehnte später zieht Elise Lester dorthin und findet mit ihrer Familie ihr Glück. Die Presse in den USA feiert die Lesters mitten in der Weltwirtschaftskrise als Inbild vom Mythos der Pioniere, doch die Idylle trügt. Boyle gelingt es meisterhaft, in dieser großen Saga das Schicksal dreier starker Frauen lebendig werden zu lassen.
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Seitenzahl: 716
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Hanser E-Book
T. Coraghessan Boyle
San Miguel
Roman
Aus dem Amerikanischenvon Dirk van Gunsteren
Carl Hanser Verlag
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2012
unter dem Titel San Miguel bei Viking in New York.
ISBN 978-3-446-24425-2
© T. Coraghessan Boyle 2012
Alle Rechte der deutschen Ausgabe
© Carl Hanser Verlag München 2013
Schutzumschlaggestaltung und Fotografie: Peter-Andreas Hassiepen, München
Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch
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Für Milo,
der die Dünen herunterrutschte und für den Strom sorgte
Sie wussten immer schon, wie’s um das Menschsein steht,
Die alten Meister: Wie gut sie verstanden,
Was Leid dazu beiträgt; wie sich’s vollzieht,
Während einer isst oder ein Fenster aufstößt oder stumpf einhergeht.
W. H. Auden: Musée des Beaux Arts
Vorbemerkung des Autors
Teil IMARANTHA
Ankunft
Das Haus
Das Schlafzimmer
Die Küche
Die Herde
Das Lamm
Der Wind
Jimmie
Der Regen
Der Weg
Der Kuchen
Ediths Geburtstag
Der Adler
Die Scherer
Nichols
Der Nebel
Bao yu
Knochen
Das Gewicht
Das Grausamste
Der Einarmige
Abreise
Teil IIEDITH
Heimkehr
Die leere Hülle
Double Eagle
Die Fahrkarte
Der Herd
Jimmie
Friedhof des Pazifiks
Mrs. Caliban
Die Scherer
Inez Deane
Teil IIIELISE
Ankunft
Das Haus
Die Mäuse
Niedergedrückt
Bob Brooks
Das Luntenschloss
Orca
Marianne
Die Japaner
Der Schmerz
Jimmie
Inez Deane
43 Prozent
Der Travel-Air-Doppeldecker
Weihnachten
Die Schweizer Familie Lester
Der König von San Miguel
Niedergedrückter
Das Geschenk
Die Japaner
Die Pferde
Der Unfall
Die Spinne
Der Zettel
Abreise
Bei der Nacherzählung der Geschichte der Familien Waters und Lester auf San Miguel habe ich mich bemüht, die historischen Fakten so wahrheitsgetreu wie möglich darzustellen. Dennoch handelt es sich bei diesem Buch um einen Roman und nicht um ein Werk der Geschichtsschreibung, und daher sind Dialoge, Charaktere und Vorfälle zwangsläufig erfunden. Drei Büchern bin ich zu besonderem Dank verpflichtet: The Legendary King of San Miguel von Elizabeth Sherman Lester, San Miguel Island: My Childhood Memoir von Betsy Lester Roberti und Mrs. Waters’ Diary of Her Life on San Miguel Island, herausgegeben von Marla Daily. Außerdem danke ich Marla Daily und Peggy Dahl für ihre Hilfe bei den Recherchen zu diesem Buch.
Sie hustete, immer hustete sie, und manchmal hustete sie Blut. Das Blut kam als feiner Sprühregen, aus den Lungenbläschen gepresst und mit Luft vermischt, als wäre es Parfüm aus einem Zerstäuber. Oder es stieg in ihrer Kehle auf wie ein heißer, metallisch schmeckender Sirup, der von der Glut in ihr brannte, bis sie ihn in den Porzellannapf spuckte und als hellroten Klumpen dort liegen sah wie etwas, das sie geboren hatte, wie eine Nachgeburt. Aber was wusste sie schon davon – schließlich hatte sie nie ein Kind empfangen, weder von James, ihrem ersten Mann, noch von Will. Sie war achtunddreißig und hatte sich damit abgefunden, dass sie nie ein Kind haben würde, nicht in diesem Leben. Wenn sie sich schwach fühlte, wenn sie Blut spuckte und der Schmerz wie eine mittelalterliche Folter war, wie la peine forte et dure, bei der ein Folterknecht einem so lange Steine auf die Brust legte, bis die Rippen brachen und das Herz stehenblieb, hatte sie zuweilen das Gefühl, als würde sie nicht einmal das Ende des Jahres erleben.
Aber das waren trübe Gedanken, und die wollte sie nicht, nicht heute. Heute war sie voller Hoffnung. Heute war Neujahr, der erste Tag ihres neuen Lebens, und sie war unterwegs in ein Abenteuer: Sie stach von Santa Barbara auf einem Schoner in See, mit ihrem zweiten Mann, mit Edith, ihrer adoptierten Tochter, und der Hälfte ihres irdischen Besitzes, und ihr Ziel waren die Insel San Miguel und die jungfräulich reine Luft, die sie, wie Will versicherte, wieder gesund machen würde. Und sie glaubte ihm. Sie glaubte ihm wirklich. Sie glaubte alles, was er sagte, auch wenn Carrie Abbott bei dieser Nachricht das Gesicht verzogen hatte. Marantha, nein – du willst wohin? hatte Carrie gesagt, ohne eine Sekunde nachzudenken, und die Teetasse auf dem niedrigen Mahagonitisch abgestellt. Sie hatten in ihrem Salon gesessen, mit Blick auf die San Francisco Bay und die weißen Schaumkronen der Wellen, die in parallelen Linien über die ganze Breite des Fensters wanderten. Auf eine Insel? Und wo ist die noch mal? Dann hatte sie sich besonnen und die Augen niedergeschlagen. Die Luft dort draußen soll ja sehr gut sein, hatte sie gesagt, sehr heilsam, und das kleine Kohlenfeuer war wieder aufgeflackert. Und es ist bestimmt wärmer. Wärmer als hier jedenfalls.
