Mörderland - Kim Faber - E-Book

Mörderland E-Book

Kim Faber

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Beschreibung

Verheerende Attentate in Dänemark und Deutschland, und ein Mord in den höchsten Regierungskreisen – der vierte Band der Nr.-1-SPIEGEL-Bestsellerreihe, so spannend und aktuell wie nie.

Eine Explosion erschüttert ein Kohlekraftewerk in Dänemark. Der gezielte Angriff wurde von einer Kampfdrohne ausgeführt, und es soll nicht der letzte bleiben. Der nächste Angriff trifft ein Kraftwerk in Rostock. Eine Gruppe militanter Klimaaktivisten bekennt sich zu den Anschlägen.
Am selben Morgen wird in Kopenhagen der Sohn des Klimaministers ermordet aufgefunden. Martin Juncker und Nabiha Khalid ermitteln in dem Fall. Hinweise deuten auf eine Verbindung zwischen den Verbrechen. Als der Autopsiebericht die schwere Kokainabhängigkeit des Ministersohnes nachweist, stößt Signe Kristiansen zu den Ermittlungen. Diese ist inzwischen bei der Abteilung für Organisiertes Verbrechen und beschäftigt sich mit Drogengeschäften im großen Stil. Und genau darin war der Tote verwickelt ...

Alle Fälle von Juncker und Kristiansen:
1. Winterland
2. Todland
3. Blutland
4. Mörderland

Die Bücher erzählen eigenständige Fälle und können unabhängig voneinander gelesen werden.

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Seitenzahl: 469

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Buch

Eine Explosion erschüttert ein Kohlekraftwerk in Dänemark. Der gezielte Angriff wurde von einer Kampfdrohne ausgeführt, und es soll nicht der letzte bleiben. Der nächste Angriff trifft ein Kraftwerk in Rostock. Eine Gruppe militanter Klimaaktivisten bekennt sich zu den Anschlägen.

Am selben Morgen wird in Kopenhagen der Sohn des Klimaministers ermordet aufgefunden. Martin Juncker und Nabiha Khalid ermitteln in dem Fall. Hinweise deuten auf eine Verbindung zwischen den Verbrechen. Als der Autopsiebericht die schwere Kokainabhängigkeit des Ministersohnes nachweist, stößt Signe Kristiansen zu den Ermittlungen. Diese ist inzwischen bei der Abteilung für Organisiertes Verbrechen und beschäftigt sich mit Drogengeschäften im großen Stil. Und genau darin war der Tote verwickelt ...

Die Autor*innen

Janni Pedersen ist Moderatorin und Kriminalreporterin bei TV2, einem der meistgesehenen Fernsehsender Dänemarks. 2018 wurde sie als beste Nachrichtensprecherin des Jahres ausgezeichnet.

Kim Faber ist Architekt und Journalist bei »Politiken«, einer der größten dänischen Tageszeitungen.

Das bekannte Journalistenpaar hat mit seinem Debüt »Winterland« einen explosiven und packenden Kriminalroman über Terror, Gewalt, Trauer und Einsamkeit geschrieben. Nach dem großen Erfolg des Reihenauftakts haben auch die Folgebände um das dänische Ermittlerduo Martin Juncker und Signe Kristiansen die SPIEGEL-Bestsellerliste im Sturm erobert.

Alle Bänder der Juncker & Kristiansen-Krimireihe:

Winterland (Juncker & Kristiansen 1)

Todland (Juncker & Kristiansen 2)

Blutland (Juncker & Kristiansen 3)

Mörderland (Juncker & Kristiansen 4)

KIM FABER & JANNI PEDERSEN

MÖRDERLAND

Ein Fall für Juncker und Kristiansen

Deutsch von Franziska Hüther

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel »Skyggeriget« bei JP/Politikens Hus, Kopenhagen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Zitat: »Ben« von der dänischen Rapperin Tessa.

Copyright der Originalausgabe © Kim Faber & Janni Pedersen and JP/Politikens Hus A/S 2022 in agreement with Politiken Literary Agency

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2023 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: René Stein

Covergestaltung: www.buerosued.de

Covermotiv: plainpicture / Jozef Kubica

JaB · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-30074-6V002

www.blanvalet.de

Zum Gedenken an Flemming

Es war die beste Zeit, es war die schlechteste Zeit. Es war das Zeitalter der Weisheit, es war das Zeitalter der Thorheit; es war die Epoche des Glaubens, es war die Epoche des Unglaubens; es waren die Tage des Lichts, es waren die Tage der Finsterniß; es war der Lenz der Hoffnung, es war der Winter der Verzweiflung. Wir hatten Alles zu erwarten, wir hatten Nichts zu erwarten. Wir gingen Alle schnurstracks dem Himmel zu, wir gingen Alle schnurstracks den andern Weg.

Charles Dickens

11. Februar

Kapitel 1

Er liebt die Nachtschichten, so ist es immer schon gewesen, seit er das Werk am Ufer das Fjords vor bald vierzig Jahren zum ersten Mal betreten hat.

Überhaupt liebt er seine Arbeit. Das Gefühl, dazu beizutragen, die ganze große Maschinerie am Laufen zu halten.

In zweieinhalb Wochen ist es vorbei.

»Ich dreh mal ’ne Runde«, sagt er, und seine beiden Kollegen vom Leitstand in Block 3 quittieren es mit einem Brummen, ohne die Blicke von den Monitoren und Bedienelementen zu heben.

Sie bilden die Nachtschicht. Drei Leute. Mehr braucht es nicht, um die gigantische Anlage zu fahren, die die Bewohner der umliegenden Städte mit Fernwärme und Strom versorgt: einen, der vom Leitstand aus den Betrieb überwacht, einen Mitarbeiter, der je nach Bedarf zur Hand geht. Und einen, der im Gebäude unterwegs ist.

Er ist in dieser Schicht für Letzteres zuständig. Er muss Hand anlegen, wenn irgendwo ein Ventil klemmt oder die Mechanik anderweitig hakt. Während der Schicht muss er zweimal einen Rundgang machen, um sicherzustellen, dass alles ordnungsgemäß läuft. Denn nicht jede kleine Unregelmäßigkeit fällt auf, wenn man im Leitstand sitzt, wo von den Maschinen nicht mehr als ein fernes Brummen zu hören ist, das kaum das leise Surren der Lüftungsanlage übertönt.

Block 3 ist zweiundzwanzig Jahre alt. Er war dabei, als er 1998 in Betrieb genommen wurde, und wie ein Dirigent, der selbst den geringsten Missklang in seinem Orchester wahrnimmt, kennt er jedes Geräusch und jeden Geruch und weiß sofort, woran es liegt, wenn etwas anders ist.

Das Kraftwerk ist sein Baby.

Der Rundgang dauert eine knappe halbe Stunde und endet am Fuß des beinah einhundert Meter hohen Kesselhauses, bei den vier Kohlemühlen, die die Kohle zu feinem Staub zermahlen, bevor sie in den Kessel geblasen wird. Er schaut auf seine Uhr. Reichlich Zeit für eine Zigarette.

Er öffnet die Tür und tritt hinaus auf den Platz zwischen Block 2 und 3. Block 2 wird derzeit abgerissen, die Tage der Kohlekraftwerke sind gezählt. Es ist eine milde Nacht. Der Januar war sowohl der wärmste als auch einer der feuchtesten, die je in Dänemark gemessen wurden, und das für die Jahreszeit höchst ungewöhnliche Wetter setzt sich nun im Februar fort. Er schnuppert in der Luft und steckt sich eine Zigarette an. Auch in dieser Nacht weht der Wind offenbar von Süden, denn der süßliche Geruch der großen Kohlensilos, die wie schlafende Dinosaurier entlang dem Kai liegen, ist durchdringend. Manchmal mischt sich der Qualm von kleineren Bränden darunter, die sich hin und wieder in den Tiefen der Silos selbst entzünden, heute aber ist kein Rauch in der Luft. Er geht zum Kai und wird von Wehmut ergriffen – wie an jedem Tag, seit er dem Drängen seiner Frau nachgegeben und die Entscheidung getroffen hat –, obwohl er sich doch eigentlich als heiteres Gemüt bezeichnen würde.

Er habe seinen Teil getan, hatte seine Frau zu ihm gesagt. »Hör auf, solange du noch Kraft hast, dich um die Enkel zu kümmern.« Und sie hat bestimmt recht, wie gewöhnlich. Aber gerade bereut er den Schritt. Denn wer wird er sein, wenn er nicht länger Jens Viggo vom Kraftwerk ist?

Er blickt den Kai entlang und prägt sich das Bild ein. Die Silos. Die beiden Kräne. Den großen finnischen Kohlefrachter. Die Scheinwerfer, die die leblose Szenerie in ein kühles weißes Licht tauchen. Eine Weile steht er mit der Zigarette im Mundwinkel da, die Schultern gesenkt und die Arme mutlos herabhängend. Dann wirft er die Kippe auf den Boden, drückt sie sorgfältig mit der Schuhsohle im schwarzen Kohlenstaub aus, schüttelt den Moment ab und macht sich auf den Rückweg. Er muss schmunzeln, als er sich dabei ertappt, wie er seine Schritte dem Rhythmus der blinkenden Lichter des hohen Betonschornsteins anpasst.

