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Der grandiose Abschluss der epischen Fantasy-Saga
Die Zeit der Verschmelzung steht bevor: Drachen fordern die Götter heraus und verwüsten das Land. Gleichzeitig bereiten sich die Dämonen darauf vor, ihren einstigen Herren in den Rücken zu fallen. Die letzte Hoffnung der Menschen ruht auf der Dritten Prophezeiung. Doch niemand weiß, wie diese erfüllt werden kann – bis der Schwertkämpfer Lay ihre Bedeutung entschlüsselt. Aber kann er dieses Wissen weitergeben? Denn seine eigenen Kinder gehören zu den Verheißenen – und sie würden die Erfüllung der Prophezeiung nicht überleben …
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Seitenzahl: 918
Wolfgang Thon
Die Saat der
Götter
Die drei Prophezeiungen
Drittes Buch
Roman
Originalausgabe
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1. Auflage
März 2016 bei Blanvalet, einem Unternehmen der
Verlagsgruppe Random House GmbH, München.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by Blanvalet Verlag,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung und -illustration: © Isabelle Hirtz, Inkcraft
Karten: Jürgen Speh
Redaktion: Peter Thannisch
Lektorat: Holger Kappel
Herstellung: sam
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-17127-8V001
www.blanvalet.de
Für
Margarethe.
ERN, SCHLUCHT VOR DRAAKENTRUTZ, DER NEUEN HAUPTSTADT ERNS
»Drraaaaaaaak!« Der Schrei verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch die Abteilung der Sturmreiter. Sie eskortierten einen Tross aus schwer beladenen Karren, die jeweils von einem Gespann Transportechsen gezogen wurden.
Die Männer zügelten ihre Pferde und sahen hastig nach oben, um den Himmel abzusuchen, an dem sich erste schwache Streifen des tristen Morgengraus zeigten. Über dem Eingang der Schlucht, auf den sie gerade zuritten, stand die dunkle Scheibe von Lokhs Auge, und an seinem Rand leuchteten die beiden feinen Sicheln der gelben und roten Sonne von Belphors Augen. Sie würden im weiteren Verlauf des Tages wachsen, wenngleich ihre Größe seit einiger Zeit mit jedem Zyklus ständig abnahm. Dennoch spendeten sie genug Licht, jedenfalls genug für die Drachen, dass sie ihre Beute sehen konnten.
»Bei Belphors gespaltenem Schwanz! Drachen? Jetzt? Pah!« Der Anführer der Sturmreiter, ein hartgesottener, von vielen Kämpfen gezeichneter Schwarmführer, riss seinen Blick von den Sonnen los, spuckte einen großen Schleimklumpen auf den Boden, nahm die Zügel und gab seinem Pferd die Sporen.
»Wo siehst du denn verfluchte Drachen, Finnt?«, schnauzte er seinen Stellvertreter, einen Schwarmmeister, an, als er die Spitze der Kolonne erreichte. Nach dem Warnruf war nichts weiter geschehen, kein Rauschen von ledrigen Schwingen war zu hören, kein heiseres Fauchen und keine Todesschreie gellten durch den frühen Morgen, weder von Menschen noch von Tieren. Was unweigerlich längst der Fall gewesen wäre, hätte es tatsächlich einen Überfall dieser geflügelten Reptilien gegeben.
»Tut mir leid, Ser, falscher Alarm«, erwiderte der Mann und deutete fast beiläufig mit der Hand auf den Sturmreiter neben ihm. »Kark hier war sich sicher, einen Drachen gesehen zu haben, aber vermutlich hat er sich geirrt.«
»Es war ein Drache, Ser, da bin ich mir ganz sicher«, murmelte der Sturmreiter, sichtlich verlegen.
»Natürlich, ganz sicher.« Der Schwarmführer schüttelte den Kopf. »Die Männer sind nach dieser verfluchten Reise zum Blutsee und zurück ebenso mit ihren Kräften wie auch mit ihren Nerven am Ende, Finnt«, sagte er leise zu seinem Stellvertreter. »Bevor du das nächste Mal Alarm gibst …« Er verstummte, als er merkte, dass sein Untergebener ihm gar nicht zuhörte, und hob eine Braue.
Finnt interessierte sich offensichtlich weder für seinen Vorgesetzten noch für den Himmel, den die anderen Sturmreiter nach dem Warnruf immer noch absuchten. Der Schwarmmeister starrte stattdessen wie gebannt zum Eingang der Schlucht. Balkor verkniff sich eine Zurechtweisung und folgte dem Blick seines Untergebenen. Er brauchte nur einen Moment, bis er erkannte, was Finnt so fesselte.
Der Mann am Eingang der Schlucht saß, offenkundig vollkommen gelassen, auf einem Schimmel und schien auf sie zu warten.
»Ausgerechnet ein Schimmel, dieser überhebliche Schwachkopf!«, knurrte Finnt. »Genauso gut könnte er sich eine blutige Rinderhälfte an sein Pferd hängen. Selbst wenn Drachen im Dunkeln nicht gut sehen können, ein weißes Pferd würde selbst eine halb blinde verfluchte Flugechse aus zehntausend Schritt Höhe erkennen!«
Balkor runzelte die Stirn, doch dann wurde ihm klar, wer der Mann auf dem Schimmel war, über den sein Untergebener so verächtlich sprach. Dass dieser Mann hier auftauchte, war so überraschend, dass er nicht sofort darauf gekommen war. Doch eigentlich ließen die ungewöhnliche Farbe des Pferdes, das schimmernde vergoldete Zaumzeug und der mit glänzenden Goldplatten verstärkte Helm und Lederharnisch des Reiters nur einen Schluss zu.
Erst am Abend zuvor, als sie sich für den nächtlichen Ritt mit der lauwarmen Brühe gestärkt hatten – da sie keine Feuer entzünden durften, die Drachen anlocken konnten, hatten sie nur schwelende, qualmende Torfgruben, um ein wenig Wärme zu erzeugen –, hatten sie sich über den Sturmprinzen von Ern, den Zweiten in der Thronfolge, und seine Eitelkeit lustig gemacht.
»Dieser eingebildete Kerl wird uns mit seinem verdammten Gaul noch Ayrak auf den Hals hetzen! Und das so kurz vor unserem Ziel. Ich frage mich, wieso er überhaupt hier am Arsch von Ern auftaucht. Soll das vielleicht unser Empfangskomitee sein? Na, vielen Dank!« Finnt spie verächtlich aus.
Der Schwarmführer gab seinem Stellvertreter insgeheim recht, auch wenn er das niemals offen zugegeben hätte. Es wäre tatsächlich töricht, so kurz vor ihrem Ziel den Drachen anzulocken, erst recht angesichts der Fracht, die sie transportierten und die ein weiterer gewichtiger Grund war, nachts zu reisen und tagsüber zu rasten.
»Die viel interessantere Frage scheint mir zu sein, wie er überhaupt hierherkommt.« Der Schwarmführer starrte immer noch auf den jungen Prinzen von Ern. Er war nur um wenige Herzschläge später als seine Zwillingsschwester zur Welt gekommen, was jedoch für die Thronfolge entscheidend war, ein Thema, über das Yarn Corvin vom Aern ebenso ungern sprach wie er Kritik an seinem Verhalten schätzte.
»Vielleicht wollte er ja nur seinem prächtigen Ross ein wenig Bewegung verschaffen und hat sich dabei verirrt«, meinte der Schwarmmeister spöttisch. »Und wenn er tatsächlich Ayrak anlockt, bekommt er mehr Bewegung, als ihm lieb sein dürfte«, fügte er nicht minder spöttisch hinzu.
»Hüte deine Zunge, Finnt«, ermahnte ihn der Schwarmführer. »Wenn der junge Prinz dich hört, wird er dich als Köder für den Drachen auf die höchsten Zinnen von Draakentrutz binden.«
Der Sturmoffizier zuckte gleichmütig mit den Schultern. »An mir ist so wenig dran, dass sich ohnehin kein Drache dafür interessiert. Aber du hast recht, Schwarmführer. Dieser Bursche benimmt sich, als wäre der Edle von Ern tot, was Belphor verhüten möge, und als würde seine Schwester lieber in ein Kloster der Drachenpriesterinnen eintreten, als ihren Platz auf dem Windstuhl einzunehmen. Unsere Herrin, die Edle von Ern, sollte ihm wirklich die Flügel stutzen, bevor er sie sich noch verbrennt, und …«
»Jetzt halt schon dein Maul, Finnt!«, knurrte Balkor seinen Untergebenen an. Auch wenn er ihm seine Worte nicht wirklich verübeln konnte. Aber es war nicht gerade klug, die Oberen offen zu beleidigen. Erst recht nicht jemand so Heißblütigen wie den Zweiten in der Thronfolge von Ern.