Sie waren vor Morgengrauen aufgestanden und hatten ihr Gepäck bei Laternenlicht auf der Veranda des gemieteten Hauses in Santa Barbara aufgestapelt. Der Tag zuvor war warm gewesen, und die Sonne hatte unbeirrt von einem azurblauen Himmel gestrahlt, doch jetzt war die Luft kühl und feucht, kein Stern stand am Himmel, und die Nacht lag wie ein schweres Tuch über dem Hausdach und dem Verandageländer und den beiden Oleandersträuchern im Vorgarten. Die Callalilien am Weg wurden vom Dunkel verschluckt. Kein Laut war zu hören. Edith sagte, sie könne ihren Atem sehen, und Marantha hielt sich wie ein Mädchen die Hand vor den Mund und sah, dass es stimmte. Aber dann sagte Will etwas zu ihr, in scharfem Ton – ständig dachte er daran, was sie brauchen und was sie bestimmt vergessen würden, er regte sich regelrecht auf –, und der Augenblick war vorüber. Als das Fuhrwerk vom Mietstall kam, konnte man den Hufschlag der Pferde drei Blocks weit hören.
Und jetzt waren sie auf einem Schiff und fuhren über das Meer – eine erstaunliche Verwandlung, als wären sie in die Haut eines anderen Wesens geschlüpft wie die Zauberer aus den Märchen, die sie Edith früher vorgelesen hatte. Auf einem Schiff, das hüpfte und bockte und der Länge nach erbebte, als besäße es ein eigenes Leben. Sie versuchte, ganz still dazusitzen, den Blick gerade nach vorn gerichtet, die Hände im Schoß gefaltet, und dachte ausgerechnet an ihren Sessel im Salon der Wohnung in der Post Street, die sie hatten aufgeben müssen – sie sah ihn so deutlich, als säße sie gerade darin. Sie sah die Stickereien auf den Kissen, die Lampe auf dem Tisch, die Katze, die vor dem Kamin schlief. Regen vor den Fenstern. Edith am Klavier. Den matten Schimmer von poliertem Holz. Es kam ihr vor, als wäre das vor Jahren gewesen, dabei war es erst wie lange her – etwas über einen Monat? Der Sessel stand jetzt in Santa Barbara, das Klavier war verkauft, die Lampe in einer Kiste verpackt, und die Katze – Sampan, eine Siamkatze, die sie schon vor ihrer Hochzeit gehabt hatte – war zur Adoption freigegeben, weil Will glaubte, dass ihr der Ortswechsel nicht guttun würde. Und er hatte natürlich recht. Sie konnten jederzeit eine andere bekommen. Katzen waren so zahlreich wie die Reiskörner in den großen braunen Säcken, die man in den Fenstern der Lebensmittelläden in Chinatown sah.
Anfang Dezember, als sie nach Santa Barbara gezogen waren, hatte sie einen Blutsturz gehabt und war zu schwach gewesen, um irgend etwas zu tun, aber Will und Edith hatten den Haushalt eingerichtet, das war ein Segen gewesen. Doch jetzt würde das alles wieder von vorn beginnen, an einem Ort, so wild und abgeschieden, dass er ebensogut auf der anderen Seite der Welt hätte liegen können. Das machte ihr Sorgen. Natürlich machte es ihr Sorgen. Aber es war auch eine Chance, und sie würde sie ergreifen, ganz gleich, wie Carrie Abbott oder sonst jemand darüber dachte. Sie hörte den dumpfen Klang von Schritten auf dem Deck über ihr. Unter den Bodenbrettern schwappte es – Bilgewasser nannten es die Seeleute. Alles roch nach Fäulnis.
Sie waren jetzt seit vier Stunden auf See, und vier weitere Stunden lagen noch vor ihnen; das wusste sie, weil Will heruntergekommen war, um es ihr mitzuteilen. »Halt durch«, hatte er gesagt, »wir haben die Hälfte des Wegs hinter uns.« Leichter gesagt als getan. Tatsache war, dass ihr übel war, aber es war eine erklärliche und lediglich zeitweilige Übelkeit, und wenn Marantha sich auch schämte, weil sie sich in einen Blecheimer erbrochen hatte und es stank – ein ranziger, säuerlicher Geruch, der sie einhüllte wie schmutzige Kleidung –, so war das Ende doch absehbar. Will hatte sie und Edith ermahnt, nichts zu essen, doch sie hatte in der Nacht kein Auge zutun können und war, als das ganze Haus schlief, im Nachthemd in die Küche geschlichen, um sich an den übriggebliebenen Leckerbissen des verkürzten Neujahrsessen – Austernsuppe, Schinken und Löffelbisquit – gütlich zu tun, die ja doch nur weggeworfen werden würden. Jetzt, da das Schiff wild schaukelte und der Geruch des Meeres in die beengte Kajüte sickerte, bereute sie es erneut.
Tief in sich selbst zurückgezogen versuchte sie, sich auf die gegenüberliegende Wand des Rumpfes oder wie man das nannte zu konzentrieren, als Ida rückwärts die Leiter, die zum Deck führte, heruntergeklettert kam und dabei grinste, als hätte sie eben den besten Witz der Welt gehört. »Oh, da draußen ist es herrlich, Ma’am, ein richtig schöner Wind.« Ihre Wangen waren gerötet, und das Haar unter der Haube hatte sich gelöst, so dass zerzauste schwarze Strähnen in einem windverwehten Wirbel auf ihrem Mantelkragen lagen. »Das sollten Sie sich wirklich ansehen.«
Für einen Augenblick richtete dieser Gedanke sie auf – warum sollte sie nicht mal an Deck gehen und sich umsehen, schließlich war sie ja noch nicht tot, oder? –, doch als sie sich erheben wollte, schlingerte das Schiff, und sie sank schwerfällig zurück.
