Todland - Kim Faber - E-Book
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Kim Faber

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Beschreibung

Hochspannung aus Dänemark! Der zweite Fall für Juncker & Kristiansen: vielschichtig, erschreckend und unglaublich spannend.

Der schreckliche Terroranschlag in Kopenhagen wirft immer noch seinen Schatten auf den Ermittler Martin Juncker: Während er im Fall eines toten Anwalts zu ermitteln beginnt, erhält seine Frau Charlotte einen anonymen Hinweis: Der Anschlag sechs Monate zuvor hätte verhindert werden können – und Martin soll in die Vertuschung verwickelt gewesen sein.
Als Journalistin konfrontiert Charlotte ihren Mann, doch der bestreitet alles. Insgeheim fürchtet er um sein eigenes und Charlottes Leben, wenn sie die Story weiterverfolgt. Einzig Martins ehemalige Kollegin Signe will der Reporterin helfen, doch ihr Antrieb ist ein persönlicher … Als Charlottes Informant brutal ermordet wird, beschließt Signe, dass es an der Zeit ist für die Wahrheit. Und so kommt sie einer unglaublichen Verschwörung auf die Spur, die bis in die höchsten Kreise der dänischen Politik reicht und in die auch Martin Junckers Mordopfer verwickelt ist …

Alle Fälle von Juncker und Kristiansen:
Winterland
Todland
Blutland (in Vorbereitung)

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Seitenzahl: 589

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Buch

Der schreckliche Terroranschlag in Kopenhagen wirft immer noch seinen Schatten auf den Ermittler Martin Juncker: Während er im Fall eines toten Anwalts zu ermitteln beginnt, erhält seine Frau Charlotte einen anonymen Hinweis: Der Anschlag sechs Monate zuvor hätte verhindert werden können – und Martin soll in die Vertuschung verwickelt gewesen sein.

Als Journalistin konfrontiert Charlotte ihren Mann, doch der bestreitet alles. Insgeheim fürchtet er um sein eigenes und Charlottes Leben, wenn sie die Story weiterverfolgt. Einzig Martins ehemalige Kollegin Signe will der Reporterin helfen, doch ihr Antrieb ist ein persönlicher … Als Charlottes Informant brutal ermordet wird, beschließt Signe, dass es an der Zeit ist für die Wahrheit. Und so kommt sie einer unglaublichen Verschwörung auf die Spur, die bis in die höchsten Kreise der dänischen Politik reicht und in die auch Martin Junckers Mordopfer verwickelt ist …

Die Autorin

Janni Pedersen ist Moderatorin und Kriminalreporterin bei TV2, einem der meistgesehenen Fernsehsender Dänemarks. 2018 wurde sie als beste Nachrichtensprecherin des Jahres ausgezeichnet.

Kim Faber ist Architekt und Journalist bei »Politiken«, einer der größten dänischen Tageszeitungen.

Das bekannte Journalistenpaar hat mit »Winterland« einen explosiven und packenden Kriminalroman über Terror, Gewalt, Trauer und Einsamkeit geschrieben. Ihr Erstlingswerk ist der Auftakt der Reihe um das dänische Ermittlerduo Martin Juncker und Signe Kristiansen, gefolgt vom Roman »Todland«, der ebenfalls die dänische Bestsellerliste im Sturm eroberte.

Alle Bänder der Juncker & Kristiansen-Krimireihe:

Winterland (Juncker & Kristiansen 1)

Todland (Juncker & Kristiansen 2)

Blutland (Juncker & Kristiansen 3)

Besuchen Sie uns auch auf www.instagram.com/blanvalet.verlag und www.facebook.com/blanvalet.

Kim Faber & Janni Pedersen

Kriminalroman

Deutsch von Franziska Hüther

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel » Satans Sommer« bei JP / Politikens Hus, Kopenhagen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Zitat: Machiavelli, Der Fürst.

Zitat: Jack London: Wolfsblut. Aus dem amerikanischen Englisch von Isabelle Fuchs. Anaconda Verlag, Köln 2012, S. 7.

Copyright der Originalausgabe © Kim Faber & Janni Pedersen and JP/Politikens Hus A/S 2020 in agreement with Politiken Literary Agency

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2021 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: René Stein

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotiv: mauritius images/ClickAlps RM/Massimiliano Broggi; www.buerosued.de

BL · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-25796-5V003

www.blanvalet.de

Es ist viel sicherer, gefürchtet als geliebt zu sein.

NICCOLÒ MACHIAVELLI

Montag, 31. Juli

Kapitel 1 

Wenn man bedenkt, dass ihm zweimal in den Kopf geschossen wurde, sieht der Mann auf dem Weg erstaunlich gut aus.

Die heftigen Gewitterschauer der letzten Nacht haben das Blut aus den Eintrittswunden in den braunen Kies gespült. Eine der beiden Wunden liegt exakt in der Mitte der Stirn, zwei Zentimeter über der Nasenwurzel, und sieht dem zinnoberroten Bindi hinduistischer Frauen zum Verwechseln ähnlich. Die andere befindet sich an der rechten Schläfe auf Höhe der Augen, die halb geöffnet, blutunterlaufen und erloschen sind.

Der Tote liegt auf dem Rücken, ein Arm ruht auf dem Bauch, der andere liegt wie achtlos hingeworfen in einem Winkel von etwa dreißig Grad neben dem Körper. Das rechte Bein ist gestreckt, das linke dagegen in einem unnatürlichen Winkel gebeugt. Er muss wie ein Kartenhaus zusammengeklappt sein, denkt Polizeikommissar Martin Junckersen, der von allen aber nur Juncker genannt wird.

Im Kies sind keine Schleppspuren zu sehen, allerdings könnte der Regen sie auch weggewaschen haben. Wahrscheinlich ist der Mann also an einem anderen Ort getötet und anschließend mitten auf dem Weg deponiert worden. Aber würde man dabei das Bein in eine derart ungelenke Position bringen? Nein, der Mann liegt genau an der Stelle, wo er umgefallen ist. Er wurde hier getötet, schließt Juncker.

Es sei denn, er hat Selbstmord begangen. Aber es ist keine Waffe zu sehen. Sie könnte natürlich unter der Leiche liegen, oder jemand hat sie entwendet, nachdem sich der Mann selbst erschossen hat. Letzteres ist Juncker vor einigen Jahren tatsächlich mal in einem Fall untergekommen. Damals hatten er und seine Kollegen einzig anhand von Schmauchspuren an der Hand des Toten feststellen können, dass es sich um Selbstmord gehandelt und irgendjemand im Anschluss die Waffe gestohlen hatte.

Außerdem sind es zwei Schusswunden. Und auch wenn es theoretisch sicher möglich ist, dass der erste Schuss nicht tödlich war und der Lebensmüde daher ein zweites Mal auf sich schießen musste, scheint dieses Szenario gelinde gesagt reichlich unwahrscheinlich.

Es ist erst Viertel vor acht, doch die Kühle der Nacht ist bereits in den blauen Himmel verschwunden. Das Thermometer ist auf über zwanzig Grad geklettert, und gerade einmal eine Dreiviertelstunde nach der Morgendusche hat sich Junckers Rücken in ein Flussdelta aus Schweißströmen verwandelt, die sich als dunkle Flecken auf Hemd und Unterhose abzeichnen. Der Umstand wird noch durch den hermetisch geschlossenen Schutzanzug aus Kunststoff verschlimmert, in dem er steckt.

Sein Magen meldet sich ungehalten und klingt wie das Knurren eines verwöhnten Schoßhunds. Juncker seufzt und schluckt ein paar Mal, um die leichte Kartonrotweinübelkeit zurückzudrängen, die inzwischen zum festen morgendlichen Begleiter geworden ist.

Der etwa drei Meter breite Kiesweg teilt den Kildeparken, Sandsteds einzige größere Grünanlage, in seiner gesamten Länge. Unter den Einwohnern der kleinen Provinzstadt im Südosten Seelands heißt der Kildeparken ausnahmslos der »Kitzler«, da sich dort seit eh und je so mancherlei in den Büschen abspielt. Hier ist Juncker vor fünfundvierzig Jahren von seiner ersten Freundin in die Geheimnisse des Zungenkusses eingeweiht worden, und noch heute erinnert er sich an den frischen, leicht süßlichen Geschmack ihrer Lippen und das Unbehagen, das er beim beharrlichen Versuch ihrer feuchten Zunge empfand, sich zwischen seine zusammengebissenen Zähne zu drängen. Hier geschah es auch, dass einen Monat später eben jene Freundin – um Lichtjahre erfahrener als er – sein erigiertes Glied geschickt zu einem sehr schnellen und explosiven Erguss brachte.

Fünfzig Meter entfernt stehen zwei uniformierte Polizisten und sprechen mit dem städtischen Gärtner, der den Toten gefunden hat. Juncker, der sich am liebsten in den Schatten der mächtigen Buchen und Kastanienbäume verkriechen würde, richtet den Blick wieder auf die Leiche und geht auf dem Gras neben dem Kiesweg in die Hocke.

Die beiden Schusswunden sind klein, beinahe unschuldig anzusehen. Der Rechtsmediziner Gösta Valentin Markman, der sich gerade in seinem Wagen auf dem Weg von Kopenhagen nach Sandsted befindet, hat Juncker einmal erklärt, dass der Durchmesser einer Schusswunde aufgrund der Elastizität der Haut so gut wie immer etwas kleiner als der des Projektils ausfällt. Juncker beugt sich vor und studiert das Schussloch in der Stirn. Kaliber .22, schätzt er, jedenfalls irgendwas aus der Kleinkramabteilung. Die Nase des Opfers zeigt gerade zum Himmel, und soweit Juncker erkennen kann, gibt es keinen Blutfleck unter dem Kopf und demnach vermutlich keine Austrittswunde. Dasselbe gilt für die Wunde in der Schläfe, beide Projektile müssen also nach wie vor im Schädel stecken, was auf einen Munitionstyp mit einer geringen Mündungsgeschwindigkeit hindeutet.