Der Sturmprinz hatte sich bereits in Bewegung gesetzt und galoppierte auf sie zu.
Yarn Corvin vom Aern war zwar nicht der Thronfolger, und sein Vater, Lay, der Edle von Ern, würde vielleicht tatsächlich von seiner Mission zurückkehren, wie seine Gemahlin Kalehna immer wieder betonte, falls man den Gerüchten aus dem Palast in Draakentrutz glauben konnte. Aber Yarn war hitzköpfig und nachtragend und verstand es, mit einem Schwert umzugehen. Das er sich nicht scheute zu benutzen, wenn er seinen Ruf befleckt wähnte. Und schließlich war er ein Angehöriger des Herrscherhauses von Ern. Alles in allem genug Gründe, ihn nicht unnötig zu verärgern.
Balkor biss die Zähne zusammen und warf einen forschenden Blick zum Himmel, während der Sturmprinz mit seinem leuchtend weißen Schimmel auf den Tross zugaloppierte.
»Sturmprinz oder nicht«, knurrte er. »Ich werde nicht zulassen, dass er mir meine Männer unnötig in Gefahr bringt.« Er trieb sein Pferd an und ritt dem jungen Mann entgegen, gefolgt von seinem Schwarmmeister.
Auch ein Mitglied der Herrscherfamilie von Ern hatte nicht das Recht, willkürlich und leichtsinnig anderer Leute Leben zu gefährden. Dieser Geck ritt auf einem weißen Ross weithin sichtbar auf einen Transport mit Brennendem Wasser zu, offenbar ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, einigermaßen in Deckung zu bleiben, und das, obwohl Drachenalarm gegeben worden war. Damit gefährdete er nicht nur sein eigenes, sondern auch das Leben der Soldaten, die diesen Tross begleiteten. Für deren Sicherheit ausschließlich der Schwarmführer dieser Sturmreiter verantwortlich war.
Balkor zügelte sein Pferd, als er sich dem Prinzen bis auf zehn Pferdelängen genähert hatte, und richtete sich trotz seiner Müdigkeit nach dem langen Nachtritt unwillkürlich etwas straffer im Sattel auf.
»Junger Herr, Ihr solltet Euch jetzt besser …!«, begann er, als Yarn vom Aern sein Pferd unmittelbar vor ihm zum Stehen brachte.
»Ihr solltet lieber einen Mann an die Spitze Eures Trosses stellen, der bessere Augen hat, Schwarmführer Balkor!«, schnitt Yarn ihm das Wort ab. Er hob den Arm und deutete auf einen großen Vogel, der am düsteren Himmel langsam seine Kreise zog. »Oder wollt Ihr etwa behaupten, das da wäre ein Drache?«
»Die Männer sind müde, und ihre Nerven sind von der langen Reise über Gebühr strapaziert, junger Herr«, erwiderte Balkor gepresst. Es gefiel ihm gar nicht, von diesem Jüngling so barsch zurechtgewiesen zu werden. »Und Euer unerwartetes Auftauchen hier hat nicht gerade dazu beigetragen, sie zu beruhigen. Immerhin seid Ihr …«
»Tatsächlich?« Yarn beugte sich vor und strich seinem Schimmel beruhigend über den schweißüberströmten Hals. »Nun, ich nehme nicht an, dass Eure Männer mich für einen Drachen gehalten haben. Und was ihre Müdigkeit angeht … Draakentrutz ist nur noch etwas mehr als einen Schattenstrich entfernt, dann haben sie es geschafft und sind in Sicherheit.« Er kniff die Augen zusammen und musterte die dunklen Umrisse der Karren, die etwa fünfzig Schritt hinter dem Schwarmführer im Schutz der Bäume standen. »Offenbar war eure Reise erfolgreich, Schwarmführer, hab ich recht?«
»Ja, junger Herr, das war sie. Aber was die weitere Reise nach Draakentrutz angeht …«
»Ganz genau, Balkor. Wir sollten unsere Zeit nicht damit verschwenden, hier herumzustehen und zu plaudern. Wenn wir Draakentrutz erreichen wollen, bevor Belphor seine Sicheln zeigt, sollten wir uns beeilen.«
»Wir werden nicht …«, begann Balkor, aber Yarn hatte anscheinend keine Lust, ihm weiter zuzuhören. Er wendete sein Pferd und gab ihm die Sporen.
»Vorwärts, Männer!«, schrie er, ohne sich noch einmal umzusehen. »Dieser angebliche Drache war ein verfluchter Schneeadler, nichts weiter! Wenn wir uns beeilen, erreichen wir Draakentrutz, lange bevor es hell genug für die Drachen ist.«
Finnt sah seinen Schwarmführer an, der dem jungen Adligen mit dem Blick folgte und dann seufzend nickte. »Also fahren wir weiter«, ordnete Balkor an. »Bis zum Morgen sind es zwar noch mindestens zwei Schattenstriche, aber wir sollten trotzdem so schnell wie möglich in den Schutz der Schlucht kommen. Das fehlt gerade noch, dass dieser verfluchte Ayrak tatsächlich auftaucht.«
Finnt nickte und gab den Befehl an einen Korporal weiter. Während sich der Tross mit viel Geschrei seitens der Treiber und unter dem missbilligenden Zischen der Echsen in Bewegung setzte, eskortiert von den Sturmreitern, trieb der Sturmoffizier sein Pferd neben das des Schwarmführers.
»Und was machen wir, wenn wir durch die Schlucht gefahren sind?« Finnt deutete mit einem Nicken auf den jungen Sturmprinzen, der mehrere Pferdelängen vor ihnen ritt und gerade im Eingang zur Schlucht verschwand.
Ein Trappeln von Hufen hinter ihnen veranlasste Balkor, sich umzudrehen, statt seinem Untergebenen zu antworten. Er ließ sich nicht anmerken, ob ihm diese Gelegenheit, seine Antwort zu überdenken, ganz recht war.
»Queg?« Balkor runzelte finster die Stirn. »Was willst du denn hier, Junge? Ich hatte dir doch befohlen, bei Sturmkorporal Prahn zu bleiben. Hast du dich etwa ohne seine Erlaubnis …?«
»Nein, Schwarmführer Balkor, Oheim«, erwiderte der junge Sturmreiter aufgeregt. »Er hat mich mit einem Auftrag zu dir geschickt.«
Balkor sah seinen Neffen fragend an. »Ja?«
»Ja.« Der rotgesichtige Bursche nickte, sichtlich stolz, mit einer wichtigen Aufgabe betraut worden zu sein. Er war ein Neffe von Balkors Frau und hatte ihm schon seit einigen Zyklen ständig in den Ohren gelegen, ihn endlich einmal auf einem Transport zum Blutsee mitzunehmen. Seine Frau hatte ihn ebenso eindringlich davor gewarnt, das Leben ihres Neffen aufs Spiel zu setzen, aber schließlich hatte Balkor sich über die Bedenken seiner Gattin hinweggesetzt und dem Drängen des jungen Queg nachgegeben. Er hatte ihn sogar zu seinem persönlichen Adjutanten gemacht, damit er ihn besser im Auge behalten konnte. Jetzt platzte Queg fast vor Stolz, was dem Schwarmführer ein kurzes Lächeln entlockte, obwohl seine Miene im Moment Ungeduld und Sorge verriet.
Als er keine Anstalten machte weiterzureden, lachte Finnt leise, wurde jedoch sofort wieder ernst, als sein Vorgesetzter gereizt knurrte.
»Schön.« Balkor schien langsam bis acht zu zählen. »Und verrätst du mir auch, wie dein Auftrag lautet?«
Queg blickte langsam zwischen seinem Oheim und dem Schwarmmeister hin und her, bis er verstand und dann dunkelrot anlief. »Sicher, entschuldige, Oheim. Ich soll dich fragen, ob wir in dichter Kolonne bleiben, jetzt, da es allmählich heller wird, oder ob wir uns wie üblich zum Lagern aufteilen.« Er starrte seinen Onkel aufmerksam an, als hinge von dessen Antwort sein Leben ab. Was auch gut der Fall hätte sein können. Einen Angriff des männlichen Drachen auf eine eng zusammenstehende Karrenburg mit Brennendem Wasser würde vermutlich keiner von ihnen überleben.