Idas Gesicht verdüsterte sich. Jetzt erst bemerkte sie den Eimer und Maranthas verspannte Haltung. »Ist alles in Ordnung, Ma’am? Soll ich Ihnen eine Decke bringen?«
»Nein«, hörte sie sich sagen, »mir geht’s gut.«
»Was ist mit dem Eimer? Soll ich ihn ausleeren? Dann müssen Sie ihn nicht – «
»Ja, das wäre nett.« Sie spürte, wie sich ihr Magen zusammenkrampfte bei dem Gedanken an das, was in dem Eimer war und was Ida damit würde tun müssen, draußen im Wind, wo der Bug die Wellen zerteilte und sich hob und senkte und wieder hob. »Aber wie geht es Edith?«
»Stellen Sie sich vor: Sie steht gerade am Steuer, mit Captain Waters und dem Mann, dem das Schiff gehört, Captain Curner. Jeder, der will, darf mal ans Steuer. Ich auch. Vor fünf Minuten noch war ich dran.« Sie stieß ein kleines Lachen aus. »Haben Sie den Unterschied bemerkt?«
Mit einemmal spürte Marantha, wie ihre Stimmung sich besserte. Ida konnte das bewirken: Für sie war jede Minute ihrer zweiundzwanzig Jahre auf dieser Erde ein wunderbares Abenteuer. Marantha merkte, dass sie lächelte. »Natürlich. Ich wusste, dass es eine Frau war – das Schiff war so viel ruhiger.« Beide sahen auf den Eimer. »Und als das passiert ist«, sagte Marantha und zeigte mit dem Finger, »stand bestimmt ein Mann am Ruder.«
»Aber die See ist nicht halb so rauh, wie sie hier draußen sein kann oder um diese Jahreszeit normalerweise ist, sagt Captain Waters.«
»Dann könnte es also noch schlimmer sein.«
»Ja.«
»Und dir macht das nichts aus?«
»Nein«, sagte Ida und drehte eine kleine Pirouette, »überhaupt nicht. Captain Waters sagt, ich bin seetüchtig. Und Edith auch. Edith ist auch seetüchtig. Das heißt, dass – «
»Ja, ich weiß.« Sie ließ den Blick über das Gepäck und die Vorräte gleiten, über die wenigen Möbelstücke, die Will ihr zugestanden hatte, weil es nicht praktisch war, das ganze Mobiliar auf die Insel zu schaffen, solange sie nicht wussten, wie sie mit dem Klima dort zurechtkommen würde. »Kannst du dir vorstellen, dass heute ein neues Jahr anfängt?«
»Ja, kann ich.«
Das Schiff tauchte in ein Wellental und wurde wieder emporgehoben. Sie verschränkte die Arme vor der Brust, versuchte, Druck auszuüben und nichts herauszulassen, denn sie spürte, dass sie gleich wieder husten würde, und dann würde sie sich wieder übergeben müssen, dessen war sie sich sicher. »Alles vergeht so schnell«, sagte sie, aber eigentlich sagte sie es gar nicht mehr zu Ida.
Sie war an Deck, als die Insel schaukelnd in Sicht kam – schaukelnd, weil auf einem Schiff alles schaukelte, weil alles sich hob und senkte, einschließlich ihres Magens. Es war ein dunkelbrauner, von leuchtendweißen Streifen durchzogener Klumpen, es sah aus wie ein gutgereiftes Stück Rindfleisch, das man für sie ganz allein auf den großen blauen Teller des Ozeans gelegt hatte. Dabei würden sie in den kommenden Tagen und Wochen und Monaten nicht Rindfleisch essen, sondern Hammel – und Truthahn, aus der Schar, die der frühere Pächter gehalten hatte. Und Fisch vermutlich, denn den gab es hier ja wohl reichlich. Andererseits hatte sie sich nie viel aus Fisch gemacht – abgesehen von Hummer, aber das war ja auch eigentlich kein Fisch, oder? – und kannte keine andere Zubereitungsart, als ihn zu braten, bis er trocken war und nach nichts mehr schmeckte.
Der Wind wehte ihr ins Gesicht, ein kalter Wind, der kalte Gischt mit sich trug. Segeltuch klatschte, Seile summten, aber der Wind fühlte sich gut an, sauber und rein, und der Druck auf ihre Brust begann nachzulassen. Als sie in der Bucht unterhalb des einzigen Hauses auf der Insel vor Anker gingen, des Hauses, das jetzt ihnen gehörte wie alles andere – die Felsen, die Möwen, die Sanddünen am Fuß der Steilküste, die Schafe, die auf den fernen grünen Hügeln aussahen wie verstreute Wolkenfetzen –, war sie so aufgeregt, als wäre sie selbst noch ein Mädchen, so aufgeregt wie Edith, die während der ganzen Fahrt keine zwanzig Minuten unter Deck verbracht hatte. Will hatte ihre Erwartungen gedämpft: Das Haus sei nichts Besonderes, ein einfaches Schäferhaus aus Holz, vor siebzehn Jahren gebaut von Mr. Mills, ihrem neuen Partner in der Pacific Wool Growing Company, aber das hatte sie nicht davon abgehalten, es sich in den vergangenen zwei Monaten jeden Tag vorzustellen. Wie würde es wohl aussehen? Die Zimmer – wie waren die Zimmer angeordnet? Und wie war die Aussicht? Würde Edith ein eigenes Zimmer haben oder würde sie sich eins mit Ida teilen müssen? Und was war mit Adolph Bierson, dem Rancharbeiter, dessen Gesicht ihr schon bei der ersten Begegnung heute morgen nicht gefallen hatte? Und Jimmie, der Junge, der in den vergangenen Monaten hier draußen auf alles aufgepasst hatte – wo schlief der eigentlich?
Das Schiff schwang an der Ankerkette herum, so dass die Insel hinter ihr war und sie zurücksah in die Richtung, aus der sie gekommen waren: Jenseits der Einfahrt in die Bucht, jenseits der wie zu Eisen gewordenen Wellen war das Festland nur noch als dunkler Streifen am Horizont zu sehen. Dann ließen sie das Ruderboot zu Wasser, und Will lief an Deck auf und ab, als wäre er nicht fünfzig, sondern halb so alt und nicht bei Chancellorsville knapp oberhalb der linken Hüfte von einer Miniékugel getroffen worden, und ja: Sie, Edith und Ida sollten als erste übergesetzt werden, zusammen mit ein paar Säcken und Kisten. Adolph würde rudern, und Jimmie würde sie mit einem der Maulesel und dem Schlitten am Strand erwarten und sie den langen Hügel hinauf zum Haus bringen. Und als Will sie mit seinen großen, sehnigen Händen stützte und ihr die Strickleiter zum Boot hinunterhalf, Feuer im Blick und Frische im Atem, Nachgeschmack seiner eigenen Begeisterung, versicherte er ihr, sie brauche sich keine Sorgen zu machen, denn heute sei ein Feiertag, und sie würden den ganzen Rest des Nachmittags für sich haben. »Ich mache mir keine Sorgen, Will«, sagte sie, als sie die Leiter hinunterkletterte, »nicht, wenn ich in deinen Händen bin.« Aber der Wind war so stark, dass sie nicht sicher war, ob er es gehört hatte.