Bei den hellgrauen Gebäuden angekommen, bleibt er stehen und schaut abermals auf die Uhr. Zeit genug für eine zweite Zigarette. Sein Blick wandert das eingebaute Förderband entlang, das die Kohle von den Silos zum Kraftwerk transportiert und hoch oben in der Wand verschwindet. Aber was …

Er spitzt die Ohren und zieht die Brauen zusammen. Er hört ein fremdes Geräusch, das lauter und lauter wird.

Bei der Detonation platzt ihm das Trommelfell, und der Luftdruck zwingt ihn in die Knie. Die infernalische Hitze brennt in seinem Gesicht.

Nichts davon stellt für sich genommen eine Gefahr für sein Leben dar. Sehr wohl jedoch der fünfzig Kilo schwere Stahlträger, der ihn Sekunden später mit einer Fallgeschwindigkeit von siebzig Stundenkilometern am Kopf trifft.

Kapitel 2

Es läuft bestens.

Das sagt sich Kristoffer Kirch jeden Morgen. So haben die Psychologen und Therapeuten dem dreißigjährigen Polizeibeamten geraten, den Tag zu beginnen. Und Psychologen und Therapeuten haben in seinem Leben einiges zu sagen seit dem eisigen Wintertag vor etwas mehr als drei Jahren, als er von zwei Terroristen entführt und gefoltert wurde und sicher war, dass er sterben würde.

Es gab Zeiten, da waren es nichts als leere Worte. Doch im Moment läuft es tatsächlich bestens.

Er streckt seinen zwei Meter großen, muskulösen Körper, dass es in den Gelenken knackt. Ein Blick aufs Handy ist nicht nötig, um zu wissen, dass es etwa fünf Uhr ist. Er wacht immer um diese Zeit auf, egal wann er ins Bett geht oder wie er sich fühlt.

Damit lässt sich leben. Auch wenn noch immer gelegentlich belastende Erinnerungen an den Einsatz in Afghanistan hochkommen, als er kaum mehr als ein Heranwachsender war. Bilder, wie er nach einer Bombenexplosion schwer verwundete und tote Kameraden aus einem halb zerstörten Mannschaftstransportwagen zieht. Und von der Entführung in Sandsted, wo ein brutaler rothaariger Konvertit und ein Afghane, dem ein Stück des Ohrs fehlt, abwechselnd auf ihn einprügeln, während sie schreien, wie wenige Minuten ihm noch zu leben bleiben.

Aber heute kann er sie in Schach halten. Die Bilder tauchen auf, er lässt jedoch nicht zu, dass sie die Macht über ihn gewinnen. Nicht mehr.

Wie üblich bleibt er noch eine Weile im Halbschlaf liegen. Dann steht er auf und öffnet die Vorhänge. In der Dunkelheit lässt sich nicht erkennen, wie das Wetter ist, vermutlich aber kaum anders als in den letzten Tagen: mild, feucht und mitunter recht windig. Es war einmal ein Winter, denkt er und geht in die Küche, um sich die erste Tasse Kaffee des Tages zu machen.

Noch vor wenigen Jahren hätte er kochendes Wasser in einen Becher mit zwei Löffeln Instantkaffee gegossen. Damit war Schluss, als er mit Leonora zusammenkam. Stattdessen mahlt er nun vier gestrichene Messlöffel Bohnen von einer Fairtrade-zertifizierten Plantage im kenianischen Hochland, gibt den Kaffee in die French Press, übergießt ihn mit sprudelnd heißem Wasser und drückt mit ritueller Langsamkeit den Stempel nach unten. Er schaltet das Radio ein, pustet in die Tasse, nimmt den ersten Schluck, spürt ein wohliges Gefühl seinen Körper durchströmen und wie der Tag beginnt.

Er dreht lauter. Im Kraftwerk am Nordufer des Fjords sei es zu einer heftigen Explosion gekommen, berichtet ein Nachrichtensprecher. Also hat er sich in der Nacht vielleicht doch nicht getäuscht, als er dachte, er hätte etwas gehört. Er war aufgewacht, hatte es aber für einen Traum gehalten.

Die Ursache der Explosion sei noch unklar, gibt der Einsatzleiter Auskunft und antwortet auf die Frage nach Opfern, dass es bislang einen Verletzten gäbe. Der Zustand des Betroffenen sei kritisch.

»Wir berichten natürlich weiter über die Situation im Nordjütlandwerk und halten Sie fortwährend auf dem Laufenden«, verspricht die Moderatorin der Sendung und eilt weiter zur nächsten Story. Sieben Wochen nach Ausbruch der Pandemie deute ein neuer chinesischer Bericht auf einen Rückgang der Covid-19-Infektionen hin, so eine Oberärztin vom Staatlichen Serum Institut.

Ob die wohl irgendwann noch mal aufhören, andauernd über dieses Virus zu reden, denkt sich Kristoffer. Schließlich ist es, wenn er es recht verstanden hat, nicht schlimmer als eine gewöhnliche Grippe. Er schaltet das Radio ab und überlegt, was er mit seinem freien Tag anstellen soll.

Statt Überstunden abzubauen, würde er lieber arbeiten. Die ganze Zeit. So geht es ihm, seit er und Leonora vor einem halben Jahr Schluss gemacht haben. Wobei, eigentlich wohl eher, seit er die PTBS im Griff hat, in den Dienst zurückgekehrt ist und seine Ausbildung beendet hat. Und das Gefühl hat sich noch verstärkt, nachdem er sich erfolgreich für eine einjährige Vertretungsstelle bei der Abteilung für Gewaltkriminalität der Polizei Nordjütland beworben hat und vor drei Monaten nach Aalborg gezogen ist.

Immerhin steht sein Plan für den Abend schon: das Veteranencafé öffnen und schließen, in das er dienstag-, donnerstag- und freitagabends geht, sofern es sich mit der Arbeit vereinbaren lässt. Vielleicht könnte er sein Mountainbike auf Vordermann bringen und am Nachmittag eine lange Radtour machen. Die letzte ist schon lange her, und etwas Bewegung würde ihm guttun.

Sein Handy klingelt. Es ist Michael Bonner, sein Chef.

»Hab ich dich geweckt?«

»Nein, bin schon eine Weile auf.«

»Gut. Ich weiß, dass du heute frei hast.«

»Die Explosion im Kraftwerk?«

»Ja.«

»Ein Verletzter, hieß es im Radio.«

»Er ist tot.«

»Okay. Weiß man, was die Explosion ausgelöst hat? Da jetzt anscheinend wir zuständig …«

»Nein. Wir wissen nichts. Kannst du in einer halben Stunde fertig sein?«

Es ist eine rhetorische Frage, und Kristoffer kommt gar nicht erst zum Antworten.

»Justesen sammelt dich ein«, sagt Bonner und legt auf.

Yes, denkt Kristoffer und spürt sein Herz schneller schlagen.

Kapitel 3

Zum ersten Mal in seinem Leben sieht er ein Kraftwerk aus nächster Nähe. Zusammen mit seinem Kollegen Thorkild Justesen sowie Erland Mikkelsen, dem Produktionsleiter des Werks, ist er auf dem Weg von der Verwaltung hinüber zu den riesenhaft aufragenden Gebäuden von Block 3.

»Wahnsinn, ist das groß«, sagt Kristoffer.

»Ja, irre. Wie hoch geht es da?«, erkundigt sich Justesen.

»Etwa neunzig Meter«, antwortet Erland Mikkelsen.

»Und der Schornstein?«

»Hundertdreiundsiebzig Meter.«

Justesen pfeift beeindruckt. »Nicht schlecht.«

Er selbst ist um die eins achtzig groß, hat helles, schütteres Haar, das schon länger keine Schere gesehen hat, und freundliche braune Augen hinter randlosen Brillengläsern. Er trägt schwarze Schnürstiefel, die dringend mal wieder geputzt werden müssten, eine ausgewaschene khakifarbene Leinenhose und einen überdimensionalen Parka. Kristoffer findet, er ähnelt dem Schauspieler William Hurt.

Die drei Männer bleiben bei der mit rot-weiß gestreiftem Flatterband abgesperrten Stelle stehen. Teile des zerfetzten Förderbands und dessen Abdeckung liegen über den Platz verstreut. Oben in der Mauer, wo es noch vor wenigen Stunden im Gebäude verschwand, klafft nun ein an die fünf bis sechs Meter großes Loch.

Der Tote liegt, notdürftig mit einer karierten Wolldecke bedeckt, in einer Blutlache. Zwei Kriminaltechniker in Schutzanzügen sind mit der Spurensicherung beschäftigt.

»Können wir schon zu ihm?«, fragt Justesen.

»Ja, wir sind hier so gut wie fertig.«

Kristoffer und Justesen steigen über das Absperrband. »Sie bleiben am besten hier«, sagt Justesen freundlich an den Produktionsleiter gewandt.

Der Mann nickt dankbar. Auch wenn er versucht, die Fassade zu wahren, steht ihm die Erschütterung ins Gesicht geschrieben.

Justesen geht neben der Leiche in die Hocke und zieht die Decke herunter, sodass der Kopf zum Vorschein kommt. Er zieht scharf die Luft ein. »Großer Gott«, murmelt er.

Der Schädel ist praktisch auf ganzer Länge vom Scheitel bis zum Mund gespalten. In einem Meter Entfernung liegt ein Stahlträger auf dem Boden.

»Ist das der, der ihn erschlagen hat?«, fragt Justesen einen der Kriminaltechniker.