»Nein. Reite zu ihm zurück und richte ihm aus, dass wir enge Kolonne beibehalten, während wir durch die Schlucht fahren. Und sag ihm, dass der Sturmprinz zu uns gestoßen ist. Der Bursche …« Er unterbrach sich, als er die großen Augen seines Neffen bemerkte. »Seine Gnaden verlangt, dass wir bis Draakentrutz weiterfahren, statt im Schutz der Schlucht haltzumachen und den Abend abzuwarten.«
Queg stand vor Verblüffung der Mund offen, und er machte keinerlei Anstalten zu salutieren, die Anweisung zu wiederholen und sein Pferd zu wenden. Stattdessen schüttelte er ungläubig den Kopf. »Der Sturmprinz ist hier? Und er will am helllichten Tag weiterreiten? Das zeugt ja wirklich von Kühnheit!« Sein Gesicht glühte vor Begeisterung. Dann jedoch wurde seine Miene nachdenklich. »Aber wenn jetzt Ayrak doch auftaucht und …«
»Den neuesten Berichten aus Draakentrutz zufolge wurde er gerade in SanFira gesehen«, warf Finnt rasch und mit einem kurzen Seitenblick auf seinen Vorgesetzten ein. Der Tross hatte sich mittlerweile in Bewegung gesetzt, und der Befehl war bis nach hinten zum letzten Wagen weitergegeben worden. Der erste Karren mit Fässern voll Brennendem Wasser rumpelte an ihnen vorbei. Der Kutscher kümmerte sich nicht um die kleine Gruppe, sondern konzentrierte sich auf die beiden Zugtiere. Die Echsen wirkten seltsam unwillig, als wollten sie sich weigern, in die Schlucht zu gehen, obwohl sie den Weg schon häufiger zurückgelegt hatten. Balkor musterte die Tiere nachdenklich, während sein Untergebener weitersprach, um dem jungen Queg die Furcht zu nehmen. »Die Luftmagia hat seine Präsenz dort erspürt.« Er lächelte Queg beruhigend an. »SanFira ist zwar nicht jenseits des Endes der Welt, aber immerhin weit genug weg, um sich einigermaßen sicher zu fühlen.« Finnt runzelte die Stirn, als er seinen Schwarmführer genauer musterte. Balkors düstere Miene verriet nichts Gutes.
»Die Sturmreiter sagen, er wäre erst vor einer halben Spanne in Hellanden gesehen worden«, meinte Queg und warf einen argwöhnischen Blick zum Himmel. »Ich hoffe, dass sie sich irren oder mir vielleicht nur Angst machen wollten.« Er lächelte ein wenig gequält. »Denn Hellanden ist nicht nur nicht weit weg, sondern im Gegenteil ziemlich nah, stimmt’s, Oheim? Und sie sagen auch, dass die Blutroute ihren Namen zu Recht tragen würde.«
Balkor knurrte nur mürrisch und überließ es Finnt, den jungen Adjutanten zu beruhigen. Denn die Transporte über die Blutroute, wie die Männer die Fahrten zum Blutsee aus traurigem Anlass nannten, waren tatsächlich sehr gefährlich. Immer wieder wurden die Karren von Drachen überfallen, und diese Angriffe hatten bereits viele Männer und Zugtiere das Leben gekostet. Wirklich verheerend jedoch war es, wenn dieser verfluchte Drache Ayrak, eine Bestie aus den Legenden – von wegen Legenden!–, dabei war. Nur dieser männliche Drache konnte Feuer speien. Wenn das passierte, blieben von dem Transport nur verkohlte Leichen und rauchende Trümmer übrig.
Kein Wunder angesichts der Fracht, die sie auf den Karren mit sich führten. Das Brennende Wasser des Blutsees hatte sich seit dem Auftauchen der Drachen und ihren verheerenden Angriffen gegen die Herden und später auch Felder und Städte der Menschen als wirksamste Waffe gegen diese Reptilien erwiesen. Es kam nur im Blutsee vor und war eigentlich kein Wasser, sondern eine Art von Öl, ähnlich wie Fischtran, nur erheblich leichter entzündlich und fast nicht zu löschen. Und es war bislang das einzige Mittel, einen Drachen zu töten, vorausgesetzt, es gelang einem, die Flügel dieser Bestien zu verbrennen, sodass sie zu Boden stürzten. Dann konnte man sie mit dem Brennenden Wasser beschießen, bis ihre praktisch undurchdringliche Haut schließlich schmolz und sie endlich krepierten. Aber selbst das war eine höchst mühsame und gefährliche Angelegenheit.
»Dein Oheim ist ein erfahrener Schwarmführer, Queg«, sagte Finnt beschwichtigend. Er bemerkte die Unruhe, die den Jüngling ergriffen hatte, und das wiederum lag wohl an der besorgten und mürrischen Miene seines Oheims. »Er hätte sich niemals bereit erklärt, diesen Transport durchzuführen, wenn er nicht sicher wüsste, dass sich Ayrak nicht einmal in der Nähe der Route aufhält. Und er befindet sich auch ganz sicher nicht in Hellanden, wenn die neue Luftmagia in Draakentrutz recht hat«, fuhr der Schwarmmeister fort. »Sie hat seine Präsenz in SanFira gespürt. Das ist weit genug entfernt, um diesen Transport zum Blutsee und zurück zu wagen.« Er verschwieg dem jungen Sturmreiter, dass die Vorräte an Brennendem Wasser in Draakentrutz zur Neige gingen und sie dieses Risiko ohnehin hätten eingehen müssen.
Und er verzichtete auch darauf, dem Jüngling zu erzählen, dass ein Angriff der weiblichen Drachen für gewöhnlich ebenfalls mit großen Verlusten verbunden war. Doch wenigstens konnten die Bestien ihre Fracht nicht in Brand setzen, sondern beschränkten sich meist darauf, die Zugtiere anzugreifen und als Beute davonzutragen. Opfer an Menschenleben gab es für gewöhnlich nur wenige, weil sich die Soldaten beim Nahen eines Drachen lieber versteckten und den geflügelten Bestien die lohnenden Ziele kampflos überließen. Das war zwar nicht mutig, aber ein Held konnte gegen diese Biester nicht lange bestehen.
»Trotzdem ist es weniger kühn als vielmehr leichtsinnig, wenn der Sturmprinz nach Draakentrutz weiterreiten will, obwohl der Tag angebrochen ist«, sprach Finnt weiter. »Denn es gibt auch genug weibliche Drachen hier in der Nähe. Und ein Angriff dieser stinkenden Reptilien ist zumindest unerfreulich.« Er warf seinem Schwarmführer einen kurzen Seitenblick zu.
Balkor hob angesichts dieser Untertreibung eine Braue, seufzte dann aber. »Ob sich diese feuerspuckende fliegende Echse nun in Hellanden oder SanFira herumtreibt, sobald wir das Ende der Schlucht erreicht haben, rasten wir, ganz gleich, was Seine Überheblichkeit von Sturmprinz wünschen. Dann haben wir morgen Nacht nur noch einen Schattenstrich bis nach Draakentrutz.« Er warf Queg einen kurzen Seitenblick zu. »Bete lieber zu Belphor, dass Ayrak nicht doch hier ist und den Schimmel unseres erlauchten Sturmprinzen sieht. Denn dann wird er ihn in einen glühenden Haufen verbrannter Asche verwandeln und uns Feuer unterm Arsch machen.«
»Das mache ich, Oheim«, erwiderte der junge Adjutant ernsthaft.
Balkor lachte unwillkürlich. »Gut. Vielleicht hört er ja auf dich. Meine Gebete hat der Allessehende jedenfalls ignoriert, bei Maldouchs Eiern.« Er deutete zum Himmel. »Vielleicht liegt es daran, dass er seine Augen in letzter Zeit so fest zukneift.«
»Das ist Blasphemie, Oheim!«, stieß Queg atemlos hervor.