Adolph schaffte es, das Boot durch die Brandung zu rudern, ohne dass es kenterte, und das war eine Leistung. Sein Gesicht war grimmig wie das eines Soldaten unter Beschuss, und unter dem Stoff der Jacke spannten sich die Muskeln seiner Arme. Lange waren sie einfach auf dem Wasser getrieben, kurz vor der Stelle, wo die Wellen begannen, sich zu brechen, und Marantha war schon ungeduldig geworden – die Mädchen ebenfalls –, denn der Strand und der Weg hinauf zum Haus lagen vor ihnen, und was tat er denn, dieser Dummkopf, dieser Adolph, wo sie doch darauf brannten, festen Boden unter den Füßen zu spüren und zu sehen, was das Haus zu bieten hatte? Schließlich aber ging ihr auf, was er tat: Er beobachtete die Dünung und wartete auf eine Lücke, die es ihnen erlauben würde, sich auf dem Kamm einer Welle auf den Strand tragen zu lassen, ohne dass das Boot von der nächsten in Stücke geschlagen wurde. Sie zählte eine Welle nach der anderen, Möwen schrien und das Boot schaukelte, und dann legte Adolph sich plötzlich in die Riemen, dass die Dollen knarzten und ihnen Gischt ins Gesicht spritzte, und im nächsten Augenblick waren sie an Land, sprangen aus dem Boot und zogen es am Bugseil auf den Strand, ohne Rücksicht auf Schuhe oder Röcke oder darauf, dass der Wind ihnen die Hutkrempe ins Gesicht schlug.
Für die Mädchen war es ein Riesenspaß. Beide waren nass bis zu den Knien und jauchzten begeistert, während sie selbst es schaffte, ihre Stiefel trocken zu halten, indem sie mit hüpfenden Schritten vor der Zunge aus weißem Schaum floh, die hinter ihr und rechts und links, so weit das Auge reichte, den Strand hinauffuhr, doch der Saum ihres Rocks war dunkel und feucht und gesprenkelt mit hellen Sandkörnern, die bereits daran klebten. Sie atmete heftig, aber tief und mühelos. Hätte sie es nicht besser gewusst, hätte sie nicht letzten Monat erst einen Blutsturz gehabt, dann hätte sie vielleicht geglaubt, sie sei ganz gesund.
Der Sand unter ihren Füßen gab nach. Überall ringsum krabbelten und hüpften winzige, durchscheinende Wesen. Der Geruch – Tang, Gischt, neue, frische Luft – war herrlich und versetzte sie in ihre Kindheit in Massachusetts, zu den schwülen Sommertagen, an denen ihr Vater mit der ganzen Familie an den Strand gefahren war. Schwül war es hier allerdings nicht. Weit davon entfernt. Die Lufttemperatur betrug wenig mehr als zehn Grad, und durch den Wind fühlte es sich noch kälter an. »Edith!« rief sie. »Du wirst dir in den nassen Kleidern den Tod holen!« Sie konnte nicht anders, auch wenn sie ein Auge hätte zudrücken sollen.
Edith hörte sie nicht. Edith war vierzehn, hochaufgeschossen und gutaussehend, so entwickelt, als wäre sie zwei, drei Jahre älter, und sie war eigensinnig. Sie ging mit voller Absicht in die Brandung, unter dem Vorwand, das Gepäck am hinteren Ende des Boots zu entladen, wo sie doch ebensogut vorn hätte anfangen können, und sie und Ida – die es eigentlich hätte besser wissen müssen – machten ein Spiel daraus, nahmen mal dieses, mal jenes Bündel und rannten damit auf den Strand, wo sie alles zu einem ungeordneten Haufen aufstapelten, während Adolph, unter jedem Arm einen Sack, über den Sand stapfte und dabei zwei der Eichenstühle hinter sich herzog, ohne einen Gedanken an den Lack oder die von ihr selbst genähten Kissen zu verschwenden. Der Schrankkoffer, in dem sie ihre persönlichen Dinge – Briefe, Briefpapier und Umschläge, Schreibutensilien, ihren Schmuck, die akkurat gefalteten Kleider – sorgsam verpackt hatte, lag noch im Boot, und der Lederbezug schimmerte vor Nässe. Sie wollte Adolph zurufen, er solle den Koffer holen, bevor er ganz ruiniert war, doch sie wusste nicht, wie sie ihm eine Anweisung erteilen sollte – sie kannte ihn ja kaum, und der unwirsche Blick, den er ihr zuwarf, machte die Sache nicht gerade leichter.
Aufgeregt und verärgert – und zitternd, denn ihr war kalt – sah sie sich um und fragte sich, wo der Junge mit dem Maulesel und dem Schlitten war, der sie hinauf zum Haus bringen sollte. Das war noch so etwas: Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was für ein Schlitten das sein sollte. Die Schlitten, die sie kannte, dienten dazu, verschneite Hügel hinunterzufahren, oder wurden von Pferden über schneebedeckte Straßen gezogen, doch hier, hatte Will ihr versucht zu erklären, handelte es sich um eine Art Lastschlitten: Der Weg war zu schmal und holprig für einen Wagen, und so musste eben alles hinauf zum Haus geschleift werden. Zu dem Haus, das von hier aus nicht zu sehen war, obwohl sie den Kopf reckte, bis die Muskeln schmerzten. Sie sah nur rauhe vulkanische Felswände, die am oberen Ende einen Besatz aus armseliger, wüstenartiger Vegetation hatten.
»Ich bin schneller als du!« rief Edith und hielt zwei Hutschachteln hoch über ihren Kopf, während Ida, deren Gesicht vor Vergnügen strahlte, mit ihrem Koffer über den Sand rannte.
»Mädchen!« rief Marantha. »Hört auf damit. Ein bisschen mehr Würde.«
Ida verlangsamte ihr Tempo pflichtschuldig, doch Edith rannte einfach weiter. Ihre Röcke waren dunkel vor Nässe, und unter ihren Schuhen stob Sand auf, und sie blieb erst stehen, als sie die kleine Erhebung oberhalb der Flutlinie erreicht hatte. Sie wäre vielleicht den ganzen beschwerlichen Weg zum Plateau und bis ins Haus hinein gerannt, wenn nicht in diesem Augenblick der Junge mit dem Maultier und dem Schlitten erschienen wäre. Edith stand einen Augenblick da und starrte ihn an, und dann ließ sie die Hutschachteln fallen, drehte sich auf dem Absatz um und kam kichernd zu Marantha gelaufen, während der Junge – Jimmie – sie anglotzte, als hätte er noch nie im Leben ein Mädchen gesehen, und vielleicht war es auch so. Marantha winkte ihm und ging ihm zum Kamm der Düne entgegen, wo er stand und sich nach den Schachteln bückte, die Edith hatte fallen lassen.