Vielleicht ist der Täter Mitglied in einem Schützenverein, überlegt Juncker. Die meisten Sportwaffen haben nämlich just jenes Kaliber .22. Es wäre definitiv eine Möglichkeit, zumal es in der Stadt tatsächlich einen recht großen Schützenverein gibt. Andererseits … es könnte auch die Arbeit eines Profis sein. Ausgeführt von einem Minimalisten. Einem »Weniger ist mehr«-Typ.

Juncker richtet sich auf und stöhnt über den stechenden Schmerz in den neunundfünfzig Jahre alten und reichlich eingerosteten Kniegelenken. Er sollte zu einem Arzt gehen und sie untersuchen lassen. Er sollte so vieles von einem Arzt untersuchen lassen. Seine Prostata beispielsweise. Aber er hat gelesen, dass eine rektale Untersuchung für die Untersuchung des Drüsenumfangs fast schon obligatorisch ist. Und der Finger eines Arztes in seinem Hintern? Nein, danke, erst mal nicht.

Die Leberwerte dagegen? Hierfür braucht es schließlich bloß eine Blutprobe. Ja, bald. Vielleicht. Er schiebt die Verfallsgedanken beiseite. Drüben am Eingang hebt eine Frau das rot-weiße Absperrband an und schlüpft darunter hindurch in den Park. Beim Anblick von Nabiha Khalids entschlossenem Marsch über den Rasen zuseiten des Kiesweges muss Juncker unwillkürlich schmunzeln. Der Rücken der zweiunddreißigjährigen Polizeiassistentin ist durchgedrückt, der Kopf hocherhoben, und der kräftige pechschwarze Pferdeschwanz wippt hinterdrein. Sie behauptet steif und fest, in ihrem Pass stünde eins siebenundsechzig, doch Juncker hat den Verdacht, dass sie sich bei der Messung bis zum Äußersten gestreckt hat und in Wahrheit keinen Zentimeter größer ist als die eins vierundsechzig, die früher einmal als Mindestanforderung für Bewerberinnen in der dänischen Polizei galten. Sie grüßt die beiden uniformierten Beamten. Der eine reicht ihr einen weißen Anzug und Plastiküberzüge für die Schuhe. Sie zieht die Schutzausrüstung über und geht auf Juncker und die Leiche zu. Als sie näher kommt, sieht er ein begeistertes Blitzen in ihren dunklen, fast schwarzen Augen, das zu verbergen sie sich nicht im Geringsten bemüht.

Noch bis vor wenigen Monaten hat Nabiha gemeinsam mit Juncker eine kleine Polizeistation in Sandsted besetzt. Sie war im letzten Jahr mit dem vorrangigen Ziel eingerichtet worden, die Probleme mit dem Asylheim für unbegleitete Minderjährige anzugehen, das ein Stück außerhalb der Stadt lag, doch der Zustrom von Flüchtlingen hat seither deutlich nachgelassen, und das Heim wurde im April geschlossen.

Da die Polizei nach einem Terroranschlag in Kopenhagen am dreiundzwanzigsten Dezember ressourcentechnisch am Limit arbeitete, entschied man kurz darauf, auch die Polizeistation in Sandsted zu schließen, woraufhin Juncker und Nabiha zur Abteilung für Gewaltkriminalität der Hauptdienststelle in Næstved versetzt wurden.

Zwar hat Nabiha Juncker bei den Ermittlungen im Doppelmord an einem verheirateten Paar in Sandsted assistiert, der, wie sich später herausstellte, mit dem Terroranschlag in Verbindung stand. Doch dieser Fall hier wird nun ihr erster Mordfall als ordentliche Ermittlerin.

»Guten Morgen«, begrüßt sie ihn mit einem strahlenden Lächeln.

Juncker brummt etwas, das mit ein wenig gutem Willen als »Moin« gedeutet werden kann.

»Na«, sagt sie und reibt sich erwartungsvoll die Hände. »Was haben wir denn hier?« Sie macht einen Schritt auf die Leiche zu.

»He, Moment …« Juncker legt ihr eine Hand auf die Schulter.

»Entspann dich. Ich hatte nicht vor, ganz an ihn ranzutreten. Ich bin doch nicht blöd.« Sie funkelt ihn wütend an, und wieder einmal kann er nur staunen, wie mühelos sie von einem Moment auf den anderen von gut gelaunt zu zornig und wieder zurück switchen kann.

»Dann ist ja gut«, meint er.

Sie positioniert sich leicht breitbeinig, verschränkt die Arme vor der Brust und betrachtet die Leiche. Der Mann trägt eine beige Leinenhose sowie ein schwarzes kurzärmeliges Polohemd, dazu hat er einen ebenfalls schwarzen Pullover um die Schultern gebunden. Die nackten Füße stecken in einem Paar Bootsschuhen. Auch wenn er vermutlich seit mehreren Stunden tot ist, hat seine Haut noch immer eine nussbraune Farbe mit einem satten, intensiven Teint, der darauf hinweist, dass er die Wintermonate an einem weit südlicheren Breitengrad als Sandsted verbracht hat. Das kräftige, fast stahlgraue Haar ist halblang, wie bei einem Künstler, und zurückgekämmt.

»Sieht aus wie ein verdammt gut gealtertes Model«, murmelt Nabiha. »Der stinkt nach Geld.« Sie wirft Juncker einen Blick zu. »Als Erstes müssen wir ihn wohl identifizieren?«

Juncker wischt sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn, öffnet den Reißverschluss des Schutzanzugs und fischt sein Handy aus der Tasche. 08.30 Uhr. Die Techniker und Markman sollten in einer halben, spätestens einer Dreiviertelstunde hier sein.

»Das können wir uns sparen«, meint er dann.

»Wieso?« Nabiha runzelt die Stirn.

»Weil …« Er steckt das Handy wieder weg. »Weil ich weiß, wer er ist.«

Kapitel 2 

Es ist eine Art Ritual geworden. Ein kleines Spiel. Sie fährt mit dem rechten Zeigefinger über die Klinge des unfassbar teuren und ebenso scharfen japanischen Santokumessers. Vorsichtig. Es braucht so wenig, denkt sie mit einem Schaudern. Nur minimalen Druck gegen die Schneide, bevor sich der dünne Stahl zunächst durch die Oberhaut, dann durch die Lederhaut und die Unterhaut arbeitet, bevor das Messer Muskeln und Adern und zuletzt den Knochen erreicht.

Sie legt es auf den Tisch, öffnet einen der Küchenschränke, nimmt Vorratsgläser und Packungen heraus und stellt alles dazu. Streut ein paar Handvoll Mandeln auf das Schneidebrett, greift erneut zum Messer und beginnt zu hacken – methodisch, gründlich, von links nach rechts und dann wieder zurück.

Polizeikommissarin Signe Kristiansen, Ermittlerin für Mordfälle bei der Kopenhagener Abteilung für Gewaltkriminalität, hat eigentlich noch nie verstanden, was der tiefere Sinn hinter selbst gemachtem Müsli sein soll. In der Küche zu stehen und Feigen und Rosinen und Cranberrys klein zu hacken, um das Ganze anschließend mit Haferflocken in Butter und Honig zu rösten, wo sich die Regale in den Supermärkten doch biegen vor Müsli und Granola von ausgezeichneter Qualität?

Es erschließt sich ihr ehrlich nicht. Und dennoch … Sie wacht jeden Morgen um vier Uhr auf, ganz egal, wann sie ins Bett gegangen ist. So ist es seit jenem Januartag im Wald bei Sandsted, jenem Tag, an dem ihr ein Mensch das Leben gerettet hat, den sie aus tiefster Seele hasst.

Die ersten Male blieb sie noch neben ihrem Mann Niels liegen – der immer schläft wie ein Baby –, starrte in die Dunkelheit und versuchte, wieder einzuschlafen. Doch die Gedanken wuselten in ihrem Kopf herum wie Wanderameisen und ließen sich nicht zurückdrängen, daher ist sie dazu übergegangen aufzustehen, sobald sie wach wird.

Anfangs hat sie sich ins Wohnzimmer gesetzt und versucht, ein Buch zu lesen, doch es klappte nicht, sie konnte sich nicht konzentrieren. Also begann sie damit, Essen zuzubereiten. Neben Müsli auch Pesto und Salsa und Chutney und Marmelade. Sie, die sich vorher noch nie groß mit Hausarbeit beschäftigt hat. An neun von zehn Tagen macht Niels das Abendessen, und in der Regel fallen ihr die Staubflusen erst auf, wenn sie groß wie Steppenläufer in einer texanischen Prärie über den Boden rollen.

Aber es tut ihr gut, etwas mit den Händen zu tun. Es dämpft den Lärm im Kopf. Außerdem redet sie sich ein, dass ihre außergewöhnliche Betätigung als Hausfrau dazu beitragen kann, einen Teil der Minuspunkte auszugleichen, die sie in all den Jahren bei der Mordkommission auf dem Familienkonto angehäuft hat.

Sie arbeitet methodisch und konzentriert, unterbrochen von Pausen, während derer sie einfach am Esstisch sitzt und die Stille im Haus genießt –, bis sie ein Rumoren aus dem Schlafzimmer und schlurfende Schritte im Flur hört. Sie braucht nicht auf die Uhr zu schauen. Niels steht jeden Morgen um Punkt halb sieben auf, und wenn er in der Küche erscheint, hat sie den Kaffee in der Stempelkanne schon bereit.

»Guten Morgen«, sagt sie mit Honig auf den Stimmbändern.

»Guten Morgen«, antwortet er in neutralem Ton, setzt sich und greift zur Zeitung, die sie aus dem Briefkasten geholt hat.

Früher haben sie sich morgens immer mit einem Kuss begrüßt, doch diese Gewohnheit ist längst eingeschlafen und im besten Falle durch ein Lächeln, in den meisten Fällen durch gar nichts ersetzt worden.

