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Ein Krieg, zwei Religionen – und zwei Freunde, die sich bis aufs Blut bekämpfen
Seit ihrer Jugend sind der Müllerssohn Eik und der Landadelige Valerian befreundet – bis sich Eik in Valerians Schwester verliebt. Der junge Edelmann ist so vehement gegen diese unstandesgemäße Verbindung, dass sich die Männer fortan aus dem Weg gehen. Doch der 30-jährige Krieg ändert alles. Während Eik sich auf die Seite der Protestanten schlägt, schließt sich Valerians Familie den Katholiken an. In der Schlacht von Magdeburg treffen sie wieder aufeinander – und nur einer kann überleben!
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Seitenzahl: 621
Buch
Der Müllerssohn Eik führt ein einfaches, ruhiges Leben, bis er sich in die Schwester seines besten Freundes – des Landadeligen Valerian – verliebt. Denn der junge Edelmann ist so vehement gegen diese unstandesgemäße Verbindung, dass sich die Männer fortan aus dem Weg gehen. Da erreicht der 30-jährige Krieg ihre ländliche Heimat und ändert alles. Eik schlägt sich auf die Seite der Protestanten, wobei ihm Religion und Politik herzlich egal sind. Doch bereits in der ersten Schlacht tut er sich durch Mut und Wildheit hervor und zieht so die Aufmerksamkeit mächtiger Männer auf sich. Währenddessen schließt sich Valerians Familie den Katholiken an. Zwei Freunde, die sich auseinandergelebt haben und die das Schicksal doch wieder zusammenführt – zu einem Duell auf Leben und Tod!
Autor
Wolfgang Thon wurde am 17.07.1954 in Mönchengladbach geboren. Nach dem Abitur studierte er Sprachwissenschaft, Germanistik und Philosophie in Berlin und Hamburg. Heute ist er als Übersetzer und Autor für verschiedene Verlage tätig. Er ist Vater von drei mittlerweile erwachsenen Kindern und lebt, schreibt, übersetzt, reitet und tanzt (Argentinischen Tango) in Hamburg.
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Wolfgang Thon
Blutiges Land
Roman
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1. Auflage
Copyright © 2017 by Blanvalet in der
Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Peter Thannisch
Umschlaggestaltung: Johannes Frick, Neusäß
Umschlagabbildungen: Shutterstock /Alex Flint und
Robert B. Miller
HK · Herstellung: sam
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-16945-9V001
www.blanvalet.de
Der holden Margarethen.Für Dein Verständnis und Deine Geduld.
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Mein Freund – mein Feind
1. KAPITEL
Bruchhausen, nahe der Festung Nienburg, Herbst 1626
Die Reiter kamen über sie wie ein Gewittersturm.
Eik hatte sich aufgerichtet, um seinen schmerzenden Rücken zu entlasten, nachdem er stundenlang in gebückter Haltung Kartoffeln aus der Erde geklaubt hatte. Dabei war sein Blick auf den Hügelkamm und den einzelnen Reiter gefallen, der darauf stand.
In dem Zwielicht des heraufziehenden Abends konnte Eik nicht erkennen, ob es sich um einen Söldner oder etwa um Schlimmeres, einen Marodeur und Plünderer, handelte. Dann hob der Mann den Arm.
Eik starrte einen Moment lang auf den Hügelhang, über den plötzlich eine ganze Schar von Reitern quoll und zielstrebig auf sie zugaloppierte. Söldner, dachte Eik. Plünderer und Strauchdiebe reiten nicht so diszipliniert und haben auch nicht so viele Pferde.
Ob die Soldaten zur protestantischen Union oder zu den Ligistischen des Kaisers gehörten, spielte keine Rolle, denn die Art und Weise, wie sie heranstürmten, verriet schwerlich friedliche Absichten.
Eik fuhr herum, schrie den anderen auf dem Feld eine Warnung zu und war mit zwei langen Sätzen bei seiner Jacke. die am Feldrand lag. Er schob sie und den mittlerweile leeren Knappsack beiseite und packte den Griff des Stoßdegens.
Er hatte ihn kaum aus der Lederscheide gezogen, als die Welt um ihn herum nur noch aus Gebrüll, schrillem Wiehern, ängstlichen Schreien und stinkenden, riesigen Pferdeleibern zu bestehen schien.
Erde, Schweißflocken und von Pferdehufen zertretene Kartoffeln spritzten durch die Luft, und Eik wusste nicht, wohin er sich zuerst wenden sollte. Er bekam einen Stoß gegen die Schulter, fuhr herum, und im nächsten Moment traf ihn ein Stiefel zwischen die Schulterblätter. Er flog durch die Luft und landete mit dem Gesicht voran auf dem Acker.
Feuchte Erde drang ihm in Mund und Nasenlöcher und verklebte seine Augen. Eik stemmte sich hustend und spuckend auf die Ellbogen hoch und hob den Kopf. Den Stoßdegen hielt er immer noch in der rechten Faust.
Dann tauchten Pferdebeine vor ihm auf, die eines Schimmels. Er hob den Blick zu dem Reiter und runzelte verblüfft die Stirn. Der Mann schien bis auf den Dolch am Gürtel über seinem Lederwams unbewaffnet zu sein und wirkte sehr jung, war vielleicht sogar noch jünger als er selbst mit seinen neunzehn Sommern. Sein Gesicht war für einen Mann ungewöhnlich fein und ebenmäßig. Und dann diese rote Mähne.
Das ist kein Mann!
Eik hatte zwar gehört, dass sich bei manchen marodierenden Banden, die die Gegend rund um Verden heimsuchten, auch Frauen befanden, aber bei einer Söldnertruppe? Und es mussten Söldner sein, so viel war klar, auch wenn sie keine Regimentsfarben zeigten.
Der Anblick der Frau, die in Männerkleidung auf dem Pferd vor ihm saß, ließ ihn kurz den Lärm und das Chaos ringsum vergessen. Er versuchte aufzustehen, als plötzlich eine Stiefelspitze schmerzhaft gegen seinen Arm prellte und ihm der Stoßdegen aus der Hand flog.
»He, was …?« Eik fuhr herum, erstarrte jedoch im nächsten Moment, als er die Spitze einer schmalen Klinge unter seinem Kinn fühlte, deren messerscharfe Schneide schmerzhaft seine Haut ritzte. Ein Rapier!
»Hör auf, sie anzustarren, du Einfaltspinsel!«
Eik starrte den Sprecher an. Franzosen? Was…? Hat dieser Richelieu etwa Soldaten nach Deutschland geschickt? Und wenn ja, auf welcher Seite kämpfen sie? Gerade erst haben Tilly und Wallenstein Christian von Dänemark besiegt, und schon kommen die Franzosen hierher?
Er kam jedoch nicht dazu, weiter über diese Frage nachzudenken.
»Halt, Ducroix!«
Die Stimme hinter Eik sprach ebenfalls Französisch und gehörte offenbar jemandem, der hier etwas zu sagen hatte. Der Ducroix genannte Mann zog jedenfalls nach kurzem Zögern die Spitze der Klinge von Eiks Hals zurück, ohne allerdings das Rapier ganz sinken zu lassen.
Eik biss die Zähne zusammen, als er spürte, wie warmes Blut aus der Schnittwunde seinen Hals hinunterlief. Er widerstand dem Impuls, sich umzudrehen, und starrte weiter den Mann mit dem Rapier an. Der war schlank, trug teuer aussehende Schaftstiefel, eine Lederhose, darüber ein ledernes Wams mit Pluderärmeln, deren Falten mit Samt unterlegt waren, und ein Hemd mit einem üppigen Spitzenkragen. Eine ungewöhnlich kostspielige Bekleidung für einen Söldner, die abgesehen vom Reisestaub in einem sehr gepflegten Zustand war. Ein hoher Offizier? Das blasse Gesicht war von einer Narbe entstellt, die von einer Braue aus über die gesamte Wange verlief. Offenbar eine Verletzung von einer Klinge, dachte Eik. Er kann von Glück reden, dass er sein Augenlicht nicht verloren hat. Er hatte kalte, dunkle Augen, deren Blick Eik förmlich zu durchbohren schien.
»Ich sagte, du sollst aufhören zu glotzen, Schwachkopf!«, wiederholte der Mann und richtete dann seinen Blick kurz auf den Mann hinter Eik, der ihn vermutlich mit dem Tritt entwaffnet hatte. »Übersetzt das für diesen Trottel, Capitain, bevor ich ihm noch mein Rapier in den Schlund stoße!«
»Der tapfere Chevalier will, dass du aufhörst, das Mädchen oder ihn selbst anzuglotzen, Junge!«
Daraufhin drehte sich Eik doch zu dem Sprecher herum, bei dem es sich der Anrede des Franzosen nach wohl um den Hauptmann dieser Truppe handelte. Wenigstens ist es kein Franzose, jedenfalls seinem Akzent nach zu urteilen. Eik wollte gerade sagen, dass er weder ein Junge war noch eine Übersetzung brauchte, aber als er in das Gesicht des Offiziers blickte, kam kein Wort über seine Lippen.