»Sieht so aus. Jedenfalls haben wir Blut und Gewebereste daran gefunden.«

Kristoffer, der hinter Justesen steht, starrt wie paralysiert auf das Blut, die Hirnmasse und die weißen Knochensplitter. Dann wendet er sich ab. Justesen zieht die Decke wieder über das Gesicht der Leiche und steht auf. Er mustert Kristoffer prüfend.

»Alles okay?«

Kristoffer nickt. Reiß dich zusammen, ermahnt er sich selbst.

Sie kehren zum Produktionsleiter zurück. Justesen zeigt auf das Loch in der Wand.

»Scheint ja einen Mordsschlag da oben getan zu haben«, wendet er sich an Erland Mikkelsen. »Wie ist es in so einem Kraftwerk mit der Explosionsgefahr? Gibt es hier irgendwas, das in die Luft fliegen kann?«

Mikkelsen nickt. »Einiges. Kohlenstaub kann zum Beispiel explodieren. Ölrohre können lecken, und wenn Öl mit hohem Druck herausgeblasen wird und mit fünfhundertvierzig Grad heißem Dampf in Kontakt kommt … das ist wie ein Flammenwerfer. Außerdem verwenden wir Wasserstoff zur Kühlung, und bei Wasserstoff ist Vorsicht geboten. Überhaupt muss man aufpassen, wenn man mit derartigen Temperaturen und so hohem Druck arbeitet wie wir hier.«

»Da bin ich bei Ihnen«, sagt Justesen. »Ist vorher schon mal was passiert?«

»Ab und zu, ja. Letztes Jahr hatten wir einen Generatorbrand.«

»Aber da …« Justesen schaut an der Wand hinauf. »Kann da oben etwas explodieren?«

Mikkelsen denkt einen Moment nach. Dann schüttelt er den Kopf. »Wüsste ich jetzt nichts. Da ist nur das Förderband, das die Kohle zu vier Kohlemühlen transportiert. Die vermahlen sie zu Kohlenstaub, bevor sie in den Kessel eingeblasen wird.«

»Alles klar, danke.« Justesen klopft Kristoffer auf den Arm. »So, junger Mann, dann lass uns mal den Einsatzleiter suchen gehen und schauen, was er uns sagen kann.«

»Der müsste im Gebäude sein«, sagt Erland Mikkelsen. »Ich bringe Sie hin.«

Mikkelsen führt sie zu einer Stahltür, öffnet sie und lässt den beiden Ermittlern den Vortritt. Kristoffer hat das Gefühl, in den Bauch eines riesigen Tieres zu treten. Er legt den Kopf in den Nacken und schaut nach oben. Er kann nicht sehen, wo die Halle endet. Der Einsatzleiter steht am anderen Ende des Gebäudes und spricht im grellen Licht von vier aufgestellten Scheinwerfern mit zwei uniformierten Beamten. Er und Justesen begrüßen sich wie alte Freunde, die sich viele Jahre nicht gesehen haben.

Es ist das zweite Mal, dass Kristoffer mit Justesen zusammenarbeitet. Beim ersten Mal artete eine Silvesterparty in der Jomfru Anegade in eine Massenschlägerei aus, ein junger Mann wurde mit dem Messer getötet. Doch so viel hat er bereits über seinen älteren Kollegen gelernt: Justesen kennt Gott und die Welt, und er behandelt alle gleich. Freundlich und respektvoll. So verhält er sich auch gegenüber Kristoffer, obwohl er ihm an Erfahrung um Lichtjahre voraus ist. Er ist interessiert daran, die Einschätzung seines jungen Kollegen zu hören, auch wenn Kristoffer mehr als einmal das Gefühl hatte, dass Justesen die Antwort auf seine eigene Frage bereits kannte. Der Mann bemüht sich, um es mit einem modernen Begriff auszudrücken, der ihm selbst sicherlich zuwider wäre, um Inklusion.

Nur bei einer einzigen Gelegenheit hat Kristoffer ihn mit düsterer Miene gesehen, nämlich als sie einmal zusammen frühstückten und Kristoffer ihn fragte, ob er eigentlich nie darüber nachgedacht habe, sich um eine Stelle in Kopenhagen zu bemühen. Justesen zog einen Flunsch, als hätte er auf eine Zitrone gebissen, und die Antwort fiel kurz aus: »Nein.«

Der Einsatzleiter berichtet, dass einige Kohlen auf dem Boden geschwelt hätten, als er und die ersten Einsatzfahrzeuge angekommen seien. Man habe sie rasch gelöscht und anschließend sichergestellt, dass keine unmittelbare Gefahr für weitere Explosionen bestand.

»Laut Erland Mikkelsen gibt es da oben nicht wirklich was, das in die Luft fliegen kann, jedenfalls nicht von allein«, sagt Justesen.

»So wurde es mir auch gesagt«, nickt der Einsatzleiter.

»Das kann nur eins bedeuten.« Justesen schaut seinen Kollegen an.

»Jemand hat da oben Sprengstoff deponiert«, sagt Kristoffer.

Der Einsatzleiter nickt. »Aus dem Grund habe ich Bonner angerufen und euch von der Gewaltkriminalität dazugeholt. Außerdem habe ich das Militär informiert. Zwei Sprengstoffexperten von der Kaserne in Skive sind auf dem Weg hierher.«

»Klingt vernünftig«, sagt Justesen. »Aber wie zum Teufel schafft man eine Bombe da oben hin?«

»Gute Frage. Um das rauszufinden, bekommt ihr ja euer gutes Gehalt, stimmt’s?«

»Hm«, brummt Justesen. »Der Tote … ist er identifiziert?«

»Ja.« Der Einsatzleiter holt sein Handy hervor und tippt ein paarmal aufs Display. »Er heißt … Moment … Jens Viggo Olesen. Fünfundsechzig Jahre alt. Er war einer der drei, die Nachtschicht hatten. Anscheinend wäre er mit Monatsende in den Ruhestand gegangen. Nach vierzig Jahren.« Er schüttelt den Kopf. »Tragisch.«

»Die Angehörigen sind informiert?«

»Ein paar fehlen noch, aber darum kümmern wir uns.«

Justesen kratzt sich die Bartstoppeln. »Habt ihr schon alles nach weiteren Bomben abgesucht?«

»Wir haben das Gebäude natürlich gesichert, ehe wir reingegangen sind. Jetzt müssen wir abwarten, ob unsere Freunde aus Skive meinen, wir sollten alles ein zweites Mal checken, und ob wir weitere Experten brauchen. Es wird nicht gerade übersichtlicher, je weiter man ins Gebäude kommt, kann ich dir sagen. In diesem Monstrum gibt es tausend Möglichkeiten, wo man eine Bombe verstecken kann.«

Justesen grinst breit. »Dann wollen wir mal hoffen, dass nicht noch eine hochgeht, während wir da drinnen rumlaufen.«

Kapitel 4

Polizeikommissar Martin Junckersen, der von fast allen aber nur Juncker genannt wird, zwingt sich, den Blick auf die Leiche im Bett zu richten. Der alte Mann liegt, die Decke bis zum Hals gezogen, auf dem Rücken. Das gelbliche Gesicht ist leicht zur Seite gedreht, das eine Auge geschlossen, das andere wie auch der zahnlose Mund halb geöffnet.

Der Mann erinnert Juncker derart an seinen Vater, wie er am 6. Januar 2017 in seinem Bett lag, dass er am liebsten umdrehen und aus dem Zimmer fliehen würde.

Auf einmal hat er die ganze Szene und seine Gefühle von damals so deutlich vor Augen, als wäre es lediglich eine Stunde und keine drei Jahre her: die Überraschung darüber, dass in dem alten, ausgezehrten Körper seines Vaters noch solche Kräfte schlummerten. Die Panik, als ihm klar wurde, dass Arme und Hände nicht reichten, um das Kissen festzuhalten, sondern er mit seinem ganzen Gewicht pressen musste. Und das enorme Unbehagen angesichts der damit einhergehenden Intimität – seinem Vater körperlich so nah zu sein, wie er es, falls überhaupt, zuletzt als Kleinkind gewesen war. Die Verzweiflung darüber, dass der Alte so lang brauchte, bis er starb, und als der Tod endlich eintrat, Erleichterung, es überstanden zu haben.

Schließlich – und das hatte ihn am meisten verblüfft –plötzliche Trauer, weil er sich nun nie mehr mit seinem Vater würde unterhalten können, obwohl sie so häufig aneinandergeraten waren.

Er schaut sich im Zimmer um. Neben dem Bett besteht die Einrichtung aus einem abgewetzten hellbraunen Ledersessel, einem Esstisch aus Teakholz und vier zugehörigen Stühlen mit blau gepunktetem Bezug sowie einer weißen Kommode. An der Wand hängen ein Bild von vier Kühen im Sonnenuntergang und fünf Schwarz-Weiß-Familienfotos in Messingrahmen. Das Ganze wirkt wie der herzzerreißende und vergebliche Versuch zu kaschieren, dass es sich hierbei um eine Endstation handelt. Dass dieser Raum nicht zum Leben, sondern zum Sterben gedacht ist.

So will Juncker seine Tage nicht beschließen. Aber er weiß auch, dass man so etwas nicht immer selbst in der Hand hat. Der Mann im Bett hat vermutlich nicht darum gebeten, lediglich umgeben von ein paar spärlichen Requisiten seines einstigen Lebens aus dieser Welt zu scheiden.