Um Viertel vor sieben weckt sie den zwölfjährigen Lasse und anschließend Anne, die zwei Jahre älter ist und heftig pubertiert. Die Familie frühstückt immer gemeinsam – und immer weitgehend schweigend. So auch an diesem Morgen. Bis Signe sich räuspert.

»Wie wär’s, wenn wir heute Abend …«

Niels lässt die Zeitung sinken, und die Kinder blicken von ihren Handys hoch.

»Wie wär’s, wenn wir heute Abend mal essen gehen? Habt ihr Lust?«

Um den Tisch breitet sich eine Stimmung aus, die am besten mit mildem Erstaunen zu umschreiben ist. Die Kinder schauen zu ihrem Vater.

»Tja, ich weiß nicht … gibt es etwas zu feiern?«

»Nein, nein. Aber ich bin gerade dabei, den Fall abzuschließen, an dem ich schon eine Weile arbeite …«

»Die ganzen Sommerferien«, präzisiert Niels.

»Äh, ja … also, es ist ja nicht so, dass ich es lustig fand zu arbeiten, während ihr im Urlaub wart, aber ich kann schließlich nichts dafür, dass ein Vergewaltiger beschlossen hat, sein Opfer ausgerechnet Ende Juni umzubringen, oder?« Sie holt tief Luft. »Ich dachte nur, es wäre nett. Wir haben lange nichts mehr zusammen unternommen.« Wenn er jetzt mit noch so einer bissigen Bemerkung daherkommt, knalle ich ihm eine, denkt sie.

Niels faltet die Zeitung zusammen.

»Lasst uns essen gehen«, sagt er und steht auf.

Signe lächelt ihm zu.

»Und dann hoffen wir eben, dass …« Niels lässt den Satz unbeendet.

Signe öffnet den Mund, hält sich aber zurück und wendet sich ab, damit er ihren Ärger nicht sieht.

Um Viertel vor acht machen sich die Kinder auf den Weg in die Schule und Niels zur Arbeit. Signe besteht darauf, ihrem Mann einen Kuss zu geben, der diesen mit leicht abwesendem Gesichtsausdruck, allerdings beinahe freundlich erwidert.

Sie betritt ihr Büro, wirft gereizt ihre Tasche neben dem Schreibtisch auf den Boden und flucht über den Berufsverkehr. Vor fünf Jahren hat es nicht viel mehr als die Hälfte der Zeit gebraucht, um von Vanløse nach Teglholmen zu kommen. Sie schließt die Tür hinter sich, ist jetzt nicht in der Stimmung für Small Talk mit Kollegen, die den Kopf hereinstecken, nur um mal eben guten Morgen zu sagen. Signe leitet eine der drei Sektionen für Mord innerhalb der Kopenhagener »Abteilung für Gewaltkriminalität«. Seit im Zuge der Reform vor einigen Jahren die ehemalige Mordkommission mit den anderen Abteilungen für Gewaltverbrechen verschmolzen wurde, lautet so die offizielle Bezeichnung. So richtig durchgesetzt hat sie sich allerdings noch nicht, sodass gemeinhin meist »Mordkommission« oder auch einfach nur das Kürzel »MK« verwendet wird.

Signe teilt sich ihr Büro mit den Leitern der beiden anderen Mordsektionen, aber die sind noch nicht erschienen. Sie setzt sich hinter den Schreibtisch und starrt in die Luft.

Warum endet es immer auf dieselbe Weise? Jedes Mal, wenn sie versucht, die Hand auszustrecken und einen der Risse in ihrer und Niels’ Beziehung zu kitten, stößt er sie weg. Ja, sie arbeitet viel. Und ja, es kommt häufig vor, dass sie Verabredungen entweder absagen müssen oder Niels und die Kinder ohne sie gehen. Aber was erwartet er von einer Ermittlerin? Rechnet er ernsthaft damit, dass die Leute anfangen, sich montags bis freitags zwischen acht und sechzehn Uhr umzubringen und die Ermittlungen auf tagsüber beschränkt werden, damit sie geregeltere Arbeitszeiten bekommt?

Signe schaltet den Computer ein. Dann öffnet sie einen Ordner auf dem Desktop, scrollt zu einem Dokument mit dem Titel »Bericht« und klickt darauf.

Eines Nachts im Juni hatte ein vierunddreißigjähriger Mann eine achtundzwanzigjährige Frau in einem Nachtclub in der Kopenhagener Innenstadt angesprochen. Sie hatten getanzt, und in einem unbemerkten Moment hatte der Typ einen ordentlichen Schuss Ketamin in den Drink der Frau gekippt. Als sie etwas später an der Theke gegen den Schlaf kämpfte, erzählte der Mann dem Thekenpersonal, seine Freundin leide an Diabetes und benötige Insulin, woraufhin er mit ihr im Schlepptau den Club verließ. Während er mit ihr durch die Kopenhagener Straßen ging, vergewaltigte er die praktisch bewusstlose Frau mehrfach – die Übergriffe wurden verschiedentlich beobachtet, ohne dass jemand eingriff –, bis die gewaltsame Tournee am Hafenbecken vor der Königlichen Bibliothek endete, wo der Mann sie ins Wasser schmiss.

So weit zumindest Signes Theorie.

Die Leiche der Frau wurde eine Woche später von einer Gruppe Pfadfinder bei der historischen Festungsinsel Middelgrundsfort gefunden, weit von der Stelle am Hafenbecken entfernt, wo man einen der Ohrringe der Frau entdeckt hatte. Signe und ihre Kollegen nahmen daher an, dass der Täter sie dort ins Wasser geworfen hatte.

Wie die Obduktion ergab, hatte sie zu diesem Zeitpunkt noch gelebt; die Frau war also ertrunken. Laut Bericht hatte sie massive Verletzungen sowohl im Vaginalbereich als auch im Anus sowie ausreichend Ketamin im Körper, um ein mittelgroßes Pferd zu betäuben – tatsächlich findet die Substanz unter anderem in der Veterinärmedizin Verwendung. Im Zuge der technischen Untersuchungen wurden darüber hinaus trotz der langen Verweildauer im Wasser DNA-Spuren am Körper der Frau gefunden, welche mit der DNA zweier älterer, unaufgeklärter Vergewaltigungsfälle übereinstimmten. Der eine lag zwei, der andere drei Jahre zurück.

Die Polizei hatte ein unscharfes Bild von einer Überwachungskamera des Nachtclubs veröffentlicht, auf dem der Mann zu sehen war, der den Aussagen von Gästen zufolge die Frau im wahrsten Sinne des Wortes abgeschleppt hatte. Mehrere Zeugen hatten sich daraufhin gemeldet und den Vierunddreißigjährigen identifiziert, der mit seiner Frau in einem Reihenhaus im Kopenhagener Vorort Rødovre lebte.

Vor dem Haftrichter gab der Mann zu, sowohl mit der ertrunkenen Frau wie auch den Frauen aus den früheren Fällen Geschlechtsverkehr gehabt zu haben, allerdings sei es in allen drei Fällen auf freiwilliger Basis geschehen – ungeachtet der Tatsache, dass die beiden ersten Male auf einem Friedhof in Nørrebro sowie im Ørstedsparken stattgefunden hatten. Bezüglich der dritten Frau gab der Mann an, sie sei am Leben gewesen, als er sie am Kai zurückließ.

Vergewaltigungen enden eher selten damit, dass das Opfer getötet wird, daher kommt es auch selten vor, dass bei einem Fall sowohl die Sektion für Mord als auch die für Sexualverbrechen involviert ist. Warum also musste es ausgerechnet während ihres Dienstes geschehen?, fragt sich Signe. Nicht dass der Fall an sich belastender gewesen wäre als die Mordfälle, mit denen sie sonst zu tun hat. Doch von allen möglichen Kandidaten wurde im Februar ausgerechnet Troels Mikkelsen zum Leiter der Sektion für Sexualverbrechen befördert – jener Mann, der sie vor bald drei Jahren im Anschluss an eine Weihnachtsfeier vergewaltigt hat. Den sie seither erbittert hasst und der in der Hauptsache dafür verantwortlich ist, dass ihrer Ehe mit Niels Schiffbruch droht. Wovon Niels nichts ahnt.

Als Troels Mikkelsens Beförderung öffentlich gemacht wurde, empfand sie es als himmelschreiende Ungerechtigkeit.

Das Gefühl wurde durch ein anderes Problem nur noch verstärkt, nämlich den Umstand, dass sie gerade erst begonnen hatte, ihr Trauma zu verarbeiten: Ausgerechnet Troels Mikkelsen war es gewesen, der ihr Anfang Januar bei der Verfolgung von zwei Terroristen das Leben gerettet hatte.

So viel nämlich schuldet sie dem Schwein. Nicht weniger als ihr Leben.

Doch damit nicht genug. Zu ihrer großen Frustration hat sie sich nach zwei Monaten enger Zusammenarbeit eingestehen müssen, was ihr schon zuvor durchaus bewusst war: dass er ein äußerst fähiger Ermittler ist. Und dass er, wenn man ganz ehrlich ist … na ja, recht charmant sein kann. Dass er es mehrfach geschafft hat, die Mauer aus Hass, die sie zwischen ihnen errichtet hat, zum Bröckeln zu bringen, und sie in erschreckenden Momenten daran erinnert, weshalb sie sich in dieser Dezembernacht vor fast drei Jahren mit ihm in Vesterbro ein Hotelzimmer genommen hat – und Troels Mikkelsen anschließend sie mit Gewalt.

Aber nun ist es glücklicherweise bald überstanden. Morgen wird sie sich mit der Staatsanwältin und Troels Mikkelsen treffen, und wenn sie ihren Bericht abgibt, ist der Fall, was sie betrifft, abgeschlossen.

Sie hat das Dokument soeben gespeichert, als die Tür zu ihrem Büro aufgerissen wird. Bereits in dem Bruchteil einer Sekunde, den es braucht, ehe sich eine Gestalt in der Türöffnung materialisiert, weiß sie, wer es ist. Der Einzige in der Abteilung für Gewaltkriminalität, der nicht anklopft, ist deren Chef Erik Merlin.