Unter dem breitkrempigen Hut glühten Augen wie Kohlen. Der Mann hatte schwarzes Haar, einen kurzen graumelierten Bart – und eine schreckliche Verletzung, die den Mann sein rechtes Ohr gekostet hatte. Der größte Teil seiner rechten Wange sowie die Haut um sein rechtes Auge und auf der Stirn schienen regelrecht weggebrannt zu sein.
Eik hatte von solchen Verletzungen gehört. Sie rührten davon, wenn eine Muskete oder eine kurzläufigere Arkebuse beim Abfeuern explodierte. Sein Blick zuckte zu dem Bandelier des Mannes quer über seiner Brust, aber an dem Karabinerhaken hing keine Schusswaffe, jedenfalls soweit Eik das erkennen konnte.
Offenbar war ihm dieser eine Unfall Warnung genug!, dachte Eik. Und er hat wahrhaftig großes Glück gehabt, dass er mit dem Leben davongekommen ist. Sein Blick suchte an der Kleidung des Mannes nach etwas, das seine Zugehörigkeit zu einer der Kriegsparteien verriet, aber er konnte nichts dergleichen entdecken.
Dann wurde er von derbem Gelächter und schrillen Schreien abgelenkt. Sein Blick fiel auf die Söldner, die die Mägde und die beiden Knechte auf dem Acker zusammentrieben. Sie schlugen auf die Männer mit den flachen Seiten ihrer Klingen ein und drängten sie mit ihren Pferden weiter. Als eine der Mägde hinfiel, wollte ihr Jakob, der jüngere der beiden Knechte, zu Hilfe kommen. Aber ein Söldner stieß den jungen Burschen mit seinem Pferd um und leckte sich obszön die Lippen, als die Magd versuchte, sich rückwärts krabbelnd vor den Hufen in Sicherheit zu bringen, und dabei ihre Beine entblößte.
Ein anderer Söldner schlug mit einem Säbel Broder nieder, den älteren Knecht, der ebenfalls versuchte, der Magd zu helfen.
»Warum tut er das?«, schrie Eik wütend und bückte sich, um den Stoßdegen aufzuheben.
»Weil er es kann, Bursche!«, erwiderte der Hauptmann und trieb sein Pferd einen Schritt vor. Die Beine des Rosses stießen gegen Eiks Hintern, und er landete erneut auf dem von den Hufen aufgewühlten Acker. »Das würde ich an deiner Stelle nicht versuchen, falls dir etwas an deinem Leben liegt!«
Eik hatte die Faust um den Griff seines Stoßdegens geballt, und als er nun herumfuhr, sah er, dass der Franzose die Zähne gefletscht hatte und Anstalten machte, sein Pferd anzutreiben, um ihn über den Haufen zu reiten.
Der Hauptmann lenkte sein Pferd zwischen Eik und den Franzosen und beugte sich aus dem Sattel zu ihm hinab. »Her mit dem Pallasch, Bursche!«
Eik zögerte. Wenn ich ihm die Waffe gebe, bin ich vollkommen wehrlos. Er sah sich um. Mittlerweile hatten die Söldner die Mägde und Knechte zum Ackerrand getrieben, wo sie sich ängstlich aneinanderdrückten und gegenseitig umklammert hielten. Andererseits, was kann ich allein schon ausrichten? Und schließlich hat niemand etwas davon, wenn ich eine Dummheit begehe und diese Halunken mich umbringen.
»Wäre es dir lieber, wenn ich dich dem Chevalier überlasse?« Der Hauptmann verlor allmählich die Geduld. Mit einem kurzen Rucken seines Kopfes deutete er auf den Franzosen, der Eik mit wütenden Blicken bedachte. »Er hat schon seit längerem nichts Ordentliches mehr in den Magen bekommen, so wie wir alle, und ist entsprechend schlecht gelaunt. Es würde mich nicht wundern, wenn du dann nicht nur den Pallasch verlierst, sondern auch gleich den ganzen Arm. Also zum letzten Mal, her mit der Waffe!« Die Stimme des Mannes klang unerbittlich, aber nicht gänzlich unfreundlich.
Eik war klar, dass er keine Wahl hatte, jedenfalls nicht, wenn er am Leben bleiben wollte. Er wirbelte den Degen hoch, fing ihn an der Klinge auf und reichte ihn dem Hauptmann mit dem Griff voran.
Der hob seine ihm verbliebene Braue, als er den Griff der Waffe mit seinem Stulpenhandschuh packte. »Was will ein Bauernbursche wie du mit einem solchen Degen?«
»Zurzeit treibt sich viel Gesindel in der Gegend herum, Herr.« Jakob hatte sich aufgerappelt und stand jetzt neben Eik. »Plünderer, Strauchdiebe und ihresgleichen …« Er verstummte, als der Hauptmann zu ihm herumfuhr.
»Gesindel?« Die Stimme des Mannes klang leise und drohend. »Willst du uns etwa …?«
»Er meint den Stillen Veit und seine Bande, Herr«, mischte sich Eik hastig ein. Er hatte plötzlich Angst, dass der Mann dem Jungknecht seinen Stoßdegen ins Herz rammen würde, und versuchte die Klinge festzuhalten, allerdings vergeblich.
Der Hauptmann riss ihm den Pallasch aus den Fingern und wog die Waffe in der Hand. »Eine gute Waffe«, meinte er und betrachtete den Stahl der Klinge. »Und dazu recht kostspielig für einen Bauern.« Er sah Eik scharf an. »Der Stille Veit, sagst du? Ein Strauchdieb, was? Gehörst wohl selbst dazu, wenn du dir so eine Klinge leisten kannst, hab ich recht?«
Eiks Angst um Jakob wich der Sorge um sein eigenes Leben. Der Mann ließ die Klinge durch die Luft zischen und richtete dann die Spitze auf Eik. »Schön ausbalanciert und wohl auch scharf genug, um einem Mann ohne viel Federlesens die Kehle aufzuschlitzen.«
»Das ist die Waffe eines Dragoners, Hauptmann.« Einer der beiden Männer, die abgestiegen waren und die Mägde und Knechte bewachten, war zu dem Offizier getreten und hatte einen Blick auf den Pallasch geworfen. Er deutete auf den Griff. »Das sind die Farben der Kaiserlichen da im Handstück.« Er musterte Eik abschätzend. »Er hat sie bestimmt gestohlen oder einem der Ligistischen abgenommen, nachdem er ihn hinterrücks ermordet hat. Diesen Bauern ist alles zuzutrauen. Wenn er jetzt noch einen Gaul stehlen könnte, würde er sich bestimmt als Reiter bei den kaiserlichen Dragonern melden.«
»Einen Gaul hat er doch gleich zur Hand«, meinte sein Kamerad und lachte derb, während er auf die ältere der beiden Mägde deutete. »Ich bin sicher, dass sie so einen schneidigen Dragoner nicht abwirft. Wenn doch, kann er ja die jüngere nehmen. Wir können ihm die Prachtstute ja zureiten, wenn er will.«
Eiks Blick zuckte zu der älteren Magd, Johanna, die als Köchin in der Herberge seiner Eltern arbeitete. Die Frau erwiderte seinen Blick und schüttelte unmerklich den Kopf, aber dieser Warnung hätte es nicht bedurft. Eik war klar, dass ihrer aller Leben auf Messers Schneide stand und dass es dumm gewesen wäre, die Männer noch mehr zu reizen.
Der Hauptmann musterte Eik scharf. »Ich verzichte darauf, dich hochnotpeinlich zu befragen, woher du die Waffe hast.« Er warf dem Franzosen einen kurzen Blick zu. »Fürs Erste jedenfalls.« Er fletschte die Zähne zu einer Grimasse, die wohl ein Grinsen sein sollte. Eik lief es kalt über den Rücken. »Und auch nur, solange du dich für uns als nützlich erweist.«
Er winkte den Mann, der den anzüglichen Vorschlag gemacht hatte, zu sich und gab ihm den Stoßdegen. Dann wandte er sich wieder an Eik.
»Sag mir, wo hier in der Nähe eine Siedlung ist, Kerl, und wage nicht, mich anzulügen. Wir brauchen einen Platz zum Schlafen, etwas zu essen und Wasser und Futter für unsere Pferde.« Er kniff die Augen zusammen.
Eik schluckte, während sich seine Gedanken überschlugen. Auf keinen Fall darf ich sie zum Schloss führen!, dachte er. Die Vorstellung, dass diese Männer, vor allem dieser Franzose, sich bei Augusta und ihrer Familie einnisteten, behagte ihm überhaupt nicht. Klar, Freiherr von Villesen hatte fast drei Dutzend Bewaffnete zur Verfügung, wenn er all seine Männer zusammenrief. Eik ließ seinen Blick über die Söldner wandern. Er schätzte ihre Zahl auf nicht ganz zwei Dutzend. Aber ich glaube nicht, dass Bossel und seine Leute gegen die hier bestehen können, selbst wenn sie ihnen zahlenmäßig überlegen sind. Sein Blick blieb an dem Franzosen hängen, der sein Pferd neben die rothaarige Frau und einen älteren Mann gelenkt hatte und sich lebhaft mit ihnen unterhielt. Offenbar stritten sie wegen irgendetwas, aber Eik konnte nicht verstehen, um was es ging. Ihm missfiel jedoch die Art, wie der Mann die Frau an der Schulter berührte, als er sich aus dem Sattel zu ihr beugte. Die Vorstellung, dass er sich Augusta von Villesen auf diese Weise nähern könnte, bereitete ihm fast Übelkeit. Kann ich es denn verantworten, diese Männer zu meinen Eltern zu führen?, dachte er. Es ist gefährlich, aber welche Wahl habe ich schon?
