Inhaltsverzeichnis
ZUM BUCH
ZUM AUTOR
LIEFERBARE TITEL
Widmung
TEIL EINS - LUDLOW
Kapitel 1
Copyright
ZUM BUCH
Nach dem Tod seiner Frau ist der Hund Red der stetige Begleiter von Avery Allan Ludlow. So auch, als er unten am Fluss beim Fischen von drei Jugendlichen überrascht wird. Zunächst scheint es, als wollten sie den alten Mann schlichtweg ausrauben, doch schnell wird klar, dass er keinen besonderen Besitz vorzuweisen hat. Außerdem sind sie auf etwas ganz anderes aus. Sie bedrohen Ludlow und erschießen schließlich aus reiner Boshaftigkeit seinen Hund. Zurück bleibt Avery, der die Patronenhülse der Schrotflinte aufbewahrt und seinen treuen Begleiter auf seinem abgeschiedenen Stück Land beerdigt. Der Verlust schmerzt ihn sehr, und er beginnt anhand der Patronenhülse Nachforschungen anzustellen. In einem Waffengeschäft in der Stadt erfährt er, wer die besagte Schrotflinte vor ein paar Tagen erstanden hat. Sogleich macht er sich auf den Weg, um den Jungen aufzusuchen. Er will Gerechtigkeit, die Jungen sollen für ihre Tat büßen. Doch niemand will ihn unterstützen, und so nimmt er das Heft selbst in die Hand.
Der Roman wurde 2008 mit Brian Cox (Die Bourne Identität) und Tom Wisemore (Heat) in den Hauptrollen verfilmt.
ZUM AUTOR
Jack Ketchum ist das Pseudonym des ehemaligen Schauspielers, Lehrers, Literaturagenten und Holzverkäufers Dallas Mayr. Seine Horrorromane zählen in den USA unter Kennern neben den Werken von Stephen King oder Clive Barker zu den absoluten Meisterwerken des Genres, wofür Jack Ketchum mehrere namhafte Auszeichnungen verliehen wurden. 2007 wurde sein Roman Evil, der in Deutschland als DVD erhältlich ist, verfilmt.
LIEFERBARE TITEL
EvilBeutezeitAmokjagd
Für Neil, Aggie, Beast, Vinni und Zoe -meine früheren und heutigen vierbeinigenFreunde und steten Vorbilder in der Kunst derHingabe. Und für den wahren, längstverstorbenen Red, der meinem Onkel dasLeben gerettet hat, so wie es dem Hund vonSam Berry hier gelingt.
»Der Schmerz ist menschlich, nicht höflich.«
EMILY DICKINSON
»Here I am, Lord, I’m
Knocking at your place of business …
I know I got no business here …«
PAUL SIMON
TEIL EINS
LUDLOW
1
Der alte Mann sah, wie der Hund ihn beobachtete, wie er seine Hände anstarrte, die den Haken zum orangefarbenen Schwanzende des braunen Plastikwurms schoben. Der alte Hund lag am Flussufer in einem Strahl spätnachmittäglichen Sonnenlichts, das zwischen den Bäumen hindurchfiel. Nach all der Zeit betrachtete der Gute ihn noch immer voller Neugier, und am Spannendsten fand er seine Hände.
Es schien beinahe so, als wären die Fähigkeiten seiner Hände für den Hund das Einzige, was ihn als Geschöpf von seinem Besitzer unterschied, nur die Hände und nichts sonst.
Der alte Mann hörte die Jungen, lange bevor er sie sah, genau wie der Hund. Er wusste, dass sie näher kamen und dass es mindestens zwei waren, die sich auf dem schmalen steinigen Pfad durch den Wald schlugen. Sie kamen von der Lichtung, wo sein Pick-up stand. Er und der Hund hatten denselben Weg genommen.
Er hörte, wie ihre Schuhe über Erde und Steine schlurften, hörte das Knacken der Zweige über dem Vogelgezwitscher und dem Plätschern des gemächlich dahinfließenden Wassers. Der Hund stellte die Ohren auf und wandte seinen mächtigen zerzausten Kopf in Richtung der Geräusche, dann schaute er wieder zu dem alten Mann. Da dieser nichts sagte, seufzte er nur und legte sich wieder hin.
Seit der Eisschmelze war der Fluss für den alten Mann überaus ertragreich gewesen. Aber jetzt, im Spätjuni, war es fast schon zu einfach. Er stand erst seit dreißig oder vierzig Minuten am Ufer, nicht länger, und er hatte bereits zwei der drei vom Gesetz zum Fang freigegebenen Fische gefangen, die nun kopflos und ausgenommen in der Kühlbox lagen, beides Vierpfünder.