Juncker hofft inständig, dass eines Tages, wenn er nichts mehr hat, wofür es sich zu leben lohnt, und sein Verstand ihn im Stich lässt, jemand nachts in sein Zimmer schleicht und ihm ein Kissen aufs Gesicht drückt. Oder ihm eine Packung Tabletten in den Mund stopft oder eine tödliche Dosis von irgendwas injiziert. Denn er zweifelt ehrlich daran, dass er selbst den Mut dazu hätte.

Schräg hinter Juncker steht Torben Jørgensen, der Leiter des Pflegeheims. Er war derjenige, der die Polizei verständigt hat.

»Also, Juncker, fährst du hin und redest mit ihm?«, hatte Erik Merlin, Chef der Abteilung für Gewaltkriminalität, gefragt, nachdem er knapp erklärt hatte, worum es ging.

Selbst wenn er gefoltert worden wäre, fiel Juncker nichts ein, was er weniger gern getan hätte. Er lebt dafür, Morde aufzuklären, nur keine Morde an alten, schwer dementen Menschen. Aber er war natürlich schlecht darum herumgekommen. Was hätte er Merlin sagen sollen? Dass es ihm Unbehagen bereite, in einem Fall zu ermitteln, der ihn so sehr an damals erinnert, als er selbst seinen Vater umgebracht hat?

Juncker wendet sich an Torben Jørgensen. Ein kleiner kugelrunder Mann mit Glatze und verblüffend heiterem Blick hinter einer braunen Hornbrille.

»Ich weiß, Sie haben meinem Chef schon von Ihrem Verdacht erzählt, aber können Sie es noch mal wiederholen?«

»Gern.« Jørgensen nickt. »Also … es scheinen mir einfach ungewöhnlich viele Todesfälle, die wir hier in letzter Zeit hatten.«

»Nämlich wie viele?«

»Kurt Nielsen eingeschlossen«, er weist mit dem Kinn aufs Bett, »sind es neun in den letzten drei Wochen.«

»Und das sind ungewöhnlich viele?«

»Mehr als doppelt so viele wie sonst zu dieser Jahreszeit.«

»Wie viele Bewohner haben Sie hier?«

»Hundertvierzig.«

»Hm.« Juncker kratzt sich am Nacken. »Es sind ja alles altersschwache Menschen. Könnte es nicht einfach Zufall sein, dass sich die Todesfälle im Moment häufen?«

»Doch, natürlich schon. Es kommt mir nur etwas seltsam vor. Die Verstorbenen waren zwar allesamt dement, davon abgesehen aber für ihr Alter in guter gesundheitlicher Verfassung. In solchen Fällen sprechen wir von einem ›unerwarteten‹ Ableben.«

Juncker geht zur Tür. »Wenn es sich hierbei um einen Tatort handelt, ist es besser, wir sprechen auf dem Flur weiter.«

Sie steuern eine Sitzgruppe bei einem großen Fenster an, das auf eine Grünfläche und fünf nackte Birken zeigt.

»Wie hoch ist die Sterberate normalerweise? Falls sich das sagen lässt?«

»Durchaus. Normal stirbt ein Drittel unserer Bewohner im Jahr, also etwa fünfundvierzig. Drei oder vier im Monat. Selbst wenn man mit einbezieht, dass wir uns noch in der Grippesaison befinden, sind neun Tote in drei Wochen folglich deutlich mehr als sonst.«

»Ja, das sehe ich ein.« Juncker blickt hinaus zu den Birken. »Wie ist das übliche Prozedere, wenn ein Bewohner stirbt?«

»Wenn es ein unerwarteter Todesfall war, müssen wir die Polizei unterrichten.«

»Und die kommt dann auch?«

»Nicht unbedingt. Wenn ich es richtig im Kopf habe, war in fünf von den jetzigen neun Fällen jemand da.«

»Und hat was gemacht?« Juncker macht ein entschuldigendes Gesicht. »Tut mir leid, das müsste ich eigentlich selbst wissen, aber ich hatte noch nie mit Todesfällen in Pflegeheimen zu tun, deshalb …«

»Schon gut.« Torben Jørgensen lächelt freundlich. »Die Beamten stellen im Grunde nur sicher, dass es keine ungewöhnlichen Umstände gab.«

»Wie zum Beispiel?«

»Ob der Tote Verletzungen aufweist. Mögliche Abwehrläsionen. Oder sonst irgendwelche Abdrücke oder Male, für die es nicht auf Anhieb eine Erklärung gibt.«

»Hm. Und dann wird der Verstorbene von einem Arzt untersucht?«

»Ja, normalerweise vom Hausarzt, der dann auch den Totenschein ausfüllt.«

»Wurde bei irgendeinem der aktuellen Fälle eine Obduktion veranlasst?«

»Nein. Weder die Ärzte noch die Polizei haben Hinweise auf eine unnatürliche Todesursache gefunden.«

»Und trotzdem haben Sie die Abteilung für Gewaltkriminalität angerufen.«

»Ja.« Torben Jørgensen lächelt erneut, diesmal begleitet von einem leichten Kopfschütteln. »Ich verstehe, wenn Sie das merkwürdig finden. Aber die Anzahl der Toten … und irgendwie habe ich einfach so ein Gefühl. Wahrscheinlich denken Sie, ich spinne.«

»Überhaupt nicht. Ihr Gefühl sagt Ihnen also, dass jemand in diesem Pflegeheim alte demente Menschen umbringt?«

»Tja, äh … ja, vielleicht.«

»Einer der Mitarbeiter?«

Torben Jørgensen zuckt mit den Schultern. »Vielleicht.«

»Denn ich nehme mal an, außer dem Personal hat hier nachts niemand Zutritt? Die Türen sind sicher verschlossen?«

»Ja. Man braucht einen Code, um reinzukommen.«

»Werden die Eingänge videoüberwacht?«

»Nur der Haupteingang.«

»Wie viele arbeiten in der Nachtschicht?«

»Normalerweise drei.«

»Ich muss wissen, wer in den Nächten, als die neun Personen verstorben sind, gearbeitet hat.«

»Die Liste habe ich schon erstellt.«

Juncker beugt sich vor. »Sagen Sie, wie lange haben Sie den Verdacht schon?«

»So richtig verstärkt hat er sich im Laufe des Wochenendes. Am Samstag ist auch schon jemand gestorben.« Jørgensen macht auf einmal ein betretenes Gesicht. »Denken Sie, ich hätte mich schon früher an Sie wenden sollen?«

»Dazu habe ich keine Meinung. Jetzt noch nicht, jedenfalls.« Juncker steht auf. »Ich muss ein paar Anrufe machen. Finde ich Sie in Ihrem Büro, falls ich Sie brauche?«

»Ja, und falls nicht, fragen Sie eine der Sekretärinnen, sie wissen, wo ich bin.«

Juncker ordert als Erstes ein Team Kriminaltechniker und ruft anschließend Merlin an.

»Und, was sagst du?«, fragt der Chef. »Ist es ein Fall für uns?«

»Bin noch nicht sicher. Aber ich würde den Toten gern obduzieren lassen.«

»Also hast du …«

»Ja, ich hab so ein Gefühl.«

»Irgendwas an der Leiche, das auf Fremdeinwirkung hinweist?«

»Nein. Aber wir wissen beide, dass man jemanden mit einem Kissen ersticken kann, ohne sichtbare Spuren zu hinterlassen, höchstens vielleicht eine teilweise geweitete Lunge. Außerdem könnte er auch vergiftet worden sein. Es gibt schließlich Toxine, bei denen man äußerlich nichts sieht. Deshalb.«

»Okay. Ruf einfach bei der Rechtsmedizin an.«

Eine Stunde später treffen drei Techniker ein, und Juncker setzt sie ins Bild. Einer von ihnen ist Peter Lundén, mit dem Juncker bereits bei etlichen Fällen zusammengearbeitet hat. Er ist außerordentlich kompetent – gründlich und erfahren.

»Denk dran zu schauen, ob Blut auf dem Kissen ist. Von der Nase …«, sagt Juncker und bereut die Bemerkung augenblicklich.

Lundén schnaubt beleidigt. »Nee, wirklich?« Kopfschüttelnd geht er ins Zimmer des Verstorbenen.

Juncker folgt ihm, bleibt jedoch auf der Türschwelle stehen. »Und der Rechtsmediziner ist unterwegs?«, fragt er besänftigend.

»Wir haben jedenfalls einen bestellt. In einer Stunde dürfte jemand da sein, denke ich.«

»Dann störe ich dich nicht länger.«

»Super«, erwidert der Techniker.

Anschließend begibt sich Juncker zu Torben Jørgensens Büro. Der Leiter des Pflegeheims reicht ihm ein Blatt Papier.

»Das sind die Namen der Mitarbeiter, die in den neun betreffenden Nächten Dienst hatten. Ich nehme an, Sie wollen mit allen sprechen?«

»Ja. Könnten Sie mir außerdem zeigen, wo die Medikamente verwahrt werden und wie dokumentiert wird, wer was und wie viel bekommt?«

»Natürlich. Das können wir gleich machen, wenn es Ihnen passt.«

»Gern.«

Junckers Handy vibriert. Seine Ex-Frau Charlotte ruft ihn in letzter Zeit so häufig an wie schon lange nicht mehr. Überhaupt verhält sie sich wieder mehr wie die alte Charlotte von damals, als sie noch verheiratet waren und sich liebten. Das ist merkwürdig. Und er weiß nicht so recht, wie er damit umgehen soll. Er hat endlich verwunden, dass sie ihn verlassen hat, und sein Leben halbwegs auf die Reihe bekommen. Jetzt scheint es, als füttere sie ihn ständig mit kleinen Hoffnungsbrocken, sie beide könnten doch wieder ein Paar werden. Er versteht nicht, warum sie es tut – und hat dennoch so ein Gefühl: dass es womöglich aus dem simplen Grund heraus geschieht, dass er mit einer anderen Frau zusammen ist, Charlotte seines Wissens aber ein Singledasein führt.