Die Entscheidung wurde ihm jedoch abgenommen, denn bevor er die Frage des Hauptmanns beantworten konnte, mischte sich Broder ein, der ältere Knecht.
»Bruchhausen, Herr!« Der Mann wollte vortreten, aber der Söldner, der ihn bewachte, schlug ihm die flache Säbelseite mit voller Wucht auf den Rücken. Broder stieß einen Schmerzensschrei aus, taumelte und fiel zu Boden.
Der Hauptmann hatte Eik beobachtet, als könnte er dessen Gedanken lesen. Er nickte, als er Eiks Reaktion auf Broders Worte sah, und wandte sich an den Soldaten, der den Knecht zu Boden geschlagen hatte.
»Hoch mit ihm!«, befahl er. Die beiden Söldner packten Broder unter den Achseln und zogen ihn unsanft auf die Beine. Der Knecht stand vor dem Hauptmann und starrte ängstlich zu ihm hoch.
»Bruchhausen?« Der Offizier musterte den Mann scharf. »Kenne ich nicht. Was soll das sein?«
»Es ist ein Dorf, Herr. Nicht weit von hier.« Broder zitterte so stark, dass seine Worte nur undeutlich zu verstehen waren. »Wir kommen von dort.« Sein Blick glitt fast entschuldigend zu Eik. »Es liegt auf der anderen Seite der Sumpfniederung, Herr, und im Dorf selbst gibt es nicht viel zu holen. Aber was Unterkunft und Verpflegung für Euch und Futter für Eure Pferde angeht …«
»Meine Mutter führt dort eine kleine Herberge, Herr Hauptmann!«, platzte Eik heraus, bevor Broder seinen Satz beenden konnte. »Dort findet Ihr gewiss Unterkunft, und außerdem gibt es da einen kleinen Stall und eine Koppel für Eure Tiere.«
Innerlich bat er seine Eltern um Vergebung, aber er wollte verhindern, dass Broder Schloss Villesen erwähnte, und der Knecht hätte zweifellos genau das getan, in dem verständlichen Versuch, diese Söldner vom Dorf fernzuhalten. »Es ist zwar nur eine kleine Herberge, Herr, aber meine Mutter wird Euch gut bewirten.« Er zwang sich zu einem Lächeln. »Sicher haben wir auch noch ausreichend Bier im Keller.«
»Und dort gibt es genügend Platz für mich und meine Leute?« Der Hauptmann deutete hinter sich, ohne sich umzudrehen. »Und eine anständige Unterkunft für den Chevalier und seine besonderen Gäste?« Die Art und Weise, wie der Offizier die letzten Worte betonte, ließ keinen Zweifel daran, dass er nur wenig von diesen Leuten hielt. »Monsieur ist recht anspruchsvoll.«
Eiks Blick glitt zu dem Chevalier, der Frau und dem alten Mann. Offenbar hatten sie ihren Streit beigelegt, denn der Chevalier richtete seine Aufmerksamkeit auf den Hauptmann und Eik. Als er sah, wie Eik zu ihm hinschaute, stieß er seinem Pferd die Sporen in die Flanken und ritt zu ihnen. Eik schluckte.
»Gewiss«, erwiderte er hastig. »Ihr könntet mit dem Chevalier und den beiden anderen in der Herberge schlafen.«
Er hörte, wie Broder hinter ihm Luft holte, zweifellos, um dem Hauptmann zu empfehlen, sich stattdessen doch lieber auf Schloss Villesen einzuquartieren. Eik versuchte erst gar nicht, den Knecht mit einem Blick zum Schweigen zu bringen, weil der Mann in seiner Angst ohnehin nicht verstanden hätte, worauf Eik hinauswollte. Also hob er die Stimme und sprach weiter, bevor der Knecht das Wort ergreifen konnte. »Und Eure Männer finden genug Platz in der Mühle.«
»In der Mühle?« Der Hauptmann sah Eik fragend an.
»Sie gehört meinem Vater, Herr. Er ist der Müller dort.«
Der Hauptmann warf Broder einen kurzen Seitenblick zu. »Hört sich an, als wäre dieses Bruchhausen doch nicht so klein, dass es dort nichts zu holen gäbe.«
Broder trat vor und setzte erneut zum Sprechen an, aber diesmal brauchte Eik ihm nicht zuvorzukommen, weil einer der beiden Söldner ihn unsanft am Kragen packte und zurückzerrte. »Hiergeblieben, Kerl!«, befahl er und zog Broder unsanft zurück, der daraufhin erneut in den Dreck fiel.
»Wenn er so weitermacht, sieht er bald aus wie ein Schwein!«, meinte einer der Männer lachend.
»Vielleicht sollten wir ihn pfählen und über einem Feuer rösten«, schlug ein anderer vor. »Ist schon lange her, dass ich einen ordentlichen Spießbraten hatte.«
Broder kannte genau wie Eik die düsteren Geschichten von Leuten, die in ihrer Not andere Menschen verspeist haben sollten, und starrte die Männer entsetzt an. Eik sah den dunklen Fleck, der sich im Schritt seiner Hose ausbreitete und ganz sicher nicht von der feuchten Erde stammte.
»Also gut!« Der Hauptmann drehte sich zu seinen Leuten herum. »Ihr habt gehört, was diese Bauern gesagt haben. Wir reiten nach Bruchhausen und beziehen dort für die Nacht Quartier. Diese Kerle nehmen wir mit.« Er sah Eik an. »Du zeigst uns den Weg.«
Eiks Gedanken überschlugen sich. Wie soll ich Augusta und den Freiherrn benachrichtigen, wenn ich diese Leute nach Bruchhausen führe? Es musste doch einen Ausweg geben, nur … ihm wollte einfach keiner einfallen.
Da kam von gänzlich unerwarteter Seite Hilfe.
»Was haben diese Bauerntrottel gesagt?« Der Chevalier zügelte sein Pferd neben dem des Hauptmanns. »Wohin reiten wir? Bruchhausen?« Auf Französisch klang der Name von Eiks Dorf wie Brüchauß, aber selbst wenn Eik diese Sprache nicht verstanden hätte, wäre ihm nicht entgangen, dass dem Mann die Aussicht, in diesem Dorf zu übernachten, überhaupt nicht behagte.
Die nächsten Worte des Hauptmanns bestätigten seine Vermutung.
»Allerdings, Chevalier.« Der Hauptmann deutete auf seine Söldner und die junge Frau. »Wenn Ihr schon keine Rücksicht auf meine Leute nehmt, solltet Ihr zumindest an die Gesundheit Eurer… Gäste denken. Der Jude braucht Ruhe, sonst fällt er noch tot vom Pferd. Euer Kardinal dürfte wohl kaum sonderlich erfreut sein, wenn Ihr mit einem wertlosen Wechsel und einer Leiche bei…« Sein Blick zuckte kurz zu Eik. »…dort auftaucht.Und Ihr braucht diesen Mann, um den Wechsel einzulösen, wenn ich das richtig verstanden habe.« Er zuckte mit den Schultern. »In Bruchhausen können wir ausruhen und, sollten uns die Ligistischen tatsächlich einholen, aus einer ordentlichen Deckung heraus kämpfen. Das ist auf jeden Fall besser, als sich ihnen auf freiem Feld stellen zu müssen.« Gelassen erwiderte er den finsteren Blick des Chevaliers. »Außerdem können wir auf keinen Fall die ganze Nacht durchreiten. Selbst wenn sich mein Arsch nicht anfühlen würde, als säße ich auf einem glühenden Amboss, müssen wir unseren Pferden Ruhe gönnen. Oder wollt Ihr vielleicht den Rest des Weges zu Fuß bewältigen?«
Der Chevalier mahlte mit den Kiefern und starrte dann Eik an. »Fragt diesen Bauernlümmel, wie weit es bis nach Stade ist. Wir müssen uns beeilen. Wir wissen nicht, wie lange Christian von Dänemark in seinem Lager bleiben kann, bevor Tilly und Wallenstein ihn von dort vertreiben. Ich glaube kaum, dass de Lemos Lust hat, dem König bis nach Jütland zu folgen oder gar ein Schiff zu besteigen, um nach Kopenhagen zu segeln und ihm das Geld meines Kardinals zu bringen.« Er sah wieder zum Hauptmann zurück. »Und ich ebenso wenig.«
»Ich soll die Bauern nach dem Weg fragen?« Die Miene des Hauptmanns hatte sich bei den letzten Worten des Franzosen zusehends verdüstert. Als der Chevalier den Namen Christians von Dänemark aussprach, hatte er Eik angeblickt, der dem Wortwechsel zwar anscheinend gleichgültig gefolgt war, ein Aufblitzen seiner Augen aber nicht hatte verhindern können. Stade? Sie wollen zum dänischen König? Er wusste, dass sich Christian IV. von Dänemark nach seiner Niederlage gegen das Heer von Tilly und Wallenstein nach Stade zurückgezogen hatte. Und er wusste auch, dass die ligistischen Truppen auf dem Vormarsch waren. Deshalb hatte sein Vater ihn ja mit den Knechten auf den Kartoffelacker geschickt, damit sie möglichst rasch die wertvollen Knollen ernteten, bevor sie furagierenden Söldnern der Ligistischen in die Hände fallen konnten.