An dieser Stelle strömte der Fluss breit und tief dahin. Man brauchte sich nur einen Felsen, Baumstumpf oder einen umgestürzten Stamm auszusuchen - irgendetwas, hinter dem sich die Schwarzbarsche gern versteckten - und den Köder auszuwerfen. Dann zog man einige Male ruckartig an der Leine, sodass der Wurm durch das brauntrübe Wasser sauste und nach oben schoss, danach ließ man ihn wieder zum Grund gleiten. Heute reichten bereits drei oder vier solcher Versuche, ehe der Alte das sanfte Zupfen an der Angelleine spürte, das ihm verriet, dass der Fisch angebissen hatte. Wenn es so weit war, ließ er die Rute sinken, damit die Leine schlaff wurde und der Barsch sich den Plastikwurm einverleiben konnte, den der alte Mann vorher mit seinem Speichel als Lockstoff präpariert hatte. Dann holte er die Leine behutsam ein. Wenn er sicher sein konnte, dass sie straff genug war, brachte er den Haken zum Einsatz, indem er die Rute schlagartig nach oben riss, sodass sich der Haken aus der Wurmattrappe löste und das Maul des Fisches durchbohrte.
Auch der nächste Barsch würde ihm erbitterten Widerstand entgegensetzen, aber darauf würde sich der alte Mann nicht einlassen, jedenfalls nicht mehr als nötig, um den Fang einzuholen.
Hier ging es um einen Fisch auf dem Teller und zwei im Gefrierschrank, um weiter nichts. Sein Geschmack an blutigen Sportarten war ihm irgendwann zwischen der Hochzeit seiner Tochter Alice und Marys Tod abhandengekommen.
Aber ihm schmeckte das gute, feste, weiße Fleisch des Barsches. Und dem Hund schmeckte es auch. Obwohl der ja praktisch alles fraß, wie Mary einmal bemerkt hatte. Seit ihrem Tod hatte er festgestellt, dass seine Frau recht behalten sollte, so wie bei den meisten Dingen, über die zu reden sie sich bemüßigt hatte.
Er sah, wie der Hund erneut den Kopf hob und mit der narbenübersäten schwarzen Nase Witterung aufnahm.
Auch der alte Mann roch es, genau genommen sogar noch vor dem Hund. Der war schon lange nicht mehr derselbe wie früher. Der alte Mann konnte immer noch den Welpen in ihm erkennen, so wie in sich selbst den kleinen Jungen. Aber inzwischen waren die Bewegungen des Hundes viel langsamer geworden, was vermutlich an einer beginnenden Arthritis lag. Auch seine Augen wurden immer trüber.
Trotzdem steckte noch genug Leben in ihm, um Emma Siddons schwarzer Promenadenmischung nachzustellen, wann immer diese läufig war. Vor einer Woche erst hatte er ihn auf dem Feld hinterm Haus dabei beobachtet. Lächelnd hatte er zugeschaut, wie der Hund durch die Goldruten stürmte und die Bienen aufschreckte, als stünde er noch voll im Saft.
Trotzdem roch der alte Mann es zuerst.
Waffenöl.
Ganz schwach wehte es auf seiner Windseite vom Pfad herüber.
So riechen Amateure, dachte der alte Mann. Ein erfahrener Jäger hätte das Öl viel gründlicher abgewischt als diese Burschen hier. Das Wild würde meilenweit vor ihnen zurückweichen. Selbst wenn sie nicht wie eine lärmende Ziegenherde über den Pfad getrampelt wären.
Er schwenkte die Rute bis über den Kopf zurück und ließ sie dann kraftvoll ins Wasser hinabschnellen. Er spürte das Zischen der Leine, bevor er sie wieder von sich schleuderte, über den Fluss hinweg zu dem halb versunkenen Baum, wo er den ersten Barsch gefangen hatte, den größeren von beiden. Diesmal aber zielte er mit dem Köder auf die andere Baumseite, wo das Wasser tiefer war. Er ließ ihn eintauchen und zog dann ruckartig an der Leine.
Der Hund hob erneut den Kopf. Aus dem Augenwinkel sah der alte Mann die Neuankömmlinge und wandte sich ihnen halb zu, während sie den Hügel hinunterstolperten. Dann richtete er sein Augenmerk wieder auf die Angelleine und zog erneut daran.
Es waren noch halbe Kinder. Siebzehn, achtzehn Jahre alt vielleicht.
Sie hatten eine Schrotflinte dabei, die sich der größte der drei Jungen über die Schulter gelegt hatte wie einen Stock oder ein Schlagholz, nicht wie eine Feuerwaffe.
»Schon was gefangen?«
Der alte Mann drehte sich zu dem Jungen um, der ihn angesprochen hatte. Es war der mit der Schrotflinte. Er war groß und sah gut aus, was er wahrscheinlich auch wusste. Der Junge trug kurze Haare, in der Art, wie sie es dem alten Mann damals beim Militär geschnitten hatten. Er trug Jeans und ein T-Shirt, auf dem STOLEN FROM MABEL’S WHOREHOUSE stand. Darunter prangte die Karikatur einer vollbusigen Frau, die vor einer Art Western-Bar stand.