»In Nørrebro wurden Schüsse abgefeuert«, sagt er. »Auf dem Roten Platz. Vorläufig werden ein Toter und ein Schwerverletzter gemeldet.«

»Okay. Ich fahre hin«, antwortet sie, ohne nachzudenken. Auch wenn sie Bandenkriminalität hasst. Keiner hat etwas gesehen, keiner will mit der Polizei reden, es ist vollkommen unmöglich, eine auch nur annähernd normale Ermittlung durchzuführen.

Vor allem aber hasst sie den Gedanken, dass eine Schießerei mit Sicherheit Überstunden bedeutet und sie Niels gleich eine Nachricht schicken muss, um ihre Verabredung für heute Abend abzusagen.

Kapitel 3 

Das Haus liegt in einem von Sandsteds ältesten Wohnvierteln. Es ist in einem Stil erbaut, den Juncker im Stillen immer als »Funktionalismus auf Steroiden« bezeichnet hat. Zwei imposante Stockwerke, reine, um nicht zu sagen, sterile Linien und riesige Fensterpartien. Auf monströse Weise überdimensioniert, wenn man bedenkt, dass die vierhundert Quadratmeter von bloß zwei Personen bewohnt werden.

Die Frau, die verschlafen die schlichte dunkelblaue Haustür mit Klinke aus Edelstahl öffnet, ist hochgewachsen und schlank, eine unterkühlte Blondine. Und in Junckers Alter. Wenn er sich recht entsinnt, hat sie einen Monat nach ihm Geburtstag. Sie ist barfuß und trägt einen rosafarbenen Hausmantel; ein Kleidungsstück, das Juncker zum letzten Mal damals an seiner Mutter gesehen hat, die sich meist bis zum Vormittag in einen solchen Mantel zu hüllen pflegte.

Vera Stephansen ist die Ehefrau von Ragner Stephansen, einem der Partner in der einst von Junckers inzwischen verstorbenem Vater gegründeten Kanzlei. Sie sieht wesentlich jünger aus, als sie ist, und gleicht noch immer einer Kreuzung aus Alfred Hitchcocks Lieblingsblondinen – Kim Novak, Tippi Hedren und Grace Kelly. Einige Sekunden starrt sie den Mann vor sich stirnrunzelnd an.

»Martin? Juncker?«, fragt sie dann mit einer Stimme, die schwer ist von Verwunderung und Schlaf, jedoch auch einem Hauch von Freude. Zumindest bildet er sich das ein. Sie wirft einen schnellen Blick auf ihre Uhr, die locker an einem dicken goldenen Armband um ihr schmales Handgelenk hängt. »Das ist ja eine Überraschung. Entschuldige bitte, aber du hast mich im Bett erwischt.« Sie lächelt. »Was kann ich für dich tun? Komm doch rein.«

Er tritt in den Flur oder besser gesagt in das Vestibül, was wohl eine treffendere Bezeichnung für den Raum sein dürfte, der sich mit einer Deckenhöhe von an die acht Meter durch beide Stockwerke des Hauses erhebt. Eine breite Treppe führt ins Obergeschoss mit diversen Schlafzimmern und beinahe ebenso vielen Badezimmern, wie Juncker von früheren Besuchen weiß. Sie geht ein paar Schritte Richtung Wohnzimmer, und Juncker folgt ihr. Dann bleibt sie stehen und wendet sich um.

»Ich weiß gar nicht, ob Ragner zu Hause oder ob er schon auf der Arbeit ist. Du weißt ja, wir haben getrennte Schlafzimmer, und ich habe ihn heute Morgen noch nicht gehört.«

Juncker nickt. »Wollen wir uns nicht ins Wohnzimmer setzen?«, fragt er. Sie erhascht seinen Blick, ehe er ihn abwenden kann. Dann legt sie ihm eine Hand auf den Unterarm.

Juncker tut sich schwer mit Körperkontakt, wenn der Betreffende ihm nicht sehr nahesteht, und will den Arm bereits zurückziehen, kann die Bewegung jedoch gerade noch bremsen. Denn er kennt sie. Oder besser gesagt: kannte sie. Doch das ist sehr, sehr lange her.

»Juncker, stimmt etwas nicht?« Ihre Stimme ist heiser. Sie lässt seinen Arm los.

»Wollen wir uns nicht ins Wohnzimmer setzen?«, wiederholt er.

»In Ordnung.« Ihre Füße gleiten lautlos über den weißen Marmorboden, während seine Gummisohlen bei jedem Schritt quietschen. Sie nimmt auf einer schwarzen Ledercouch Platz, die eine halbe Weltreise von der Tür entfernt steht, bei einer großen Fensterpartie zum Garten. Juncker setzt sich ans andere Ende der Couch.

»Warum bist du hier, Juncker? Bist du im Dienst?«

Er nickt langsam.

»Geht es um Ragner?«

Auch wenn das Wohnzimmer klimatisiert ist, schwitzt er.

»Ja.« Er zwingt sich, sie anzusehen. Bereit, ihre Reaktion zu registrieren, als er die nächsten zwei Sätze sagt: »Es tut mir sehr leid, dir sagen zu müssen, dass er tot ist.«

Sie sackt in sich zusammen und presst die Zähne aufeinander, wie er an ihren Kiefermuskeln erkennen kann.

»Tot? Wie? Wo?«, fragt sie, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern.

»Wie es aussieht …«, setzt er an, unterbricht sich jedoch selbst. Denn es ist Schwachsinn. Es gibt keinen Zweifel, kein ›Wie es aussieht‹. »Er wurde umgebracht.«

Sie runzelt die Stirn. »Ermordet?«

Wie die meisten Polizisten – zumindest die mit einem gewissen Grad an Erfahrung – verwendet Juncker ungern die Begriffe ›Mord‹ oder ›ermordet‹, denn es obliegt dem Gericht festzustellen, ob tatsächlich alle Tatbestandsmerkmale eines Mordes vorliegen. Wörter haben eine Bedeutung, denkt er, und dann, wie inzwischen immer häufiger: Du wirst alt. Du bist alt.

»Ja«, sagt er. »Umgebracht.«

Sie wendet sich ab und blickt in den Garten. Eine Träne rollt ihr über die Wange, die sie mit leicht zitternder Hand fortwischt. Falls sie ihre Reaktion nur spielt, ist es eine glänzende Darbietung. Vera Stephansen ist ein Mensch, der sich unter Kontrolle hat, und es hätte ihn gewundert, wäre sie in Tränen ausgebrochen.

»Wo ist er?«

»Er wurde heute Morgen gefunden. Im Kitz … im Kildeparken.«

»Im Park? Wieso? Was hat er dort gemacht?«

Juncker zuckt mit den Achseln. »Ich hatte gehofft, dabei könntest du mir helfen.«

Vera schüttelt den Kopf. »Ich habe keine Ahnung.« Sie schaut ihn verzweifelt an, nun laufen ihr doch die Tränen übers Gesicht, doch dann dringt länger kein Laut mehr aus ihrer Kehle.

Er steht auf, geht in die Küche und holt eine Rolle Küchenpapier, reißt einen Streifen ab, reicht ihn ihr und setzt sich wieder. Sie tupft die Tränen weg und schnäuzt sich.

»Wann?«

»Das wissen wir noch nicht. Wie es aussieht, hat er heute Nacht während des Regens dort gelegen, daher ist es möglicherweise gestern Abend oder im Laufe der Nacht passiert. Wir wissen es nicht genau. Erst wenn der Gerichtsmediziner und die Techniker den Lei…«

»Wie wurde er …?«, unterbricht sie ihn.

»Er wurde erschossen.«

»Wo? Ich meine, wo wurde er …« Sie stockt.

Juncker wägt seine Worte ab. »Man hat ihm in den Kopf geschossen«, sagt er dann. »Zweimal.«

»Ist er … sieht es …?«

»Tatsächlich nicht. Es hätte schlimmer sein können. Sehr viel schlimmer.«

Sie steht auf und tritt ans Fenster. Tupft sich erneut die Augen ab. Blickt in den Garten. Ballt die Fäuste. Entspannt sie wieder. Als sie sich umdreht, beben ihre Schultern vor ersticktem Schluchzen. Doch sie hat sich noch immer unter Kontrolle.

»Wir haben gestern gemeinsam zu Abend gegessen. Ragner kam spät oder jedenfalls etwas später vom Büro, gegen acht. Ich hatte Spaghetti Carbonara gekocht. Wir haben uns eine Flasche Wein geteilt, oder eher anderthalb sind es wohl geworden. Dann ging er in sein Arbeitszimmer, er hatte noch einiges für heute vorzubereiten. Er musste ins Gericht.«

Vera verstummt und sackt in sich zusammen.

»Wohnen Mads und Louise noch in Sandsted?«

»Mads schon. Gar nicht weit von hier. Louise und ihr Mann sind nach Klampenborg gezogen. Hast du ihn mal kennengelernt?«

»Louises Mann? Nicht, dass ich wüsste.« Er steht auf. »Soll ich versuchen, Mads zu erreichen?«

»Nein, das mache ich. Ich muss nur eben mein Handy holen, es liegt oben am Bett. Entschuldige mich bitte einen Moment.«

Juncker schaut sich im Wohnzimmer um. Seit er zuletzt hier war, sind einige Jahre vergangen, aber es hat sich nicht viel verändert. Ein Museum für klassisches dänisches Möbeldesign. Junckers Wissen auf diesem Gebiet hält sich in Grenzen, doch er erkennt zwei von Poul Kjærholms klassischen Loungesesseln in schwarzem Leder und Arne Jacobsens weltberühmtes Ei.

Vera kommt zurück und setzt sich aufs Sofa.

»Er ist auf dem Weg.«

»Hast du ihm gesagt …?«

»Nein.«

Sie warten schweigend. Ein einziges Mal bricht sie die Stille, um zu fragen, wie lange es her ist, dass er Mads zum letzten Mal gesehen hat. Juncker kann es nicht sagen. Mindestens fünf Jahre, schätzt er und fragt nach Mads’ Alter. »Achtunddreißig«, antwortet sie mit kaum hörbarer Stimme.