Als Eik den Blick des Hauptmanns auf sich fühlte, versuchte er, so unbeteiligt und verständnislos zu tun, wie er nur konnte. Die nächsten Worte des Offiziers zeigten jedoch, dass der sich von Eiks Verhalten nicht so leicht täuschen ließ.
»Ihr seid ein Narr, Ducroix!«, stieß der Hauptmann wütend hervor. »Haltet Ihr diese Bauern wirklich für so dumm, dass sie nicht eins und eins zusammenzählen könnten?« Er deutete auf Eik. »Dass sich der dänische König nach seiner Niederlage gegen die Ligistischen nach Stade zurückgezogen hat, dürfte für diese Leute kein großes Geheimnis sein. Schließlich trifft es sie am ärgsten, wenn die Truppen Tillys und Wallensteins hier plündernd durchziehen, um dem Dänen den Rest zu geben!« Er schüttelte den Kopf. »Selbst wenn es uns gelingt, unseren Vorsprung gegenüber den Ligistischen zu halten, ist es wohl kaum hilfreich, wenn diese Bauern uns verraten und unseren Verfolgern genau beschreiben können, wohin wir unterwegs sind.« Er kratzte sich das verstümmelte Ohr. »Stade ist meiner Schätzung nach noch mindestens zwei Tagesritte entfernt, was bedeutet, sie könnten uns noch abfangen, wenn sie wüssten, wohin wir…«
»Stade, ihr Herren?« Eik fuhr zusammen, als er Broders bebende Stimme hörte. Der Knecht hatte wohl nur die Worte Stade und Christian verstanden und versuchte nun, dem Schicksal, als Spanferkel zu enden, zu entgehen, indem er sich bei ihnen einschmeichelte. Dabei macht er alles nur noch schlimmer!, dachte Eik, aber er konnte nicht verhindern, dass der Knecht in seiner Angst weiterplapperte.
»Dort liegen die Dänen, haben wir gehört.« Er sah unterwürfig zwischen dem Hauptmann und dem Chevalier hin und her. »Wenn Ihr dorthin wollt, kann ich Euch sagen, dass es nicht mehr allzu weit ist.« Sein Blick streifte den von Eik, und er zuckte zusammen, als er die Wut auf dem Gesicht des Müllerssohns sah. »Höchstens elf Hannoveraner Meilen, ein scharfer Tagesritt mit ausgeruhten Pferden. Und frische Pferde hat unser Landherr, Freiherr von Villesen …«
»So sei doch endlich still, Herrgott noch mal, Broder!«, fuhr Eik den Knecht an. Am liebsten hätte er ihn geohrfeigt. Das fehlt gerade noch, dass du diese Kerle auf die Idee bringst, dem Freiherrn seine Trakehner wegzunehmen. Er bemerkte den scharfen Blick des Hauptmanns. »Was fällt dir ein, die Herren Offiziere belehren zu wollen?«, setzte er hinzu. »Sie wissen auch ohne deinen Rat, was sie zu tun haben!« Er zwang sich zu einem Lächeln, als er den Hauptmann ansah. »Verzeiht ihm, dass er sich ungefragt einmischt, Herr Hauptmann. Mein Vater ist einfach zu nachsichtig mit ihm.«
Aber es war schon zu spät.
»Von Villesen?« Der Chevalier war bei der Erwähnung dieses Namens aufmerksam geworden. »Ist das der Landesherr dieser Leute? Wahrscheinlich ist es nur ein einfacher Landadliger, aber dennoch!« Ducroix sah den Hauptmann an. »Was hat dieser Schwachkopf gesagt, elf Meilen bis Stade?« Er verzog die Lippen. »Das sind fünfundzwanzig Lieues. Mit ausgeruhten Pferden schaffen wir das in zwei Tagen.« Er fuhr mit der Hand durch die Luft. »Wir haben genug Vorsprung, um uns heute Nacht ausruhen zu können. Falls die Ligistischen bei all dem Durcheinander auf den Straßen überhaupt noch auf unserer Spur sind.« Er seufzte. »Zudem könnte ich wahrhaftig ein Bad vertragen.« Er warf einen kurzen Blick auf die rothaarige Frau. »Und jemanden, der mir den Rücken schrubbt und den Dolch reinigt.« Die junge Frau jedoch beachtete ihn nicht, sondern hielt ihren Blick auf Eik gerichtet, woraufhin sich die Miene des Franzosen verfinsterte. »Jedenfalls dürfte es weit angenehmer sein, die Nacht auf einem Herrensitz zu verbringen, selbst wenn es ein einfaches Gutshaus ist, als sich in der Gesellschaft stinkender Dorftrottel in feuchtem Stroh zu wälzen«, fuhr er gereizt fort. »Außerdem hat dieser von Villesen, abgesehen von einer ordentlichen Köchin, vielleicht auch ein paar Pferde in seinen Stallungen.« Er hob eine Braue. »Die wir requirieren könnten. Also schlage ich vor…«
»Villesen liegt etliche Meilen in der Eurem Ziel entgegengesetzten Richtung, Herr.« Es war ein Risiko, sich einzumischen, und dazu noch mit dieser Lüge, aber Eik setzte darauf, dass keiner dieser Männer wusste, dass Schloss Villesen nur eine halbe Wegstunde entfernt lag, den Blicken verborgen in einer von bewaldeten Hügeln umfassten Senke.
»Was Ihr vorschlagt, Chevalier«, der Hauptmann schien Eiks Worte nicht gehört zu haben, »würde bedeuten, dass wir umkehren und unseren Verfolgern entgegenreiten müssten!« Verärgert schlug er mit der Faust auf den Sattel. »Außerdem dürften Tilly und Wallenstein nach ihrem Sieg über Christian zweifellos die Gegend erkundet haben, bevor sie sich an seine Verfolgung machten. Ich bezweifle ernsthaft, dass ihnen ein größerer Herrensitz entgangen sein dürfte, und ich habe keine Lust, dort irgendeinem Offizier des Kaisers in die Arme zu laufen.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, es bleibt dabei, dass wir solche Orte meiden, und außerdem habt ihr ja gehört, was dieser dumme Bauernlümmel gesagt hat.« Er sah Eik an. »Willst du das vielleicht wiederholen, Bursche?«
Eik holte schon Luft, um zu antworten, aber wieder kam Broder ihm zuvor: »Villesen liegt dort hinter den Hügeln, Herr«, sagte er und streckte die Hand aus.
Eik verkniff sich einen Fluch, als er sah, dass weder der Franzose noch der Hauptmann auf den Knecht achteten. Auch wenn er Broder am liebsten gewürgt hätte, war er für seine Einmischung diesmal dankbar. Denn es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte auf die Frage des Hauptmanns geantwortet, obwohl der sie auf Französisch gestellt hatte. War das Absicht?
»Verzeiht, Herr Hauptmann, aber ich …«
»Dieser Einfaltspinsel versteht kein Französisch, Capitain!«, meinte der Chevalier verächtlich. »Aber ich beuge mich Eurem Wunsch.« Sein Blick glitt zwischen Eik und der jungen Frau hin und her. »Und was Eure Furcht angeht, dass diese einfältigen Bauern uns verraten könnten…!« Er grinste boshaft. »Bevor wir morgen früh aufbrechen, werden wir dafür sorgen, dass keiner von ihnen imstande ist, gegenüber irgendeinem der Ligistischen etwas auszuplaudern.« Er zuckte mit den Achseln. »Und was wir an Vorräten nicht mitnehmen können, verbrennen wir oder machen es anderweitig unbrauchbar.«
»Warum zünden wir nicht gleich die ganze Siedlung an und verbrennen diese Bauern in ihren Häusern?«, knurrte der Hauptmann.
Eik schluckte, unsicher, ob der Offizier es ernst damit meinte oder nicht.
Der Franzose hatte keine solchen Bedenken. Er runzelte nachdenklich die Stirn. »Das wäre in der Tat das Beste, aber die Rauchwolken könnten von irgendwelchen Kundschaftern gesehen werden.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, es genügt, wenn wir dieses Pack einfach mundtot machen, bevor wir weiterreiten.« Er zuckte mit den Schultern. »Der Krieg ist eben eine blutige Sache.«
»Ihr seid eine Bestie!«
Die junge Frau war herangeritten und starrte den Chevalier entsetzt an. »Was haben Euch diese Leute denn getan?« Sie deutete auf Eik und die anderen. »Sie bieten Euch Unterkunft und laden Euch ein an ihren Tisch, und Ihr wollt es ihnen entgelten, indem Ihr sie umbringt?«
Der Chevalier hob eine Braue und verzog abfällig das Gesicht. »Ihr setzt Euch ja wirklich rührend für diesen Burschen ein, Mademoiselle. Offenbar hegt Ihr eine Schwäche für ungebildete Bauernlümmel, hab ich recht?« Er warf dem alten Mann, der sich ebenfalls zu ihnen gesellt hatte, einen abfälligen Blick zu. »Vielleicht verständlich, wenn man Eure Herkunft in Betracht zieht.«
Die junge Frau errötete, aber ihre nächsten Worte machten deutlich, dass das weniger ein Zeichen von Scham als vielmehr von Wut war.