»Tatsächlich?« Balkor stemmte eine Hand in die Seite und blickte kurz zu Lokhs Auge hinauf. »Na ja, vielleicht reagierte er ja darauf, wenn schon nicht auf meine Gebete.« Er hob die Hand, bevor der junge Adjutant protestieren konnte. »Und jetzt los, reite zum Korporal zurück und richte ihm meinen Befehl aus. Wir sorgen derweil dafür, dass Seine Gnaden Sturmprinz keinen Unsinn macht, wie zum Beispiel sich rösten zu lassen. Ich achte Belphor und fürchte Ayrak, aber den Zorn der Edlen von Ern, wenn ich aus ihrem Prinzen Drachenfutter mache, möchte ich nicht auf mich herabbeschwören! Lieber würde ich einen ElderDämon am geschuppten Schwanz ziehen, das kannst du mir glauben, mein Junge!«
ALGHOR, ESTRIO, FELSSPALTE AM DRAAKENSCHLUND, »MUND DER GÖTTER«
Felsbrocken prasselten von der Bergflanke am Fuß des Draakenschlundes herab und schlugen krachend auf den Boden, dicht neben dem etliche Mannslängen hohen und knapp mannsbreiten Spalt. Er markierte den Eingang der gewaltigen Höhle, die von den wenigen Auserwählten respektvoll Mund der Götter genannt wurde. Das gemeine Volk schimpfte den Ort einfach nur den Rachen und mied ihn. Grund war die Angst vor dem, was angeblich darin lauerte, seit etlichen Zyklen jedoch auch vor dem, was einem auf dem Weg ins entlegene Estrio zustoßen konnte. Und es war nicht nur die Gefahr durch die Steinlawinen, denen sich die Wanderer im Gebirge zunehmend ausgesetzt sahen.
Wieder bebte der Boden, kindskopfgroße Felsbrocken und Erdmassen polterten und rutschten die Bergflanke nach unten, und eine der gewaltigen Rüppelkiefern auf den schmalen Vorsprüngen in der Felswand wurde entwurzelt und stürzte ebenfalls in die Tiefe. Ein gequältes Ächzen drang aus der Ferne, so als litte die Welt selbst unter den entfesselten Naturgewalten.
Die Gestalt im Eingang der Höhle zog den Kopf ein, als sich ein dicker Gesteinsbrocken nur wenige Schritte entfernt in den steinigen Boden grub. Erde und Steinsplitter flogen durch die Luft, und der Mann trat nach einem furchtsamen Blick auf die Felswand über ihm einen Schritt tiefer in die Höhle hinein. Er tauchte jedoch sofort wieder daraus auf, so als würde in der Dunkelheit ein Weißbär lauern. Eine nicht gänzlich unbegründete Angst, denn diese gefährlichen Raubtiere waren seit dem Einsetzen der Schmelze am Weißen Spiegel, dem Gletscher an der Grenze zwischen dem Drachenreich und Hellanden, immer weiter nach Alghor eingedrungen.
Die Miene des Mannes verdüsterte sich, als sein Blick auf die beiden Sonnen fiel, deren dünne Ränder noch kaum hinter dem Mond zu erkennen waren.
Seit die »Unbilden der Natur«, wie der Erste Fragende und Oberste Augur Farael OchAyrak die verheerenden Naturkatastrophen verharmlosend nannte, immer schlimmer geworden waren, und das nicht nur in Alghor, waren die Allsehenden Augen Belphors immer schmaler geworden und fast gänzlich hinter dem dritten Himmelsgestirn verschwunden. Als könnte oder wollte der Gott des Unternieder, dem Heim der Toten, das Elend auf der Welt nicht mehr mit ansehen.
Mittlerweile schoben sich nur noch schmale Sicheln hinter dem Auge Lokhs, Belphors ständigem Begleiter, hervor, und das Licht, das sie spendeten, wurde immer schwächer. Kaum genügte es noch, jeden Morgen den Himmel und die Welt zu erhellen. Damit beschworen sie eine neue Gefahr herauf, eine, die dem Mann mehr Furcht einzujagen schien als die unregelmäßigen Erdstöße oder das, was im Mund der Götter lauern mochte.
Mit einem letzten Blick auf das heraufziehende Morgengrauen holte er einmal tief Luft, verschwand wieder im Felsspalt und ging dann langsam tiefer in die Höhle hinein.
Als sich der blanke, von schleimiger Feuchtigkeit tropfende Fels rechts und links von ihm verbreiterte und schließlich den Blick auf das Innere freigab, blieb der Mann einen Moment stehen. Er blinzelte in dem grünlichen Dämmerlicht, das von Flechten und Moosen erzeugt wurde, bis sich seine Augen an die Umgebung gewöhnt hatten.
Dann hob er den Kopf.
Unmittelbar hinter dem Eingangsspalt gähnte ein gewaltiger Schlund. Er dehnte sich zu einer ungeheuren Kaverne aus, in die ein schmaler, sich zwischen zahllosen Stalagmiten hindurchwindender Pfad führte. Von der Decke, deren Ende sich im Dämmerlicht verlor, hingen ebenso zahlreiche Stalaktiten und bildeten mit ihren Gefährten am Boden ein wahres Skulpturenmeer von Sandachten aus Tropfstein.
Der Mann rümpfte die Nase. Die Erhabenheit dieses Anblicks schmälerte ein bestialischer Gestank, ein widerlicher Geruch nach Verwesung und Tod. Er schluckte, um ein Würgen zu unterdrücken, und sah sich in dem gedämpften Licht suchend um. Schließlich fiel sein Blick auf eine schmale Rampe aus porösem Sandstein, gebildet von den kalkhaltigen Ablagerungen des Wassers. Sie erhob sich in schwindelnde Höhe, bis sie schließlich an einer schmalen Öffnung an der gegenüberliegenden Wand endete.
»Der Pfad der Erleuchtung«, knurrte der Mann. »Wahrlich ein treffender Name!« Er starrte mit zusammengekniffenen Augen zum Ende der Brücke. Es war nicht schwer zu erkennen, dass jeder, der von diesem Pfad der Erleuchtung abwich, nicht irgendeinem Laster verfiel, sondern in die Tiefe stürzte. Die Brücke schwebte an ihrem oberen Ende fast dreihundert Schritt über dem felsigen Boden, und nach allem, was die Ersten Fragenden der Auguren berichtet hatten, war der Abgrund in der zweiten Höhle noch tiefer.
»Hulbert!«, zischte der Mann, als er die kauernde Gestalt auf dem schmalen Grat der Brücke erkannte, unmittelbar vor der dunklen Öffnung, die den Eingang zu der zweiten Höhle markierte und die von einem sonderbar schillernden Vorhang versperrt wurde. Dahinter befand sich die »Zunge der Götter«, der Grund ihres Hierseins und auch der für die Furcht, die dem Mann aus allen Poren zu sickern schien. »Hulbert!«, wiederholte er lauter, als die Gestalt hoch über ihm nicht reagierte. Die besondere Form dieser Kaverne bewirkte, dass man am Fuß der Brücke selbst ein Flüstern hören konnte, das jemand am oberen Ende von sich gab. »Es wird bereits hell!«
Die so angesprochene Gestalt reagierte immer noch nicht, und der Mann schluckte erneut, als sich das Summen verstärkte, das ihn zu umhüllen schien, seitdem er die Höhe betreten hatte. Das war die Stimme der »Zunge der Götter«, wie sein Gefährte, der da oben stand, ihm erklärt hatte. Das Summen schwoll an und wieder ab, fast wie in einer Melodie oder Anrufung, aber keiner, die menschlichem Geist entsprungen sein konnte. Und auch, wenn der Mann die Bedeutung der Laute nicht verstand, war ihr bedrohlicher Charakter deutlich zu spüren. Ganz offenbar war das Wesen, das diese Laute ausstieß, alles andere als erfreut über die Störung.
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Unwillkürlich blickte der Mann zum Eingang der Höhle zurück, hinter dem der aufziehende Morgen den dunklen Nachthimmel grau färbte. Dann drehte er sich wieder um, ballte die Hände zu Fäusten und nahm all seinen Mut zusammen.
»Hulbert! Komm endlich! Wir müssen los! Der Morgen graut! Die Drachen …!«
Mit einem gequälten Stöhnen krümmte er sich zusammen und presste die Fäuste auf die Ohren, als das Summen in der Höhle anschwoll.