Aus der Nähe sah sie, dass der Schlitten ein rohgezimmertes Ding aus alten Eisenbahnschwellen war, die hier, auf dieser baumlosen Insel, das bevorzugte Baumaterial darstellten. Zwei Schwellen bildeten die Kufen, auf die zurechtgesägte Bohlen genagelt waren und eine schräge Ladefläche bildeten. In der Mitte stand fest verzurrt ein Schaukelstuhl, offenbar für sie bestimmt, damit sie hinter dem Maultier sitzen konnte – zweifellos einer von Wills Einfällen. Und das war wirklich rührend: wie er sich um sie kümmerte, wie er die Dinge durchdachte, um es ihr leichter zu machen. Sie verschnaufte kurz und erkletterte den Kamm der Düne, die den Strand säumte. Der Wind zerrte derart an ihrem Hut, dass die Nadeln sich lockerten und sie ihn mit der freien Hand festhalten musste. In der anderen hielt sie die vollgepackte Tasche, die so schwer war, dass sie die Finger kaum noch spürte. Um alles noch schlimmer zu machen, verfing sich ihr Schuh in irgend etwas, einem Stück Tang oder Treibholz, so dass sie stolperte und auf ein Knie sank.
Der Junge stand da, als hätte er Wurzeln geschlagen, und starrte von ihr zu der sich entfernenden Edith und wieder zurück. Er wirkte – das war ihr erster Eindruck, und sie bemühte sich, wohlwollend zu sein – nicht eigentlich dumm, sondern eher verwundert oder wie hypnotisiert, ein kleiner, schmächtiger, schwarzhaariger Junge mit sonnenverbranntem Gesicht, fliehendem Kinn und Augen, so dunkel wie der Schlamm auf dem Grund eines Teiches. Als er sie ein zweites Mal stolpern sah, setzte er sich hastig in Bewegung und rannte zu ihr, wobei er, um das Gleichgewicht zu bewahren, linkisch die Arme schwenkte. Wortlos reichte er ihr die Hand, um sie zu stützen, als wäre sie bereits eine Invalidin, und sie fragte sich, wieviel Will ihm erzählt hatte.
»Du musst Jimmie sein«, sagte sie und versuchte, ihr Gesicht zu einem Begrüßungslächeln zu verziehen.
Er zog den Kopf ein. Errötete. »Ja, Ma’am«, sagte er.
»Ich bin Mrs. Waters.«
»Ja, Ma’am«, sagte er. »Hab ich mir schon gedacht.«
Sie wandte den Kopf, um seinen Blick zum Strand zu lenken. »Und das sind meine Tochter Edith – die mit dem blauen Hut – und Ida, unser Dienstmädchen. Und der Mann da – «
»Das ist Adolph, Ma’am. Den kenn ich. Wir ... er ... also, er ist schon mal dagewesen und hat mir mit den Schafen und so geholfen ...«
»Ja«, sagte sie und rieb ihre kalten Hände aneinander. »Na, ich hoffe, ihr werdet euch alle gut verstehen.« Sie sah zum Schlitten, zu dem Maultier mit dem tückischen Blick und den Ohren, die so aufrecht standen wie zwei Bücherstützen, und dem Weg, der sich zwischen dem Gestrüpp den Hügel hinaufwand, wo das geheimnisvolle Haus sie erwartete, und fügte hinzu: »Dieser Stuhl da – ich nehme an, der ist für mich.«
Er nickte und bohrte die Stiefelspitze in den Sand. Sein Haar war zu lang, das konnte sie sehen, denn unter einer Mütze, wie irische Arbeiter sie gern trugen, sahen ein paar fettige Strähnen hervor und fielen ihm über die Augen. Seine Fingernägel waren schmutzig. Und seine Zähne – nun, sie würde ihn mit der Errungenschaft der Zahnbürste bekannt machen müssen, sonst würde er mit Zwanzig keine mehr brauchen.
Aber da kam wieder der Wind, eine heftige Bö, die Sandkörner wie winzige Schrotkugeln vor sich her trieb. »Na gut«, sagte sie, und wieder glotzte er sie nur an. Ein langer Augenblick verstrich. »Ich meine: Worauf warten wir eigentlich?«
Nachdem sie den Schlitten beladen hatten, war kein Platz mehr für Edith, und so blieb sie zurück, um Ida und den Männern zu helfen, das Ruderboot zu entladen, das zwischen dem Schoner und dem Strand hin und her fuhr. Edith hatte ihr in den Ohren gelegen – sie wollte auch hinauf, wollte das Haus und ihr Zimmer und die Schafe sehen, und warum konnte sie denn nicht einfach mitgehen? –, aber Marantha hatte sich nicht erweichen lassen. Sie wurde hier unten gebraucht, am Strand, und das Haus würde sie noch früh genug sehen. Während dieses Wortwechsels, der dank Edith und ihrem Temperament länger dauerte, als er hätte dauern sollen, starrte Jimmie auf seine Schuhe, und als Edith sich schließlich umdrehte und davonstakste, gab er dem Maultier einen Klaps, und sie setzten sich in Bewegung.
Der Junge führte das Tier am Zügel und ging mit schlaksigen Schritten, schlendernd, als würde er bloß einen Spaziergang machen, dabei war der Weg steil, und das Maultier tat sich schwer. Schon nach wenigen Minuten dampften seine Flanken. Die Hufe wirbelten Matsch und Steine auf, und zwei-, drei-, nein, viermal wurde Marantha bespritzt. Sie konnte den stinkenden, stoßweisen Atem des Tieres riechen, der an seinem Rumpf vorbeistrich, getragen vom Wind, der jetzt, da sie an Höhe gewannen, noch stärker wurde. Ihr Hals schmerzte. Ihr Mund war ausgetrocknet. Sie nahm sich zusammen und hielt sich an den Armlehnen des heftig schwankenden Schaukelstuhls fest, während die schweren Kufen des Schlittens über die Erde schrammten und zwei tiefe Furchen hinterließen.
Sie sah, dass der Weg an der Wand einer Schlucht hinaufführte, auf deren Grund, zehn, fünfzehn Meter unter ihnen, ein schmaler, schlammiger Bach floss. Der Himmel war einförmig grau. Vögel stoben aus dem Gebüsch auf, flogen quer über die Schlucht und verschwanden. Das Maultier keuchte und schnaufte. Sie spürte einen Hustenreiz und kämpfte dagegen an, atmete tief durch die Nase und hielt sich so aufrecht wie möglich. Der Schaukelstuhl ächzte, die Kufen knirschten. Und dann, als sie schon dachte, sie würden immer weiter bergauf fahren, bis sie über den Wolken waren und einen ganz neuen Kontinent im Himmel erreichten, kamen sie, empfangen von einer windverwehten Sandwolke, auf ein Plateau, und da war das Haus.