»Jedenfalls sind mir Bauern mit Verstand lieber als Adelige, die sich wie überhebliche Dummköpfe aufführen!«, gab sie zurück. »Wer, glaubt Ihr, wird Euch den Bauch füllen, wenn Ihr erst einmal alle Bauern und einfachen Leute ermordet habt? Wollt Ihr Euren Weizen selbst ernten, um Euer Korn zu mahlen und Euer Brot zu backen?« Sie deutete auf das Feld. »Oder wollt Ihr selbst die Wurzeln ausgraben, um sie zuzubereiten?« Ihr Blick fiel auf Eik, der sie gebannt betrachtete. »Und was die Bildung dieser Leute angeht, seid Ihr Euch wirklich sicher, dass sie Euch nicht verstehen?« Sie schnalzte verächtlich mit der Zunge. »Das wäre Euch zu wünschen, wenn Ihr Euch in ihren Häusern zum Schlafen niederlegen wollt. Schließlich habt Ihr gerade unüberhörbar verkündet, wie Ihr Euch bei diesen Leuten für ihre Gastfreundschaft bedanken wollt!«
Auch der Chevalier war vor Zorn rot angelaufen. »Ihr vergesst Euch, Mademoiselle, und Ihr vergesst vor allem, wer ich bin!«
»Und Ihr scheint zu vergessen, wer mein Vater ist, Chevalier. Euer Kardinal hat Euch zu seinem Schutz bestellt, denkt daran. Ihr habt keinerlei…«
»Das genügt!« Der Hauptmann trieb sein Pferd zwischen die junge Frau und den Chevalier. »Ich würde vorschlagen, Signorita de Lemos, dass Ihr es mir überlasst, wie wir mit diesen Bauern verfahren!« Er hob die Hand, als sie aufbegehren wollte. »Ich sagte, es genügt.« Er starrte die junge Frau durchdringend an, bis sie schließlich, nach einem wütenden Blick auf den Chevalier und Eik, ihr Pferd unsanft wendete und zurück zu den restlichen Soldaten galoppierte, wo sie den Schimmel so hart zügelte, dass das Tier protestierend wieherte.
Der alte Mann ist also ihr Vater, dachte Eik, der aufatmete, als die Frau sich entfernte. Er beobachtete, wie jener Mann den Hauptmann fast entschuldigend ansah, bevor er zu seiner Tochter zurückritt, ohne den Chevalier auch nur eines Blickes zu würdigen.
»Diese Juden sind einfach zu schwach besaitet für so etwas wie den Krieg«, zischte der Chevalier.
»Mag sein«, erklärte der Hauptmann, der Eik nachdenklich betrachtete. »Aber dennoch hat sie nicht ganz unrecht.«
»Das ist doch wohl nicht Euer Ernst, oder?« Der Chevalierschüttelte ungläubig den Kopf. »Es ist Gottes Wille, dass diese Menschen uns untertan sind, sonst hätte er ihnen dieses Schicksal nicht zugewiesen.« Er fuhr mit der Hand durch die Luft. »So wie es Gottes Wille ist, dass Menschen über andere Menschen herrschen, die der Führung bedürfen. Und diese hier…«
»Das habe ich nicht gemeint, Chevalier!« Der Hauptmann hatte Eik keinen Moment aus den Augen gelassen. »Was ist, wenn diese ›ungebildeten Bauernlümmel‹, wie Ihr sie nennt, Eure Sprache verstehen?« Er grinste bösartig. »In diesem Fall dürften wir eine recht unruhige Nacht in ihrem Stroh verbringen.«
Der Chevalier stieß zischend die Luft aus und trieb sein Pferd neben Eik. »Ich werde Euch beweisen, dass dieser Kerl kein Wort von dem begreift, was ich sage.« Er beugte sich zu Eik hinab. »Sag mir, du stinkendes Schwein, soll ich dir meinen Degen in die Kehle rammen und auf deinen Leichnam pissen, nachdem ich dich vorher gezwungen habe, deine Mutter zu schänden und deinen Vater zu kastrieren?«
Bei diesen Worten lächelte er, und seine Stimme klang fast freundlich.
Eik ballte innerlich die Fäuste, aber es gelang ihm, sich zu beherrschen. Dennoch hütete er sich, den Kopf zu heben und den Mann anzusehen, damit der den Hass in seinen Augen nicht bemerkte.
»Verzeiht, Herr!«, presste er hervor. »Ich verstehe Euch nicht.« Plötzlich kam ihm eine Idee, und er deutete auf den Acker hinter sich. »Wir sind nur einfache Bauern, Herr, und wollten das Feld abernten, bevor die Nacht anbricht.« Er hob den Blick, als er sicher war, dass er sich in der Gewalt hatte. »Das müssen wir auch, wenn wir Euch heute Abend bewirten sollen, Herr.«
Der Chevalier starrte ihn einen Moment lang an, dann drehte er sich zu dem Hauptmann herum und zuckte mit den Schultern. »Ich hab es ja gesagt, Capitain. Dieser Kerl versteht kein Wort von dem, was ich sage.« Er warf einen Blick auf das Feld. »Ich hoffe allerdings sehr, dass es in dieser sogenannten Herberge auch so etwas wie Wildbret oder zumindest Geflügel gibt. Oder glaubt dieser Bauer tatsächlich, dass ich mich mit Brot und irgendwelchen sandigen Wurzeln zufriedengebe?«
Er kniff die Augen zusammen, während er sprach, und trieb sein Pferd dichter an den Rand des Ackers. »Was genau baut ihr da eigentlich an?«
Bevor Eik etwas sagen konnte, mischte sich Broder wieder ein, der den Blick des Franzosen richtig gedeutet hatte.
»Das sind Trüffel, Herr«, sprudelte es aus dem Knecht heraus. »Sie gehören unserem Landherrn …«
Aber der Chevalier achtete nicht auf den Knecht. Er zog sein Rapier, bückte sich und spießte eine Kartoffel auf, die auf dem von den Pferdehufen zerwühlten Boden lag. Dann hob er sie mit der Spitze seiner Klinge hoch und betrachtete sie.
»Pommes de Terre?« Die Überraschung war ihm deutlich anzuhören. »Äpfel?«, übersetzte er, wenn auch fehlerhaft, ins Deutsche und sah den Hauptmann an.
»Äpfel?« Broder schüttelte den Kopf. »Nein, Herr, das sind Erdäpfel, Trüffel, keine …« Weiter kam er nicht, denn der Chevalier bohrte ihm sein Rapier in die Schulter.
Broder schrie vor Schmerz auf und stürzte zu Boden, während die Mägde und Jakob vor Entsetzen kreischten und Eik Anstalten machte, sich auf den Mann zu stürzen.
»Du hirnloser Idiot!«, fluchte der Chevalier. »Wenn du es noch einmal wagst, mich zu verbessern, ramme ich dir meine Klinge so weit ins Maul, dass sie dir aus dem Arsch herauskommt!«
Eik wurde von einem heftigen Schlag an der Schulter getroffen und fiel auf alle viere. Er hob den Kopf und sah die Beine eines Pferdes unmittelbar neben sich. Hastig riss er die Arme hoch, um seinen Kopf zu schützen. Der Hauptmann hatte ihn mit seinem Pferd einfach umgeritten. Was dir wahrscheinlich das Leben gerettet hat, du Narr! Dieser Franzose will unbedingt jemandem wehtun, und wenn du ihn angegriffen hättest, hättest du ihm genau den Vorwand geliefert, auf den er schon die ganze Zeit über wartet.
Offenbar war der Hauptmann derselben Meinung, denn er starrte Eik scharf an, bis der den Kopf senkte.
»Das war nicht nötig, Ducroix!«, sagte er. »Dieser Bursche wird uns auf dem Weg zum Dorf nur aufhalten!«
Der Chevalier hatte die Kartoffel von seinem Rapier gestreift und die Waffe in die Scheide geschoben. Stattdessen zog er eine Pistole aus seinem Gürtel und zielte damit auf Broder, der immer noch wimmernd am Boden lag. Johanna und Jakob knieten neben ihm. »Ein Problem, das ich auf der Stelle lösen kann, mon Capitain!«
»Seid kein Narr, Ducroix! Ein Schuss ist sehr weit zu hören, und wir laufen damit nur Gefahr, dadurch möglicherweise unsere Verfolger zu alarmieren.« Der Hauptmann schüttelte den Kopf. »Wir haben schon genug Zeit vergeudet! Ich will endlich weg von der Straße und aus dem Sattel!« Er sah Eik an. »Du führst uns jetzt nach Bruchhausen, Kerl! Und ich rate dir, keine Dummheiten …«
»Nein, Capitain!« Der Chevalier starrte Eik finster an. »Er hat selbst gesagt, dass sie diese Erdäpfel brauchen, um uns zu bewirten!«
»Ich dachte, Euch steht nicht der Sinn nach sandigen Wurzeln?« Der Hauptmann sah den Chevalier spöttisch an.