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Gleichzeitig begann die Gestalt am oberen Ende der Brücke zu taumeln, aber sie fing sich gerade noch, bevor sie in die Tiefe gestürzt wäre.
»Ich … Ich komme gleich! Ich …« Der Mann sank auf die Knie und ächzte erstickt, während er sich an die Kehle griff. Das Summen steigerte sich zu einem Tosen, als würde ein Sturm durch die Höhle fahren. Gleichwohl regte sich kein Lüftchen.
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»Ich … Verzeiht, Herr!« Mit einem kaum verständlichen Krächzen antwortete der Mann einer Stimme, die nur er zu hören schien. »Gewiss, Herr!« Ohne seinem Gefährten am Boden der Höhle Beachtung zu schenken, richtete er sich zitternd wieder auf und trat einen Schritt näher an die dunkle Öffnung am Ende der Brücke.
»Demütig stehe ich hier vor Euch, Hüter der Heiligkeit, Wahrer des Wissens, Wächter der Weisheit, Zunge der Zeiten, Gefährte der Götter …«, deklamierte er, wurde jedoch von dem Brausen unterbrochen. Er »hörte« die Worte nicht im üblichen Sinne, denn die Stimme erklang in seinem Kopf, klar und deutlich.
Ich sage, wann du gehst und wann du kommst, du Wurm! Hast du vergessen, wer dein Herr ist und wem du deine erbärmliche Existenz verdankst?
Der Mann schüttelte unwillkürlich den Kopf, auch wenn er nicht wusste, ob sein Gegenüber ihn sehen konnte. Ihm war nur klar, dass diese Kreatur, die sich selbst »Zunge der Götter« nannte und von der außer zwei schimmernden roten Punkten in dem undurchdringlichen Schwarz des Raumes dahinter nichts zu sehen war, in seinen Gedanken zu lesen schien, als lägen sie wie ein offenes Buch vor ihr.
Der Edle von Ern ist verschwunden. Weißt du mittlerweile, wohin?
»Das …« Hulbert leckte sich die Lippen. »Das weiß ich nicht, Herr. Das weiß niemand«, setzte er hastig hinzu, als wolle er einem Tadel seines Gegenübers zuvorkommen. »Wir haben unsere Quellen befragt, aber keiner konnte uns …«
Wir?
»Ja, Herr, ich meine …« Sein Blick zuckte zum Fuß der Brücke, wo im Dämmerlicht die immer noch am Boden kauernde Gestalt seines Kameraden zu erkennen war. »Mein Gefährte hat noch … Vertraute in Ern. Nach dem, was sie uns berichtet haben, vermuten wir, dass Lay vom Aern nach der Zerstörung Ernhaags geflüchtet ist und seine Familie ihrem Schicksal überlassen …«
Schweig.
Wäre es eine menschliche Stimme gewesen, hätte man den Laut für ein verächtliches Schnauben halten können. Aber diese Stimme hatte nichts Menschliches, ja, sie schien sich nicht einmal der menschlichen Sprache zu bedienen, obwohl der Mann die Bedeutung der Laute in seinem Kopf verstand.
Ich habe dir schon beim letzten Mal befohlen, dir einen anderen Gefährten zu suchen. Dieser feige Menschenwurm ist nur zu willig, von seinem eigenen Charakter auf den anderer zu schließen. Lay vom Aern ist ein Auserwählter des Schicksals, ein Träger des Mals. Ich hatte dir befohlen, deine Aufmerksamkeit auf ihn und die Seinen zu richten. Aber ich brauche dich gewiss nicht, um ein Urteil über seinen Charakter zu fällen!
»Natürlich, Herr! Ich wollte mir keineswegs anmaßen, deine Wünsche …«
Ich äußere keine Wünsche, Erbärmlicher!
Das Summen schwoll erneut an, und der Mann geriet wieder ins Taumeln.
»Verzeiht, Herr! Selbstverständlich … Ich gehorche und diene … Euren Befehlen!«
Vergiss das niemals, Sklave! Und auch nicht den Grund dafür. Ich werde dir deine elenden Wünsche erfüllen, wenn du mir zu meiner Zufriedenheit dienst! Wenn aber nicht…
Der Mann stieß ein ersticktes Ächzen aus und sank auf die Knie, wobei er sich wimmernd die Hände auf die Ohren presste. Blut lief ihm aus Nase und Ohren, und sein Atem kam stoßweise, als das Brausen um ihn herum zu einem hohen, schrillen Pfeifen anschwoll.
»Nicht … Herr …! Ich …!«
Unvermittelt verstummte das Pfeifen. Der Mann blieb eine Weile schwer atmend auf den Knien hocken, während er wartete, bis das Bluten aufhörte und die Schmerzen nachließen.
Was hast du über die Pläne des Ersten Fragenden in Erfahrung bringen können? Beabsichtigt er angesichts seiner verzweifelten Lage endlich, den Rat der Götter wegen der Ereignisse einzuholen, von denen ihr Menschen heimgesucht werdet, oder versucht er weiterhin, das Volk mit seinen lächerlichen Quacksalbereien und Mutmaßungen zu täuschen?
»Nein, Herr …« Hulbert hustete, weil seine gepresste Stimme kaum zu verstehen war. »Ich meine … nein, er … will den Mund der Götter nicht …«
Dieser elende Wurm! Wie kann er es wagen, den Rat und Beistand der Götter auszuschlagen? In Zeiten wie diesen, da diese menschliche Brut… Aargh! Unverstand und Feigheit regieren in Zeiten, in denen Mut und Weitsicht erforderlich wären.
Die Stimme wurde sanfter, trügerisch sanft.
Es ist dir also nicht gelungen, den Obersten Auguren davon zu überzeugen, meinen Rat einzuholen, Mensch?
»Ich …« Der Mann stammelte voller Angst. Er hatte bereits schmerzhaft erleben müssen, dass diese Kreatur ein Versagen ihres menschlichen Handlangers nicht besonders wohlwollend aufnahm. Vermutlich lebte er nur deshalb noch, weil die Kreatur außerhalb dieser Kaverne auf seine Dienste angewiesen war. Allerdings bedeutete das nicht, dass der Mensch damit ein Druckmittel gegen dieses fürchterliche Wesen in der Hand gehabt hätte. Ihm war klar, dass die Kreatur ihn zweifellos auf der Stelle töten konnte und es auch tun würde, sobald sie den Hauch eines Zweifels an seiner absoluten Loyalität hatte. »Bisher gelingt es ihm, auch die anderen Auguren zu täuschen, und Elfrich, sein Auge … Er ist von mir abgesehen der Einzige, der weiß, dass Farael OchAyrak den Mund der Götter zwar betreten, aber nie mit …« Der Mann verstummte.
Verstehe. Und das Auge des Sehers?
»Elfrich schweigt bisher und ist ihm gegenüber loyal. Und mir ist es nicht gelungen, die anderen Auguren …«
Sie misstrauen dir. Weil dich der Erste Fragende aus der Kaste der Auguren ausgestoßen hat. Das war wohl nicht anders zu erwarten. Es zeugt von menschlicher Schwäche, sich so offen gegen den Obersten Auguren aufzulehnen. Menschen scheint jeder Hauch von Raffinesse und Einfühlungsvermögen zu fehlen. Von Intelligenz und Gerissenheit ganz zu schweigen.
»Gewiss, Herr. Aber ich bemühe mich …«
Ich habe nicht den Eindruck, als würden deine Bemühungen irgendein auch nur halbwegs befriedigendes Ergebnis zeitigen, Mensch. Vielleicht erwarte ich ja zu viel von dir. Vielleicht sollte ich mir jemand anders suchen, jemanden, der nicht so stark von Ehrgeiz verzehrt wird, sondern den niedere Beweggründe leiten. Wie zum Beispiel Rache. Ja, die Gier nach Vergeltung… wie sie deinen erbärmlichen Gefährten dort unten erfüllt.
»Herr, verzeiht, aber ich … ich tue mein …«
Das genügt aber nicht, Wurm!
Der Mann stöhnte erneut auf, aber diesmal war das Summen erträglicher, und es gelang ihm, auf den Beinen zu bleiben.
Dennoch… ich werde Nachsicht mit der erbärmlichen Schwäche deiner Spezies zeigen.