Sie brauchte einen Augenblick, um alles in sich aufzunehmen. Das Maultier wirbelte Erde auf, der Junge lenkte den Schlitten in einem großen Bogen über den Vorplatz, so dass er später wieder in die Schlucht hinunterfahren konnte, griff dann nach dem Kummet und hielt das Tier an. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte – irgendein altmodisches, ländliches, mit Efeu überwachsenes Haus wie aus einem Bild von Constable oder Turner, Hecken, Blumenbeete, ein Holzzaun, ein Schäferhaus eben –, doch das hier war etwas vollkommen anderes. Das konnte nicht sein – oder doch? Sie sah den Jungen an, in der Hoffnung, er werde ihr diesen Scherz erklären: Dies war die Scheune, das Dienstbotenhaus, die Baracke für die Hirten oder was auch immer, und gleich würde er das Maultier wieder antreiben und sie zum eigentlichen Haus bringen, ganz bestimmt ... Doch dann sah sie, dass es keine anderen Gebäude gab und in dieser leeren Weite auch nicht geben konnte. Jimmie beobachtete sie. Eine Bö schlug ihr ins Gesicht. Das Maultier erschauerte, hob den Schwanz und ließ seinen Kot auf die kahle Erde fallen. Marantha stemmte sich hoch, stieg vom Schlitten und ging über den Vorplatz.
Ihr erster Eindruck war der von Nacktheit. Nackte Mauern mit mickrig kleinen Fenstern, und über den sandbedeckten Vorplatz ging ihr Blick in alle Richtungen über endloses, von Schafen verbissenes Buschland ohne einen einzigen Baum, einen einzigen Strauch, eine einzige Efeuranke. Es hatte nichts auch nur entfernt Altmodisches oder Gemütliches an sich. Es sah aus, als wäre es von einem Wirbelsturm in die Luft gehoben und mitten in der arabischen Wüste wieder abgesetzt worden. Wo waren die Kamele? Die Frauen in Burnussen? Sie war so enttäuscht – entgeistert, schockiert –, dass sie kaum den Kopf wandte, als der Junge das rohgezimmerte Tor für sie aufstieß. »Soll ich die Sachen in den Salon stellen?« fragte er.
Sie war jetzt im Hof und ging wie in Trance auf die Tür zu, die, wie sie selbst aus dieser Entfernung sehen konnte, so schlecht gezimmert war, dass über der Schwelle ein breiter Spalt klaffte wie eine schwarze horizontale Narbe. Die Fensterbretter waren rissig, die Scheiben durch den Flugsand milchig geworden. Auf den Verschalungsbrettern lief eine Reihe aus schwarzen Nagelköpfen in einem derart willkürlichen Zickzack vom Boden bis hinauf zur Dachschräge und wieder hinunter, als hätte der Wind die Nägel eingeschlagen, und die Bretter selbst waren so nachlässig getüncht, dass die Maserung des billigen, über das Meer hierhergeschleppten Fichtenholzes in dunklen Linien und Wirbeln hervortrat: Es war, als starrten ihr kleine Gesichter – nein, Fratzen – entgegen. Sie merkte, dass das ein Trugbild war, und Trugbilder sah sie nur, wenn das Fieber kam, dabei fühlte sie sich im Augenblick gar nicht fiebrig, nur schwach. Schwach und unpässlich. Und als wäre das alles noch nicht schlimm genug, huschte in dem Augenblick, als sie den Fuß auf die erste Stufe setzen wollte, ein dunkler Schatten – Schlange? Eidechse? Maus? – unter der Treppe hervor, und sie musste einen Schrei unterdrücken, doch der Junge war schon da, machte ein, zwei schnelle Schritte und stampfte mit dem Stiefelabsatz auf das Ding, das dann nur noch Blut und Knorpel war.
»Ma’am?« Der Junge zerrte an der Tür, um sie für sie zu öffnen, und sah sie dabei fragend an: Sie war die Invalidin, sie benahm sich seltsam, sie war ein Gespenst wie Miss Havisham in Große Erwartungen, eine Harpyie, eine Hexe, und sie wusste, dass sie sich zusammennehmen, das Positive sehen und stark und energisch sein musste. Sie zwang sich, durch die Haustür in das vordere Zimmer zu treten, und dachte, dass es wenigstens zwei Stockwerke gab, wenigstens das, als sie der nächste Schock traf.
Will konnte von ihr nicht erwarten, dass sie hier lebte – niemand konnte hier leben. Der Raum war unbewohnbar, so primitiv und hässlich wie nur irgendeiner, den sie je gesehen hatte. Die Dielenbretter hatten nie einen Tropfen Lack oder auch nur Öl gesehen und waren zerkratzt und schrundig von dem Sand, der sich hier drinnen beinahe so wohl zu fühlen schien wie auf dem Vorplatz. An den Fenstern hingen keine Vorhänge. Das Mobiliar – wenn man es so nennen wollte – bestand aus einem halben Dutzend Holzstühlen, einem langen Tisch, dessen Platte tiefe Kerben aufwies, und einer ausgebleichten Anrichte, die aussah, als als wäre sie aus einem Wrack geborgen worden, was, wie sie später erfuhr, tatsächlich der Fall war. Kein Teppich. Keine Bilder, kein Porzellan, keinerlei Zierat. Am schlimmsten war, dass niemand sich die Mühe gemacht hatte, die Wände zu streichen: Sie waren lediglich dünn übertüncht, offenbar mit derselben Farbe, die man für die äußere Verschalung verwendet hatte. Dies war kein Raum, sondern eine überdimensionierte Schachtel, ein Stall, an dessen Rückseite sich zwei winzige Schlafzimmer, nicht größer als Klosterzellen, und eine noch roher gezimmerte Tür befanden, die in die angebaute Küche führte. Alles roch nach ... ja, nach was? Nach Schaf. Danach roch es hier: als hätte die ganze Herde das Haus als Stall benutzt.
»Ma’am?«
Sie kam zu sich – der Junge stand da und erwartete etwas. Flehend sah er sie an: Er wollte nur helfen, das sah sie, er wollte nur tüchtig sein, die Sachen vom Schlitten laden und wieder hinunterfahren, damit Will und die Mädchen und Adolph ihn wieder und wieder beladen konnten, bis alles, was sie mitgenommen hatten, in diesem leblosen, trostlosen Rattenloch von einem Haus untergebracht war, das niemals auch nur ansatzweise ein Zuhause sein würde, ganz gleich, mit wieviel Hoffnung oder Optimismus oder guter Laune sie sich an die Arbeit machte, und zum zweitenmal in zwei Minuten wurde ihr bewusst, dass sie den Jungen verlegen machte. Schlimmer: Sie machte ihm angst.