Die Minuten verstreichen. Junckers Blase fühlt sich an, als würde sie jeden Moment platzen. Er bezahlt den Preis, den es kostet, Regel Nummer 2 des alternden Mannes zu brechen: Gehe niemals an einem brauchbaren Busch vorbei, ohne auszutreten.

Inzwischen sollte er es eigentlich wissen. Er hätte im Park pinkeln sollen. Doch es gibt definitiv keinen Grund, nun auch noch Regel Nummer 1 zu brechen: Gehe niemals an einer funktionierenden Toilette vorbei, ohne sie zu benutzen.

»Du, Vera, dürfte ich mal deine Toilette benutzen?«

»Natürlich. Die Tür neben der Treppe.«

Juncker nimmt an, dass ein Immobilienmakler in einer potenziellen Verkaufsbroschüre den Abtritt, der sich hinter der Tür auftut, als »geräumiges Gäste-WC« beschreiben würde. Tatsache ist, dass dieser Lokus genügend Platz bietet, um darin Tischtennis zu spielen. Er eilt zu der Designertoilettenschüssel, öffnet den Hosenschlitz und gibt damit den Startschuss für die obligatorischen bilateralen Verhandlungen zwischen seiner Prostata und seinem Gehirn, den Grenzübergang zwischen Blase und Harnröhre wenigstens zeitweilig zu öffnen. Dabei erstaunt es ihn wieder einmal, wie paradox es doch ist, dass er meint, so dringend pinkeln zu müssen wie noch nie zuvor in seinem Leben, während es gleichzeitig eine beinahe übermenschliche Kraftanstrengung erfordert, auch nur ein einziges Tröpfchen herauszupressen.

Nach einer Minute einigen sich die Parteien immerhin auf eine kurzzeitige Öffnung, sodass die Blase teilweise entleert wird. Was allerdings derart langsam und mit einem so dünnen und schwachen Strahl vonstattengeht, dass er den Wasserspiegel in der Schüssel beinahe lautlos durchbricht, ohne dabei sehr viel mehr als eine feine Kräuselung der Wasseroberfläche hervorzurufen. Er hat – auf die harte Tour – lernen müssen, dass häufig eine Nachgeburt in Form einer nicht unbeträchtlichen Anzahl Milliliter Urin folgt. Die, wenn er nicht wartet und sie hier abliefert, in Kürze in seine Unterhose freigegeben werden. Also wartet er. Wohlweislich, wie sich zeigt.

Zurück im Wohnzimmer setzt er sich auf denselben Platz. Nach einigen Minuten hören sie die Haustür gehen, und beide stehen auf. Der Mann, der ins Wohnzimmer kommt, ist groß, beinahe ebenso groß wie er.

»Juncker? Was machst du denn hier?« Er wendet den Blick zu seiner Mutter. »Mama, ist etwas passiert? Wo ist Vater?«

Sie tritt zu ihrem Sohn und legt ihm beide Hände auf die Schultern. »Mads, dein Vater«, ihre Stimme bricht. Sie räuspert sich. »Dein Vater ist tot.«

Wie er es bereits bei Vera getan hat, als er ihr die Nachricht überbrachte, beobachtet Juncker aufmerksam die Reaktion des Sohnes. Mads Stephansen reißt die Augen auf. Öffnet den Mund, bringt jedoch keinen Ton heraus. Dann schluckt er ein paar Mal, und seine Augen füllen sich mit Tränen.

»Tot?«, fragt er. »Aber wie …?«

Seine Mutter fasst ihn sanft am Ellbogen und zieht ihn zur Couch. »Komm, setz dich.«

Mads lässt sich führen und nimmt dicht neben seiner Mutter Platz. Er ist durchtrainiert, mit einem sonnengebräunten Teint und kräftigem dunklem Haar. Klare blaue Augen und markantes Kinn. Ein attraktiver Mann. Eingepackt in moderat zerschlissene Jeans, ein lindgrünes Polo-Shirt und ein schwarzes Leinensakko.

Vera greift beide Hände ihres Sohnes und hält sie fest. Sie wirft Juncker einen Blick zu.

»Dein Vater wurde getötet. Mit zwei Schüssen. Im Kildeparken. Vermutlich spät gestern Abend oder auch erst in der Nacht. Wir wissen es noch nicht genau«, sagt er.

Mads lehnt sich mit ungläubigem Blick zurück. »Getötet? Also ermordet?«

Juncker nickt.

»Es tut mir leid, Mads. Aber ich muss dir leider ein paar Fragen stellen. Du arbeitest nach wie vor in der Kanzlei, richtig?«

»Ja.« Er trocknet sich die Augen. »Ich bin Juniorpartner.«

»Hast du Einblick in manche der Fälle, mit denen dein Vater zu tun hatte?«

»Ich bin selbst an einigen davon beteiligt.« Er steht auf. »Ich brauche ein Glas Wasser.«

»Na klar.«

Mads geht in die Küche. Als er zurückkommt, setzt er sich wieder neben seine Mutter und nimmt ihre Hand. Mit einem Nicken signalisiert er Juncker fortzufahren.

»Hat irgendeiner der aktuellen Fälle Anlass zu Drohungen gegen deinen Vater gegeben? Oder gegen die Kanzlei? Ist dir bekannt, ob er Feinde hatte?«

»Wie du weißt, ist er ein sehr erfolgreicher Anwalt, der seine Fälle in aller Regel gewinnt. Mit so etwas macht man sich natürlich … ›Feinde‹ ist so ein starkes Wort. Aber es gibt sicher einige Leute, die nicht allzu viel für ihn übrighaben.«

Juncker nickt und denkt, dass es erst recht zutrifft, wenn man außerdem ein arroganter Mistkerl ist.

»Aber dass ihn jemand so sehr gehasst hat, dass er ihn umbringen würde, also, das kann ich mir nur schwer vorstellen.«

»Okay. Wir benötigen Zugriff auf mehrere Computer der Kanzlei, darunter auf jeden Fall der deines Vaters und seiner Sekretärin sowie wahrscheinlich auch die einiger anderer Mitarbeiter. Außerdem müssen wir verschiedene Kunden- und Bankkonten einsehen. Mit wem sollen wir uns deswegen in Verbindung setzen?«

»Laust Wilder. Er ist Partner. Na ja, das weißt du ja. Er war derjenige, der deinen Vater damals ausgezahlt hat. Allerdings …«

»Ja?«

»Wir sprechen hier vermutlich von einer großen Menge vertraulicher Dokumente. Darauf können wir nicht so einfach Zugriff …«

Juncker unterbricht ihn mit einer Handbewegung. »Falls nötig, besorgen wir einen Durchsuchungsbeschluss.« Er steht auf. »Es tut mir wirklich furchtbar leid für euch. Ich melde mich, sobald wir mehr wissen, aber jetzt lasse ich euch erst mal in Ruhe. Ich finde selbst zur Tür.«

Vera fängt seinen Blick und hält ihn fest. So lange, dass Juncker zum Schluss ein warmes Kribbeln in der Magengegend spürt.

»Juncker?« Ihre Stimme ist immer noch heiser.

»Ja?«

Sie fährt sich mit ihrer zierlichen Hand über die Stirn, wie um irgendetwas wegzuwischen. Eine Erinnerung. »Ach, nichts.«

Juncker geht zur Tür. Bleibt stehen und dreht sich um.

»Übrigens, Mads, ruf bitte nicht in der Kanzlei an. Und auch sonst bei keinem der Mitarbeiter. Auch nicht Wilder.«

»Okay.«

»Und noch etwas. Vera, du warst gestern Abend und die ganze Nacht hier, richtig?«

Sie nickt.

»Und du, Mads?«

»Ich war zu Hause.«

»Und das kann deine Frau … tut mir leid, ich habe vergessen, wie sie heißt.«

»Line.«

»Line, richtig. Sie kann das bestätigen?«

»Natürlich.«

»Gibt es noch andere, die verifizieren … die vielleicht bestätigen können, dass du zu Hause warst?«

Mads runzelt die Brauen. »Stehe ich … stehen wir unter Verdacht?«

»Es sind Routinefragen, die ich stellen muss. Weiter nichts. Gibt es also außer Line noch andere?«

»Unseren Sohn, Aksel.«

»Der wie alt ist?«

»Er ist gerade zwölf geworden. Er hat seinen Großvater sehr gerngehabt, was auf Gegenseitigkeit beruhte. Es wird nicht leicht, ihm sagen zu müssen, dass er tot ist.«

»Nein, das ist keine schöne Aufgabe. Also dann, vielen Dank fürs Erste. Ich werde noch mit weiteren Fragen über Ragner auf euch zurückkommen. Aber das hat noch etwas Zeit.«

Er nickt ihnen zu und verlässt das Wohnzimmer. Hinter sich hört er Mads aufschluchzen, davon abgesehen herrscht vollkommene Stille. Er spürt eine leichte Unruhe. Bist du in diesem Fall befangen?, fragt er sich, bevor er die dunkelblaue Haustür hinter sich schließt.

Kapitel 4 

»Meine Fresse, ist das heiß.«

Mikkel Grantoft Nielsen steht auf und öffnet ein Fenster. Charlotte Junckersen folgt ihrem jungen Chef mit dem Blick. Oder um ganz genau zu sein: Sie folgt seinem Hintern mit dem Blick. Er kommt zurück und setzt sich an den Besprechungstisch, für den eine kreative Seele tatsächlich noch irgendwie Platz in dem kleinen Redaktionsraum der Morgentidende gefunden hat, wo die Investigativgruppe tagt. Der Raum ist vollgestopft mit Schreibtischen, Bürostühlen und zwei schwer beladenen Leiterregalen voller Aktenordner. Selbst unter normalen Wetterverhältnissen ist das Raumklima eine Herausforderung. Herrscht wie jetzt eine Hitzewelle, ist es kaum auszuhalten.