Ducroix machte eine wegwerfende Handbewegung. »Habt Ihr schon einmal von diesen Feldfrüchten gekostet?«
Der Hauptmann warf einen kurzen Blick auf das Feld und zuckte mit den Schultern. »Noch nicht, aber ich habe einiges darüber gehört. Angeblich haben die Spanier sie aus der Neuen Welt mitgebracht…«
»Ja, sicher.« Ducroix betrachtete wieder das Feld. »Sie sind nicht sonderlich weit verbreitet, und nur wenige Leute wissen, wie man sie zubereitet.« Er kniff die Augen zusammen. »Ich glaube zwar nicht, dass die Bauern hier zu diesem Kreis gehören, und erst recht dürfte ihnen nicht klar sein, wie kostbar diese Knolle ist.« Dann grinste er. »Aber ich bin sicher, dass dieser Freiherr von Villesen ziemlich wütend sein wird, wenn er feststellt, dass sein Feld geplündert wurde.« Er deutete auf Eik, ohne ihn anzusehen. »Er soll sie ausgraben, alle«, sagte er zum Hauptmann. »Lasst einen Eurer Söldner als Wache hier, damit sie nicht einfach davonrennen.« Er warf einen Blick auf die Mägde und Jakob, die sich immer noch um den verletzten Broder kümmerten. »Der junge Knecht und die alte Magd können ihm helfen.« Dann sah er Eik an. »Die anderen nehmen wir mit. Sagt ihm, dass wir sie umbringen, wenn er nicht vor Einbruch der Dunkelheit in seinem verdammten Dorf auftaucht, und zwar mit den Knollen!« Er schnaubte verächtlich. »Und was sie nicht tragen können, soll Euer Mann ungenießbar machen. Er kann Schießpulver darüberstreuen und sie verbrennen!«
Der Hauptmann schien protestieren zu wollen, überlegte es sich dann aber anders. »Also gut, Kerl!« Er sah Eik an. »Du, der junge Knecht und die ältere Magd bleiben hier und ernten die Erdäpfel! Einer meiner Männer bleibt bei euch, also kommt nicht auf dumme Gedanken!« Er winkte einen der beiden Söldner heran, die die Mägde bewacht hatten. Es war der, der vorgeschlagen hatte, Eik solle Johanna als Gaul benutzen. »André, du passt auf, dass keiner von ihnen Fersengeld gibt!« Er sah Eik an. »Wenn einer wegläuft, tötest du die beiden anderen, bevor du ihn zurückholst, verstanden?«
»Sicher, Hauptmann.« Der Mann nickte. »Die Frau auch?«
Der Hauptmann wartete, bis er sich sicher war, dass Eik verstanden hatte, worauf der Söldner hinauswollte. »Die Frau auch.« Er machte eine kurze Pause. »Die Reihenfolge überlasse ich dir.«
Der Mann grinste und trat zu seinem Pferd, um die Arkebuse vom Sattel zu nehmen.
»Du hast mich verstanden, Kerl«, sagte der Hauptmann zu Eik. »Also mach deinen Leuten klar, dass sie sich besser beeilen.« Er deutete mit dem Daumen auf den Chevalier. »Er ist immer noch schlecht gelaunt und hungrig, und du hast mittlerweile wohl begriffen, an wem er seine Wut auslassen wird, wenn er nicht bald etwas zu essen bekommt.«
Eik nickte. »Ja, Herr Hauptmann.«
»Gut«, fuhr der Offizier fort und wendete sein Pferd. »Ich erwarte, dass du noch vor Einbruch der Dunkelheit in der Herberge deiner Mutter erscheinst, zusammen mit den anderen beiden und genügend Erdäpfeln, um uns satt zu machen.«
»Das werde ich, Herr Hauptmann«, erwiderte Eik und nickte demütig, während sich die Söldner formierten und einen immer noch jammernden Broder an die Spitze ihrer kleinen Kolonne zerrten. Die beiden jungen Mägde warfen Eik flehentliche Blicke zu, aber der konnte nicht viel mehr tun, als sie tröstend anzusehen. Dann setzte sich die Kolonne in Marsch, und Eik atmete auf.
Das werde ich, Herr Hauptmann, dachte er, während in seinem Kopf ein Plan immer deutlicher Gestalt annahm. Und wenn Gott mir beisteht, werde ich nicht nur Erdäpfel mitbringen, das verspreche ich.
Eik blieb stehen und rang nach Luft. Er lauschte, aber das Prasseln von Zweigen und die wütenden Rufe des Söldners, der ihn verfolgte, waren nicht mehr zu hören.
Du hast ihn abgehängt!, dachte Eik. Er beugte sich vor, stützte die Hände auf die Knie und atmete mehrmals tief durch. Gott sei Dank, du hast ihn abgehängt! Er richtete sich auf und versuchte, das Zittern seiner Glieder unter Kontrolle zu bekommen. Doch als er die Augen schloss, tauchten sofort wieder die schrecklichen Bilder vor ihm auf, Johannas vor Angst verzerrtes Gesicht, ihr Schrei, der in einem feuchten Gurgeln endete, und Jakobs wütendes Gebrüll, das von dem Knall der Arkebuse abgeschnitten wurde.
Ihr Blut klebt an deinen Händen! Eik richtete sich wieder auf. Weiter, du musst weiter! Er musste den Freiherrn benachrichtigen, ihn dazu bringen, seine Bewaffneten nach Bruchhausen zu schicken. Augusta! Sie würde ihm helfen, sie musste ihm helfen!
Eik fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Es war nass von Schweiß und Tränen. Er hatte nicht einmal bemerkt, dass er weinte. Du bist schuld! Du hättest es nicht versuchen dürfen! Aber was hätte er tun sollen? Und Johanna … Eik hatte ihr zugeraunt, was er vorhatte, als sie nebeneinander die Erdäpfel aus der aufgewühlten Erde klaubten, und sie hatte ihm mit Blicken und ihrer Mimik zu verstehen gegeben, dass sie ihm helfen würde, den Söldner abzulenken. Den Mann einfach zu töten, was Eik ursprünglich beabsichtigt hatte, war nicht so leicht, weil der Söldner seine Arkebuse ständig schussbereit hielt.
Johanna hatte sich diesem André schließlich immer weiter genähert, während sie die Trüffeln auflas. Der Mann hatte nur noch Augen für die Magd gehabt. Schließlich hatte er sie gepackt, und Johanna hatte sich nur schwach gegen seine Zudringlichkeiten gewehrt.
Eik war losgelaufen. Einen Moment hatte es so ausgesehen, als würde ihr Plan funktionieren. Eik konnte sicher schneller laufen als der Söldner, und er kannte sich zudem im Wald besser aus. Aber er hatte nicht damit gerechnet, was André tun würde, als er merkte, dass man ihn übertölpelt hatte.
Als Eik die Schreie hörte, hatte er innegehalten und sich umgedreht. Er war ein Stück zurückgelaufen, und als er sah, was dort geschah, hatte er erwogen, den beiden zu helfen. Aber was hätte ich tun sollen? Er hatte keine Waffe, und der Söldner war außer sich vor Wut gewesen. Erst hatte er Jakob erschossen, dann hatte er Johanna die Kehle durchgeschnitten, und ihr Blut war über ihren Kittel und das Wams des Mannes gespritzt.
»Das hast du davon, du Mistkerl!«, hatte er Eik hinterhergeschrien. »Du bist schuld an ihrem Tod und dem Tod deiner ganzen verfluchten Sippe! Deines verfluchten Dorfes! Wir werden es niederbrennen und sie alle aufspießen!«
Eik hatte gezögert, und dann hatte der Söldner ihn gesehen. Statt ihm direkt nachzulaufen, war er jedoch zu seinem Pferd gerannt und hastig aufgestiegen, weil er wohl glaubte, dass er Eik zu Fuß nicht einholen konnte. Vermutlich hatte das Eik das Leben gerettet, denn er hatte wie versteinert die Leichen von Jakob und Johanna angestarrt, unfähig, sich zu rühren. Ich bin schuld an ihrem Tod, hatte er gedacht, zu mehr war er nicht fähig gewesen. Ich bin schuld.
Erst als der Söldner zu seinem Pferd lief, hatte Eik sich aus seiner Erstarrung gelöst und war losgelaufen, so schnell er konnte.
Denk nicht weiter daran!, ermahnte sich Eik jetzt, als erneut die Bilder von der blutüberströmten Johanna und Jakob mit seinem zerschmetterten Gesicht in ihm hochstiegen. Du musst nach Villesen und den Freiherrn alarmieren, sonst werden sie Bruchhausen niederbrennen und alle umbringen, falls dieser André die Verfolgung aufgibt und zum Dorf reitet. An die andere Möglichkeit, dass der Söldner ihn erst töten und danach seinen Racheplan durchführen könnte, wollte er nicht einmal denken.
Er wischte sich erneut übers Gesicht, rappelte sich dann hoch und lief weiter. Später hast du noch genug Zeit, dir Vorwürfe zu machen!
Er mied die Karrenwege und schlug sich durch das Dickicht, bis schließlich nur noch ein Hügel zwischen ihm und dem Schloss lag. Vorsichtig trat er aus den Bäumen heraus und auf den Grasweg zwischen dem Wald und der aus Pfählen und Brettern grob gezimmerten Koppel, auf der drei Trakehnerstuten mit ihren Jungfohlen standen. Die Pferde hoben neugierig die Köpfe und sahen zu ihm hinüber.
