Blutland - Kim Faber - E-Book

Blutland E-Book

Kim Faber

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein neuer Tatort in Kopenhagen: Der dritte Fall für das dänische Ermittlerduo Juncker und Kristiansen.

Martin Juncker ist gerade zur Kopenhagener Polizei zurückgekehrt, da entbrennt in der dänischen Hauptstadt ein Kampf zwischen Neonazis und Rechtsradikalen auf der einen Seite und autonomen Gruppen und Einwandererbanden auf der anderen. Dabei wird ein Neonazi erstochen, und Junckers frühere Partnerin Signe Kristiansen übernimmt die Untersuchung des Mordes. Kurz darauf wird die Leiche einer Frau in einem Naturschutzgebiet gefunden: erdrosselt und sexuell missbraucht. Martin ermittelt in diesem Fall, und zum ersten Mal seit langer Zeit arbeitet er wieder mit Signe zusammen. Denn die beiden vermuten, dass die Taten von demselben Mann verübt wurden – einem eiskalten Killer, der es vermag, auch die erfahrensten Polizisten auf die falsche Fährte zu locken.

Alle Fälle von Juncker und Kristiansen:
1. Winterland
2. Todland
3. Blutland

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 543

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Martin Juncker ist gerade zur Kopenhagener Polizei zurückgekehrt, da entbrennt in der dänischen Hauptstadt ein Kampf zwischen Neonazis und Rechtsradikalen auf der einen Seite und autonomen Gruppen und Einwandererbanden auf der anderen. Dabei wird ein Neonazi erstochen, und Junckers frühere Partnerin Signe Kristiansen übernimmt die Untersuchung des Mordes. Kurz darauf wird die Leiche einer Frau in einem Naturschutzgebiet gefunden: erdrosselt und sexuell missbraucht. Martin ermittelt in diesem Fall, und zum ersten Mal seit langer Zeit arbeitet er wieder mit Signe zusammen. Denn die beiden vermuten, dass die Taten von demselben Mann verübt wurden – einem eiskalten Killer, der es vermag, auch die erfahrensten Polizisten auf die falsche Fährte zu locken.

Die Autoren

Janni Pedersen ist Moderatorin und Kriminalreporterin bei TV2, einem der meistgesehenen Fernsehsender Dänemarks. 2018 wurde sie als beste Nachrichtensprecherin des Jahres ausgezeichnet.

Kim Faber ist Architekt und Journalist bei »Politiken«, einer der größten dänischen Tageszeitungen.

Das bekannte Journalistenpaar hat mit seinem Debüt »Winterland« einen explosiven und packenden Kriminalroman über Terror, Gewalt, Trauer und Einsamkeit geschrieben. Der SPIEGEL-Bestseller ist Auftakt der Reihe um das dänische Ermittlerduo Martin Juncker und Signe Kristiansen. Nach »Winterland« eroberten auch »Todland« und »Blutland« die dänische Bestsellerliste im Sturm.

Alle Bänder der Juncker & Kristiansen-Krimireihe:

Winterland (Juncker & Kristiansen 1)

Todland (Juncker & Kristiansen 2)

Blutland (Juncker & Kristiansen 3)

Besuchen Sie uns auch auf www.facebook.com/blanvalet und www.twitter.com/BlanvaletVerlag

Deutsch von Franziska Hüther

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »KVÆLER« bei JP/Politikens Hus, Kopenhagen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright der Originalausgabe © Kim Faber & Janni Pedersen and JP/Politikens Hus A/S 2019 in agreement with Politiken Literary Agency

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2022 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: René Stein

Covergestaltung und -motiv: www.buerosued.de

JaB · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-25791-0V004 

www.blanvalet.de

Wenn du durch die Hölle gehst, geh weiter.

29. Oktober

Kapitel 1 

Er schlägt die Augen auf und weiß nicht, wo er ist. Oder wo er war, als er das Bewusstsein verlor. Sein Mund ist trocken, ihm ist übel, und sein Kopf fühlt sich an, als stecke er in einer Schraubzwinge.

Er ist unruhig und hat Angst.

Irgendjemand wimmert, und er dreht den Kopf, aber ein Vorhang ist um die drei für ihn sichtbaren Seiten des Bettes gezogen, sodass er nichts sieht außer dem Stoff, der im Halbdunkel grau und steril erscheint.

Er schaut an sich herab. Die Decke reicht nur bis zum Bauchnabel, trotzdem hat er nicht das Gefühl zu frieren. Es fällt ihm schwer, seinen Körper zu spüren.

Auf seiner Brust kleben Elektroden, und als er den linken Arm hebt, sieht er, dass ein kleines Plastikteil an seinem Zeigefinger steckt und eine graublaue Manschette um seinen Oberarm gewickelt ist.

Plötzlich fällt ihm alles wieder ein, und er wird von einer unangenehmen Wirklichkeit direkt in die nächste geschleudert.

Er steckt die Hand unter die Decke und tastet nach seinem Glied, doch zum ersten Mal in sechzig Jahren kommt es ihm nicht wie ein Teil von ihm vor. Es ist zu einem Fremdkörper geworden.

Ein Plastikschlauch steckt in seiner Harnröhre. Er will die Decke anheben, um nachzusehen, was sie mit ihm gemacht haben, hält jedoch inne. Er traut sich nicht und zieht die Hand zurück. Obwohl er die Zähne aufeinanderpresst und sich dagegen wehrt, laufen ihm Tränen über die Wangen.

Krankenhäuser sind unbekanntes Terrain. Er war noch nie zuvor ernstlich krank und verirrte sich im Großen und Ganzen höchstens mal in eine Klinik, um andere zu besuchen. Nur ein einziges Mal ist er bislang operiert worden, und das ist über fünfzig Jahre her.

Er schließt die Augen und sieht sich selbst allein in einem langen Gang mit hellgrün gestrichenen Wänden und schwarz-weißem Terrazzoboden auf einer harten dunkelbraunen Bank sitzen. Er trägt ein weißes Hemd, das bis zu den Knien geht. Seine Füße baumeln in der Luft, die Beine schwingen nervös vor und zurück. Eine Nonne in einem langen grauen Gewand kommt auf ihn zu. Das kalte Licht der Deckenleuchten spiegelt sich in ihrer randlosen Brille, daher kann er nicht erkennen, ob der Ausdruck in ihren Augen freundlich ist, aber er hofft darauf. »So, jetzt bist du an der Reihe«, sagt sie. Er rutscht von der Bank, kommt auf zitternden Beinen zum Stehen. Sie nimmt ihn an der Hand, ihre ist kühl und trocken. Sanft, aber bestimmt führt die Nonne ihn zu einer Tür und öffnet sie. Starr blickt er ins Halbdunkel. »Mama«, flüstert er und tritt ins Zimmer.

Er schaut sich um und erblickt eine zweite Nonne, die mitten im Raum in einem grellen Lichtkegel auf einem Stuhl sitzt. Sie trägt eine dunkelgrüne Gummischürze, er kann sich schon denken, wieso sie sie anhat, und kämpft mit den Tränen, als er durch den Raum zu ihr geführt wird. Das Gesicht der Nonne ist eine bleiche Maske mit großen Augen und schmalen, zusammengekniffenen Lippen. Schweigend fasst sie ihn um die Taille, hebt ihn auf ihren Schoß und zieht ihn nach hinten. Er versucht, sich zu wehren, stemmt verzweifelt die Hände gegen das kühle, glatte Gummi um ihre Hüfte und die Oberschenkel, doch die Nonne, deren Atem nach Eukalyptusbonbon riecht, verstärkt bloß den Griff.

Die zweite kommt dazu. »Du brauchst keine Angst zu haben, Kleiner«, sagt sie, »es geht schnell, ich wette, du schaffst es nicht mal, bis zwanzig zu zählen.« Dann beugt sie sich vor und drückt ihm eine Stoffmaske auf Nase und Mund. Sie ist mit einer beißend riechenden Flüssigkeit getränkt, und er hält die Luft an, bis er nicht mehr kann und die Ätherdämpfe in seine Lunge inhaliert. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben … zehn … fünfzehn …

Er schlägt die Augen auf. Die Sache war völlig banal damals – ein denkbar simpler chirurgischer Eingriff. Niemand stirbt, weil ihm Mandeln und Polypen entfernt werden. Aber die Angst des kleinen Jungen steckt noch immer in ihm.

Und diesmal ist es schlimmer.

Er dreht den Kopf und sieht aus dem Augenwinkel das Bedienpanel über dem Kopfteil des Bettes und die vielen Apparate mit leuchtenden Kurven und Zahlen, die seine Vitalfunktionen überwachen. Er beginnt zu zittern.

Es ist viel schlimmer.

6. November

Kapitel 2 

Signe Kristiansen quetscht ihr Auto zwischen einen Streifenwagen und ein Lieferfahrzeug, dann stellt sie den Motor ab. Einen Moment lang bleibt sie mit den Händen am Steuer sitzen und starrt durch die Frontscheibe. Sie spürt immer noch das Gewicht seiner linken Hand auf der Schulter, das Gefühl von Ekel und die aufwallende Wut, die sie ums Haar die Fassung verlieren ließ. Seine diskrete Art, sie wissen zu lassen, dass sich im Laufe des einen Jahres, das sie der Abteilung für Gewaltkriminalität fern gewesen ist, nichts verändert hat. Dass ihrer beider kleines Geheimnis noch immer gewahrt ist.

Dass das Gesetz des Schweigens nach wie vor gilt.

Wie sie Troels Mikkelsen hasst.