Der zuletzt hinzugekommene Tisch gehört Charlotte. Im Laufe des Frühjahrs war es für sie zunehmend zur Gewissheit geworden, dass sie nicht länger die Leitung der für den Parlamentssitz Schloss Christiansborg zuständigen Redaktion innehaben wollte. Die Trennung von Martin, das plötzliche Alleinsein (auch wenn sie diejenige war, die es sich so gewünscht hatte), die Trauer über das Verlorene und die Desillusion über seinen Verrat – das alles setzte ihr mehr zu als gedacht. Die Motivation und die Energie, rund um die Uhr zu ackern, wie es von einer Politik-Redakteurin erwartet wurde, waren verschwunden. Diese Entwicklung hatte sich überraschend schnell eingestellt und war, das spürte sie, unabwendbar. Sie hatte ganz einfach nicht mehr die Kraft für die Nachrichtenhektik.

»Das tut mir leid zu hören«, hatte Chefredakteur Magnus Thesander gesagt, als sie eines Tages Ende April in seinem Büro saß und ihm erzählte, wie es ihr ging. »Du hast großartige Arbeit geleistet, und das weißt du auch selbst, oder?«

Sie hatte genickt. Aber sie brauche eine Luftveränderung, um etwas mehr Zeit für sich selbst zu haben, erklärte sie. Nach sechs Jahren Dauersprint.

»Das heißt also? Wo möchtest du hin?«, wollte er wissen.

Investigativgruppe, hatte sie geantwortet.

»What? In den Jungsclub?« Thesander hatte ein überraschtes Gesicht gemacht.

Keiner der übrigen fünf Mitglieder der Investigativgruppe ist über fünfunddreißig. Für sie gibt es keinen anderen Gott als die Vierte Gewalt. Wenn sie schlafen, träumen sie süße Träume von machiavellistischen Verschwörungen, falls sie keine Albträume vom dänischen Informationsfreiheitsgesetz haben. Und ungeachtet ihres jungen Alters haben sie sich allesamt die desillusionierten Sichtweisen sehr viel älterer Männer bezüglich der Welt im Allgemeinen sowie Politikern, Beamten und Unternehmern im Besonderen angeeignet. In den Augen der fünf Journalisten sind sämtliche Angehörigen dieser drei Bevölkerungsgruppen von vornherein ein Haufen verbrecherischer Hochstapler, die nichts anderes im Sinn haben, als alles an sich zu raffen – Macht oder Geld, in den meisten Fällen beides –, sowie hart arbeitende Journalisten zu belügen und zu betrügen, wenn sie nicht gerade mit Ersterem beschäftigt sind.

Äußerlich ähneln die fünf einander: fit und durchtrainiert, mit offenen Gesichtern und klarem Blick und in aller Regel weitgehend einheitlich uniformiert mit Jeans, teuren, stets großzügig aufgeknöpften Hemden, schwarzen oder dunkelblauen Blazern und blank polierten Schuhen. Kurz gesagt: junge Männer. Strebsame junge Männer. Obwohl die Morgentidende das erklärte Ziel hat, ›in sämtlichen Redaktionen und Chefgruppen ein ausgewogenes Verhältnis beider Geschlechter anzustreben‹.

»Ja.« Charlotte hatte gelächelt. »In den Jungsclub. Da möchte ich arbeiten.«

»Warum?«

»Weil ich Lust habe, etwas tiefer in die Fälle zu tauchen. Und weil ich glaube, dass ich etwas beitragen kann.«

Thesander wiegte den Kopf hin und her.

»Dass du das kannst, daran besteht kein Zweifel. Mit deiner Erfahrung. Aber was deinen Wunsch angeht, freier über deine Zeit verfügen zu können … die jungen Leute in der Investigativgruppe arbeiten wirklich viel. Sie schuften. Das ist dir klar, oder?«

»Natürlich. Aber sie hängen nicht wie auf Christiansborg in der täglichen Deadline fest, oder? Ich bin ja kaum einen Tag vor sieben oder acht, wenn nicht noch später, von der Arbeit weggekommen. In der Investigativgruppe können sie trotz allem etwas freier entscheiden, wie und wann sie arbeiten, richtig?«

»Tja, das wohl schon.«

Charlotte fing den Blick des Chefredakteurs ein und versuchte, ihn festzuhalten. »Was dann? Gibt es ein Problem?«

»Was? Nein, nein!« Thesander schaute weg, schüttelte heftig den Kopf und wedelte zur Sicherheit noch abwehrend mit den Händen. »Nein, gar kein Problem. Außer …«

»Dass ich eine Frau bin. Und über fünfunddreißig.«

»Ja, das heißt … Herrgott, nein, natürlich nicht. Überhaupt nicht.«

Jetzt wedelte der Chefredakteur so heftig mit den Händen, dass Charlotte fürchtete, der Mann würde von seinem Stuhl abheben. »Nein, es ist nur, weil die Investigativgruppe auf fünf Mann ausgelegt ist …«

Thesander überdachte einen Augenblick seine Wortwahl. »Ich meine natürlich nicht ›Mann‹ wie in ›Männer‹, sondern ›Mann‹ wie in …«

»Wie in ›Frau‹«, schlug Charlotte vor.

»Ja. Oder … ›Personen‹. Die Gruppe ist für fünf Personen ausgelegt. Das meine ich. Und ich kann nicht einfach eine extra Stelle aus dem Hut zaubern.«

»Oh, ob du nicht doch eine findest? Sonst musst du mit dem Hut in der Hand nach oben zur Geschäftsführung«, hatte sie erwidert und ihn daran erinnert, dass sie die Stelle als Politik-Redakteurin damals nur unter der Voraussetzung angenommen hatte, dass sie selbst bestimmen könnte, was sie stattdessen tun wollte, sollte sie der Aufgabe einmal müde sein.

»Das weißt du noch, oder?«

Magnus Thesander hatte genickt, und einige Wochen später war der zusätzliche Schreibtisch in den bereits überfüllten Redaktionsraum der Investigativgruppe getragen worden.

Mikkel Grantoft Nielsen wischt sich den Schweiß von der Stirn, schnauft wie ein Pferd und schaut in die Runde seiner drei Kollegen. Es ist die erste Redaktionssitzung nach den Sommerferien. Zwei sind noch im Urlaub.

»Ich hatte heute Morgen eine kurze Besprechung mit Thesander. So eine Art Vorbesprechung, bevor die Saison richtig losgeht.« Sein Handy brummt. Er greift danach, wirft einen Blick aufs Display und legt es wieder weg. »Wir haben unter anderem über unsere Zielsetzung gesprochen.«

Im Raum herrscht Stille, abgesehen vom nervtötenden Summen einer dicken Schmeißfliege, die wie ein Kamikazepilot immer wieder frontal gegen die Scheibe desjenigen Fensters donnert, das nicht geöffnet ist.

»Die offizielle oder die inoffizielle?«, fragt Charlotte.

Mikkel lächelt freudlos. »Was glaubst du wohl?«

Sie nickt. »Okay.«

Die offizielle Zielsetzung der Investigativgruppe lautet, in kurzen Worten, tiefschürfenden, themensetzenden Enthüllungsjournalismus von höchster Qualität zu betreiben. Die inoffizielle kann noch knapper ausgedrückt werden: Jetzt holt euch verdammt noch mal diesen Journalistenpreis!

Das letzte Mal, dass die Zeitung die prestigeträchtigste Auszeichnung des dänischen Journalismus erhalten hat, liegt sechs Jahre zurück. Ein Journalist aus der Kulturredaktion war auf die hervorragende Idee gekommen, die Geschichten von fünf Migrantenfamilien anhand deren privater Fotoalben zu erzählen. Sein Coup resultierte in einer erstklassig geschriebenen Artikelserie, die auch entsprechend wohlverdienten Ruhm erntete.

Seither ist die Zeitung verschiedentlich für den Preis nominiert worden, jedoch stets leer ausgegangen, und dieser Umstand sticht wie spitze Steinchen in den Schuhen der Redaktionsleitung. Das weiß Charlotte zur Genüge. Es wird niemals laut gesagt, doch in den späten Abendstunden diverser Fortbildungsseminare hat sie immer wieder Redaktionskollegen unterschiedlichen Besoffenheitsgrades jammern hören, dass ihre stärkste Konkurrenzzeitung einen Preis nach dem anderen einheimst – zuletzt durch die Aufdeckung eines weitreichenden Betrugsskandals in einem der größten Kreditinstitute des Landes –, während die Morgentidende nie über eine Nominierung hinauskommt.

Die Mitglieder der Geschäftsleitung sind mit anderen Worten bereit, jeweils ihren rechten Arm und mehrere tausend Abonnements für den Journalistenpreis zu geben, und zwar möglichst verliehen für guten, altbewährten Enthüllungsjournalismus, der den ein oder anderen Betreffenden die politische Karriere kostet. Mindestens einen hochstehenden Beamten. Gerne einen bedeutenden Politiker, einen Kopenhagener Bürgermeister beispielsweise. Am allerliebsten einen Minister.

»Was genau hat Thesander gesagt?«, erkundigt sich Charlotte, wohl wissend, dass der Chefredakteur selten präzise Anweisungen erteilt.

»Tja, was hat er gesagt?« Mikkel kratzt sich die Stoppeln seines dekorativen Dreitagebarts. »Er hat unter anderem deine und Jakobs Serie gelobt.«

Charlottes erster Einsatz in der Investigativgruppe war eine Reihe von Artikeln über die lausigen Hygienestandards in mehreren Kopenhagener Krankenhäusern. Die Serie erschien im Laufe des Sommers in der Zeitung. Charlotte hatte mit ihrem blutjungen Kollegen Jakob Hulsted zusammengearbeitet, und die Artikel fanden ein breites Echo, füllten fünf Titelseiten, wurden mehrfach in anderen Medien zitiert und sorgten auch online für reichlich Klickzahlen. Doch Charlotte ist sich durchaus bewusst, dass es in der Saure-Gurken-Zeit nicht allzu viel braucht, um auf der Titelseite zu landen, schließlich lechzen sämtliche Medien während des Sommerlochs nach spannenden Themen und zitieren daher bereitwillig alles, was bloß entfernt danach riecht. Ihre und Jakobs Artikel waren nicht schlecht, aber ihr ist vollkommen klar, dass sich dadurch nichts auch nur im Ansatz verändern wird. Und eben darum geht es letzten Endes. Dies und nichts anderes zählt, wenn am großen Tag die abschließende journalistische Rechnung ansteht.