Vielleicht ist sie schlicht und ergreifend eifersüchtig.

Er drückt den Anruf weg.

Kapitel 5

Eigentlich kann Nabiha Khalid Rapmusik nicht ausstehen, schon gar nicht von männlichen Rappern. Ihr ganzes Machogehabe, die frauenverachtenden Texte. Die Gewaltverherrlichung und das armselige Gelaber von wegen Respekt. Was soll das? Ihre lächerlichen Goldkettchen, Klunker und Protzautos? Ihr primitiver Ghettoslang, der nur entlarvt, dass sie nie den Grips hatten, anständig Dänisch zu lernen?

Sie kriegt Pickel davon. Aber Tessa, die Putzfrau aus Askerød, die es in Rekordzeit zur Queen von Vestegnen geschafft hat und jetzt aus den Lautsprechern ihres Autos dröhnt, dass Nabiha den Bass in Gesäß und Schritt vibrieren spürt – bei der grölt sie so laut mit, dass sie husten muss.

B steht für Boss Bitch, E für episch

ST für Strike, ich übernehme strategisch

Braves Mädchen, bis sie den Bitchknopf drücken

Ich bashe sie, werd ihnen Louis’ Bags und Gucci-Kicks rippen

Nabiha hebt die rechte Hand und schnuppert an ihren Fingern. Sie riechen nach Seife. Aber auch nach einem Hauch von etwas, das nicht ihr eigener Duft ist. Sie lächelt.

Tessa verstummt. Merlin, steht auf dem Display. Der Mann, der sie vor einem halben Jahr aus Südseeland zurück in die Hauptstadt geholt hat. Allein aus dem Grund würde sie alles für ihren Chef tun.

»Morgen, Boss, was gibt’s?«

»Wo bist du?«

»Stehe grade noch auf dem Åboulevarden im Stau. Dabei ist gar kein Berufsverkehr mehr.«

»In einem Haus in der Svanevænget wurde ein Toter gefunden. Das ist in der Nähe vom Bahnhof Svanemøllen. Übernimmst du das?«

»Klar, kein Problem.«

Sie macht einen U-Turn beim H. C. Ørstedsvej. Wie durch ein Wunder fließt der Verkehr im Jagtvej. An der Kreuzung Nørrebros Runddel klingelt ihr Handy erneut. Sie wirft einen Blick aufs Display und seufzt. Überlegt, ob sie es klingeln lassen soll, geht dann aber doch ran. Seit sie zurück nach Kopenhagen gezogen ist, ruft ihre Mutter mehrfach täglich an.

»Hi, Mama.«

»Hallo, Nabiha.«

Zufälligerweise ist sie gerade mal fünfzig Meter von dem Kvickly-Supermarkt entfernt, in dem ihre Mutter seit vielen Jahren arbeitet, doch das erwähnt Nabiha nicht, weil ihre Mutter dann garantiert fragen würde, ob sie sich nicht treffen wollen. Und darauf hat Nabiha weder Lust, noch hat sie die Zeit.

Doch wie sich herausstellt, ist die Sorge unbegründet, denn ihre Mutter ist nicht auf der Arbeit.

»Ich hab mich krankgemeldet.«

»Wieder die Hände?«

Ihre Mutter, die auf die sechzig zugeht, leidet an Arthrose und lebt in ständiger Angst, wegen der vielen Krankheitstage den Job zu verlieren. Sicher aus gutem Grund.

»Ja«, seufzt sie. »Ich weiß nicht, was ich machen soll. Meine Finger tun so weh.«

»Hast du keine Schmerztabletten mehr?«

»Doch, aber ich will nicht zu viel davon nehmen. Ich habe gehört, man kann abhängig davon werden.«

»Aber es geht ja auch nicht, dass du nicht arbeiten kannst.«

Jedes Mal, wenn Nabiha mit ihrer Mutter spricht, geschehen zwei Dinge: Sie bekommt ein schlechtes Gewissen, und sie wird daran erinnert, wie sehr sie noch immer ihren Vater vermisst, der vor zwanzig Jahren an Krebs gestorben ist.

Wenn sie das Gespräch jetzt nicht schnell beendet, wird ihre Mutter wie immer von Nabihas großem Bruder anfangen, der konstant an der Schwelle zur Scheidung lebt. Sollte es tatsächlich dazu kommen, würde es in der Welt der Mutter einen massiven Ehrverlust bedeuten. Außerdem weiß Nabiha aus bitterer Erfahrung, dass es von den Eheproblemen ihres Bruders nicht weit ist bis zur nächsten großen Sorge ihrer Mutter: dem Umstand, dass ihre fünfunddreißigjährige Tochter immer noch keinen Mann gefunden hat.

Jetzt muss sie bald mal ihren Mut zusammennehmen und ihr sagen, dass es nie dazu kommen wird.

»Mama, ich muss jetzt Schluss machen. Vielleicht komme ich heute Abend mal vorbei, wenn es mit der Arbeit nicht zu spät wird.«

Zehn Minuten später erreicht sie die Svanevænget, eine Seitenstraße des Strandvejen nahe der Stadtgrenze zwischen Kopenhagen und Hellerup. Die Fahrbahn ist schmal, und in beiden Richtungen parken Autos. Sie hält bei einem quer auf der Straße stehenden Streifenwagen, steigt aus und zeigt einem der Kollegen von der Schutzpolizei ihren Ausweis, woraufhin er sie zu sich winkt. Es ist nicht sonderlich kalt, aber feucht, und sie ist heilfroh, vor einer knappen Stunde in weiser Voraussicht die Steppjacke angezogen zu haben.

Ein zweiter Streifenwagen parkt ein Stück weiter vorn. Zwei uniformierte Beamte, ein Mann und eine Frau, stehen daneben.

»Hi. Nabiha von der Gewaltkriminalität. Wart ihr als Erste hier?«

»Yes, Ma’am«, sagt der Mann. »So sieht’s aus.«

Die Polizistin bedenkt ihren Partner mit einem genervten Blick. Dann wendet sie sich Nabiha zu.

»Die Frau, die im Wagen auf dem Rücksitz sitzt, hat die Leiche gefunden. Wenn ich es richtig verstanden habe, ist sie die Putzhilfe. Sie spricht kein Wort Dänisch, nur ein paar Brocken Deutsch.«

Nabiha kann kein Deutsch. »Also hat sie uns angerufen?«

»Ja, das muss sie gewesen sein. Anscheinend hat jemand in der Leitstelle sie verstanden. Zum Glück.«

»Sie sagt, sie kommt aus Bulgarien«, merkt der Streifenbeamte an und schüttelt den Kopf.

Nabiha taxiert ihn mit ihren beinahe schwarzen Augen. »Warum schüttelst du den Kopf? Weil du ihr nicht glaubst? Oder weil du nicht fassen kannst, dass jemand allen Ernstes aus Bulgarien kommt? Oder warum?«

Der Mann starrt Nabiha an. Dann lächelt er dümmlich.

»Nein, äh … das war nur … gar nichts.«

»Aha. Wie wär’s dann, wenn du auf Teglholmen anrufst und Bescheid gibst, dass wir einen Dolmetscher für Bulgarisch brauchen? Und danach … anscheinend gibt es ein Stück weiter die Straße runter eine Botschaft …«

»Ja, die serbische«, sagt die Frau.

»Gut. Könnt ihr nachfragen, ob wir uns ihre Überwachungsvideos durchsehen dürfen?«

»Machen wir.«

»Super. Wo ist die Leiche?«

»Im Erdgeschoss. Im Büro.«

Das Haus, vor dem sie stehen, ist ein riesiger zweistöckiger Kasten – rote Klinker, weiße Sprossenfenster und schwarz glasierte Dachziegel. Weder am Briefkasten neben dem Gartentor noch an der Haustür findet sich ein Namensschild. Nabiha googelt die Adresse, aber auch im Internet taucht kein Name auf, daher ruft sie einen Kollegen an und bittet ihn herauszufinden, wer hier gemeldet ist. Wenige Minuten später weiß sie, dass der Koloss von einem Mann namens Karl Christof Jæger bewohnt wird.

Die Bulgarin ist aus dem Auto gestiegen und versucht, sich mit zitternden Händen eine Zigarette anzustecken. Nabiha geht zu ihr, nimmt vorsichtig das Feuerzeug und hält die Flamme an die Spitze der Zigarette. Die Frau lächelt dankbar und bläst den Rauch aus dem Mundwinkel, damit er Nabiha nicht ins Gesicht zieht.

»Is Karl Christof Jæger the man you work for? Is he the dead man?«, fragt Nabiha.

Die Frau schüttelt den Kopf und antwortet etwas auf Deutsch, das Nabiha aber nicht versteht.