Signe versucht, den Kopfschmerz zu ignorieren, der sich hinter ihrer Stirn bemerkbar macht. Sie öffnet das Handschuhfach, nimmt das Schild mit der Aufschrift POLIZEI he­raus und legt es hinter die Windschutzscheibe. Dann steigt sie aus und schnuppert einen Moment wie ein eifriger Jagdhund in der Luft. Augen und Kehle beginnen zu brennen, Reste des Tränengases hängen noch immer im feuchtkalten Novembernebel. Es ist kurz nach drei Uhr nachmittags, die Dunkelheit ist noch nicht hereingebrochen, aber das spielt zu dieser Jahreszeit ohnehin keine Rolle. Nacht oder Tag? So oder so fließt alles in Grautönen zusammen.

Sie schaut sich um. In der normalerweise recht ruhigen Straße von Nørrebro wimmelt es von Menschen, darunter Horden von Journalisten und Fotografen, die rastlos wie Hyänen auf der Suche nach jemandem umherstreifen, der etwas gesehen hat – oder zumindest eine Meinung hat dazu, was passiert ist. Signe hat vor einem gepflegten fünfstöckigen Gebäude geparkt. Sie schaut an der Fassade hinauf. Trotz der Kälte stehen viele Fenster weit offen, und die Bewohner haben neugierig die Köpfe herausgestreckt, um das Geschehen unten auf der Straße mitzuverfolgen. Auch wenn man, gelinde gesagt, in Nørrebro Tumult auf den Straßen gewohnt ist, arten die Dinge doch selten so aus wie bei den blutigen Ereignissen innerhalb der letzten Stunde.

Signe öffnet den Kofferraum und nimmt eine Tüte mit weißem Schutzanzug, Mundschutz und Einwegüberzügen für die Schuhe heraus. Polizisten in voller Einsatzmontur stehen schweigend in Grüppchen zusammen, und fünfzig Meter weiter parken zwei Mannschaftswagen mit leuchtendem Blaulicht quer auf der Straße. Signe fröstelt und stößt einen leisen Fluch aus, schon jetzt merkt sie, dass die Windjacke, die sie heute Morgen über einen nicht sonderlich dicken Wollpulli gezogen hat, völlig unzureichend ist. Aber sie hat ja nicht ahnen können, dass ihr erster Tag zurück an ihrem alten Arbeitsplatz so enden würde.

Sie geht auf den Balders Plads zu und kommt an vier auf dem Bürgersteig stehenden Kollegen vorbei.

»Scheiße, Kristiansen.«

Eine hochgewachsene Gestalt tritt vor und zieht die Sturmhaube aus.

»Teis«, sagt sie und schlägt dem Beamten lächelnd auf die Schulter. Im letzten Jahr, während ihrer Versetzung zur Schutzpolizei, ist sie unzählige Schichten mit Teis Olsen Streife gefahren.

»Na, schön, die Uniform wieder los zu sein?«, fragt er.

Sie zuckt mit den Schultern. »Tja … schon, auf jeden Fall. Davon abgesehen, dass ich mir gerade den Arsch abfriere.«

»Das kann ich von mir nicht gerade behaupten. Wir hatten in der letzten Stunde ausreichend Bewegung.«

»Mann, ja, kann ich mir denken.«

»Aber was machst du hier?«

»Habt ihr gar nicht Bescheid bekommen? Einer ist an seinen Verletzungen gestorben. Höchstwahrscheinlich ein Neonazi, aber er ist noch nicht eindeutig identifiziert. Anscheinend wurde er mit einem Messer erstochen. Bei ein paar weiteren ist der Zustand kritisch.«

»Ja, den Sanis war anzusehen, dass es um mehrere der Verwundeten ziemlich schlecht stand.«

»Was war eigentlich los? Die Sache scheint ja total aus dem Ruder gelaufen zu sein.«

»Kann man so sagen. Also, wir waren hier, um Claes Sidenius zu schützen, diesen rechten Vollidioten. Er hatte ordnungsgemäß eine Demo angemeldet und im Voraus verkündet, öffentlich ein paar Korane abfackeln zu wollen. Deshalb waren wir mit dreißig Mann vor Ort, um sein verfassungsmäßiges Recht zu sichern, seinen geistigen Gülle-Ergüssen freien Lauf zu lassen – um es mal freiheraus zu sagen.«

»Dreißig? Hört sich von der Größenordnung her doch eigentlich okay an.«

»Erst lief es auch gut. Jedenfalls weitgehend. Es gab natürlich eine Gegendemo … Flüchtlingssympathisanten, Bandenmitglieder und Autonome, du weißt schon, und die hatten wir so weit auch im Griff. Bis …« Er schüttelt den Kopf.

»Bis was?«

»Bis auf einmal praktisch aus dem Nichts an die drei Dutzend Neonazis vom Tagensvej anmarschiert kamen. Nicht lange, dann haben sich alle möglichen Schlägertypen und Bandenmitglieder aus der Gegend dazugesellt, und ruckzuck war Polen offen. Erst jetzt beruhigen sich die Leute so langsam wieder, von kleineren Keilereien in den Straßen mal abgesehen. Bis wir Feierabend machen können, dürfte es noch ein Weilchen dauern.«

»Weißt du, wo der Einsatzleiter ist?«

»Als ich seinen Wagen das letzte Mal gesehen habe, stand er … also, wenn du auf den Balders Plads kommst, links, am Spielplatz vorbei und dann die Baldersgade runter.«

»Wer ist es?«

»Der Einsatzleiter? Damgaard.«

»Axel Damgaard, na dann, wenigstens etwas.«

»Auf jeden Fall. Na dann, wir sehen uns, Kristiansen.«

Ein Stück weiter weist sich Signe gegenüber zwei Beamten aus, die die Leute zurückhalten. Sie taucht unter dem rot-weiß gestreiften Absperrband durch und geht Richtung Baldersgade. Die Bäume haben ihre Blätter abgeworfen, die nasse bunte Schlitterbahnen auf den genoppten Betonplatten bilden. Axel Damgaard steht neben dem Befehlskraftwagen, wie es im Amtskauderwelsch so prägnant heißt, und spricht mit einem uniformierten Beamten. Signe hat schon etliche Male mit Damgaard zu tun gehabt. Er ist bei einer langen Reihe von Einsätzen auf der Straße dabei gewesen, behält stets den Überblick und greift nie zu schwererem Geschütz als notwendig.

»Signe Kristiansen! Zurück in Zivil!«, sagt er mit einem Lächeln, das Signe erwidert.

»Jepp. Ein neues Leben hat begonnen. Na ja, wobei, was heißt neu …«

»Nein, an diesem Punkt warst du ja sozusagen schon mal. Und du bist natürlich wegen des Toten da.«

Sie nickt. »Scheint ja recht heftig gewesen zu sein.«

»Aber hallo.« Er nimmt seine Kappe ab, kratzt sich das spärliche Haar und setzt die Kappe wieder auf. »Es wird immer brutaler.«

»Und ihr musstet echt Tränengas einsetzen?«

»Ja. Selbst mit der nachrückenden Verstärkung hätten wir sie ohne das Gas wahrscheinlich nicht trennen können. Und dann hätte es ziemlich sicher noch mehr Tote gegeben.«

Signe reibt sich die Hände, um sie ein bisschen warm zu bekommen. »Wie konnten sich überhaupt so viele Nazis zusammenrotten, ohne dass wir es mitkriegen? Die sehen ja nicht eben aus wie eine Gruppe friedliebender Touristen.«

»Gute Frage. Hätten wir gewusst, dass sie im Anmarsch sind, hätten wir natürlich ganz anders reagiert.«

Sie dreht sich um und blickt über den Platz. »Wo wurde er abgestochen?«

»Da drüben, auf der anderen Seite steht eine Tischtennisplatte.«

Signe tritt ein paar Schritte zur Seite.

»Siehst du sie?«

Sie nickt. »Mhm. Vollgesprüht mit Graffiti?«

»Genau. Da haben wir ihn gefunden. Eine riesige Blutlache, nicht zu übersehen.«

»Könntest du dafür sorgen, dass der Fundort abgesperrt wird?«

»Na klar, mach ich sofort.«

Am Platz gibt es eine Kaffeebar, in der Signe schon ein paarmal gewesen ist. Tische und Bänke des Außenbereichs liegen umgeworfen über eine größere Fläche verteilt. Sie kann genauso gut hier anfangen, nach Zeugen der Messerstecherei zu fragen, und die Gelegenheit nutzen, um etwas Heißes zu trinken; doch sie bemüht sich vergeblich, weder die Gäste noch die Bedienung haben etwas gesehen, also kauft sie einen großen Latte to go und tritt wieder auf den Platz.

Allmählich wird es dunkel. Die Kriminaltechniker und Signes Kollegen aus der Abteilung für Gewaltkriminalität sind angekommen. Sie zieht ihre Schutzausrüstung über und geht hinüber zur Tischtennisplatte. Hinter der Absperrung sind zwei Techniker bereits mit der Spurensicherung beschäftigt. Signe grüßt die drei Ermittler.

»Wo kommst du denn her?«, fragt Geir Jensen, ein dürrer, humorloser Typ mit roten Haaren, der stets so aussieht, als sei er gerade aus einem Windkanal getreten. Er ist in Signes Alter, schon ewig in der Abteilung für Gewaltkriminalität, länger als Signe, und Leiter einer der drei Mordsektionen. Signe weiß nicht zu sagen, ob er fähig ist oder bloß geschickt darin, fähig zu wirken.