Jedenfalls für einen Chefredakteur bei einer der größten Zeitungen des Landes.

»Das ist ja nett von Thesander. Hat er sonst noch was gesagt?«

»Na ja, er wollte natürlich wissen, was wir in Planung haben.«

»Und du hast geantwortet …?«

Mikkel rutscht unruhig auf dem Stuhl hin und her.

»Tja, was habe ich geantwortet? Dass wir weiter zu den Absprachen zwischen dänischem Militär und den Amerikanern bezüglich der Lieferung neuer Kampfflugzeuge recherchieren. Ihr wisst schon, dieser Tipp, laut dem irgendeine irrsinnig hohe Summe an Schmiergeldern gezahlt worden sein soll. Ich habe Thesander gesagt, dass wir noch keinen ernsthaften Durchbruch verzeichnen konnten, ich aber große Erwartungen hätte. Dann habe ich diese Sache mit der Überfischung in der Ostsee erwähnt, an der Janus seit einer Weile sitzt. Und dass wir drei, vier weitere vielversprechende Tipps haben, die wir uns näher anschauen werden, mit denen ich ihn jetzt aber noch nicht belästigen möchte.«

»Das heißt, alles in allem …«

Der Redaktionschef starrt Charlotte beinahe trotzig an. »Das heißt, alles in allem haben wir einen Dreck. Um es mal so zu sagen.«

Charlotte kennt Mikkel nicht sonderlich gut. Er wurde vor drei Jahren von einer ihrer Konkurrenzzeitungen abgeworben. Sie hat noch niemals enger mit ihm zusammengearbeitet, doch er ist, das bezweifelt sie nicht, ein ausgezeichneter und fleißiger Journalist. Und anpassungsfähig. Mit den richtigen Managementkursen auf dem Lebenslauf. Sonst würde er nicht da sitzen, wo er jetzt sitzt.

Doch er geht ihr auf den Zeiger. Mit seiner pfadfinderhaften Schwarz-Weiß-Sicht auf Politiker und Machthaber. Wenn Charlotte in ihrer beinahe dreißigjährigen Laufbahn als Journalistin eines gelernt hat, dann die Erkenntnis, dass sich das Leben – auch das in den Korridoren der Macht – praktisch immer in Grauzonen abspielt. Dass das Wasser niemals klar ist, sondern immer trüb.

Außerdem kann sie seine Nervosität darüber, dass sie in den Club gelassen wurde, förmlich riechen. Eine routinierte Reporterin, die ihn wie einen blutigen Anfänger aussehen lässt.

Meine Güte, steht der unter Druck, denkt sie. Es leuchtet förmlich aus ihm heraus: Besorgt mir eine gute Story. Eine Story, die für Furore sorgt. Eine fette Schlagzeile.

»Das wird schon, Mikkel. Solche Dinge kommen in Wellen«, sagt sie.

»Ja. Das Problem ist nur, dass wir uns schon viel zu lange in der Senke eines Wellentals befinden, das elend tief ist.« Er schaut Charlotte an. »Damit möchte ich deine und Jakobs Artikel nicht schlechtmachen, sie waren …«

»Ist schon in Ordnung. Ich weiß, was du meinst«, erwidert sie. Und denkt: Grünschnabel.

Als die Besprechung eine Viertelstunde später zu Ende ist, macht sie sich auf den Weg in die Kantine, um sich einen Kaffee zu holen. Sie hat sich gerade eingeschenkt, als ihr Handy klingelt. Es ist Teresa vom Empfang.

»Hier war gerade ein Fahrradbote mit einem Päckchen für dich«, sagt sie. »Du kannst es gleich in der Postabteilung abholen, sobald sie es gecheckt haben.« Sämtliche Post an die Zeitung und deren Mitarbeiter wird aus Sicherheitsgründen geöffnet und untersucht.

Zehn Minuten später legt sie das Päckchen auf ihren Schreibtisch. ›An Charlotte Junckersen‹ steht mit ungelenken Buchstaben darauf. Mikkel und Jakob sind in der Mittagspause, daher ist sie allein im Büro. Mit einer Heftklammer ratscht sie das braune Klebeband auf, das straff um die Pappschachtel gewickelt ist. Darin liegen ein Smartphone und zwei zusammengefaltete Din-A4-Blätter.

Sie faltet das erste Blatt auf und stutzt, fährt mit dem Zeigefinger über den Text. Tatsächlich. Der Brief wurde auf einer Schreibmaschine geschrieben. Sie kann sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal etwas erhalten hat, das auf der Maschine geschrieben wurde. Wer um alles in der Welt benutzt so eine heute noch?

Charlotte Junckersen. Ich habe etwas dass Sie mitsicherheit sehen wollen.

Rechtschreibung und Kommasetzung gehören anscheinend nicht zu den Kompetenzen des Absenders. Sie liest weiter.

Wir können über das Handy komuniziren. Pin 123465. Darauf ist eine App namens Signal instaliert. Benuzen Sie die, sie verschlüsselt. Ich habe eine Gebrauchsanweisung bei gelegt. Meine Nummer steht unter A im Telefonbuch des Handys. Wir komuniziren nur über Nachrichten. Schreiben Sie wenn Sie interessiert sind.

Sie faltet das zweite Blatt Papier auf. Liest einen Moment. Dann schaltet sie das Handy ein, verschafft sich schnell einen Überblick darüber, wie die Verschlüsselungsapp funktioniert, und zwei Minuten später sendet sie die erste Nachricht.

12.27 Uhr Was will ich sehen? Erzählen Sie mehr

12.29 Uhr Es geht um den Terror Anschlag. Hätte verhindert werden können

12.30 Uhr Wie?

12.30 Uhr Wollen Sie darüber schreiben?

12.32 Uhr Das kommt ganz darauf an, was Sie mir zu erzählen haben

12.35 Uhr Es ist zu früh. Weis nicht ob ich Ihn trauen kann

12.37 Uhr Wenn Sie mir nicht trauen, weshalb haben Sie sich dann an mich gewandt? Um es gleich vorwegzusagen, ich stürze mich nicht in Storys, bei denen ich nicht weiß, wer die Quelle ist. Habe kein Problem damit, Sie zu anonymisieren, aber ich muss wissen, wer Sie sind

Es vergeht beinahe eine Viertelstunde, bis die nächste Nachricht aufpoppt.

12.51 Uhr Morgen 9 Uhr. Skudehavnsvej 6 

Charlotte schaltet ihren PC an, öffnet Google Maps und tippt ›Skudehavnsvej 6‹ ins Suchfeld. Die Straße liegt, wie sie bereits wusste, in Nordhavn. Aber sie wusste nicht, dass die Adresse zur Kaffeebar Havnelyst gehört.

12.55 Uhr Abgemacht

Wie alle Journalisten erhält sie in regelmäßigen Abständen merkwürdige Tipps – per Mail oder Telefon, manchmal aber auch per Brief – von Leuten, die todsichere Beweise dafür haben, dass der Ministerpräsident in Wahrheit ein russischer Spion ist, oder die dokumentieren können, dass sich sämtliche Mitglieder des Königshauses in einer thailändischen Privatklinik einer Geschlechtsumwandlung unterzogen haben und einem uralten Zombiegeschlecht angehören.

Sie fischt ein Päckchen blaue Kings und ein Feuerzeug aus ihrer Tasche und steht auf, um auf die Raucherterrasse zu gehen. Das hier kommt sicher auch von irgendeinem verschwörungsbesessenen Spinner, so ist es in neunzehn von zwanzig Fällen – wenn nicht öfter. Andererseits … der Betreffende hat sich die Mühe gemacht, eine Nachricht zu schreiben, ein Handy zu kaufen, eine Verschlüsselungsapp zu installieren, alles in eine Schachtel zu packen und sie per Boten herzuschicken.

Ach, was soll’s, es ist lange her, dass sie in Nordhavn vorbeigeschaut hat, und noch länger, dass sie in einer Kaffeebar war.

Und sollte es sich als falscher Alarm herausstellen … sie hat ohnehin keine Pläne für morgen.

Kapitel 5 

»Und Nummer wie viel ist das jetzt also?«

Die Luft im Kildeparken steht still. Juncker schielt zu dem glatzköpfigen Mann an seiner Seite. Markman reicht ihm kaum bis zur Schulter.

»Nummer? Was meinst du?«

Der Rechtsmediziner grinst, und ein feinmaschiges Netz aus Falten legt sich um die braunen Augen und die stattliche Hakennase.

»Ich meine, wie viele wurden in Sandsted und Umgebung umgebracht, seit du in deinen Geburtsort zurückgekehrt bist … wann war es noch mal, vor acht Monaten?« Markman stammt ursprünglich aus dem südschwedischen Schonen und spricht ein einzigartiges Kauderwelsch aus Schwedisch und Dänisch ohne jede Systematik, allerdings mit einem starken schonischen Akzent.

»Neun Monate«, murmelt Juncker.

»Schön, dann eben neun Monate.« Das Grinsen des kleinen, schmächtigen Mannes wird noch etwas breiter. »Erst war da dieser Bent Larsen, hieß er nicht so? Und seine Frau. Als Nächstes der junge Kerl aus dem Flüchtlingsheim, der nach dem Brandanschlag gestorben ist. Und dann sind doch auch noch zwei Terroristen hopsgegangen, oder?«

Juncker bemüht sich, den Rechtsmediziner zu ignorieren. Den er seit Jahrzehnten kennt. Den er als den Besten auf seinem Gebiet respektiert. Den er schon fast als seinen Freund betrachtet. Und der unverdrossen weiterstichelt.