Der Mann wartete einen Herzschlag lang, bevor er antwortete. »Gewiss, Herr. Ich meine … danke, Herr! Ich bin zutiefst dankbar für Euer …«
Erspare mir deine Speichelleckerei. Anstatt dich auf der Stelle zu vernichten, biete ich dir eine weitere Chance, mir deine Loyalität und Ergebenheit und vor allem deinen Nutzen zu beweisen. Die Prunfors…
»Herr?«, fragte der Mann zögernd, als die Kreatur schwieg.
Auch in ihrer Sippe ist die Gabe stark ausgeprägt.
»O ja, Herr! Jolah de Prunfor e Aern ist wahrlich eine ausgezeichnete Drachenkönigin. Obwohl ihre Position offenbar zurzeit geschwächt ist. Ihr Gemahl, der Reichsverweser Broll vom Aern, befindet sich auf einem Feldzug nach Bouhss, um Magabor zu unterwerfen. Der Shetan von Bouhss hat den Berichten zufolge seine Loyalität zum Drachenthron aufgekündigt und schickt sich an, SanFira zu erobern. Ganz offensichtlich sind die Drachenkönigin und Broll der Meinung, dass sich der Shetan gegen Alghor wenden wird, falls es ihm gelingt, die Sandleute von SanFira zu besiegen. Und das …«
Euer erbärmliches Streben nach Macht interessiert mich nicht, Mensch. Mich interessieren die Träger des Mals, die Auserwählten der Prophezeiungen. Und in der Sippe der Prunfors erregt vor allem ein Kind der Drachenkönigin meine Aufmerksamkeit.
»Gewiss, Herr. Degora da Aern ist eine sehr starke …«
Ich meine nicht Degora.
»Natürlich nicht, Herr. Gewiss nicht. Natürlich. Aber … Ihr interessiert Euch für … Bryjn?«
Der Sohn der Drachenkönigin. Was weißt du über ihn?
»Er ist … Also …« Der Mann schluckte. »Er ist vor allem seinem Vater ganz und gar nicht ähnlich. Die beiden verstehen sich nicht sonderlich, soweit ich unterrichtet bin. Broll vom Aern versucht schon seit vielen Zyklen vergeblich, seinen Sohn nach seinem Vorbild zu formen, aber …« Der Mann verstummte, er zuckte mit den Schultern, bevor er fortfuhr. »Bryjn de Aern e Prunfor scheint sich mehr den schönen Künsten und der Gelehrsamkeit verschrieben zu haben als der Kunst des Krieges und des Kampfes, sehr zum Leidwesen seines Vaters. Außerdem findet er, wie man hört, Wohlgefallen an jungen Männern. Vor allem an den jungen Novichen des Asylums.« Er riskierte ein Lachen. »Sein Interesse für das männliche Geschlecht dürfte die einzige Eigenschaft sein, die er mit seiner Zwillingsschwester Degora gemein hat, wie es heißt. Allerdings scheint sich die Drachenbraut weniger mit jungen Novichen als mit Stallburschen herumzutreiben. Außerdem hat sie ganz offensichtlich mehr von ihrem Vater, als ihrer Mutter, der Drachenkönigin, lieb ist. Soweit ich gehört habe, ist sie herrisch und kalt und verfolgt ihre Ziele ebenso rücksichtslos wie ihr Vater …«
Bryjn de Aern e Prunfor.
Der Mann zuckte zusammen, als die Stimme in seinem Kopf ihn unterbrach. »Herr?«
Ich will, dass du den jungen Drachenprinzen zu mir bringst. Mich kümmern die lächerlichen Vorurteile deiner Artgenossen nicht. Ich will ihn selbst in Augenschein nehmen, was seine Eigenschaften und Fähigkeiten angeht.
»Ihr wollt, dass ich ihn hierher… in den Mund der Götter?«, stammelte der Mann. »Aber er ist der Drachenprinz, Herr. Er wird mir nicht so einfach … Ich kann mir nicht vorstellen …«
Natürlich kannst du das nicht, Mensch! Das musst du auch nicht. Ich erwarte nicht von dir, dass du begreifst, warum ich etwas von dir verlange. Aber ich erwarte, dass du versuchst, meine Befehle auszuführen. Das zumindest solltest du verstanden haben, Sklavengewürm!
Der Mann antwortete nicht, sondern blieb regungslos vor der dunklen Öffnung stehen. Ein scharfes Zischen ertönte, das ihn aus seiner Erstarrung riss.
Bryjn vom Aern ist weit mehr als der verweichlichte junge Mann, als den du ihn mir beschreibst! Sorge dafür, dass sein Interesse an den Auguren und ihrer Lehre, so unbedeutend sie auch sein mag, ihn letztlich zum Mund der Götter führt. Hüte dich davor, erneut zu versagen! Ich werde keine weiteren Ausflüchte dulden! Hast du mich verstanden?
»Gewiss, Herr!« Der Mann zögerte einen Augenblick und nahm all seinen Mut zusammen, bevor er zu äußern wagte: »Darf ich fragen, Herr, wann Ihr gedenkt, meine Belohnung …?«
Du kannst dich glücklich schätzen, noch am Leben zu sein, Undankbarer, angesichts der Unfähigkeit, die du bislang an den Tag gelegt hast!
Das Brausen in der Höhle schwoll wieder an, als die Stimme der Kreatur zu einem bedrohlichen Zischen wurde.
Dennoch…
Wieder wurde die Stimme trügerisch weich.
…bringst du mir den jungen Drachenprinzen und den Obersten der Auguren, wirst du auf der Stelle deine Belohnung erhalten! Zuvor jedoch…
»Ja, Herr?« Der Mann konnte das Zittern in seiner Stimme nicht unterdrücken, in der sich Furcht und Gier die Waage zu halten schienen.
…habe ich noch eine Aufgabe für deinen nichtswürdigen Gefährten. Der Edle von Ern…
»Gewiss, Herr! Aber, Herr, wir haben wirklich alles versucht, doch keiner unserer Mittelsmänner konnte uns seinen Aufenthaltsort nennen.«
Er mag sich verkrochen haben, aber seine Familie hält sich in Ern auf.
»Ja, Herr. In Draakentrutz, der neuen Hauptstadt der Provinz. Ernhaag wurde von dem Drachen vollkommen zerstört, wie Ihr ja wisst.«
Von dem Drachen?
»Von Ayrak, Herr. Es gibt ja nur einen männlichen Drachen …« Hulbert konnte nur flüstern vor Angst, als er über den Drachen sprach, der bis vor zwanzig Zyklen noch eine Gestalt aus den Legenden und Prophezeiungen gewesen war. Bis er sich aus seiner Ruhestätte im Weiten Wald erhoben hatte und seitdem Hellanden, das Drachenreich und SanFira mit Feuer und Flammen heimsuchte.
Ja, Ayrak. Hätte der Mann in der Stimme der Kreatur eine menschliche Eigenschaft erkennen können, hätte er gesagt, dass sie nachdenklich klang. Ich habe Zweifel.
»Zweifel?« Der Mann wirkte aufrichtig verblüfft. »Aber nur der männliche Drache vermag Feuer zu speien! Herr!«, setzte er dann hastig hinzu. »Sicher, die weiblichen Drachen fallen über unsere Herden her und töten tagsüber auch vereinzelte Wanderer …« Sein Blick zuckte bei diesen Worten unwillkürlich zum Eingang der Höhle, wo sich am Himmel ein hellgrauer Streifen zeigte. »Und der Palast von Ernhaag sowie der größte Teil der Stadt wurden vom Drachenfeuer niedergebrannt. Das war der Grund, warum man die Flammen nur so schwer ersticken konnte …«
Das weiß ich alles, Mensch! Dennoch hege ich Zweifel. Allerdings nicht daran, dass es Ayrak war, der diese Menschensiedlung vernichtet hat…
Der Mann wartete, aber die Kreatur schien nachzudenken, und er hütete sich, sie zu unterbrechen. Wieder blickte er zum Eingang der Höhle und dann hinab zu seinem Gefährten, der heftig gestikulierend am Fuß der Brücke stand. Offenbar wollte er ihn darauf hinweisen, dass der Tag anbrach. Der Mann wagte es jedoch nicht, die Kreatur zu drängen. Das Glühen ihrer Augen in der Dunkelheit der angrenzenden Höhle – falls es denn Augen waren! – hatte sich verstärkt, und sie schien auch so schon recht schlechter Laune. Er wollte nicht riskieren, sie so sehr zu reizen, dass er damit sein Leben aufs Spiel setzte.