Eik holte tief Luft. Hinter der Koppel stieg eine bewaldete Anhöhe steil an, und dahinter kräuselten sich in der Dämmerung einige dünne Rauchfahnen am Himmel, wie von Lagerfeuern.
Aber wieso machen sie um diese Zeit Feuer?, dachte Eik. Er konnte sich nicht vorstellen, was der Verwalter da verbrennen sollte. Und für ein richtiges Herbstfeuer war weder der rechte Zeitpunkt, noch waren die Rauchfahnen groß genug.
In dem Moment bemerkte er, wie die Pferde unruhig wurden. Die Leitstute wieherte plötzlich, und die beiden anderen Stuten hörten auf zu fressen und stießen ihre Fohlen an. Dann galoppierten die Tiere davon.
Eik drehte sich verblüfft um. Er konnte sich nicht vorstellen, was sie erschreckt haben sollte. Aber dann verstand er.
»Hab ich dich, Kerl!«, brüllte der Söldner, der etliche hundert Schritt von Eik entfernt aus dem Wald geritten kam. Beim Anblick von Eik hatte er sein Pferd herumgerissen, und nun galoppierte er auf ihn zu. Dabei schwang er einen großen, gebogenen Kavalleriesäbel.
Es dauerte einen Moment, bis Eik seinen Schrecken überwunden hatte. Er rannte los, warf sich hastig zwischen den Brettern des Zauns hindurch, rollte auf der anderen Seite einmal herum, sprang auf und lief, so schnell er konnte, über die Weide.
Er drehte sich nicht um, während das Blut laut in seinen Ohren rauschte und er nur sein eigenes angestrengtes, schnelles Atmen hörte. Es war nicht mehr weit bis Villesen, und er hoffte, dass man ihn im Schloss sehen und rechtzeitig reagieren würde. Mit etwas Glück und wenn er nicht stürzte, konnte er es auf die andere Seite den Hang hinauf zwischen die Bäume schaffen, wo ihm der Söldner mit seinem Pferd nicht mehr so einfach folgen konnte.
Als er die Koppel durchquert hatte und sich auf der anderen Seite hastig zwischen den Brettern hindurchzwängte, sah er zurück.
Der Söldner hatte wohl gar nicht erst versucht, mit seinem Pferd über den Zaun zu springen, sondern es vorgezogen, um die Koppel herumzureiten, was Eik einen kleinen Vorsprung verschaffte. Der jedoch zusehends dahinschmolz, als er dastand und starrte.
Der Söldner hatte mittlerweile die schmale Seite der Koppel erreicht und suchte sich einen Weg über das tückische, von Sträuchern und Wurzeln bewachsene Gelände. In wenigen Augenblicken würde er um die Ecke biegen und konnte dann auf der Grasnarbe wieder so schnell galoppieren, wie er wollte.
Eik hastete den Hang hinauf, rannte zwischen die Bäume auf die Kuppe, die ihn noch von Schloss Villesen trennte. Instinktiv hielt er auf die Rauchfahnen zu, weil dort, wo Feuer war, vermutlich auch Menschen waren, die sich darum kümmerten. Die ihm helfen konnten.
Er sprang über umgestürzte Bäume, brach durch Sträucher mit spitzen Dornen, ohne den Schmerz auch nur zu bemerken, als sie ihm die Haut aufrissen. Er lauschte den Hufschlägen hinter sich, versuchte zu erkennen, wie weit der Söldner noch von ihm entfernt war.
Ich schaffe es nicht. Ohne langsamer zu werden, sah sich Eik nach einer Möglichkeit um, seinem Verfolger vielleicht doch noch zu entkommen, ihn zu zwingen, abzusteigen und ihm zu Fuß zu folgen. Aber die Hufschläge kamen sehr rasch näher. Die Bäume stehen zu weit auseinander!, dachte Eik. Es war ein Fehler, diesen Weg zu nehmen! Ich hätte versuchen sollen, ihn vom Pferd zu stoßen oder ihn sonst wie zu überwältigen.
Mittlerweile hörte er bereits das angestrengte Schnauben des Pferdes und das Johlen des Söldners, der sein Opfer in greifbarer Nähe vor sich sah.
Nur noch wenige Pferdelängen lagen zwischen Eik und dem sicheren Tod, und immer noch hielt er nach einer Möglichkeit Ausschau, seinem Schicksal ein Schnippchen zu schlagen. Er hatte die Kuppe der Anhöhe erreicht, und vor ihm lag Schloss Villesen. Er sah die Dächer, Kuppeln und Türme des Schlosses, die die dichten Sträucher und den Baldachin der Bäume überragten.
Die Feuer!, dachte er. Ich muss dorthin!
Seine Beine waren schwer, die Lunge brannte, die Stiche in seinem Brustkorb waren kaum noch zu ertragen, und ihm lief der Rotz aus der Nase. Aber er lief weiter, nahm noch einmal alle Kraft zusammen, um vielleicht doch noch das mittlerweile unmöglich Scheinende zu bewerkstelligen.
Als er zwischen den Bäumen herausrannte, spürte er den feuchten Speichel des Pferdes in seinem Nacken und hörte den triumphierenden Schrei des Söldners.
»Hab ich dich, Dreckskerl! Jetzt …!«
So kurz vor dem Ziel! Verzeiht, Mutter, Vater, verzeiht mir! Eik schloss die Augen in Erwartung des tödlichen Schlages.
Dann gab es einen Knall.
Die Arkebuse?, schoss es Eik durch den Kopf. Wann hat er sie denn geladen? Gleichzeitig kam ihm die Absurdität in den Sinn, dass er so etwas dachte, während jeden Augenblick die Kugel seinem Leben ein Ende bereiten musste.
Aber der Einschlag kam nicht.
Stattdessen hörte er hinter sich einen Aufschrei, dann ein Krachen, als ein Körper schwer auf dem Boden landete. Er fuhr herum, und im nächsten Moment flog er wie von einem gewaltigen Hammer getroffen zurück, als ihn das Pferd des Söldners mit der Brust erwischte.
Eik überschlug sich mehrmals und rollte über die Wiese, während er mit den Händen seinen Kopf schützte.
Was war denn das?, dachte er. Die Kugel galt nicht mir. Obwohl ihm alles wehtat und er immer noch über den Boden kugelte, breiteten sich so etwas wie Erleichterung und dann eine tiefe Dankbarkeit in ihm aus.
Offenbar hatte Gott sein Flehen erhört und ihn gerettet.
Es war nicht der Söldner gewesen, der geschossen hatte, sondern offenbar einer der Bewaffneten vom Schloss.
Eik wusste zwar nicht, warum sie zu den Waffen gegriffen und Feuer entzündet hatten, aber das war ihm in diesem Moment egal.
Schließlich endete der Schwung des Aufpralls, und er blieb regungslos liegen, während er herauszufinden versuchte, ob noch alle Gliedmaßen vorhanden und unversehrt waren.
Lieber Gott, ich danke dir, dachte er, erhob sich und drehte sich dann zu dem Schloss herum, als er die Schritte hinter sich hörte. »Danke, das war wirklich Hilfe in höchster Not …«, begann er, doch dann blieben ihm die Worte im Halse stecken.
Die Männer vor ihm waren keine Bewaffneten des Freiherrn und wurden auch nicht von Bossel angeführt. Und die Rauchfahnen kamen auch nicht von Holzabfällen, die vom Verwalter verbrannt wurden.
Auf dem Feld um das Schloss herum brannten etliche Kochfeuer, in einem improvisierten Pferch grasten mindestens drei Dutzend Pferde, die sich von dem Knall des Schusses offenbar nicht beim Fressen hatten stören lassen, und zwischen den Feuern lungerten zahlreiche Männer in Reitstiefeln, eng anliegenden Hosen und bunten Wämsern auf dem Gras herum. Einige waren bei dem Klang des Schusses aufgestanden und sahen neugierig herüber.
Eik kannte die Symbole auf den Fahnen nicht, die neben einem Kochfeuer an ihren Stangen hingen, aber er achtete auch nicht weiter darauf. Seine Aufmerksamkeit wurde vollkommen von den drei Männern in Anspruch genommen, die kaum zehn Schritt vor ihm auf der Wiese standen. Einer ließ seine rauchende Arkebuse sinken, legte sie ins Gras und machte sich daran, das Pferd des Söldners einzufangen, den er eben aus dem Sattel geschossen hatte. Ein anderer hatte immer noch seine Arkebuse auf einen gegabelten Ast gelegt und zielte auf Eik.
Der dritte Mann näherte sich Eik mit gezücktem Rapier von der Seite. »Die höchste Not verstehe ich, Bursche, aber ob du uns für diese Hilfe danken kannst, wird sich noch herausstellen.«
Eik erkannte auf seinem Wams das Wappen der Katholischen Liga, die blauweißen Rauten Bayerns mit der Sonne und darin die Heiligenfigur aus dem Wappen von Ajalvir.