Sie fischt Notizblock mitsamt Kugelschreiber aus ihrer Jackentasche und schreibt den Namen des Mannes auf. Dann hält sie der Frau den Block hin. Sie liest und nickt eifrig. »Da, da«, sagt sie. »Da« bedeutet anscheinend »Ja« auf Bulgarisch. Wie im Russischen. Wieder was gelernt, denkt Nabiha.

Sie legt der Frau eine Hand auf den Arm, drückt ihn und lächelt. »Danke«, sagt sie, und dieses Wort versteht die Bulgarin offenbar, denn sie erwidert das Lächeln.

Nabiha geht zurück zu ihrem Wagen, holt den Schutzanzug und die übrige Ausrüstung heraus und beginnt sich anzuziehen. In dem Moment kommen zwei ihrer Kollegen, Mascha Rasmussen und Laust Larsen, auf sie zu.

»Ich war noch nicht im Haus«, sagt Nabiha, nachdem sie sich begrüßt haben. »Die Techniker müssten jeden Moment hier sein. Kommt einer von euch mit mir rein, die Leiche anschauen?«

»Ich komm mit«, sagt Mascha und geht zurück zum Auto, um ihren Schutzanzug zu holen.

Laust bleibt stehen. »Leitest du die Ermittlungen?«, fragt er.

Nabiha merkt, dass er sich bemüht, nicht pikiert zu klingen. »Keine Ahnung. Merlin hat nichts gesagt. Warum?«

»Ach nichts.« Er folgt Mascha zum Wagen.

Nabiha friert, der Schutzanzug hält nicht sonderlich warm. Sie fasst ihr langes, kräftiges schwarzes Haar mit einer Hand zusammen, setzt sich mit der anderen die Kapuze auf und zieht den Mundschutz über.

Mascha kommt zurück, und gemeinsam gehen sie durchs Gartentor und den Fliesenweg entlang zur Haustür. Das Grundstück ist von einer dichten, hohen Hecke umgeben. Zwischen Hecke und Haus liegt Rasen. Alles sieht tipptopp gepflegt aus. Nabiha fragt sich, was so ein Klotz wohl kostet. Das Viertel ist nicht das teuerste in Kopenhagen, aber ganz sicher auch nicht das billigste. Sie wird niemals in einer solchen Gegend wohnen, es sei denn, sie heiratet reich.

Nabiha öffnet die Tür. Dahinter befindet sich ein hoher Eingangsbereich. Eine weiße Treppe führt in den zweiten Stock. Links ist die Küche, geradeaus die Tür zum Wohnzimmer. Sie gehen eng an der Wand entlang ins Wohnzimmer. Eine gläserne Flügeltür führt in ein Esszimmer. Darüber hinaus gibt es nur eine weitere Tür. Erneut gehen sie dicht an der Wand entlang, um keine Spuren zu zerstören. Der Raum, den sie betreten, hat zwei Fenster. Die roten Samtvorhänge sind vorgezogen. Ein Bücherregal nimmt eine komplette Wand ein. Die übrige Möblierung besteht aus einem riesigen dunklen Holzschreibtisch, einem schwarzen Lederbürostuhl und zwei Sesseln, von denen Nabiha zufälligerweise weiß, dass sie von Hans Wegner entworfen wurden und über hunderttausend Kronen das Stück kosten. An der Decke hängt ein gewaltiger Kristallkronleuchter und wirft ein kühles Licht in den Raum.

Die Leiche liegt bäuchlings vor dem Schreibtisch, auf einem orientalischen Teppich in Blau, Gold und Weiß. Das Gesicht ist nicht zu sehen. Auf beiden Seiten des Kopfes ist etwas Blut auf den Teppich getropft. Die Beine sind gestreckt, die Arme liegen parallel neben dem Körper.

Nabiha tritt vorsichtig zu dem Toten und geht in die Hocke. Mit dem Zeigefinger ihrer latexbehandschuhten Hand schiebt sie das halblange Haar zur Seite. Die Schusswunde befindet sich im Nacken, etwa am Übergang von Wirbelsäule und Schädelknochen.

»Der Typ hat einen teuren Geschmack«, bemerkt Mascha, die auf der anderen Seite der Leiche steht.

»Du meinst die Möbel?«, fragt Nabiha.

»Ja, auch. Aber vor allem die Klamotten …« Mascha beugt sich vor und deutet auf Karl Christof Jægers dunkelblaue Jeans. »Die ist ein Unikat von Jacob Cohën. Ich will nicht wissen, was die gekostet hat. Und die Louis-Vuitton-Sneaker waren auch nicht billig.«

Nabiha hat noch nie von einer Marke namens Jacob Cohën gehört, und auch wenn sie weiß, dass Louis Vuitton schweineteure Taschen herstellt, hatte sie keine Ahnung, dass die Firma auch Schuhe produziert. Sie nimmt die Leiche von Kopf bis Fuß in Augenschein. Die Hose und das hellblaue Hemd sind intakt, außer im Nacken scheint es keine weiteren Schusswunden zu geben.

Sie schauen sich im Zimmer um. Der Schreibtisch ist bis auf eine Tischleuchte und eine Briefablage leer. Darin liegen eine Ausgabe des Euroman sowie ein weiteres Magazin namens Antik & Auktion. Nabiha nimmt die beiden Zeitschriften heraus und entdeckt darunter ein Foto mit der Rückseite nach oben. Sie dreht es um. Es ist das Porträt eines Mannes mittleren Alters. Jemand hat seine Augen mit einem Kugelschreiber ausgestochen. Nabiha ist sich sicher, den Mann schon mal irgendwo gesehen zu haben, kann ihn aber nicht einordnen. Sie zeigt Mascha das Bild.

»Kennst du den?«

»Ähm, ja … ist das nicht Rasmus Donsberg? Der Klimaminister?«

Nabiha überlegt. »Der ist auch ziemlich reich, oder?«

»Stinkreich.«

»Hm. Warum liegt hier ein Foto von ihm?«

Mascha schüttelt den Kopf. »Keine Ahnung. Aber es dürfte ja nicht so schwer sein rauszukriegen, ob es eine Verbindung zwischen den beiden gibt.«

Tatsächlich dauert es nicht lang, bis eine Kollegin auf Teglholmen die Beziehung zwischen den beiden Männern in Erfahrung gebracht hat.

Karl Christof Jæger ist der Sohn des Klimaministers.

»Na großartig«, murmelt Nabiha. Umständlich kramt sie ihr Handy aus der Hosentasche unter dem Schutzanzug hervor und ruft Merlin an.

Kapitel 6

»Gut«, hatte Kristoffers Vater erwidert, als er ihm vor einigen Monaten erzählte, dass er die Vertretungsstelle in Aalborg bekommen habe. Jørn Kirch, Schweinebauer und Wähler der Liberalen Partei, macht selten große Worte.

Kristoffer weiß, dass sich sein Vater ob seiner Berufswahl grämt. Er hätte es lieber gesehen, wenn er den Hof nahe Herning übernommen hätte, den Jørn Kirch wiederum vor zwanzig Jahren von seinem Vater geerbt hat. Aber wenn es nun einmal sein muss, ist es immer noch besser, der Bursche arbeitet irgendwo in Jütland statt am anderen Ende des Landes in der Hauptstadt.

Dass sein Vater so denkt, weiß Kristoffer von seiner Mutter. Sie war es auch, die ihm erzählt hat, dass sein Vater während der sechs Monate, die Kristoffer in Afghanistan stationiert war, praktisch keine ruhige Nacht hatte.

Auf einmal wird ihm bewusst, dass es mehrere Wochen her ist, seit er zuletzt mit seinen Eltern gesprochen hat. Vielleicht kommt ihm der Gedanke ausgerechnet in diesem Moment, weil ihn der Mann auf der anderen Seite des Tisches – einer der drei aus der Nachtschicht – an seinen Vater erinnert.

Kristoffer schielt zu seinem Kollegen.

»Warum hat sich Olesen zum Zeitpunkt der Explosion direkt unter dem Förderband befunden?«, fragt Justesen und lehnt sich auf dem Kantinenstuhl zurück. Es war sein Vorschlag, die Befragung der beiden Kollegen des Verstorbenen sowie weiterer Personen, die eventuell Licht in die Angelegenheit bringen können, mit einer Tasse Kaffee in der Kantine zu verbinden, während die Techniker und die beiden vor Kurzem eingetroffenen Sprengstoffexperten den Unglücksort untersuchen.

Oder wohl besser den Tatort, denkt Kristoffer.

Der Mann aus der Nachtschicht zuckt mit den Achseln. »Keinen Schimmer«, sagt er mit rauer Stimme.

Er sieht erschöpft und mitgenommen aus, doch sowohl er als auch sein Kollege haben es abgelehnt, nach Hause zu gehen.