Dein Gefährte…
Der Mann zuckte zusammen, als die Stimme unvermittelt weitersprach. »Ja, Herr? Er …«
Du sagtest, er habe noch Vertraute in Ern?
»Ja, Herr. Er war einst ein enger Diener der Edlen von Ern, bevor sie von …«
Wohlan. Vielleicht erweist sich dein ungeduldiger Kumpan noch als nützlich. Ich habe eine wichtige Aufgabe für ihn, die seine gesamte beklagenswert geringe Klugheit erfordert. Diese Aufgabe ist gefährlich, und ein Versagen hätte seinen qualvollen Tod zur Folge.
Die Stimme machte eine kleine Pause, und dann gab die Kreatur einen Laut von sich, der bei einem Menschen vermutlich ein Lachen gewesen wäre. Doch bei dieser Kreatur hörte es sich grauenvoll an, und der Mann schüttelte sich vor Grausen.
»Gewiss, Herr, mein Gefährte wird dich nicht enttäuschen. Und er wird auf keinen Fall deinen Zorn heraufbeschwören wollen.«
Das dürfte in diesem Fall keine Rolle spielen, Mensch! Denn sollte er versagen, werde nicht ich es sein, der ihn wegen seiner Unzulänglichkeit bestraft! Und jetzt höre, was ich von deinem Gefährten und von dir erwarte…
»Bei Belphors Arsch, warum hat das so lange gedauert?«, zischte der Mann am Fuß der Tropfsteinbrücke, als sein Gefährte hastig über den porösen, glitschigen Stein auf ihn zukam und mit einem kleinen Satz seufzend auf den festen Boden der Höhle sprang. »Der Tag graut bereits! Wir brauchen mindestens zwei Sonnenstriche, bis wir die schützenden Mauern der verfluchten Schänke erreicht haben! Als wäre unsere Lage nicht schon schlimm genug! Musst du uns jetzt auch noch der Gefahr aussetzen, von dieser verfluchten Himmelspest erspäht und gefressen zu werden?«
»Hab dich nur nicht so!« Der Mann keuchte und warf einen raschen Blick zurück zu dem dunklen Durchgang hoch oben in der Höhle. Doch von hier unten war nicht zu erkennen, ob die Kreatur noch in der Dunkelheit lauerte und ihrem Gespräch lauschte. Außerdem brauchte dieses Wesen vermutlich keine Ohren, um sie zu hören. Jedenfalls nicht, solange sie sich hier im Mund der Götter befanden. Er schüttelte sich und warf seinem Gefährten einen finsteren Blick zu, während er ihm zum Eingang der Höhle folgte. »Wenn es dir nicht schnell genug geht, kannst du ja gerne das nächste Mal selbst hinaufsteigen und dir anhören, was dieser …« Er unterbrach sich gerade noch rechtzeitig. »Was unser Herr uns zu sagen hat!«
Der andere Mann spie verächtlich auf den Boden und schnaubte. Auch wenn er danach unwillkürlich den Kopf einzog und sich umsah. Als nichts geschah, zeigte seine Haltung etwas mehr Selbstbewusstsein. »Das würde ich ja tun, und zwar ohne zu zögern …« Er ignorierte das spöttische Lachen seines Kameraden. »Aber wie du sehr wohl weißt, verstehe ich bedauerlicherweise nicht, was dieser … Dämon sagt.« Er deutete auf eins seiner Ohren. »Das Einzige, was ich höre, ist das Brausen des Windes, obwohl sich in dieser verfluchten Höhle kein Lüftchen rührt.«
Sie hatten mittlerweile den Spalt erreicht, und wie immer, wenn sie die bedrückende Atmosphäre des Mundes der Götter verließen, gewann er seine gewohnt hochmütige Haltung zurück.
Sein Gefährte verzog höhnisch die Lippen angesichts dieses plötzlichen Wechsels im Verhalten des anderen Mannes, verzichtete jedoch auf eine entsprechende Bemerkung. Die Überheblichkeit seines Kameraden war ihm mittlerweile vertraut, und er wusste, dass der Mann auf Kritik äußerst ungehalten reagierte, ganz gleich, von wem sie kam. Und gerade jetzt konnte er es sich nicht leisten, sich mit seinem Gefährten zu überwerfen.
»Ganz genau«, sagte er deshalb nur. »Und ich kann dir auch versichern, dass es keinen Spaß macht, dort oben zu stehen und sich mit diesem ElderDämon zu unterhalten.« Er schüttelte den Kopf. »Manchmal frage ich mich, ob der Preis, den wir für seine Hilfe bei der Verwirklichung unserer Pläne zu zahlen haben, nicht zu hoch ist.«
»Ja, ja, dieses Thema haben wir ja wohl bereits erschöpfend abgehandelt, stimmt’s? Immerhin ist es nicht so, als könnte diese Kreatur uns außerhalb des Rachens gefährlich werden. Also brauchen wir nur diesen widerlichen Ort zu meiden, sobald wir von ihm bekommen haben, was wir wollen.« Er zuckte mit den Schultern und grinste. »Immerhin machen alle anderen Bewohner von Alghor und selbst der Oberste Augur und Erste Fragende des Drachenreiches es genauso.«
»So ist es, und aus diesem Grund sind wir ihm gegenüber auch im Vorteil, schon vergessen?« Der Mann hob rasch die Hand, als sein Gefährte weitere Einwände erheben wollte. »Außerdem wissen wir nicht, was wir noch alles für diese Kreatur tun müssen, bevor sie uns gibt, was wir wollen. In diesem Punkt redet sie ebenso ausweichend wie Farael OchAyrak, wenn er vor dem Drachenrat steht. Oder im Roten Sand vor die Massen tritt. Aber dennoch kann uns der Erste Fragende weit weniger gefährlich werden als dieses Wesen dort im Mund.«
»Verzeih, wenn ich dir in diesem Punkt widerspreche. Aber ich denke, dass der Erste Fragende mir weniger gefährlich werden kann als diese Kreatur.« Der Mann grinste sein Gegenüber spöttisch an. »Bei dir verhält es sich wohl etwas anders, könnte ich mir vorstellen. Farael als dein oberster Vorgesetzter und Herr aller Auguren dürfte ebenso grausam und rücksichtslos mit einem abtrünnigen Auguren wie dir verfahren wie dieses Wesen da in der Höhle, falls es dich in die Hände bekommt.« Er lachte kalt. »Immerhin hat der Oberste Augur mehr als nur eine Rechnung mit dir offen, stimmt’s, Hulbert? Warst du nicht das Ohr der Magi, als Farael versuchte, die Zirkel der Wirker zu unterwerfen?« Er lachte. »Du hast ihm blutige Verluste eingebracht, und hätte dieser Drache nicht das Refugium angegriffen … Wer weiß, wie dieser Krieg am Ende ausgegangen wäre. Allein wegen deines Verrats würde er dich mit Freuden ans Drachenkreuz binden.«
Der Augur presste die Lippen zusammen, um eine beleidigende Erwiderung zu unterdrücken. Er brauchte seinen Gefährten, jedenfalls vorerst noch. Er warf ihm einen giftigen Blick zu, den der andere Mann ignorierte.
»Aber sprechen wir lieber von Wichtigerem«, fuhr sein Begleiter fort. Was genau, wenn ich fragen darf, verlangt diese Kreatur denn jetzt von dir?«
Hulbert schwieg einen Moment, als würde er seine Worte genau abwägen. Es war offenkundig, dass die beiden Männer sich nicht sonderlich mochten, geschweige denn vertrauten, und doch schien eine sonderbare Allianz sie aneinanderzubinden. Was aber nicht bedeutete, dass man seinem Gegenüber die Wahrheit sagen musste, oder zumindest nicht die ganze Wahrheit, sondern nur so viel, wie nötig war, um sich weiterhin der Hilfe seines Kumpanen zu versichern. Und dafür war es nicht notwendig, seinen Gefährten darüber zu informieren, dass die Kreatur unbedingt Farael OchAyrak in die Finger bekommen wollte und er, Hulbert, dafür sorgen sollte, dass dies gelang. Wahrscheinlich hätte sich sein Kumpan ohnehin nur köstlich darüber amüsiert. Denn es war klar, dass der Oberste Augur sofort die Wache rufen und Hulbert in Ketten schlagen und ins Verlies werfen lassen würde, wenn er seiner auch nur ansichtig wurde. Mit Sicherheit würde er ihm nicht zuhören, ganz zu schweigen davon, dass er ausgerechnet auf Hulberts Ersuchen hin einen Fuß in den von ihm gefürchteten Mund der Götter setzen würde. Eher würde er sich einem Schwall Drachenfeuer stellen.