Im Gegensatz zu den beiden anderen war der Junge schlank und muskulös. Auch sie trugen Jeans und T-Shirts - einer ein rotes, der andere ein ausgeblichenes gelbes, beide mit Taschen für Zigaretten. Ihre Haare waren mittellang und braun, nicht blond und kurz wie die ihres Freundes. Der Junge in Rot hatte einen beträchtlichen Bauch.
»Zwei liegen schon in der Kiste«, sagte der alte Mann. »Seht sie euch ruhig an.«
Der Junge im gelben T-Shirt, der noch den mageren Körper eines Halbwüchsigen hatte, keine Erwachsenenfigur wie der Bursche mit der Schrotflinte, bückte sich und klappte den Deckel der Kühlbox auf. Einen Moment lang betrachtete er die Fische, die Hände tief in den Hosentaschen, sodass seine Schultern spitz unter dem T-Shirt hervorstachen. Dann richtete er sich wieder auf.
»Nicht schlecht«, sagte er. »Ordentliche Teile.«
Der alte Mann lächelte. »Im Augenblick kann man sogar Fünfpfünder rausholen.« Er zupfte an der Leine. »Aber mir reichen die da.«
Der dicke Junge in Rot trat mit den Turnschuhen Kieselsteine und kleine Felsbrocken los. Er wirkte träge, als wüsste er nichts mit sich anzufangen, wie die meisten übergewichtigen Kinder. Ein nur wenige Meter entfernt schwimmender Fisch konnte hören, was an Land geschah. Der alte Mann hoffte, der Junge würde endlich die Füße stillhalten.
»Ihr Hund?«, fragte der Junge mit der Waffe.
Der Alte blickte zu seinem Hund hinab und sah, dass dieser den Jungen ihn auf eine bestimmte Art beobachtete. Mit fortschreitendem Alter wurde der Hund zunehmend reizbar. Man sah es ihm an, wenn er es sich in den Kopf gesetzt hatte, jemanden nicht zu mögen. Dann starrte er denjenigen unentwegt an und konnte den Blick so lange nicht von ihm wenden, bis dieser ihn vollständig von seiner Vertrauenswürdigkeit überzeugt hatte.
Das Problem an ihm war jedoch, dass man sein Vertrauen mit einem Hundekeks erkaufen konnte.
Der alte Mann musste lächeln, als er darüber nachdachte, was für ein schlichtes Gemüt dieser Hund war.
»Ja, er gehört mir. Aber keine Sorge, er beißt nicht.«
Manche Leute waren komisch mit Hunden, dachte er. Immer glaubten sie, ein Hund würde gleich zuschnappen. Dabei hatten nach seinen Erfahrungen verdammt wenige Hunde jemals wirklich zugebissen, außer man hatte sie extrem gereizt, und selbst dann geschah so etwas nur selten. Hunde wollten von den Menschen genau das Gegenteil. Sie wollten gar nicht zubeißen und waren froh, wenn es dafür keinen Grund gab, denn sie wurden gefüttert und hatten es nachts warm, niemand quälte sie, und tagsüber hatten sie viel Zeit, in der Sonne zu liegen, in der Gegend herumzutollen und allen möglichen Dingen hinterherzujagen.
»Hat schon ein paar Jahre auf’m Buckel, was?«, sagte der Junge in Rot.
Der alte Mann nickte. »Wir sind schon seit einer Ewigkeit zusammen.«
Er zog an der Angelleine. Im Moment biss nichts an. Vielleicht verscheuchte das Gerede die Fische, oder es lag an dem dicken Jungen, der mit dem Fuß noch immer Steine aufwirbelte.
»Wie alt ist er denn?«
Er musste überlegen. Mary hatte ihm den Hund zum dreiundfünfzigsten Geburtstag geschenkt, als er gerade sechs oder sieben Wochen alt war. Es war das Jahr vor ihrem Tod gewesen. Sie war 1983 gestorben.
»Dreizehn oder vierzehn.«
»Hässlicher alter Köter.«
Darauf wusste der alte Mann nichts zu entgegnen. Aber er wusste, dass der Ton des Jungen ihm nicht gefiel. Der konnte wohl nichts mit Tieren anfangen.
Er begann, die Leine einzuholen.
»Was für Köder verwenden Sie?« Der magere Junge in Gelb schaute in den Angelkasten.