»Von der Kaffeebar da drüben. Ich wollte mich erkundigen, ob jemand etwas gesehen hat. Leider nein. Leitest du die Ermittlungen?«

Geir nickt. »Wir sollten wohl nicht damit rechnen, dass die Techniker allzu viel finden. Das Ganze hier ist garantiert ein Cocktail aus Blut und DNA-Material. Und soweit ich weiß, wurde keine Tatwaffe gefunden, wenn wir also ehrlich sind, dürfte unsere einzige Chance darin bestehen, jemanden aufzutreiben, der etwas gesehen hat.«

»Und dann brauchen wir außerdem so viel Glück, dass diejenigen, die eventuell etwas mitbekommen haben, uns auch davon erzählen möchten«, sagte Signe. »Auf die Bandenmitglieder sollten wir wohl besser keine großen Hoffnungen setzen, die würden sich lieber eine Hand abhacken, als uns zu helfen – selbst wenn es dazu beitragen würde, ihre Todfeinde zu stürzen. Und dasselbe gilt in der Regel für die Autonomen und die Neonazis.«

»Stimmt, aber wir kennen ja das Spiel. Ich schlage vor, wir drehen eine Runde und klingeln bei allen Wohnungen, die zum Platz zeigen. Wer weiß, vielleicht haben wir Glück, und jemand hat etwas gesehen.«

Kapitel 3 

Signe probiert es bei vier Wohnungen, ehe sie im dritten Stock Erfolg hat.

»Ja, ich habe alles mitverfolgt, oder jedenfalls das meiste«, sagt der junge Mann, der die Tür öffnet. Sein Name ist Johan Garn.

»Perfekt. Darf ich reinkommen?«

»Na klar.«

Sie gehen ins Wohnzimmer, dessen Fenster zum Balders Plads ausgerichtet sind. Signe setzt sich auf ein zerschlissenes Sofa, Johan Garn an den Esstisch.

»Ich weiß nicht, ob Sie es mitbekommen haben, aber einer der Beteiligten wurde tödlich verletzt.«

»Ja, die Zeitungen haben online davon berichtet.«

»Er wurde tot bei der Tischtennisplatte aufgefunden, die ja von Ihrem Fenster aus recht gut zu sehen ist.«

»Genau, da wurde er auch abgestochen.«

»Das haben Sie gesehen?«

»Ja.«

»Können Sie mir erzählen, was genau passiert ist?«

»Kann ich machen. Aber wollen Sie es sich nicht lieber angucken?«

»Angucken?« Signe rutscht auf dem Sofa vor. »Haben Sie …?«

»Ja, ich habe alles gefilmt.«

Sie steht auf, zieht einen Stuhl heran und setzt sich neben ihn. Er klickt ein paarmal auf seinem Laptop herum, dann dreht er das Display so, dass Signe mitgucken kann.

Die Bildqualität ist erstaunlich gut, und Signe schickt einen stillen Dank an den Gott, der für die rasend schnelle Entwicklung der Smartphone-Kameras gesorgt hat. Bei Minute zwei wird auf die Tischtennisplatte gezoomt, wo zwei Neonazis von gut zehn schwarz gekleideten Typen umringt werden. Die Nazis schlagen mit Baseballschlägern um sich, und einer der beiden hält etwas in der linken Hand, das stark nach einem Messer aussieht. Ein schwarz Gekleideter packt den Nazi von hinten, schlägt ihm das Messer aus der Hand und hält ihn fest.

»Jetzt kommt es«, sagt Johan Garn.

Eine Gestalt tritt vor den Nazi, hebt den rechten Arm auf halbe Höhe, dann blitzt etwas auf, und er sticht ihm dreimal schnell hintereinander in den Bauch. Für einen kurzen Moment scheint die Gruppe wie erstarrt. Dann wankt der Nazi drei Schritte nach vorn und fällt um.

Signes Wangen glühen. »Das Video müssen Sie mir sofort schicken«, sagte sie.

»Klar, kann ich machen. Nur … ich hatte überlegt, ob ich es nicht erst der Presse anbiete. Ein Freund von mir hat damals, als es wegen der Räumung des Jugendhauses im Jagtvej 69 zu den Krawallen kam, direkt nebendran gewohnt und gefilmt, wie sich die Polizei aus Helikoptern aufs Dach abgeseilt hat. Das Video hat er an die Presse verkauft und einen Sack voll Kohle damit verdient.«

Signe steht auf. »Vergessen Sie’s. Ein Film, auf dem zu sehen ist, wie ein Mann getötet wird … das dürfen Sie nicht der Presse zuspielen. Damit verstoßen Sie gegen diverse Bestimmungen«, sagt sie, ist sich jedoch nicht ganz sicher, ob das so wirklich stimmt. Jedenfalls fällt ihr auf Anhieb kein Paragraf im Strafgesetzbuch ein, der es verbieten würde.

»Oh, na gut«, sagt Johan Garn kleinlaut. »Ich schicke es Ihnen sofort.«

Als Signe wieder unten auf dem Platz steht, ruft sie Geir Jensen an.

»Ich hab was«, sagt sie. »Ein Anwohner hat den Mord gefilmt. Praktisch aus der ersten Reihe.«

»Na, das klingt doch gut. Kann man den Täter erkennen?«

»Nicht so richtig. Man sieht genau, was passiert, aber der Typ hat eine Kapuze auf und ein Tuch übers Kinn gezogen. Auf Anhieb lässt er sich also nicht identifizieren.«

»Hm«, sagt Geir Jensen enttäuscht. »Aber dann müssen wir das Video eben jemandem zeigen, der sich in der Szene auskennt, und hoffen, dass er ihn erkennt. Hast du eine Idee, an wen wir uns dafür wenden können? An die Kollegen von der organisierten Kriminalität?«

»Ja, vielleicht«, meint Signe. »Ich fahre nach Teglholmen.«

»Super. Dann machen wir derweil hier weiter.«

Kapitel 4 

Als Signe gestern Morgen das unscheinbare Gebäude der Kopenhagener Polizei in der Teglholm Allé 4 betrat und die Treppe zur Abteilung für Gewaltkriminalität hinaufging, hatte sie gemischte Gefühle. Die vielen Stunden auf der Station Bellahøj und im Streifendienst haben ihr nochmals in aller Deutlichkeit bewusst gemacht, was ihr ohnehin schon klar war: dass sie sich damals für eine Laufbahn bei der Polizei entschieden hatte, weil sie richtige Verbrechen aufklären wollte. Schwere Verbrechen, keine Ladendiebstähle und Verkehrsdelikte. Deshalb hatte sie sich darauf gefreut, an ihren alten Arbeitsplatz zurückzukehren. Und nicht zuletzt darauf, wieder mit Juncker und Erik Merlin zusammenzuarbeiten.

Gegraut hatte es ihr hingegen vor den täglichen Begegnungen mit Troels Mikkelsen, dem Mann, der sie vor vier Jahren in einem Hotelzimmer vergewaltigt hat. Nur einem einzigen Menschen hatte sie davon je erzählt: der Psychologin, die das Debriefing mit ihr durchführte, nachdem Signe während der dramatischen Ermittlungen in Sachen Terroranschlag auf den Kopenhagener Weihnachtsmarkt im Dezember 2016 nur Millimeter am Tod vorbeischrammte. Niemand außer der Psychologin – und Troels Mikkelsen – weiß, was in jener Nacht in dem Hotelzimmer geschehen ist.

Sie hatte gehofft, dass ein Jahr ohne die tägliche Konfrontation mit ihm ihren Hass auf ihn mildern könnte. Dass die Zeit auch diese Wunde heilen würde. Gestern war sie ihm aus dem Weg gegangen, aber heute Morgen kam er auf sie zu, mit breitem Lächeln und wie gewöhnlich umgeben von einer Wolke Aramis; und als er seine Hand auf ihre Schulter legte, wurde ihr bewusst, dass nichts sich verändert hatte. Sie spürte eine so heftige Abscheu, dass es sie selbst erschreckte.

So kann es nicht weitergehen, dachte sie.

Ihre Versetzung zur Schutzpolizei vor einem Jahr war wenig überraschend gekommen. Sie hatte sich einem unmissverständlichen Befehl widersetzt und auf eigene Faust Ermittlungen angestellt, wer dafür verantwortlich war, dass ein Terroranschlag auf den Nytorv nicht verhindert wurde, obwohl der militärische Geheimdienst zuvor eine Warnung erhalten hatte. Wer so vorgeht, handelt sich unweigerlich Ärger ein.

Glücklicherweise fiel die Disziplinarstrafe relativ milde aus, was sie ohne Zweifel ihrem Chef Merlin zu verdanken hatte. Zusätzlich zu der Versetzung rutschte sie eine Stufe auf der Rangleiter hinunter, von der Polizeikommissarin zur Polizeiassistentin ersten Grades. Zu ihrer eigenen Überraschung schmerzte es, dass die Königskrone auf ihrer Schulterklappe durch zwei Sterne ersetzt wurde, denn eigentlich hatte sie gedacht, solche Dinge seien ohne Bedeutung für sie. Aber so lernt man immer wieder etwas Neues über sich selbst, und es gab definitiv Schlimmeres.

Bevor sie vor einem Jahr die Abteilung für Gewaltkriminalität verlassen musste, hatte sie eine der drei Mordsektionen geleitet. Jetzt ist sie als einfache Ermittlerin zurück, was so gesehen auch völlig in Ordnung ist. Bloß ist sie wenig begeistert davon, einen Schreibtisch zugeteilt bekommen zu haben, der mitten in einer Bürolandschaft steht, während sie sich vormals ein Büro mit den beiden anderen Sektionsleitern teilte. Vorsichtig formuliert ist Signe Kristiansen alles andere als ein Fan von Großraumbüros. Der einzige Trost ist, dass sie neben Juncker sitzt – den sie noch gar nicht begrüßen konnte, weil er Überstunden abfeiert.