»Ich weiß nur, dass Jens Viggo auf seinem Rundgang war. Den macht er zweimal im Laufe einer Nachtschicht, um sicherzugehen, dass alles läuft, wie es soll.«

Justesen nickt langsam. »Aber gehört zum Rundgang auch, dass er nach draußen muss? Was wollte er da nachgucken?«

»Keine Ahnung. Vielleicht wollte er einfach frische Luft schnappen. Eine rauchen. So eine Nachtschicht kann einem ganz schön lang werden, wenn man sich nicht mal zwischendurch die Beine vertritt.«

»Verständlich«, sagt Justesen. »Und Sie waren im Leitstand und haben von dort die Prozesse überwacht, richtig?«

»Genau.«

»Und lief alles ordnungsgemäß?«

»Ja.«

»Keinerlei Störmeldungen, nichts Auffälliges auf ihren Bildschirmen?«

»Nichts. Alles war normal.«

»Als es dann zur Explosion kam, wie haben Sie es bemerkt?«

»Ich hab sie gespürt, wie eine Art Erschütterung im Boden. Und direkt danach ging der Alarm am Förderband los.«

»Wie haben Sie reagiert?«

»Tja, wie habe ich reagiert? Ich hab wohl rüber zu Magnus geschaut und so was gesagt wie: ›Was zum Teufel war das?‹ Magnus ist mein Kollege.«

»Und dann?«

»Dann hab ich zu Magnus gesagt, er soll schnell hin und nachschauen. Das hat er gemacht. Ich hab derweil die Monitore gecheckt, aber da war außer jeder Menge Qualm nichts zu erkennen. Ein paar Minuten später hat er angerufen und gesagt, dass es aussieht, als wäre was explodiert an der Stelle, wo das Förderband ins Gebäude läuft. Ich dachte, das macht doch keinen Sinn, dass ausgerechnet da was explodieren soll. Und dann hab ich der Wachzentrale gemeldet, dass wir anscheinend eine Explosion hatten, und nach zehn, fünfzehn Minuten war die ganze Kavallerie da.«

»Jens Viggo … ihn hatten Sie und Ihr Kollege nicht gefunden?«

»Doch, Magnus hat ihn entdeckt, als er nach draußen gegangen ist, um zu sehen, wie groß die äußeren Schäden sind.« Der Mann räuspert sich. »Kein schöner Anblick …«

»Nein, das muss schrecklich gewesen sein. Auch für Sie, kann ich mir vorstellen. Zwei Krisenpsychologen sind unterwegs hierher. Sie werden Ihnen helfen …«

»Psychologen? Müssen wir mit Psychologen reden?«

»Sie müssen nicht«, sagt Kristoffer. »Aber glauben Sie mir, es wäre gut.«

Der Kraftwerker steht auf, bleibt jedoch stehen.

»Möchten Sie uns noch etwas sagen?«, fragt Justesen.

Der Mann zögert. »Wissen Sie, was passiert ist? Ich meine, warum …?«

»Nein, wir wissen es nicht genau.«

»Wir haben keinen Fehler gemacht, das wollt ich nur sagen.«

Justesen sieht ihn ernst an. »Das glaubt auch keiner.«

»Aber was glaubt ihr dann? Was zur Hölle ist mit unserem Werk passiert?«

»Da sind wir uns noch nicht sicher.«

Eine Frau kommt an den Tisch.

»Sind Sie fertig mit Poul?«

»Ja, wir sind fertig. Ich danke Ihnen«, sagt Justesen.

Die Frau fasst den Mann unter und führt ihn sanft aus der Kantine. Der Produktionsleiter Erland Mikkelsen kommt an den Tisch und setzt sich.

»Sie haben noch weitere Fragen, wenn ich es richtig verstanden habe.«

»Ja«, sagt Justesen. »Überwachungskameras?«

»Davon haben wir einige. Wenn ich es richtig im Kopf habe, etwa einhundertfünfzehn, die das Produktionsareal abdecken, und mehr als zehn Kameras sind auf den Kohleplatz und das Förderband gerichtet«, antwortet er.

»Sollte also jemand ins Gebäude eingedrungen sein …?«

»Dann haben die Kameras ihn oder sie mit ziemlicher Sicherheit erwischt.«

»Und die Aufnahmen werden gespeichert?«

»Laut Gesetz dürfen wir sie höchstens für dreißig Tage speichern. Und so machen wir es auch.«

»Wunderbar. Sorgen Sie dafür, dass wir Zugang zu den Aufnahmen erhalten, damit unsere Leute sie so schnell wie möglich durchsehen können.«

Kristoffer beugt sich vor. »Was bedeutet die Sache eigentlich für den Betrieb des Kraftwerks?«

»Für die nächsten Wochen haben wir ihn jedenfalls erst mal eingestellt«, sagt Mikkelsen. »Wie lange genau, hängt davon ab, wie groß der Schaden im Gebäude ist. Falls die Kohlemühlen schwer beschädigt sind, kann es eine ganze Zeit dauern, sie zu reparieren. Wir können ja schlecht mal eben beim nächsten Mechaniker ein paar Ersatzteile holen.«

»Nein, vermutlich nicht. Der Stillstand bedeutet erhebliche Verluste, oder?«

»Ja, und gerade jetzt ist ein wirklich schlechter Zeitpunkt, auch wenn die Witterung mild ist. Wir riskieren Einbußen von mehreren Millionen am Tag, wenn wir weder Strom noch Fernwärme verkaufen.«

Justesen fährt sich durch die spärlichen Locken. »Sagen Sie, die Explosionsstelle, ist das eigentlich die neuralgische Stelle des Werks?«

Mikkelsen schüttelt den Kopf. »Nein, überhaupt nicht. Es gibt mehrere andere Stellen, wo die Explosion weit größeren Schaden angerichtet und uns sehr viel länger lahmgelegt hätte.«

»Also ist es merkwürdig, dass die Bombe dort platziert wurde?«

»Na ja, merkwürdig würde ich nicht sagen. Wenn man das Werk nicht so gut kennt … wenn man nicht sicher weiß, wo die empfindlichsten Stellen sind – und das posaunen wir natürlich nicht hinaus –, dann ist der gewählte Ort gar nicht so dumm. Kann man sich ja ausrechnen: Wenn am einen Ende kein Brennstoff reinkommt, dann kommen am anderen Ende auch keine Wärme und kein Strom heraus. Dafür braucht man kein Experte zu sein.«

Justesen lächelt. »Nein, das könnte vermutlich selbst ich mir denken. Und ich habe nun wirklich keine Ahnung von Kraftwerken.«

»Aber warum ausgerechnet dieses hier?«, fragt Kristoffer.

Der Produktionsleiter sieht ihn erstaunt an. Justesens Lächeln wird eine Spur breiter.

»Wegen der Kohle«, sagt Erland Mikkelsen. »Es gibt nur noch drei Kohlekraftwerke in Dänemark, und wir sind eines davon. Und na ja, Sie wissen ja, Verbrennen von Kohle bedeutet gleich einen hohen CO2-Ausstoß.«

»Ah, okay, klar.« Kristoffer schüttelt den Kopf über seine eigene Unwissenheit und schaut betreten zu Justesen. Sein älterer Partner lächelt noch immer breit, allerdings ohne jede Spur von Spott.

»Man muss dazu wissen«, sagt Mikkelsen, »dass Block 3 eine der effektivsten kohlegefeuerten Kraftwerkseinheiten der Welt ist. Mit dem Kohleausstieg soll er plangemäß 2028 stillgelegt werden. Wir könnten ihn schon 2025 vom Netz nehmen, wenn wir für die vorzeitige Abschaltung entschädigt werden würden, aber das haben der Klimaminister und die Regierung abgelehnt. Sie wollen den Preis nicht zahlen.«

»Der da wäre?«

»Etwas über vierhundert Millionen Kronen.«

»Holla. Das ist ja auch eine stolze Summe.«

»Stimmt. Aber es würde erheblich CO2 einsparen, wenn wir drei Jahre früher als geplant abschalten und stattdessen auf eine klimafreundlichere Energieproduktion umstellen.«

»Ist es das erste Mal, dass das Werk Ziel von Klima-Sabotage ist?«, fragt Kristoffer. »Ich meine, falls es wirklich Klimaaktivisten waren.«

Mikkelsen nickt. »Davon können Sie ausgehen. Und nein, es ist nicht das erste Mal. Umwelt- und Klimaaktivisten in Gummibooten haben schon mehrfach versucht, den Kai zu blockieren, damit die Kohleschiffe nicht anlegen können. Vor einigen Jahren sind Aktivisten ins Werk eingedrungen und haben sich ans Förderband gekettet. Ein paar andere haben versucht, in den Schornstein zu gelangen, und wieder andere sind auf dem Dach von Block 3 rumgeturnt. Aber etwas von der Größenordnung wie jetzt hatten wir noch nie.«

Da Produktionsleiter Erland Mikkelsen nichts weiter zu berichten weiß, lassen sie den dritten Mitarbeiter kommen, der in dieser Nacht Schicht hatte, aber dessen Befragung bringt keine neuen Erkenntnisse.

Justesen seufzt und schaut auf sein Handy. »Wollen wir mal rübergehen und gucken, ob die Techniker was gefunden haben?«, fragt er und steht auf, ohne eine Antwort abzuwarten.

Kristoffer war überrascht gewesen, als er vor drei Monaten die Vertretungsstelle bei der Abteilung für Gewaltkriminalität in Aalborg bekam. Bis dahin hatte er seit Abschluss seiner Ausbildung beim Einbruchsdezernat der Polizei Vestegnen gearbeitet. Dementsprechend hielt (und hält) sich seine Erfahrung mit der Aufklärung von Mordfällen und sehr schwerer Körperverletzung stark in Grenzen.

Das Einzige in seinem Lebenslauf, was ansatzweise in diese Richtung ging, war der Umstand, dass er während seines Praktikums als Polizeischüler in Sandsted an den Ermittlungen in zwei Mordfällen und einem Brandanschlag auf eine Flüchtlingsunterkunft beteiligt gewesen war – Verbrechen, die, wie sich später herausstellte, mit dem Terroranschlag in Kopenhagen 2016 in Verbindung standen. Und auf diese Erfahrung blickt er nicht eben mit Stolz zurück. In seinem eifrigen Bemühen um Junckers Anerkennung hat er es damals so sehr vermasselt, dass er stattdessen einen Anschiss kassierte, weil er wichtige Informationen zurückgehalten hatte.