»Und nun dieser Kollege hier.« Er nickt zu dem weißen Zelt, das über der Leiche von Ragner Stephansen errichtet wurde, und zählt die Opfer an den Fingern ab.

»Ja, damit komme ich auf … sechs. Sechs Tote im Zuge deiner Ankunft. In einem kleinen Kuhkaff mit wie vielen Einwohnern? Fünf-, vielleicht sechstausend?« Er knufft Juncker fröhlich mit dem Ellbogen in die Seite. »Das ist ja das reinste Barnaby.«

»Zwei von ihnen sind genau genommen nicht hier, sondern in Kopenhagen gestorben«, korrigiert Juncker ihn kühl.

»Aber lebensgefährlich verletzt wurden sie hier, nicht wahr?« Markman wird ernst. »Und da habe ich deinen Vater noch gar nicht mitgerechnet. Allerdings ist der ja eines natürlichen Todes gestorben, nicht wahr?«

Juncker erwidert Markmans Blick. Flüchtig. Er nickt.

»Ja, so ist es.«

»Du bist ja ein richtiger Todesengel, Juncker. Da solltest du wohl besser nicht damit rechnen, in nächster Zeit zum Ehrenbürger der Stadt ernannt zu werden.« Markman setzt sich eine hellgraue Baseballkappe auf, die er in der Hand gehalten hat. »Verflucht, ist das heiß«, stöhnt er und blinzelt in die brennende Sonne. »Und du kennst den Typ im Zelt, habe ich gehört?«

»Ja. Er ist der ehemalige Partner meines Vaters.«

»Den du gut gekannt hast?«

»Na ja, den ich gekannt habe. Er ging in die Klasse meines großen Bruders, aber ich habe nie eine persönliche Beziehung zu ihm gehabt. Mein Vater übrigens auch nicht, soweit ich weiß.« Juncker schaut auf sein Handy. Die beiden Kriminaltechniker, die im Zelt nach allen möglichen Spuren auf und um die Leiche herum suchen, sind jetzt seit einer knappen Stunde an der Arbeit. Bald müssten sie fertig sein.

Ein Mann kommt auf sie zu.

»Juncker. Markman«, grüßt er und lächelt – ein wenig steif und förmlich.

»Hallo, Skakke«, antwortet der Rechtsmediziner, während Juncker sich damit begnügt, seinem Chef zuzunicken.

Der stellvertretende Polizeiinspektor Jørgen Skakke ist Leiter der Abteilung für Gewaltkriminalität an der Hauptdienststelle in Næstved. Er und Juncker haben in der zweiten Hälfte der Neunziger als verhältnismäßig junge Ermittler zusammen in der damaligen Eliteeinheit der dänischen Kriminalpolizei gearbeitet, dem sogenannten ›Reiseteam‹, das den verschiedenen Polizeidirektionen im Land bei besonders schwierigen Mordfällen beisprang, und anschließend bei der Auflösung der Einheit im Jahr 2002 in der Mordkommission der Kopenhagener Polizei. In Junckers Augen ist Skakke, um es freundlich auszudrücken, nicht der beste Ermittler, den die Welt je gesehen hat, dafür aber ein furchtbarer Paragrafenreiter. Juncker ist sicher, dass Skakke nicht gerade Jubelrufe ausgestoßen hat, als die Polizeistation in Sandsted geschlossen und Juncker nach Næstved versetzt wurde.

»Wissen wir, wer der Tote ist?«, fragt Skakke.

»Ja. Rechtsanwalt Ragner Stephansen. Ehemaliger Partner meines Vaters. Ragner ging zu Schulzeiten mit meinem Bruder in eine Klasse.«

»Hm. Stellt das ein Problem dar? Der Umstand, dass du ihn kennst?«

»Nein. Jedenfalls nicht für mich. Ich habe ihn im Laufe der Jahre auf einigen Abendgesellschaften bei meinen Eltern getroffen, aber das war’s auch.«

Skakke mustert ihn. Juncker kann förmlich sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitet.

»Das ist grenzwertig. Abendgesellschaften, sagst du? Und sonst nichts?«

Juncker erwidert seinen Blick. »Nein, sonst nichts.«

»Na schön. Es ist ja nicht so, dass wir uns vor verfügbaren Leuten kaum retten könnten. Seit dem Terroranschlag ist der Überstundenberg schließlich nur immer weiter gewachsen …« Sein Blick wird abwesend, fokussiert sich dann aber wieder auf Juncker. »Du bist also mit im Team. Aber nicht als Ermittlungsleiter.«

Juncker zuckt mit den Schultern. »Wenn du es sagst, ist es so.«

»Gut.« Skakke schaut sich um. »Wo ist Nabiha?«

»Die klingelt in der Nachbarschaft an den Türen. Zusammen mit Kryger. Anders Jensen und Hovmand sind losgezogen, um zu sehen, was sich in der Gegend an Überwachungskameras findet.«

»Okay.« Er wendet sich an den Mediziner. »Markman, haben Sie …«

»Noch nicht. Aber ich schätze, die Techniker werden jeden Moment fertig, dann kann ich mich an die Arbeit machen.«

»Er wurde mit zwei Kopfschüssen erschossen«, sagt Juncker.

Skakke nickt bedächtig. »Rechtsanwalt, sagst du? Und die Kanzlei war hier in der Stadt? Das heißt, viele der Fälle stammen aus der Umgebung?«

»So war es jedenfalls, als mein Vater noch Teilhaber der Kanzlei war.«

»Dann ist es wohl sinnvoll, wenn wir so schnell wie möglich Teile der Kanzlei sowie den Zugriff auf Computer und Dokumente versiegeln. Ist ja nicht auszuschließen, dass der Schuldige in einem der Fälle zu suchen ist, mit dem die Kanzlei beschäftigt war.«

»Als ich Stephansens Frau und Sohn von dem Todesfall unterrichtet habe, habe ich den Sohn bereits darüber informiert, dass wir Zugriff auf gewisse Computer und vermutlich auch andere Dokumente benötigen. Mads Stephansen ist Juniorpartner. Ich habe ihn außerdem gebeten, in der Kanzlei nichts über den Tod seines Vaters verlauten zu lassen, auch wenn es illusorisch sein dürfte zu glauben, dass sich das Gerücht noch nicht in ganz Sandsted verbreitet hat.«

»Brauchen wir einen Durchsuchungsbeschluss?«

»Möglicherweise. Ich könnte zur Kanzlei fahren und mit Laust Wilder sprechen, er ist neben Ragner Eigentümer der Kanzlei, dann werden wir schnell sehen, ob sie bereit sind, mit uns zusammenzuarbeiten. Was ich durchaus denke.«

»Wenn sie sich querstellen, lassen wir es unter ›Gefahr im Verzug‹ fallen«, meint Skakke und bezieht sich damit auf einen Passus der Strafprozessordnung, der es der Polizei ermöglicht, eine Durchsuchung durchzuführen, ohne auf einen Durchsuchungsbeschluss zu warten, falls zu befürchten steht, dass in der Zwischenzeit Beweismittel verloren gehen.

»Alles klar«, antwortet Juncker. »Wir sollten wohl auch so schnell wie möglich ein paar Finanzleute dransetzen?«

»Auf jeden Fall. Wir stellen drei Mann von der Abteilung für Wirtschaftskriminalität ab, um die Unterlagen der Kanzlei zu prüfen. Darum kümmere ich mich, und dann rede ich mit dem Staatsanwalt, dass er uns einen Durchsuchungsbeschluss beim Richter besorgt. Und organisiere ein paar Hunde und weitere Leute, damit wir den Park durchkämmen können. Eine Tatwaffe wurde nicht gefunden, richtig?«

»Nein.«

»Okay. Wir sehen uns in etwa einer Stunde. Gegen halb zwölf.«

Es ist viele Jahre her, dass Juncker zuletzt durch die Eingangstür und die fürstliche weiße Treppe mit dem weinroten Hochflorläufer hinaufgegangen ist, nach oben in den ersten Stock, zur Rechtsanwaltskanzlei Wilder & Stephansen. Oder wie sie einst hieß: Junckersen & Stephansen.

Er öffnet die schwere Eichenholztür. Zu Zeiten seines Vaters trat man in einen langen Gang, der zu den Büros der Anwälte führte. Rechts befand sich ein kleiner Empfang. Nun führt die Tür direkt in einen großen Raum, der mit einem Tresen, hellen Büromöbeln, Designerregalen und vier niedrigen Ledersesseln um einen weißen Marmortisch möbliert ist. An der einen Wand hängt ein abstraktes Gemälde, von dem Juncker ziemlich sicher ist, dass es von einem renommierten dänischen Künstler stammt, sowie eines von Egill Jacobsens bekannten Maskenbildern. Sollte es ein Original sein, dann weiß selbst er, der weiß Gott kein großer Kunstkenner ist, dass hier jemand richtig tief in die Tasche gegriffen hat.

Das Einzige im Raum, was Juncker von früheren Besuchen her wiedererkennt, sind die hohen Holzpaneele in dunkler Eiche und die vier imposanten Bogenfenster, die zur Sandsteder Fußgängerzone zeigen, der Torvegade.

An einem der beiden Schreibtische sitzt eine zierliche Frau mit dunklem Haar, Eichhörnchengesicht und verweinten Augen. Die Nachricht von Ragners Tod ist ihm wie erwartet vorausgeeilt. Juncker stellt sich vor und bittet um ein Gespräch mit Laust Wilder.

»Einen Augenblick«, sagt die Frau und verschwindet durch eine Tür, die sie hinter sich schließt. Einen Moment später ist sie zurück. »Bitte schön«, sagt sie, lässt die Tür offen stehen und setzt sich wieder hinter ihren Schreibtisch. Juncker wird mit einem Mal klar, dass es das alte Büro seines Vaters ist, das er da betritt. Laust Wilder steht auf und kommt ihm mit ausgestreckter Pranke entgegen.