Sie nimmt eine Aufbewahrungsbox mit persönlichen Gegenständen vom Schreibtisch und stellt sie neben den Drehstuhl. Sie hat noch keine Zeit gehabt auszupacken. Die Box enthält einige Fotos von Niels und den Kindern sowie ein paar Bücher und Ordner, jedoch nicht die grüne Geldkassette mit Troels Mikkelsens Haaren und Hautschuppen sowie Einwegbechern, aus denen er getrunken hat – all das, was sie in den letzten Jahren gesammelt hat, wann immer sich die Gelegenheit bot. Die Geldkassette ist jetzt in ihrem Kleiderschrank zu Hause in Vanløse versteckt, hinter einem Stapel Pullis, die sie nie anzieht. In der Box liegt stattdessen ein Plastiktütchen, das mehrere von Troels Mikkelsens graumelierten Haaren enthält. »Für Notfälle.«

Sie öffnet ihr E-Mail-Fach, klickt auf den mitgesendeten Link, lädt Johan Garns Video herunter und spult vor. Sie schaut sich um. Vier Kollegen sitzen an ihren Schreibtischen. Signe hebt die Stimme.

»Kennt sich hier einer mit dem Bandenmilieu in der Gegend um Mjølnerparken aus?«

Ein junger Typ reckt die Hand.

»Ich. Warum?«

»Zeit, dir kurz was anzuschauen?«

Signe hat ihn noch nie gesehen, er muss einer der Neuen sein, die im letzten Jahr eingestellt wurden. Sie reicht ihm die Hand. »Ich bin Signe, ich glaube, wir kennen uns noch nicht.«

»Laust Larsen, freut mich.«

»Laust, schau dir das mal an.«

Er zieht einen Stuhl heran, und sie drückt auf Play. Eine gute Minute starren sie schweigend auf den Bildschirm. Laust richtet sich auf. Er ist mittelgroß, trägt Jeans, ein hellblaues Hemd und ein dunkelblaues Sakko, kurzes blondes Haar, die Haut rein und glattrasiert. Müsste Signe ihren jüngeren Kollegen spontan beschreiben, würde »langweilig« ganz knapp gegen »gut aussehend« gewinnen.

»Wahnsinn«, sagt er. »Das ist der Mord auf dem Balders Plads, oder?«

Sie nickt. »Erkennst du den Typen mit dem Messer zufällig?«

Er schüttelt langsam den Kopf. »Nein, nicht wirklich.«

»Kommt dir kein bisschen bekannt vor?«

»Schwer zu sagen, die haben ja alle ihre Kapuzen hochgezogen. Ein paar von den anderen kenne ich, glaube ich, aber den Täter nicht. Man sieht ja auch kaum etwas von seinem Gesicht.«

»Nein, leider nicht.«

Er steht auf. »Es wäre wohl gut, wenn das Video nicht an die Öffentlichkeit gelangt. Man kann ja leicht erkennen, aus welcher Wohnung gefilmt wurde, und das könnte schnell problematisch für die Leute werden, die dort wohnen.«

»Das stimmt. Ich habe dem Mann, der das Video aufgenommen hat, auch gesagt, dass er es auf keinen Fall weiterschicken darf. Danke dir.«

»Gerne.« Damit geht Laust zurück an seinen Platz.

Signe nimmt ihr Handy und wählt eine Nummer, die sie schon lange nicht mehr gewählt hat. Es klingelt fünfmal, dann antwortet eine Stimme, so sonor und wohlmoduliert, dass sie schon überlegt hat, sie als Klingelton zu verwenden.

Die Eltern von X stammen aus dem Irak. Er ist in Mjølnerparken aufgewachsen, nur einen Steinwurf vom Balders Plads entfernt, studierter Elektroingenieur, inzwischen aber als Imam tätig. Signe hatte zum ersten Mal vor fünf Jahren mit ihm zu tun, als sie in einem Fall von Ehrgewalt in einer palästinensischen Familie ermittelte. X arbeitete in einer Organisation, die Opfer von solchen Verbrechen unterstützt, und half Signe, den Fall aufzuklären. Er war charmant, weltgewandt und gebildet wie nur wenige andere in ihrem Bekanntenkreis – und dazu der attraktivste Mann, dem sie je begegnet ist. Seitdem ist X Signes beste Quelle in Bezug auf alles, was sich im Migrantenmilieu in Nørrebro abspielt, wo er enormen Respekt genießt.

Sein richtiger Name lautet Abdal-Aziz Hassan, doch selbst für einen Mann mit seinem Ansehen wäre es gefährlich, käme heraus, dass er mit einer Polizistin in Verbindung steht. Deshalb hat Signe seinen wahren Namen noch nie benutzt oder erwähnt, nicht einmal gegenüber ihren Kollegen. Sicherheitshalber nennt sie ihn auch selbst im Geiste immer nur X.

»Lange nicht mehr gehört, Signe. Ich dachte schon, du hättest mich vergessen.«

Sie lächelt. »X, wie könnte ich dich vergessen?«

»Ha. Mit Schmeicheleien kommst du bei mir nicht weiter, das weißt du.«

Sie hört an seiner Stimme, dass er ebenfalls lächelt.

»Aber was kann ich für dich tun? Oder willst du mich einfach nur sehen und Kaffee trinken?«

»Klar, ich will immer gern Kaffee mit dir trinken. Nein, es gibt da tatsächlich etwas, wobei du mir vielleicht helfen kannst.«

»Etwas, das mit dem Balders Plads zu tun hat, würde ich tippen.«

»Richtig getippt. Wir haben den Mord auf Video. Ich muss den Täter identifizieren. Kannst du mir dabei helfen?«

»Ich kann’s versuchen. Der Tote war Neonazi, richtig?«

»Er ist noch nicht eindeutig identifiziert, aber ja, so sieht es auf dem Video aus. Und es sieht auch so aus, als wäre der Täter …« Signe sucht nach dem richtigen Wort.

»Einer von uns, ein Kanake«, sagt X säuerlich.

»… jemand mit Migrationshintergrund«, beendet Signe den Satz.

»Anyway, Neonazis sind ja auch in gewisser Weise Kinder Gottes, und Morde müssen aufgeklärt werden. Ich nehme an, du willst mir das Video nicht schicken?«

»Ungern. Wo können wir uns treffen?«

»Ich bin in Malmö, Familie besuchen, aber ich fahre heute Abend zurück. Also morgen. Früher Vormittag?«

»Super.«

Sie verabreden sich für neun Uhr in einem Café am Sorte­dam Dossering. Als Signe aufgelegt hat, bückt sie sich und stellt die Box auf den Tisch, drapiert die Fotos von Niels und den Kindern und sortiert anschließend die Bücher und Ordner ins Regal. Das Tütchen mit den Haaren legt sie vor sich auf den Tisch. Einen Moment sitzt sie da und starrt darauf. Dann steckt sie das Tütchen in ihre Tasche.

Kapitel 5 

Sie hätten eine nervenerhaltende Operation durchgeführt, hatte der Oberarzt der Urologie im Herlev Hospital Juncker am Tag nach der OP im Entlassungsgespräch erklärt.

»Nervenerhaltend? Was heißt das?«

»Hat man Sie vor dem Eingriff nicht aufgeklärt?«

»Kann schon sein. Ja, bestimmt«, murmelte er hilflos, statt zuzugeben, wie es wirklich war: Er hatte nicht den Hauch einer Erinnerung an die Tage, bevor er unters Messer kam.

»Bei einer nervenerhaltenden Operation entfernen wir nur die Prostata, nicht aber das umliegende Gewebe, wodurch wir die Nerven schonen. Dieses Verfahren war möglich, da wir anhand der Ultraschallaufnahmen davon ausgehen können, dass sich der Tumor nicht ausgedehnt hat. Und das ist natürlich gut. Unter anderem weil …«

»Weil was?«

»Na ja, weil so auch weiterhin die Chance besteht, dass Sie eine Erektion bekommen können.«

Juncker räusperte sich. »Eine Chance?«

»Ja, eine Chance. Und zwar eine gar nicht mal so kleine, würde ich sagen. Ist gut möglich, dass Sie … wie soll ich es ausdrücken … die Flagge zumindest wieder auf Halbmast hissen können.« Der Oberarzt lächelte schief. »Dafür würden viele Männer, denen die Prostata entfernt wurde, einiges geben. Sie werden beim Orgasmus auch keinen Samenerguss mehr haben.« Er sah Juncker eindringlich an. »Sagen Sie, all das hat man Ihnen doch erklärt, oder?«

Juncker nickte. Ja, mit Sicherheit. Und er hatte sein Bestes getan, es zu verdrängen, was ihm offenbar außerordentlich gut gelang. Der Arzt schaute in die Unterlagen, die vor ihm auf dem Tisch lagen.

»Ihre Werte sehen gut aus. Aber wie fühlen Sie sich? Rein körperlich?«

Total beschissen, dachte er. Er fühlte sich mindestens zehn Jahre älter. »Ich bin müde. Wahnsinnig müde«, sagte er. »Mir tut der Bauch weh. Und die rechte Schulter.«

»Das ist ganz normal. Immerhin haben wir insgesamt sechs kleinere Einschnitte unterhalb des Nabels gemacht, durch die wir die Kamera und chirurgischen Instrumente eingeführt haben. Minimalinvasiv oder auch ›Schlüssellochmethode‹ nennt man das. Und die Schmerzen in der Schulter rühren daher, dass wir den Bauchraum mit CO2 gefüllt haben, um ihn aufzublähen und auf diese Weise besser arbeiten zu können. Dadurch wird das Zwerchfell gereizt, was typischerweise zu Schmerzen in der rechten Schultergegend führt. Die verschwinden recht schnell wieder. Bis dahin bekommen Sie natürlich Schmerzmittel.«

Juncker hatte den heftigen Wunsch verspürt, Charlotte neben seinem Bett sitzen zu wissen. Zu spüren, wie sie seine Hand nahm und ihm ohne Worte zeigte, dass nichts und niemand ihnen etwas anhaben konnte, solange sie beide zusammen waren. Dass es keine Rolle spielte, wenn er womöglich keine Erektion mehr bekam; es gab andere Arten, sich nahe zu sein. Doch dann war erneut die Wut in ihm hochgekocht, wie immer, wenn er sich nach ihr sehnte, was mehrmals am Tag vorkam. Nein, verdammt, auf ihr Mitleid konnte er gut und gern verzichten.