»Ja?«
»Soll ich ...? Ich meine, soll ich vielleicht ...? Weil ... Captain Waters wird sich fragen, wo ich eigentlich bleibe, und er kann manchmal ganz schön streng sein ...«
»Ja«, sagte sie, und ihre Stimme klang seltsam, als drückte ihr etwas die Kehle zu, und es kostete sie Mühe, sich zu beherrschen. »Geh nur. Tu, was man dir aufgetragen hat. Na los, geh schon.«
Sie begann erst zu husten, als er zur Tür hinaus und im windgepeitschten Zwielicht verschwunden war, und hustend stieg sie die Treppe aus rohem Holz, die ihr wie die Leiter zu einem Baumhaus erschien, hinauf zu den nackten Dielen des Schlafzimmers, das sie mit Will und dem traurigen Himmelbett mit seinen schmutzigen Vorhängen und der Decke teilen würde, die nicht nach ihrem Mann roch, sondern nach Schaf – ausschließlich und penetrant nach Schaf.
Die Wut und die Verzweiflung, ja, auch die Verzweiflung, gaben ihr die Kraft, die Betten abzuziehen und die Bettvorhänge herunterzureißen und alles in einem Haufen auf den Boden zu werfen, damit Ida sich darum kümmerte. Was dachte er sich eigentlich, wie konnte er je geglaubt haben, sie würde ihre Gesundheit und Kraft in einer eiskalten Bretterbude wie dieser zurückgewinnen, als wäre sie irgendein Milchmädchen in einem ländlichen Idyll? Sie hätten nach Italien fahren und sich von der Sonne wärmen lassen können, bis ihre Lunge wieder gesund war, bis die Kavernen ausgetrocknet waren wie Feigen auf einem Blech, bis sie an Gliedern und Brüsten, an Hüften und Bauch wieder Fleisch angesetzt hatte – oder nach Mexiko. In ein tropisches Klima. In eine Wüste. Irgendwohin, nur nicht auf diese Insel. Seine Selbstsucht hatte sie hierhergebracht, im Grunde ihres Herzens wusste sie das. Sie saß auf der fleckigen Matratze und hustete, bis ihre Kehle wund war, und sosehr sie auch gegen ihre Gefühle ankämpfte, konnte sie doch nicht anders, als ihm die Schuld zu geben. Aber auch sie hatte Schuld. Sie war es gewesen, die ihm ihre letzten Ersparnisse anvertraut hatte, den Rest des Geldes, das James ihr hinterlassen hatte, damit er sich als gleichberechtigter Partner bei Mills einkaufen konnte, denn sie hatte gewusst, dass sie ihn sonst verlieren würde. Er war begeistert, er wollte sich verbessern, er sah seine Gelegenheit und ergriff sie, aber er war auch ihr Mann, er hatte sie einst geliebt, er liebte sie noch immer, auch wenn sie ihm, wie sie sehr wohl wusste, nicht mehr von großem Nutzen war – jedenfalls nicht über das hinaus, was ihr Geld ermöglichte. Dieser Gedanke – und es war nicht das erstemal, dass sie ihn dachte – ließ sie zu einem Nichts zusammenschrumpfen, zu einer leeren Hülle, einem dieser papierdünnen Dinger, wie man sie manchmal an der Borke eines Baums fand, wenn der Falter, der sich darin entwickelt hatte, herausgekrochen und davongeflogen war.
Sie konnte sie unten hören: schwere Schritte, Kisten, die mit einem dumpfen Rumpeln abgestellt wurden, ein leiser Fluch, das Knallen der Tür. Sie würde nicht hinuntergehen. Sie würde sich nicht von der Stelle rühren. Sie würde gar nichts tun, nur dasitzen und warten, bis Will heraufkam, mit flehendem Blick und Büßergesicht, und ihr alles erklärte, sich um sie bemühte, sich nicht um seine, sondern um ihre Bedürfnisse kümmerte oder sie, und sei es nur für einen Augenblick, in die Arme nahm. Wieder schlug die Tür, Schritte erklangen, schärfer und dünner, als würde jemand mit einem Hammer auf ein Blech schlagen, und dann drangen die Stimmen der Mädchen herauf, in einem hohen Plauderton, der ihr überhaupt keinen Trost spendete. Edith sagte etwas. Ida antwortete. Edith sagte noch etwas. Marantha strengte sich an, etwas zu verstehen, doch der Boden und die Wände verzerrten den Klang der Worte, so dass sie nicht sagen konnte, ob sie sich ebenso verwirrt und enttäuscht fühlten wie sie oder ob sie von der Neuheit dieses Ortes, den Ereignissen des Tages und den Aufgaben, die vor ihnen lagen, in Anspruch genommen waren. Da ging Edith. Das war Ida. Und dann war eine von ihnen in der Küche, man hörte das Klingen von Metall auf Metall. Das musste Ida sein, die sich dort einrichtete.
Erst da hob sie den Blick und sah sich im Raum um, musterte die mit abblätternder Kalkfarbe gestrichenen Bretter der Wände und der Decke, das Fenster, das hineingeschnitten war wie ein dunkles, dämonisches Auge, den schmucklosen Nachttopf aus Porzellan, der, ein unübersehbarer Hinweis auf seine Funktion, in einer Ecke stand, den wasserfleckigen Kleiderschrank in der anderen Ecke, an dessen Tür ein Spiegel befestigt war, so blind wie eine Bleiplatte. Wieder spürte sie einen Hustenreiz. Sie schnappte pfeifend nach Luft und hielt sie an, dann stemmte sie sich hoch und ging zum Waschtisch. Neben der Schüssel standen ein Wasserkrug und ein gesprungener Porzellanbecher, auf dessen Boden irgend etwas eingetrocknet war. Sie atmete aus und wieder ein und dann noch einmal, tiefer jetzt, so dass ihre Lungen sich weiteten, und der Husten kam nicht. Sie wusste nicht, wie lange das Wasser schon in diesem Krug stand – seit Wills letztem Besuch? Oder hatte der Junge es heute morgen erneuert? Egal. Sie hob den Krug an den Mund und trank, bis Tropfen auf ihre Jacke fielen.