»Sie interessiert sich für Bryjn.«
»Für den Drachenprinzen?« Der andere Mann hob ungläubig eine Braue. »Was will sie denn von diesem verweichlichten Jüngelchen? Ja, wenn es um die Drachenbraut ginge, dann könnte ich das Interesse verstehen. Degora da Aern ist zweifellos eine Person, mit der man rechnen muss. Aber Bryjn?« Er lachte. »Das Einzige, was den Drachenprinzen auszeichnet, ist sein guter Geschmack, was seine Bettgenossen angeht. Es sind durchweg sehr hübsche Burschen, mit denen sich seine Erlaucht, der Drachenprinz, vergnügt.« Ein schmieriger Ausdruck huschte über seine Miene, und Hulbert verzog angewidert das Gesicht. Doch noch bevor der andere Mann seinen Ekel bemerken konnte, hatte er seine Züge wieder unter Kontrolle.
»Vielleicht findet die Kreatur ja ebenfalls Geschmack an hübschen Burschen«, erwiderte Hulbert boshaft. »Umso klüger scheint mir, wenn du dich ihr auch weiterhin nicht näherst. Wir wollen sie schließlich nicht verschrecken.«
»Du willst wohl geistreich sein, wie?« Der andere Mann schüttelte hochmütig den Kopf. »Lass es lieber bleiben, allein dein Versuch ist erbärmlich.« Dann musterte er seinen Gefährten scharf. »Was bedeutet das, sie interessiert sich für den Drachenprinzen? Sollen wir ihn etwa beschatten? Dann müssten wir in den inneren Bereich des Drachenpalasts gelangen, und das ist so gut wie unmöglich. Sobald ich dort auftauche …«
»Von wir war nicht die Rede«, fiel Hulbert ihm ins Wort. Er verzog die Lippen zu einem Grinsen und genoss sichtlich seine folgenden Worte. »Obwohl die Kreatur von dir nicht allzu viel hält, hat sie dich mit einer anderen Aufgabe betraut.«
»Ach ja?« Der Argwohn in der Stimme des Mannes war unüberhörbar. »Und mit welcher?«
Hulbert warf einen Blick auf den immer heller werdenden Himmel und legte seinem Gefährten eine Hand auf die Schulter. »Du hast recht, es wird schon hell, und die ersten Drachen werden bereits aufgestiegen sein. Wir sollten zusehen, dass wir so schnell wie möglich in unsere Herberge kommen. Dort werde ich dir die Einzelheiten erklären.« Er wartete einen Moment lang, wohl wissend, dass sein Kamerad mittlerweile vor Neugier fast platzte, und landete dann den nächsten Schlag. »Nur so viel: Er will, dass du nach Ern zurückkehrst und dort …«
»Nach Ern? Aber das ist außerordentlich gefährlich! Ich bin bisher nur mit viel Glück unentdeckt geblieben. Und was sollte ich dort auch schon ausrichten, was meine Informanten nicht …?«
»Yarn Corvin vom Aern.«
»… genauso gut erledigen könnten. Wie bitte?«
»Die Kreatur will, dass du den Sohn des Edlen von Ern …«
»Ich weiß, wer Yarn Corvin vom Aern ist, danke!«, unterbrach ihn der Mann. »Was soll ich mit ihm machen?«
»… beobachtest, ihn nicht aus den Augen lässt und mir Bericht erstattest, sobald dir irgendetwas an dem Jungen auffällt. Und zwar etwas anderes als die Tatsache, dass er vielleicht gut aussieht«, setzte Hulbert gehässig hinzu. »Und du sollst auch auf alles Ungewöhnliche in seinem Umfeld achten.«
»Aber warum soll ich das tun? Meine Informanten in Ern können das genauso gut.«
»Das bezweifelt die Kreatur und ich ebenfalls. Die Informationen, die dir deine sogenannten Gewährsleute bisher geliefert haben, sind so lächerlich und vage, dass sie nahezu auf jedes Reich dieser Welt und jede Stadt zutreffen könnten. Überall häufen sich die Naturkatastrophen, überfallen Drachen Herden und sogar Felder und greifen Menschen an. Überall treten Flüsse über die Ufer, und überall machen sich die Herrscher Sorgen, wie sie das Volk daran hindern können, sich in seiner Verzweiflung zu erheben.« Er legte den Kopf auf die Seite. »Offenbar vermutet die Kreatur in Ern noch andere Kräfte am Werk und argwöhnt, dass Yarn vom Aern dabei eine entscheidende Rolle spielen könnte. Ich habe ihr versichert, dass ich nur einen Mann kenne, der herausfinden kann, ob das zutrifft. Der gerissene, gewissenlose frühere Vertraute und Spion der unglückseligen und für ihre Schandtaten getöteten ehemaligen Edlen von Ern, Raissiah Dam von Grünhaag.« Er legte dem wie erstarrt dastehenden Mann eine Hand auf die Schulter. »Sag mir nicht, mein werter Freund, dass ich mich da getäuscht habe.« Er hob vielsagend die Brauen. »Denn die Kreatur hat keinerlei Zweifel daran gelassen, wie äußerst ungnädig sie darauf reagieren würde, wenn jemand das in ihn gesetzte Vertrauen enttäuscht.« Er wartete nicht ab, bis sich sein Gegenüber von seinem Schreck erholt hatte, sondern warf erneut einen Blick zum Himmel. Dann setzte er sich in Bewegung und ging zu den beiden Pferden, die in einer kleinen Mulde außerhalb der Sichtweite des Eingangs zum Mund der Götter festgebunden waren. Die Tiere waren sichtlich nervös. »Und jetzt sollten wir uns beeilen, damit wir den Schutz der Schänke erreichen, bevor die Drachen uns überraschen können.« Als er nach einigen Schritten hörte, dass sein Gefährte ihm nicht folgte, sondern immer noch wie angewurzelt am Eingang der Höhle stand, grinste er höhnisch.
»Ich weiß, wie sehr dich mein Vertrauen und das der Kreatur ehrt, aber ich würde jetzt wirklich gerne aufbrechen, Quilotte«, sagte er, ohne sich umzudrehen. »Kommst du?«
DRAAKENTRUTZ, HOCHWACHT IM DRAAKENFRIED
»Schluss mit diesen albernen Vorwürfen und dem Gezänk! So kommen wir nicht weiter! Ich will endlich etwas Brauchbares von Euch hören, etwas, das uns weiterhilft!« Kalehna blickte noch einen Moment aus dem Fenster des Saales im obersten Stockwerk des HochWacht, des hohen Turms vom DraakenFried, auf die Stadt, ihre befestigten Mauern und die Ebene der Flammen. Dahinter lag die Bergkette, die von der schmalen Schlucht durchschnitten wurde, durch die, wie sie hoffte, in der folgenden Nacht der sehnlichst erwartete Tross kommen würde. Deshalb beunruhigte sie der Alarm, den die Posten auf den Wachtürmen vor kaum zwei Sonnenstrichen ausgelöst hatten, umso mehr. Obwohl seitdem kein einziger dunkler Fleck am Himmel zu sehen gewesen war, der auch nur Ähnlichkeit mit einem angreifenden Drachen gehabt hätte. Vielleicht war es ja ein Fehlalarm, dachte sie.
Die Gemütslage der Menschen ist angespannt, Furcht und Sorge nehmen immer mehr zu. Und seit dem letzten verheerenden Angriff der Drachen in der Zeit der Fruchtbarkeit, bei dem fast ein Drittel der Ernte zerstört oder unbrauchbar gemacht worden war, sahen die Menschen überall Drachen. Mittlerweile gab es innerhalb einer Spanne drei- bis viermal falschen Alarm. Dennoch, besser ein falscher Alarm zu viel als ein begründeter Alarm zu wenig. Unwillkürlich blickte sie zu den Ruinen von Ernhaag, der ehemaligen, einst so prächtigen Hauptstadt Erns.
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