»Der Blasenkatheter wird in einer Woche entfernt«, fuhr der Arzt fort. »Dazu kommen Sie in unsere Ambulanz. Der nächste Termin ist dann die Kontrolluntersuchung in drei Wochen. Bis dahin haben wir auch den histologischen Befund.«

Juncker rutschte auf dem Stuhl herum, um eine Position zu finden, die nicht schmerzte. »Histologischer Befund?«

»Durch die histologische Analyse des entfernten Prostatagewebes erhalten wir ein genaues Bild davon, wo der Tumor sitzt und ob er restlos entfernt werden konnte. Anschließend werden wir eine Blutuntersuchung durchführen, um den PSA-Wert zu bestimmen, der möglichst bei null oder höchstens knapp darüber liegen sollte.«

»Und wenn er das nicht tut?«

Der Arzt wiegte den Kopf. »Tja, dann haben wir ein Problem.« Er schaute auf die Uhr und klatschte auf den Tisch. »Aber jetzt wollen wir uns mal nicht voreilig Sorgen machen. Es gibt allen Grund zur Annahme, dass die Operation erfolgreich war. Haben Sie sonst noch Fragen?«

Juncker hob den Blick und sah dem Arzt in die Augen. »Ist der Krebs weg?«

»Das lässt sich noch nicht sagen.« Der Arzt lächelte. »Aber die Chancen stehen gut.«

Juncker nickte. Sollte er nun erleichtert sein? Vermutlich schon. Vor allem, wenn man bedachte, dass er seine Symptome viel zu lange ignoriert hatte. Dass er sich erst zusammengerissen und einen Arzt aufgesucht hatte, als sein Urin schon aussah wie Campari Soda.

Er hatte wirklich unfassbares Glück gehabt, dass der Krebs sich offenbar noch nicht ausgebreitet hatte.

Der Arzt stand auf. »Haben Sie jemanden, der sich in nächster Zeit ein wenig um Sie kümmern kann? Jemanden, mit dem Sie sprechen können?«

»Ja«, log er.

»Gut. Denn das werden Sie wahrscheinlich nötig haben.«

Das Gespräch mit dem Arzt liegt nun eine Woche zurück. Der einzige Mensch, mit dem er seither gesprochen hat, ist die Kassiererin im Supermarkt die drei Male, die er das Haus verlassen hat, um einkaufen zu gehen. Die Zahl der insgesamt zwischen ihnen gewechselten Worte beläuft sich auf zwölf:

»Beleg?«

»Können Sie wegschmeißen.«

Mal drei.

Es war die längste Woche seines Lebens.

Sechs Monate ist es her, seit er von Sandsted zurück nach Kopenhagen gezogen ist. Charlotte und er hatten sich darauf geeinigt, es noch einmal miteinander zu versuchen, weil beide überzeugt waren, den anderen noch immer zu lieben, und es damit eine Basis gab, auf der sie aufbauen konnten. Außerdem waren sie Großeltern geworden. Also zog Juncker zurück in das Haus in den Kartoffelreihen, wie die Reihenhaussiedlung am Rande der Kopenhagener Innenstadt auch genannt wird.

Fünf Monate ist es her, seit Charlotte gemerkt hat, dass es doch keine so gute Idee war.

Deshalb ist er zur Untermiete in eine Zweizimmerwohnung in Kopenhagen-Nordvest eingezogen, die frei geworden war, weil ein junger Kollege für ein paar Jahre bei Europol in Den Haag arbeitet. Junckers Erbe von seinen Eltern würde zwar reichen, um sich selbst etwas zu kaufen, aber zu diesem Projekt hat er sich bis jetzt noch nicht aufraffen können. Schon gar nicht im Moment.

Vor der Operation hatte er nirgends Schmerzen gehabt oder sich unwohl gefühlt. Da war nur die Sache mit dem Pinkeln, die ihm Probleme bereitete, und zum Schluss dann das Blut im Urin. Aber an die Schwierigkeiten beim Wasserlassen hatte er sich gewöhnt, es war zum Normalzustand geworden, außerdem ging es den meisten älteren Männern ähnlich. Alles in allem geht es ihm jetzt also schlechter als vor der OP. Genau genommen schlechter denn je zuvor.

Die Schmerzen und die Müdigkeit nach dem Eingriff waren allerdings nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war der Katheter – schon der bloße Gedanke daran! Und der Beutel am Bein, das warme Gefühl, wenn seine Blase sich entleerte. Die physische Erinnerung an den Stand der Dinge. Der hoffentlich nur temporäre Verlust der Kontrolle über die Körperfunktionen, derer er von sehr klein auf Herr gewesen war.

Er konnte es kaum ertragen, sich selbst anzuschauen. Die beiden Male, die er in der letzten Woche duschen war, hat er fast mit geschlossenen Augen durchgeführt.

»Sie müssen Kneifübungen machen, um den Beckenboden zu trainieren«, sagte die Krankenschwester der urologischen Ambulanz ihm heute Vormittag, nachdem sie endlich den Katheter entfernt hatte.

Kneifübungen? Beckenboden? Er hatte keine Ahnung gehabt, dass auch Männer mit so einem Teil ausgestattet sind.

Sie konnte offenbar seine Gedanken lesen. »Viele Männer glauben, nur Frauen hätten einen Beckenboden. Aber das stimmt nicht. So wie Inkontinenz kein reines Frauenproblem ist«, sagte sie lächelnd und erklärte ihm, wie er die Übungen ausführen sollte und warum. »Jetzt am Anfang gewöhnen Sie sich am besten feste Zeitabstände fürs Pinkeln an. Bis Sie die neue Situation im Griff haben. Und ich würde Ihnen raten, ein paar Einlagen zu kaufen, nur zur Sicherheit. Ich gebe Ihnen eine Packung mit, neue können Sie dann in der Apotheke besorgen.«

Einlagen?

Juncker verließ die urologische Ambulanz am Rande einer handfesten Depression.

Er steht vom Sofa auf, stellt sich zum Gott weiß wievielten Mal ans Wohnzimmerfenster und schaut hinaus. Selbst an einem strahlenden Sommertag würde das alte Arbeiterviertel trist aussehen. Doch ungeachtet der trostlosen Atmosphäre wohnt Juncker gern hier. Die Gegend um den Bahnhof Nørreport ist einer der wenigen Orte in Kopenhagen, die von Gentrifizierung, explodierenden Immobilienpreisen und übereifrigen Stadtplanern bislang weitgehend unberührt geblieben sind. Die anarchistische Mischung aus sanierungsbedürftigen Wohngebäuden, Autowerkstätten, Fabrikanlagen von Novozymes, verschiedenen Ausbildungsinstitutionen, der großen schiitischen Moschee und einer kleinen Handvoll Lokale, die noch nicht von bärtigen Baristas und hohlwangigen Veganern übernommen worden sind … das alles erinnert Juncker an die vielseitige Stadt, die er schon immer geliebt hat, von der es aber zunehmend weniger gibt.

Er überlegt, ob er Karoline anrufen soll. Aber was soll er ihr sagen? Er weiß, dass sie selbst durchs Telefon die winzigste Schwankung in seinem Gemütszustand registrieren kann, und so labil, wie er gerade ist, würde sie sofort spüren, dass irgendetwas faul ist. Und Kasper? Nein. Was bringt es, seinen Kindern zu erzählen, dass er krank ist? Außer, dass sie sich Sorgen machen.

Er hat den Arzt gefragt, wann er wieder anfangen könne zu arbeiten. Er solle einfach auf seinen Körper hören, dann würde er schon merken, wann er sich wieder bereit fühle, antwortete der. Außerdem solle er in der ersten Zeit möglichst nicht niesen, husten, lachen, rennen oder schwer heben. Das mit dem Lachen erledigt sich von selbst, dachte Juncker zynisch, und das Schwerste, was er bei der Arbeit hebt, sind die Papierstapel, die er auf seinem Schreibtisch herumschiebt.

Also heißt es morgen zurück zur Arbeit. Noch einen Tag länger in der Wohnung allein mit seinen Gedanken, und sie können ihm die Zwangsjacke anlegen und ihn einweisen.

Er hat die Wohnung sparsam möbliert übernommen. Im Regal stehen keine Bücher, dafür aber jede Menge CDs. Das Einzige, was Juncker bisher neben seiner Kleidung, einigen wenigen persönlichen Habseligkeiten und einem Umzugskarton aus dem Haus in den Kartoffelreihen mitgenommen hat, sind die CDs und seine Anlage. Letzteres hat Charlotte sicher gefreut; sie hat seine großen schwarzen Harman-Kardon-Lautsprecher, die ihn treu durch einen Großteil seines Erwachsenenlebens begleitet haben, schon immer gehasst.

Er zieht Heroes heraus, legt die CD ein und lehnt sich auf dem Sofa zurück. Mit seiner Stimmung von Verfall und Untergang passt das Album beinahe perfekt an diesen Ort.