Der Augenblick ging vorüber, und sie fühlte sich etwas besser. Sie würde sich zusammenreißen und ihre Willenskraft einsetzen müssen, um wieder gesund zu werden und die Ehefrau zu sein, die sie, wie sie wusste, sein konnte, wenn sie nur dieses Gefühl der Beklommenheit hinter sich ließ, das ebensosehr wie alles andere für diesen Hustenreiz verantwortlich war. Hatte sie nicht unten, am Strand, frei und leicht geatmet? Vor nicht mal einer Stunde? Und war die Luft nicht rein, wie Will es versprochen hatte? In diesem Augenblick drehte sie sich um und sah ihr Spiegelbild. Unter dem milchigen Schimmer war eine Gestalt gefangen, die sich ganz genau so bewegte wie sie selbst, obwohl sie ihr gar nicht ähnelte, und das lag daran, dass es ein billiger Spiegel war, ein Zerrspiegel wie die auf dem Jahrmarkt. Die Frau, die Marantha anstarrte, hatte etwas Ausgezehrtes, Durchscheinendes: Die Haut am Kinn und um die Augenhöhlen war straff gespannt, und als sie sich in ihrem Reisekostüm aufrichtete, mit geradem Rücken und gereckter Brust, war da keine Wölbung, sondern nur eine glatte Fläche vom bleichen Fleck ihres Gesichts bis hinunter zum Saum des braunen Twillrocks.
Sie trat näher, ignorierte die Geräusche von unten – ein Scheppern, ein Poltern, Will, der mit erhobener Stimme eine Anweisung gab – und musterte ihr Spiegelbild genauer. Und dann, ohne eigentlich zu wissen, was sie tat, knöpfte sie Jacke und Bluse auf, so dass ihr Unterkleid mit dem weißen Spitzenbesatz zu sehen war. Ihr Schlüsselbein – so nannte man es doch, oder? – trat im trüben Licht als scharfer Knochengrat hervor, und die Brust darunter war so weiß und blutlos, dass sie aussah wie das Fleisch eines Milchkalbs. Fasziniert streifte sie, ohne auf die Kälte zu achten, das Unterkleid bis zum Rand des Korsetts herunter, so dass ihre Brüste zu sehen waren. Oder vielmehr das, was einmal ihre Brüste gewesen waren. Jetzt waren da nur noch ihre Brustwarzen, als wäre sie wieder ein kleines Mädchen. Sie hatte an Gewicht verloren, natürlich, das wusste sie ja. Der erste Arzt hatte ihr eine Milchdiät empfohlen, und vom zweiten – Dr. Erringer, der sie auskultiert und schließlich mit sanfter Priesterstimme die unvermeidliche Diagnose gestellt hatte – war sie auf eine Rindfleischdiät gesetzt worden, und sie aß ja auch, sie gab sich alle Mühe, doch was der Spiegel ihr zeigte, war unbestreitbar, unvorstellbar, furchtbar, hässlich und eindeutig, denn dies war nicht das Spiegelkabinett auf dem Jahrmarkt, sondern die Wirklichkeit.
Ich werde mit Will sprechen, dachte sie, plötzlich wieder von Angst erfüllt und entsetzt. Ich werde ihm sagen, dass es nicht funktionieren wird, dass ich Sonne brauche, nicht dieses Zwielicht, dass ich Komfort brauche, Zivilisation, dass man mich umsorgen muss, dass das alles falsch, falsch, falsch ist. Ich werde ihm sagen, dass ich nicht seine Frau sein kann, dass ich nicht im selben Bett wie er schlafen kann, dass ich nicht tun kann, was von einer Frau erwartet wird, weil meine Knochen es nicht aushalten, meine Lunge, meine Brüste, mein Herz, mein Herz ...
Wann waren sie das letztemal Mann und Frau gewesen? Vor ihrem Blutsturz. Vor Dezember jedenfalls. Und davor, als sie so viel Gewicht verloren und Dr. Erringer ihr gesagt hatte, dass Schwindsucht keineswegs eine Erbkrankheit sei, wie man all die Jahre gedacht habe, sondern von Mikroben verursacht werde, so klein, dass sie praktisch unsichtbar seien, da hatte sie Angst gehabt, sie könnte Will anstecken, doch er hatte sie gebraucht und sie ihn, und so hatten sie den ehelichen Verkehr fortgesetzt. Unter einer Bedingung: keine Küsse. Sie küsste niemanden, nicht einmal Edith, jedenfalls nicht auf den Mund. Ihre eigentliche Angst war nicht, sie könnte der Krankheit erliegen – dies erschien ihr an ihren schlechteren Tagen zunehmend unausweichlich, ganz gleich, wie sehr Will sich bemühte, es zu leugnen –, sondern vielmehr, sie könnte die Menschen, die sie am meisten liebte, damit infizieren.
Sie wandte sich vom Spiegel ab, zog sich wieder an und ging zum Bett. Es war ein Zimmer in einem vom Wind belagerten Haus, aus dem jeder Rest von Wärme verschwunden war, weil niemand dagewesen war, der die Kälte gespürt hätte, weil es eine heruntergekommene, trostlose Bruchbude war. Sie erschauerte, doch sie wollte sich nicht mit der schmutzigen Decke zudecken, selbst wenn sie erfror, und so legte sie sich auf die Matratze, bettete den Kopf auf einen Arm, zog die Beine an und krümmte sich zusammen. Schlaf, sie brauchte Schlaf. Wenn sie nur ein wenig ausruhen könnte, würde es ihr bald bessergehen, ganz bestimmt. Sie schloss die Augen. Ihr Atem ging langsamer. Und das Zimmer mit seinen wirbelnden Staubflocken und dem fleckigen Schrank in der einen und dem Nachttopf in der anderen Ecke verschwand im Nichts.
Sie erwachte von einem leisen Wummern, das wie das Klopfen eines riesigen Herzens war, eines Herzens, so groß wie das Haus. Wumm, wumm, wumm. Sie starrte an die fremde, unvertraute Wand und wusste im ersten Augenblick nicht, wo sie war, doch dann, mit einemmal, fiel ihr alles wieder ein: Sie war auf einer windgepeitschten Insel, einer fünfunddreißig Quadratkilometer großen Insel in der wogenden Weite des Pazifischen Ozeans, auf der es nichts anderes gab als Natur und eine riesige Schafherde, Tiere, die im Grunde Geld auf Beinen waren, Einkommen, Wachstum, blökende, wolleproduzierende Dollarsäcke – so jedenfalls sah Will es. Will, dessen schwere Schritte jetzt auf der Treppe erklangen: wumm, wumm. Sie lag ganz still, zählte die Sekunden zwischen ihren Atemzügen und kämpfte gegen den Hustenreiz an, denn das erste Husten würde zu weiterem Husten und immer mehr Husten führen und sich wieder einmal zu einem nicht enden wollenden Anfall steigern.
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