Die Ereignisse in Sandsted kulminierten in seiner Entführung als Geisel. Kristoffer weiß von Nabiha, dass Juncker sich im Nachhinein Vorwürfe machte, zu hart gegenüber dem unerfahrenen Polizeischüler gewesen zu sein. Und Juncker hat sich seitdem regelmäßig bei ihm gemeldet. Kristoffer hat das starke Gefühl, dass sein routinierter Kollege von der Seitenlinie aus mitverfolgt hat, wie es ihm ergangen ist. Er ist sich daher auch so gut wie sicher, dass Juncker seine Finger mit im Spiel gehabt hat, als ihm die Stelle in Aalborg angeboten wurde, denn Juncker und Justesen kennen sich. Sie haben früher mal in einigen Mordfällen zusammengearbeitet, als Juncker noch als Ermittler eines Spezialteams für die Aufklärung besonders kniffliger Fälle landesweit im Einsatz war. Außerdem weiß Kristoffer, dass Justesen eine Schwäche für Veteranen hat. 2003 war er selbst als Polizeibeamter im Irak im Einsatz.

Wie auch immer die genauen Gründe aussehen, Kristoffer könnte sich jedenfalls keine bessere Stelle wünschen und hat nicht vor, wie in Sandsted Mist zu bauen.

»So«, sagt Justesen zu den beiden Technikern und den zwei Sprengstoffexperten, die vor einer der Kohlemühlen stehen. »Was habt ihr für uns?«

Einer der Sprengstoffexperten trinkt einen Schluck Wasser und wischt sich mit dem Handrücken über den Mund.

»Wir können jedenfalls schon mal sagen, dass nichts an der Anlage selbst explodiert ist.«

»So viel haben wir uns auch schon gedacht«, erwidert Justesen. »Und dass jemand eine Art Bombe platziert hat.«

»Sie sagen ›platziert‹, aber das glauben wir nicht. Wir sind uns fast sicher, dass es etwas war, das von draußen kam.«

»Wie, von draußen?«

»Wir haben Reste von etwas gefunden, das wir erst nicht identifizieren konnten, aber jetzt denken wir, dass sie von einem Flügel stammen.«

»Einem Flügel? Von einem Fluggerät?«

»Ja, so kann man es sagen. Einem kleinen. Einer Drohne.«

Justesen schüttelt den Kopf. »Wollen Sie mir sagen, das Kraftwerk war Ziel eines Drohnenangriffs?«

»Sieht so aus, ja. Keine Drohne, die ein Geschoss abgefeuert hat, sondern eine, die mit einem Gefechtskopf bestückt ins Kraftwerk geflogen ist.

»Gibt es so was?«

»Ja.« Kristoffer, der etwas abseits des Kreises gestanden hat, tritt einen Schritt näher. »Kamikaze-Drohnen nennt man die. Oder Loitering Munition.«

»Und das bedeutet?«, fragt Justesen.

»Übersetzt so etwas wie ›Herumlungernde Munition‹, weil sie erst mal längere Zeit über dem Zielgebiet kreisen können, bevor sie ihr eigentliches Ziel attackieren.«

Der Sprengstoffexperte schaut Kristoffer beeindruckt an. »Davon verstehen Sie was?«

»Afghanistan 2011«, erklärt Kristoffer. »Die Dinger können aus einer Entfernung von vierzig bis fünfzig Kilometern losgeschickt werden und lassen sich entweder durch eine Kamera fernsteuern oder greifen basierend auf vorprogrammierten Koordinaten an.«

»Mindestens eine der Überwachungskameras muss die Drohne eingefangen haben«, meint Justesen.

»Ja, bestimmt«, sagt Kristoffer. »Kamikaze-Drohnen sind übrigens ziemlich umstritten. Einige finden diese Art der Kriegsführung unethisch.«

»Hm, man könnte ja meinen, dass Krieg an sich unethisch ist und es eigentlich egal ist, mit welcher Waffe man ausgelöscht wird«, entgegnet Justesen. »Aber Himmel noch mal, ein Drohnenangriff in Vendsyssel. Was kommt als Nächstes?« Er schüttelt fassungslos den Kopf.

Ein Handy vibriert. Justesen hat sich in Gedanken verloren. Die anderen schauen ihn an.

»Ist das nicht deins?«, fragt Kristoffer.

Justesens Blick klärt sich. »Oh, ähm, ja.« Er zieht das Telefon aus der Jackentasche, geht etwas abseits, und nimmt den Anruf an. Das Gespräch dauert nicht lange.

»Mehrere Medien haben vorhin eine Mail von jemandem erhalten, der die Verantwortung für den Angriff übernimmt«, sagt er. »Anscheinend irgendeine radikale Klima- und Umweltgruppe, die sich Nerthus nennt. Keine Ahnung, was das bedeutet.«

»Was schreiben sie?«

»Weiß ich noch nicht. Komm, wir fahren ins Präsidium. Hier können wir sowieso nichts mehr tun.«

Sie verabschieden sich und gehen zum Wagen.

»Fährst du?«, sagt Justesen.

Ehe Kristoffer antworten kann, hat sein Kollege bereits die Beifahrertür geöffnet und ist eingestiegen. Justesen kippt die Rückenlehne zurück, sodass er beinahe auf dem Sitz liegt, und verschränkt die Hände im Nacken.

»Dass Jens Viggo Olesen das Ziel des Angriffs war, können wir ausschließen, oder?«

»Ja, denke schon«, antwortet Kristoffer, während er den Motor anlässt und den Gang einlegt. Er schaut zu Justesen. »Warum sollte jemand einen gewöhnlichen älteren Kraftwerkmitarbeiter mit etwas so Hochentwickeltem wie einer bewaffneten Drohne angreifen?«

»Nein, das ergibt nicht wirklich Sinn«, stimmt Justesen zu.

»Außerdem war der Angriff eindeutig nicht gegen ihn, sondern gegen das Förderband gerichtet. Ich denke, er war bloß zur falschen Zeit am falschen Ort. Wäre ja auch eine echt merkwürdige Tötungsmethode, wenn man es wirklich auf ihn abgesehen hätte. Ich meine, ein Stahlträger, der mehr oder weniger zufällig nach der Explosion runterkracht …«

»Du hast bestimmt recht«, sagt Justesen und schließt die Augen.

Kristoffer fährt vom Parkplatz. Eine halbe Minute später hört er an den Atemzügen seines Kollegen, dass er eingeschlafen ist.

Kapitel 7

Es war das Bett, denkt Juncker, als er Torben Jørgensen einen langen Gang entlang zum Medikamentenraum folgt. Der Anblick des Pflegebettes, in dem der tote alte Mann lag, mit den Hebevorrichtungen und dem Gitter, damit der Schlafende nicht herausfällt …

Es hat gewisse Vorteile, ein konfliktscheuer Verdrängungsexperte zu sein. Zum Beispiel den, dass er recht selten an den Krankenhausaufenthalt vor fünfzehn Monaten denkt, als ihm die Prostata entfernt wurde. Und an das Gespräch mit dem Oberarzt drei Wochen später, als er sein Leben zurückbekam – zwar ziemlich eingeschränkt, aber doch noch immer einigermaßen brauchbar. Ob er jetzt geheilt sei, hatte er den Arzt gefragt, woraufhin der ihn belehrte, dass man mit dem Wort »geheilt« bei Krebserkrankungen zurückhaltend sei. Auf »krebsfrei« hingegen könnten sie sich gern einigen. Mit ein paar nachgeschobenen Vorbehalten: »im Moment« und »so wie es aussieht«.

Aber das Bett hat ihn daran erinnert, dass er in zwei Wochen zur Kontrolle muss. Ein Routinecheck, wie die anderen Nachsorgeuntersuchungen, bei denen er seit der OP gewesen ist. Nichts deutet darauf hin, dass aus der kleinen Markierung auf der Zeichnung des Pathologen, wo der Krebs bis ganz an den Resektionsrand gereicht hatte – dem einzigen Aber, das der Oberarzt hatte anklingen lassen –, mehr geworden ist als nur eine Markierung. Kein Resttumor.

So wie es im Moment aussieht.

Er weiß, dass seine Nervosität mit Näherrücken des Termins wachsen wird. Wie allen anderen Krebspatienten ist ihm vollkommen bewusst, woher das angestrengte Verhältnis der Ärzte zu dem Wörtchen »geheilt« rührt: Krebs ist der am meisten verhasste Gast von allen – hat er sich erst mal eingenistet, ist es praktisch unmöglich, ihn wieder loszuwerden. Durchaus möglich, dass er in seinem Zimmer bleibt, sich ruhig verhält und man aus einem völlig anderen Grund das Zeitliche segnet. Aber er kann auch auftauchen, wenn man es am allerwenigsten erwartet.

»Aber so geht es uns doch allen«, hatte Malene eines Abends gesagt, nachdem sie darauf bestanden hatte, darüber zu reden, wie er sich fühlte. Malene ist Psychologin und Profilerin mit Spezialisierung auf Psychopathen. »Keiner von uns weiß, was morgen passiert und uns treffen kann. Das ist eine Grundbedingung des Lebens.«