In der vergangenen Woche hat er seinen Rotweinkonsum drastisch reduziert, oder besser gesagt: Er hat keinen Tropfen angerührt. Jetzt aber spürt er ein heftiges Bedürfnis, wieder ein wenig Normalität in sein Leben zu bringen. Er überlegt, ob er in der Kneipe an der Ecke vorbeischauen soll, in die er schon häufiger gegangen ist, seit er hier lebt. Aber es ist vielleicht ein bisschen arg gewagt, die Funktionsfähigkeit seines Schließmuskels an einem öffentlichen Ort auszutesten. Wenn es im wahrsten Sinne des Wortes in die Hosen geht, ist es immer noch besser, es passiert zu Hause. Er geht in die Küche und greift zu dem Drei-Liter-Karton auf der Anrichte, überlegt es sich jedoch anders. Heute besteht ja wohl Grund zum Feiern, wo er nun endlich diesen verfluchten Katheter los ist. Er öffnet den Kühlschrank, nimmt eine Flasche amerikanischen Pinot noir heraus, die er teuer erstanden hat, und geht damit ins Wohnzimmer.

Es schmeckt so gut, dass ihm die Tränen kommen, und zu den Klängen von Bowies Berlin-Trilogie leert er die ganze Flasche. Dreimal muss er pinkeln und stellt zu seiner unendlichen Erleichterung fest, dass er sowohl deutlich spürt, wann er muss, als auch halbwegs im Griff hat, wann das Wasserlassen erfolgen soll. Dass er tatsächlich, wie der Arzt es ausgedrückt hat, »anspannen und dichthalten« kann. Er schickt einen tiefen Dank und das Versprechen ewiger Treue an seinen neuen Freund, Mr. Beckenboden – der sich anonym und ohne Aufmerksamkeit zu fordern straff und in Form gehalten hat, trotz des allmählichen und unaufhaltsamen Verfalls des restlichen Körpers.

Er schaut in den Badezimmerspiegel. Murmelt beinahe lautlos: »Es wird schon.«

Zurück im Wohnzimmer schaltet er den Laptop ein, setzt sich an den Esstisch und googelt »Prostatakrebs«. Sie haben diese Seite schon mehrfach aufgerufen, steht unter den meisten Treffern. Eine Weile sitzt er wie versteinert da. Dann klappt er den Laptop zu.

Es wird ein langer Abend und eine lange Nacht werden.

7. November

Kapitel 6 

X ist schon da und winkt ihr von einem Tisch in der hintersten Ecke des Cafés zu. Signe bestellt einen großen Latte und ein Schokocroissant. Als sie an den Tisch kommt, steht er auf und gibt ihr die Hand. In seine Haare haben sich ein paar graue Strähnchen geschlichen, auch der Bart hat ein paar graue Streifen, seit sie sich das letzte Mal gesehen haben. Wie üblich trägt er einen schwarzen Anzug, der wie angegossen sitzt, und ein schneeweißes Hemd, dessen oberster Knopf offen ist. Die Schuhe sind so schwarz und blankpoliert, dass man meinen könnte, er wäre hierhergeflogen. Das ist seine Uniform. Auf dem Stuhl neben ihm liegt ein schwarzer Mantel, natürlich sorgsam zusammengelegt.

Signe trägt Jeans, Sweatshirt und eine unförmige Daunenjacke. Die Füße stecken in gefütterten Stiefeln mit dicker Gummisohle, deren positivste Eigenschaft ist, warm und wasserfest zu sein. Wie immer in Gesellschaft von X kommt sie sich vor wie Restware in einem Secondhandladen.

»Schön, dich zu sehen, Signe. Es ist lange her«, sagt er und lächelt.

Signes Herz macht einen Hüpfer. »Gleichfalls. Ja, wann war das letzte Mal?«

Er überlegt. »War das nicht in Verbindung mit dem Terroranschlag?«

»Das müsste hinkommen. Also vor fast zwei Jahren.«

»Wahnsinn, zwei Jahre.« Er schüttelt ungläubig den Kopf. »Die Zeit vergeht schnell. Wie geht es deinem Mann? Und den Kindern?«

»Gut. Anne steckt mitten in der Pubertät, und bei Lasse ist es auch bald so weit. Und deiner Familie?«

»Auch gut. Der Älteste kommt nächstes Jahr in die Oberstufe. Falls der Fußball nicht dazwischenfunkt. Er spielt wirklich gut, und die großen Vereine umschwärmen ihn schon.«

»Bist du nicht irre stolz?«

»Doch … natürlich. Ich mache mir nur Sorgen, dass dadurch die Schule zu kurz kommt.«

»Meinst du nicht, er schafft beides? Wenn er nach dir schlägt?«

»Hoffentlich. So, was soll ich mir anschauen?«

Signe zieht ihren Laptop aus der Tasche und rutscht mit ihrem Stuhl neben X. Sie tippt ihr Passwort ein und öffnet das Video. Es ist auf lautlos gestellt. Eine Minute lang schauen sie schweigend zu, wie die gewaltsamen Ereignisse über den Bildschirm laufen. X hebt die Hand.

»Kann ich das noch mal sehen?«

Signe spult zurück. Als der Angriff vorbei ist, lehnt X sich mit verschränkten Armen zurück.

»Erkennst du den mit dem Messer?«, fragt Signe.

»Ich habe jedenfalls eine Vermutung.«

»Und zwar?«

X räuspert sich. »Es könnte Jamaal Rashad sein. Sagt dir der Name etwas?«

Signe überlegt. »Schon mal gehört, ja. Aber ich glaube, ich habe ihn noch nie getroffen.«

»Er ist in letzter Zeit im Rang aufgestiegen. Wie du ja weißt, gab es einen ziemlich heftigen internen Konflikt bei den Brothas, sodass die Bande jetzt gesplittet ist: in die alten Brothas und in die NNV. Das steht für Nørrebro und Nordvest. Jamaal ist jetzt Captain der NNV.«

»Captain? Also zweiter Befehlshaber?«

»Sie sind ziemlich lose organisiert, aber so was in der Art, ja.«

»Woher kennst du ihn?«

»Er war in einen Fall von Ehrgewalt verwickelt, bei dem es um seine große Schwester ging. Das war vor acht oder neun Jahren. Sie hat sich geweigert, einen Cousin zu heiraten, den die Familie für sie ausgesucht hatte, und war ganz generell etwas rebellisch; hat sich geweigert, ein Kopftuch zu tragen, Salman Rushdie und Ayaan Hirsi Ali gelesen, solche Sachen«, sagt er und fügt nach einer kurzen Pause hinzu: »Bei der Familie handelt es sich um Palästinenser.«

Signe zuckt mit den Achseln. »Warum bin ich nicht überrascht?«

»Tja, aber bei den Nordafrikanern sieht man auch Fälle von Ehrverbrechen. Bei den Pakistanern genauso. Und bei den Irakern und Iranern. Wie auch immer: Die Schwester wurde bedroht und verfolgt, sodass sie zum Schluss untertauchen musste, weil sie um ihr Leben fürchtete. Sie hat lange in einem Safe House irgendwo in Jütland gelebt. Jamaal war ganz klar der Bedrohlichste in der Familie. Seiner Schwester, aber auch mir gegenüber und denen, mit denen ich zusammenarbeite.«

»Lebt ihre Familie immer noch in Mjølnerparken?«

»Die Eltern sind weggezogen, mir fällt gerade nicht ein, wohin. Ich meine, der Vater ist inzwischen verstorben.«

»Und Jamaal?«

»Er wohnt immer noch in Mjølnerparken.«

»Okay. Bist du dir sicher, dass er es ist?«

X überlegt einen Moment. Dann schüttelt er leicht den Kopf. »Nicht zu einhundert Prozent.«

»Aber was lässt dich glauben, dass er es ist?«

»Zunächst mal Größe und Statur. Jamaal ist recht groß gewachsen, aber kein solches Muskelpaket wie sonst viele von ihnen. Außerdem zieht er das rechte Bein nach. Vor einem halben Jahr war er in eine Messerstecherei involviert, bei der ihm in den Fußballen gestochen wurde.«

»In den Fußballen? Reichlich komische Stelle.«

X lächelt schief. »Das ist zurzeit in Mode bei den Banden. Die neue Form der Rache, wenn man gedemütigt wurde. Es ist äußerst schmerzhaft und wird als besonders entwürdigend für das Opfer und dementsprechend große Genugtuung für den Täter aufgefasst. Und sollte der Messerführende in Polizeigewahrsam genommen werden, kann er nicht wegen Tötungsversuchs belangt werden, denn so unangenehm ein Messerstich in den Ballen auch ist, sterben tut man nicht daran.«

Signe schüttelt den Kopf. »Mann, Mann, das ist echt ’ne schräge Welt.«

Eine Weile schweigen sie.

»Die äußerlichen Merkmale, die du genannt hast, bringen uns schon mal weiter, aber es dürfte kaum reichen, um ihn festzunageln. Gibt es nicht noch irgendetwas anderes, das auf ihn hindeutet?«, fragt Signe dann.

»Spiel den Clip noch mal ab.«

Signe drückt auf Play.

»Stopp.« X beugt sich vor und studiert die rechte Hand des Täters, mit der er das Messer führt.

»Schau dir mal die Tätowierung hier an. Das könnte doch ein C sein, oder? C wie in Captain.«

Signe geht näher an den Bildschirm heran. »Stimmt, sieht so aus.«

»Ich bin ziemlich sicher, dass er es ist.« X schweigt einen Moment. »Das ist ungewöhnlich«, sagt er dann.

»Was?«

»Dass hochrangige Bandenmitglieder so etwas wie das hier tun. Um die Drecksarbeit kümmern sich normalerweise die einfachen Fußsoldaten.«

»Stimmt. Aber es war ja keine normale Situation, die sie im Voraus planen konnten. Sie waren im Adrenalinrausch, und da tut man manchmal unüberlegte Dinge.«

X nickt und schaut zu den großen Fenstern des Cafés. Er zieht die Brauen zusammen, dann rutscht er tiefer in den Stuhl, als wolle er sich hinter Signe verstecken. Sie dreht den Kopf und blickt in dieselbe Richtung.

»Was ist los?«, fragt sie.