»Komm ja nicht auf die Idee wegzulaufen, Bursche!« Der Mann, offenbar ein Feldwebel, machte ein paar Schritte auf Eik zu, als dieser unwillkürlich zurückwich. »Ich weiß nicht genau, warum und auf wen Gabor geschossen hat, aber unser Rittmeister wird das ganz bestimmt herausbekommen wollen, und ich glaube, du wirst ihm dabei helfen.« Er warf einen Blick auf den Söldner, der regungslos auf dem Boden lag, und drehte sich dann zu den beiden Männern herum. »Ich habe diesen Burschen sicher, Philipp! Nimm dir noch einen Mann und sieh nach, ob der Reiter noch lebt. Tot oder lebendig, ihr bringt ihn ins Lager, damit wir herausfinden, wer er ist. Vielleicht haben wir Glück, und er gehört zu denen, die wir suchen.« Er hatte Eik an dessen Hemdbrust gepackt und zog ihn zu sich. »Und wenn er es nicht mehr sagen kann, dann vielleicht der hier.« Er schlug Eik mit der Faust auf den Hinterkopf.
»He!«, begehrte der auf. »Wofür war … Au!«
»Das war für den Grund, weswegen dieser Reiter dich verfolgt hat, Bursche!«, knurrte der Mann ihn an und schlug noch einmal zu. »Der zweite ist für deine Unverschämtheit!« Er zog einen Dolch aus dem Gürtel. »Und die dritte Zurechtweisung bekommst du hiermit! Also halt’s Maul und komm mit!«
Eik hätte auch keine andere Wahl gehabt, weil der Mann ihn mit eisernem Griff hinter sich herzog.
Aber während er dem Feldwebel durch das improvisierte Lager folgte, vorbei an den Reitern, die ihn mit neugierigen Blicken musterten, beschlich ihn das ungute Gefühl, dass er wahrhaftig vom Regen in die Traufe geraten war. Nicht nur, dass er offenbar keine Hilfe vom Freiherrn von Villesen erwarten konnte, es sah sogar so aus, als würde der Freiherr selbst dringend Hilfe benötigen.
Der Freiherr und… Augusta!
2. KAPITEL
Schloss Villesen
»Das kommt überhaupt nicht infrage! Die Sache ist entschieden, und ich habe keine Lust, alles noch mal zu wiederholen. Diese Diskussion ist beendet! Wir fahren nach Frankreich, wie wir es seit langem geplant haben, und zwar alle zusammen!«
Das Gesicht vor Erregung gerötet, stemmte sich Tanno von Villesen aus seinem gepolsterten, mit Damast überzogenen Lehnstuhl hoch. Er kehrte den Anwesenden am Tisch den Rücken zu und humpelte über das Eichenparkett des großen Salons zum Fenster. Dabei tupfte er sich mit einem parfümierten Taschentuch den Schweiß von der Stirn.
»Ich werde nicht mitfahren, Vater!« Valerian von Villesens Stimme klang leise und gepresst, und seine Hände waren zu Fäusten geballt. Er musste sich beherrschen, um seinen Vater nicht anzuschreien.
Wie kann dieser Mann, mein Vater, gleichzeitig so feige und so engstirnig sein? Wieso sieht er die Möglichkeit nicht, die sich uns hier bietet?
»Valerian!« Maria, Edle von Villesen, warf ihrem Sohn ob seines Ungehorsams vor ihrem Gast einen strafenden Blick zu.
»Wenn Valerian bleibt, fahre ich ebenfalls nicht!« Augusta von Villesen, Valerians Schwester, hielt den Blick gesenkt, als sie das sagte, und ihre Wangen waren gerötet. Ihre Stimme aber klang entschlossen. »Ich will nicht nach Frankreich! Die Reise dorthin ist bestimmt genauso gefährlich wie hierzubleiben, und der Brief deines Cousins las sich nicht besonders einladend, Mutter.« Sie hob den Kopf. »Außerdem verstehe ich nicht, warum wir nicht hier in Deutschland einen passenden Gemahl für mich finden können!«
Tanno von Villesen hatte vom Fenster aus zugesehen, wie einige Söldner des Rittmeisters versuchten, Eichendorff einzufangen, seinen Zuchthengst. Der Stallmeister, Viktor, hatte den Trakehner von der Koppel hinter dem Schloss in den Stall führen wollen. Doch der Hengst hatte beim Anblick der Pferde und Soldaten, die bereits Fackeln entzündet hatten, obwohl es noch nicht gänzlich dunkel war, gescheut und sich aus dem Griff des Stallmeisters losgerissen. Die Männer johlten und fuchtelten mit Händen und Fackeln vor dem Hengst herum, was den nur noch nervöser machte. Bei den letzten Worten seiner Tochter jedoch riss sich der Freiherr von dem Schauspiel vor seinem Fenster los und fuhr herum.
»Schluss damit!«, blaffte er und trat vom Fenster weg. Er verzog das Gesicht vor Schmerz, als er unbedacht sein seit dem Reitunfall kaum noch taugliches Bein zu stark belastete, und stützte sich schwer auf den geschnitzten Gehstock. »Die Angelegenheit ist entschieden! Deine Mutter und ich sind uns in diesem Punkt einig! Eine bessere Partie als den Marquis wirst du hier ganz sicher nicht finden …« Er kniff die Augen zusammen. »Schon gar nicht in Anbetracht deines Alters.«
»Aber Vater! Ich bin einundzwanzig …«
Der Freiherr wischte den Protest seiner Tochter mit einer herrischen Handbewegung beiseite, bevor er sich an seinen Sohn wandte. »Und warum du derart auf ein Offizierspatent versessen bist, verstehe ich ebenfalls nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Nur weil so viele junge Männer deines Standes dem Trommeln und Pfeifen der Werber folgen, brauchst du es ihnen doch nicht gleichzutun! Du sollst deine dir zukommende Stelle an meiner Seite einnehmen und Verantwortung für unseren Besitz übernehmen …«
»So wie du es tust, Vater? Indem du nach Frankreich flüchtest, statt dich den Problemen und Aufgaben hier zu stellen?«
Am erschreckten Ausruf seiner Mutter und der finsteren Miene seines Vaters erkannte Valerian, dass er diese Worte laut ausgesprochen hatte, statt sie nur zu denken. Aber es ist doch die Wahrheit!, dachte er, ballte erneut die Hände zu Fäusten und hob trotzig den Kopf. Und was wahr ist, darf man auch aussprechen! So lautete die Maxime seiner Familie, und Valerian hatte nicht vor, sie ausgerechnet in so einem wichtigen Moment zu missachten.
Der Mann, der auf einem gepolsterten Armstuhl auf der anderen Seite des Tischchens saß, räusperte sich vernehmlich. Auf das Tischchen hatte die Dienstmagd eine Karaffe mit Wein, Gläser und Gebäck gestellt. Valerian hütete sich, zu ihm hinzusehen, sondern blickte stolz und störrisch seinen Vater an.
»Das zu beurteilen steht dir nicht zu, Sohn, und von Flucht kann keineswegs die Rede sein!« Tanno von Villesens Nasenflügel bebten vor unterdrückter Wut, aber der Freiherr hatte sich gut genug in der Gewalt, um sich die Empörung über die Worte seines Sohnes und wie sehr sie ihn kränkten in Gegenwart eines Fremden nicht anmerken zu lassen. Er trat ein paar Schritte auf seinen Sohn zu, bis er auf Armeslänge vor ihm stand. »Ich sehe nicht, was wir in diesem Krieg gewinnen könnten, und ich will nicht, dass mein einziger Sohn am Ende als Krüppel aus diesem sinnlosen Gemetzel zurückkehrt, falls er überhaupt zurückkommt!«
»Das Letztere will ich nicht gehört haben, Freiherr von Villesen!« Der Offizier klang gelangweilt und überheblich. Er erhob sich aus dem Armstuhl, wo er ein fast leeres Weinglas in den Fingern gedreht hatte, während er dem Disput zwischen Vater und Sohn folgte. Er ignorierte den entrüsteten Blick des Freiherrn und zuckte mit den Schultern. »Sonst müsste ich Euch als Feind betrachten, und was das bedeutet, könnt Ihr Euch gewiss denken.« Er fuhr sich mit der Hand über den kahlen Schädel, bevor er sich bückte und seinen Hut aufhob, den er zusammen mit seinem Stoßdegen neben sich auf den Boden gelegt hatte. Er nahm die Waffe mitsamt Gurt und schnallte sie sich um.
Allerdings, dachte Valerian, dessen Zorn auf seinen Vater wuchs. Er wird sich einfach alles nehmen, was er haben will, nur dass er dann nicht erst höflich fragt. Ich verstehe nicht, warum Vater nicht versteht, um was es hier geht! Seit die Esquadron kaiserlicher Dragoner in den Innenhof von Schloss Villesen geritten war, wusste Valerian, dass nicht nur ihr Besitz auf dem Spiel stand, sondern dass letztlich auch ihr Leben der Willkür dieses Mannes ausgeliefert war. Allerdings war das nicht der einzige Grund, warum er sich unbedingt diesen kaiserlichen Dragonern anschließen wollte. Das hier ist die Gelegenheit, das zu tun, wozu ich berufen bin, sagte er sich erneut, während sich seine Aufmerksamkeit von seinem Vater wieder auf den Rittmeister richtete. Ich weiß, dass ich Großes erreichen kann, aber das kann ich nur hier in Deutschland, in Wallensteins Armee, und nicht in diesem verdammten Frankreich!