»Da kam gerade jemand aus Mjølnerparken vorbei.«

»Ein Bandenmitglied?«

»Nein.«

»Hat er dich gesehen?«

»Ich glaube nicht. Hoffentlich nicht.«

»Aber selbst wenn er dich erkannt hat, muss das nicht heißen, dass er auch mich erkannt hat. Zumal ich seitlich zum Fenster saß.«

X nickt. »Hoffentlich hast du recht.«

»Wie ist so ganz generell die Stimmung da draußen?«

»Nicht sonderlich gut. Es herrscht große Verbitterung wegen des neuen Ghetto-Gesetzes. Viele empfinden es als Ausdruck von Rassismus und Diskriminierung seitens der Regierung. Die Leute haben Angst, dass sie jetzt zwangsumgesiedelt werden, was ich durchaus verstehen kann.«

»Ich auch«, sagt Signe. »Aber … was soll ich sagen, es braucht wohl drastische Mittel, wenn die Strukturen wirklich aufgebrochen werden sollen.«

»Ja, schon. Aber die Kommunen haben diese Viertel jahrelang als soziale Mülleimer benutzt, und erst wenn die Probleme zu groß geworden sind, greift man ein und zerstört die Existenz etlicher Menschen, die nichts mit Bandenkriminalität zu tun haben. Das geht einfach nicht.« X trinkt seinen Kaffee aus und schaut auf die Uhr. »Tja, aber daran können weder du noch ich etwas ändern. Ich muss jetzt los.« Er steht auf und zieht seinen Mantel an. »Signe, ich weiß, wie vorsichtig du bist. Aber du darfst wirklich nicht mal im Entferntesten andeuten, dass ich dich auf Jamaal Rashad hingewiesen habe. Wenn das rauskommt, bin ich ein toter Mann.«

»Natürlich. Du weißt, ich passe auf. Niemand, wirklich niemand weiß, wer X ist.«

Er schüttelt ihr die Hand. »Mach’s gut, bis wir uns wiedersehen.«

Signe klopft an die Tür zu Geir Jensens Tür und spürt einen Stich von Neid, als sie ihn auf dem Platz sitzen sieht, der früher ihrer war.

Er schaut von seinem Bildschirm auf.

»Ja, Signe?«

Sie setzt sich. »Wir können dem Messerstecher jetzt einen Namen zuordnen. Oder zumindest haben wir eine Vermutung.«

»Sehr gut, und wer ist es?«

»Ein Typ namens Jamaal Rashad.«

Geir runzelt die Stirn. »Jamaal Rashad?« Er legt die Hand auf die Maus und klickt ein paarmal. »Ha«, sagt er dann. »Dachte ich doch, dass mir der Name bekannt vorkommt. Er ist einer von denen, die wir gestern in Gewahrsam genommen haben. Woher hast du seinen Namen?«

»Von einem Informanten.«

Geir nickt. »Ist dein Informant sicher?«

»Nicht hundertprozentig. Aber ich kenne den Betreffenden gut. Er würde es nicht sagen, wenn er sich nicht so gut wie sicher wäre.«

»Okay.« Geir schaut auf sein Handy. »Die Anhörung von Rashad und neun weiteren beginnt in Kürze. Fährst du zum Gericht?«

»Ich mach mich sofort auf den Weg.«

Signe parkt auf dem Nytorv. Als sie über den Platz geht, steigt ihr Puls, wie immer, wenn sie an dem Ort ist, wo vor bald zwei Jahren eine Bombe in die Luft ging und neunzehn Menschen in den Tod riss. Das Bild des kleinen, blutbefleckten Kinderstiefels, den sie wenige Stunden nach der Explosion auf den Pflastersteinen liegen sah, erscheint vor ihrem inneren Auge. Es hat sich auf ewig in ihre Netzhaut eingebrannt.

Sie geht am Haupteingang des Gerichtsgebäudes mit seinen sechs ionischen Säulen vorbei und biegt in die Slutterigade ab. Am Eingang zum Annex, wo die Anhörungen stattfinden, stehen vereinzelte Grüppchen von Männern, und zwischen ihnen und der Tür zehn Polizisten mit automatischen Schusswaffen in den Händen. Signe bemerkt, dass die Gesichter von mehreren der Personen zum Teil verhüllt sind, ein offensichtlicher Verstoß gegen das Vermummungsverbot, aber es dürfte eine kluge Entscheidung ihrer Kollegen sein, heute mal darüber hinwegzusehen.

Sie geht an der Schlange vorbei zur Sicherheitskontrolle und zeigt dem Personal ihren Ausweis. Auf der Treppe zum Gerichtssaal 22 sitzt eine Horde Journalisten mit ihren Laptops auf den Knien. Die Anhörungen finden offenbar unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, der Presse wurde also der Zugang zum Saal verwehrt. Die Polizei ist davon allerdings ausgenommen, und so geht Signe hinein. Sie setzt sich in die erste Reihe der Zuschauerplätze, sucht den Blick der Staatsanwältin Anne Marie Olsen und gibt ihr so diskret wie möglich ein Time-out-Zeichen. Die Anklägerin nickt und beantragt eine zehnminütige Pause bei der Richterin.

»Ich habe etwas für Sie«, sagt Signe, als Anne Marie Olsen zu ihr kommt. Die beiden haben schon in mehreren Fällen zusammengearbeitet. Signe reicht ihr einen USB-Stick und erklärt mit gedämpfter Stimme, was darauf ist. Anne Marie Olsen geht zu ihrem Platz und steckt den Stick in ihren Laptop. Signe sagt ihr, ab welcher Minute im Video die entsprechende Szene zu sehen ist, und die Staatsanwältin sieht es sich an.

»Und ihr seid euch sicher, dass es Jamaal Rashad ist?«, fragt sie.

»Wir haben die starke Vermutung.«

»Okay. Wir beschuldigen ihn zunächst einmal der Körperverletzung mit Todesfolge.«

Zehn Minuten später quetscht sich Signe die Treppe mit den vielen Journalisten hinunter. Rashad wurde in Untersuchungshaft genommen. Jetzt wissen wir zumindest, wo wir ihn in den nächsten Wochen haben, denkt sie.

Kapitel 7 

Signe geht in die Küche, um sich einen Kaffee in ihrem Becher mit dem großen schwarzen S zu holen, den anzurühren sie jedem in der Abteilung strengstens untersagt hat. Auf dem Weg zurück prallt sie um ein Haar frontal mit Juncker zusammen.

Für ein paar Sekunden stehen die beiden sich wie zwei Fremde gegenüber. Sie weiß, wie sehr er es hasst, von anderen als seinen engsten Familienangehörigen berührt zu werden, aber sie ignoriert es und greift seinen linken Oberarm.

»Gut, dich zu sehen«, sagt sie, lächelt und schüttelt seinen Arm ganz leicht. Bei seinem müden, abgezehrten Anblick zerreißt es ihr das Herz. Normalerweise ist er ohnehin schon hager und ausgemergelt, nun hat er nochmals an Gewicht verloren. Die Furchen um den Mund haben sich tiefer gegraben, das Gleiche gilt für die Falten auf der Stirn. Die Haare sind grauer. Und der Ausdruck in seinen Augen …

»Wie geht’s dir?«, fragt sie in aufgesetzt lockerem Ton.

Juncker wendet den Blick ab und schaut zu Boden. »Sehr gut. Du weißt …«

»Du hast Überstunden abgebaut, hab ich gehört? Warst du verreist?«

»Nein, ich war nur zu Hause. Oder was heißt zu Hause …« Sein Blick driftet ab. »Du weißt, dass Charlotte und ich uns scheiden lassen?«

»Ja. Charlotte hat es mir erzählt. Tut mir leid.«

»Sprecht ihr beiden oft?«

»Na ja, oft kann man nicht gerade sagen. Wir trinken ab und an ein Glas Wein zusammen. Nach allem, was vorletzten Sommer passiert ist, sind wir …« Freundinnen trifft es vielleicht nicht ganz, aber ihr fällt kein passenderer Begriff ein. »… so etwas wie Freundinnen geworden, kann man wohl sagen.«

Juncker nickt. »Dann weißt du auch, dass ›zu Hause‹ nicht länger Kartoffelreihen bedeutet. Ich habe eine Wohnung in Nordvest gemietet.«

»Ja, ich weiß.« Schweigen. Sie wechselt das Thema. »Ich habe den Schreibtisch neben dir bekommen.«

»Das wusste ich nicht. Wie schön.«

Sie versucht, seinen Blick einzufangen, um zu sehen, ob er es ernst meint. Aber er schaut weg.

»Möchtest du auch einen Kaffee?«, fragt sie.

Er schüttelt den Kopf. »Ich versuche, weniger zu trinken.«

»Vernünftig. Okay, ich muss los, ich bin mit einem Kollegen von der organisierten Kriminalität am Telefon verabredet, der mich zu einem Verdächtigen briefen soll, bevor ich den Betreffenden in einer Stunde vernehme. Von dem Messermord auf dem Balders Plads hast du gehört, oder?«

»Ja. Na dann, bis bald.«

Komisch, wie steif wir miteinander umgehen, denkt sie. »Arbeitest du eigentlich gerade an einem Fall?«

»Nein.«

»Könntest du dann nicht bei dem hier einspringen?«

»Tja … Fehlen euch Leute?«

»Fehlen uns nicht immer Leute?« Sie lächelt. »Nein, im Ernst, es scheint eine ziemlich schwierige Ermittlung zu werden. Wir brauchen alle guten Kräfte.«

»Hm, ja, vielleicht schon. Das muss Merlin entscheiden.«

»Na klar. Frag ihn.«

»Rashads Leben ist in vielerlei Hinsicht so stereotyp verlaufen, wie es nur geht. Also stereotyp für diejenigen der jungen Migranten, die auf die schiefe Bahn geraten.«

Signe hat den Kollegen von der organisierten Kriminalität am Apparat, der Jamaal Rashads »Karriere« seit mehreren Jahren verfolgt.

Er erzählt, dass Rashad das zweitälteste von sechs Kindern ist und bereits als Zehnjähriger anfing, in einem Kebab-Imbiss in der Nørrebrogade abzuhängen. Seine kriminelle Laufbahn begann mit kleineren Diebstählen. Polizei und Jugendhilfe statteten den Eltern, die beide arbeitslos waren, mehrere Besuche ab, und beide gelobten Besserung.

Während des Bandenkonflikts 2010 wurde einer von Jamaal Rashads ehemaligen Klassenkameraden getötet. Jamaal, der dem Bandenmilieu bis dahin nicht angehört hatte, wurde Mitglied der Brothas, um seinen Freund zu rächen, und lebt seither nach dem alten Klan- und Bandenkodex: ich gegen meinen Bruder, ich und mein Bruder gegen meinen Cousin, ich, mein Bruder und mein Cousin gegen den Rest der Welt.

»Und trotzdem unterscheidet er sich deutlich vom typischen Bandenmitglied.«

»Inwiefern?«, fragt Signe.

»Er ist formgewandter. Drückt sich gewählt aus, und soweit ich gehört habe, ist er recht charmant. Er kann sogar höflich sein, wenn er will, und diese Fähigkeit besitzen nicht viele Bandenmitglieder. Er ist nach der Neunten von der Schule gegangen, trotzdem erhält man leicht den Eindruck, er hätte studiert, wenn man mit ihm spricht. Außerdem war er in Syrien.«

»Wann?«

»Dem PET zufolge ist er 2013 dorthin gereist, und sie sind ziemlich sicher, dass er für den IS gekämpft hat. Er kam gerade noch rechtzeitig zurück, ehe das Parlament beschlossen hat, dass es für dänische Staatsbürger strafbar ist, für den IS in den Krieg zu ziehen.«

»Vorstrafen?«

»Keine. Was auch recht ungewöhnlich ist. Wir haben ihn wegen etlicher Straftaten im Verdacht, unter anderem wegen des Mordes am Mitglied einer rivalisierenden Bande. Aber wir haben ihm nie auch nur eine Geschwindigkeitsübertretung nachweisen können, außer den Kleinkram, bei dem er noch nicht strafmündig war.«

»Klingt, als wäre er ein Mensch mit vielen Gesichtern.«

»Genau. Denn man darf sich nicht täuschen. Hinter der charmanten und geschliffenen Fassade verbirgt sich ein Mann, der brutal und gnadenlos ist gegenüber jedem, der sich ihm in den Weg stellt. Sie haben sicher gehört, wie er seine Schwester behandelt hat, als die sich weigerte, sich dem Willen der Familie zu fügen, oder? Sie musste flüchten, weil ihr Leben bedroht war. Er kann ein Teufel sein.«

»Ein gerissener Teufel, wie es scheint.«

»Das können Sie laut sagen. Wäre schön, wenn wir ihn endlich drankriegen würden.«

»Wir werden tun, was wir können«, sagt Signe.

Der Vernehmungsraum ist leer und schummrig. Signe schaltet das Licht ein, und sie und ein jüngerer Ermittler, den Signe nur vom Namen her kennt, setzen sich an den Tisch in der Mitte des Raumes. Sie legt ihr Handy und einen Ordner mit Unterlagen vor sich ab, packt ihren Laptop aus und wirft einen Blick auf die Uhr. Eine Minute vor neun.

Einen Augenblick später geht die Tür auf. Jamaal Rashad kommt in Begleitung von zwei Vollzugsbeamten und seinem Anwalt herein. Rashad streckt einem der beiden Beamten die Arme entgegen, woraufhin dieser die Handschellen aufschließt und abnimmt. Beide verlassen den Raum, der Beschuldigte reibt sich die Handgelenke und setzt sich neben seinen Anwalt gegenüber den beiden Ermittlern.

Signe lehnt sich auf dem Stuhl zurück und betrachtet Jamaal Rashad. Er ist achtundzwanzig Jahre alt, groß, mit sorgfältig getrimmtem Bart. Ziemlich attraktiv, ein wenig erinnert er an X. Nicht so penibel gekleidet, aber mit seiner armeegrünen Chino und dem marineblauen Cardigan über einem grauen Poloshirt würde er in einem Golfclub sicher nicht weiter auffallen.

Signe beugt sich vor und schaltet den Recorder auf ihrem Handy ein.

»Vernehmung von Jamaal Rashad. Neben dem Beschuldigten anwesend sind dessen Verteidiger Mikkel Jahn Erlandsson sowie Markus Nielsen und Signe Kristiansen von der Kopenhagener Polizei. Jamaal Rashad, Sie wissen, dass Ihnen Körperverletzung mit Todesfolge gegen den vierundzwanzigjährigen Per Justesen vorgeworfen wird?«

Rashad nickt.

»Bitte bestätigen Sie es laut.«

»Ja, das weiß ich.«

»Und Sie wurden darüber aufgeklärt, dass Sie als Beschuldigter keine Aussage machen müssen?«

»Ja.«

»Gut. Können Sie uns zunächst einmal sagen, wo Sie sich vorgestern um … sagen wir zwölf oder dreizehn Minuten nach zwei Uhr nachmittags befunden haben?«

Er lächelt. »Das habe ich der Polizei schon mehrfach gesagt.«

»Das ist mir bewusst. Ich würde Sie dennoch bitten, es zu wiederholen.«

»Ich war auf dem Balders Plads.«

»Könnten Sie das präzisieren? Wo genau auf dem Balders Plads?«

»Ich stand auf der Seite des Platzes, die an die Baldersgade grenzt. Ungefähr zwischen dem Podium und dem roten Spielplatzzaun.«

»Okay. Und da sind Sie sich ganz sicher?«

Jamaal Rashad lächelt erneut. »Absolut sicher. Ich habe Ihren Kollegen bereits Namen und Telefonnummern der beiden Personen gegeben, die bestätigen können, dass wir zu diesem Zeitpunkt dort gestanden und uns unterhalten haben.«

»Zwei Ihrer Freunde, vermute ich?«

»Na ja, was heißt Freunde … Bekannte, würde ich eher sagen.«

Signe nickt. Sie tippt etwas auf ihrem Laptop und dreht ihn mit dem Display zu Rashad und seinem Verteidiger. Die beiden schauen mit mäßigem Interesse auf die Szene, die sich vor ihren Augen abspielt. Nach etwa einer halben Minute dreht Signe den Laptop wieder zurück und drückt auf Stopp.

»Sie beide haben diesen Clip schon gesehen, richtig?«, fragt sie an den Verteidiger gewandt.

»Ja«, bestätigt Mikkel Jahn Erlandsson.

»Können Sie, Jamaal, mir also erklären, was auf diesem Video zu sehen ist?«

Die Arme des Beschuldigten liegen auf dem Tisch, die Hände hat er verschränkt. »Tja, es ist ja ein recht unschöner Clip, muss man sagen.«

»Tut mir leid, dass wir Ihnen die Umstände machen müssen, sich etwas so Widerwärtiges anzusehen«, sagt Signe säuerlich.

Der Anwalt bedenkt sie mit einem vorwurfsvollen Blick. Jamaal Rashad winkt ab.

»Das mache ich gern. Wenn es helfen kann, den Fall aufzuklären«, sagt er ernst. »Aber was wir also sehen, ist ja offensichtlich, dass ein Mann … oder zumindest sieht es aus wie ein Mann … einem anderen Mann mit einem Messer in den Bauch sticht.«

»Ja, drei Mal sogar«, ergänzt Signe. »Und der Mann mit dem Messer sieht unbestreitbar aus wie Sie, oder?«

Jamaal Rashad schüttelt den Kopf. »Das muss ich klar verneinen. Wie schon gesagt, hielt ich mich zum betreffenden Zeitpunkt an einer ganz anderen Stelle auf dem Platz auf.«

»Ja, das sagen Sie. Aber schauen wir uns die Person, die das Messer führt, doch mal genauer an … dieselbe Statur und Größe wie Sie, scheint es, oder nicht?«

»Zum betreffenden Zeitpunkt befanden sich mit Sicherheit mehrere Personen von der Statur und Größe meines Mandanten auf dem Platz. Damit können Sie nichts anfangen«, sagt Mikkel Jahn Erlandsson und klingt dabei, als langweile er sich gerade zu Tode.

Signe lächelt den Strafverteidiger freundlich an. Wie viele ihrer Kollegen hat sie ein etwas angestrengtes Verhältnis zu ihm. Niemand bezweifelt, dass Erlandsson, der häufig als Verteidiger von Bandenmitgliedern, Rockern, Pädophilen und psychopathischen Mördern auftritt, ein ausgezeichneter Anwalt ist. Aber er besitzt auch eine beinahe übernatürliche Fähigkeit, selbst die winzigsten Risse in den Ermittlungsarbeiten von Polizei und Strafanwaltschaft zu finden, und wenn er bei diesen Rissen Hammer und Meißel anlegt, tut er es mit einer Arroganz, dass sich schon viele Ermittler die Frage gestellt haben, weshalb Mikkel Jahn Erlandsson eine solche Aversion gegen die Ordnungsmacht hegt, wie es augenscheinlich der Fall ist.

»Schauen wir mal«, sagt Signe. »Sie haben bestimmt bemerkt, dass der Täter hinkt. Er zieht das rechte Bein leicht nach. Genau wie Sie, Jamaal, richtig?«

»Das stimmt. Ich wurde vor einer Weile mit einem Messer verletzt.«

»Wo? Wo wurden Sie verletzt?«

»Im rechten Ballen.«

»Au. Klingt nicht schön.«