»Würmer.«
»Lebende?«
»Nein, aus Plastik. Ich hab sie irgendwann ausprobiert, seitdem funktionieren sie für mich am besten.«
»Ich mag am liebsten Buzzbaits. Schon mal damit versucht?«
»Nein, hab ich nie benutzt. Manchmal nehme ich Jitterbugs oder Popper, aber meistens diese Plastikwürmer.«
»Mann, hör auf mit dem Gelaber, Harold«, sagte der Junge mit der Schrotflinte. »Und du, Opa, legst jetzt die Angel weg.«
Der alte Mann blickte zu den Jungen hinüber, während diese zwei Schritte auf ihn zutraten.
Die Flinte war jetzt auf ihn gerichtet, sie zeigte auf seinen Bauch. Was zum Henker soll das jetzt?
Der Junge legte den Entsicherungshebel um.
Der Hund knurrte und erhob sich.
»Ruhig«, sagte er zu dem Tier. »Ganz ruhig.«
Er streckte die Hand aus. Man konnte sich darauf verlassen, dass der Hund befolgen würde, was die Hand ihm befahl, selbst wenn sein Instinkt ihm das Gegenteil sagte. Jetzt setzte er sich auf die Hinterläufe und knurrte so leise, dass man es leicht überhören konnte, wenn man nicht genau hinhörte. In diesem Moment wollte der Hund nichts anderes als aufspringen und ihn verteidigen, ganz gleich, wie alt und arthritisch er war.
»Der Köter bleibt besser sitzen«, sagte der Junge mit dem Gewehr. »Und du legst jetzt endlich die verdammte Angel weg, Opa.«
Sprich ganz vernünftig mit ihm, dachte der alte Mann. Am besten, er verhielt sich jetzt völlig normal, obwohl man das von dem Burschen weiß Gott nicht behaupten konnte.
»Wenn ich sie loslasse, geht sie mir vielleicht verloren«, sagte er. »Was ist, wenn einer anbeißt? Sie beißen heute ziemlich gut.«
Der Junge sah ihn verdutzt an, dann schüttelte er grinsend den Kopf.
»Na schön. Hol die Leine ein. Und dann legst du die Angel weg.«
Der alte Mann tat wie ihm befohlen. Er konnte sehen, wie sehr der Junge seine Macht genoss. Mehr, als ihm gut tat. Er wollte ihn nicht provozieren.
»Gib die Brieftasche her«, sagte der Junge.
Der alte Mann schüttelte den Kopf.
»Die liegt im Handschuhfach meines Wagens. Ihr seid auf dem Weg hierher an ihm vorbeigelaufen. Ein grüner Chevy-Pick-up drüben auf der Lichtung.«
»Blödsinn«, sagte der dicke Junge.
»Es stimmt. Ich nehme meine Brieftasche nie mit. Hier unten braucht man kein Geld. Und falls ich wegen einer verhedderten Leine oder im Kampf mit einem Fünfpfünder ins Wasser muss, würde meine Brieftasche nass. Ich müsste also daran denken, sie vorher in den Angelkasten zu legen, was ich bestimmt vergessen würde. Deshalb verwahre ich sie im Handschuhfach. Es sind zwanzig, dreißig Dollar drin. Ich sage zwar nicht, ihr könnt euch das Geld gerne nehmen, aber mit einer Schrotflinte lege ich mich auch nicht an. Also, holt es euch.«
Ganz langsam griff er in seine Jackentasche.
»Ihr braucht die Wagenschlüssel«, sagte er.
»Wie viel ist sein Angelzeug wert?«, fragte der Junge mit dem Gewehr den Jüngsten, denjenigen, den er Harold genannt hatte.
»Ist alles alter Kram. Ein paar halbwegs brauchbare Fliegen. Aber nichts, was sich gut verscheuern lässt.«
Es war keine zutreffende Bewertung, falls der Junge irgendetwas vom Angeln verstand, und der alte Mann spürte, dass dies der Fall war. Die Fliegen waren allesamt handgeknotet, eine gute Sammlung. Sie allein hätten schon ein hübsches Sümmchen eingebracht. Falls der Junge das wusste, verriet er es jedenfalls nicht.
Er fragte sich, warum.
»Irgendwelche Kreditkarten in der Brieftasche, Opa?«
»So was benutze ich nicht.«
Lachend schüttelte der Junge den Kopf. Er kam einen Schritt näher. Jetzt sah der alte Mann, dass die Schrotflinte eine Browning Auto-5 Kaliber 12 war, nagelneu und teuer. Er nahm den Geruch des Waffenöls so intensiv wahr wie den im Innern eines neuen Autos. Derweil nahm er die Schlüssel heraus und hielt sie dem Jungen hin. Dieser lachte unverdrossen weiter, aber es klang nicht fröhlich, sondern boshaft.
Als würde das Lachen ihn zu etwas hinführen.
Dem alten Mann fiel auf, dass der Junge für sein Alter überraschend viele Falten hatte, dass sein Gürtel aus gutem Leder bestand und seine Jeans keine Levis war, sondern von irgendeiner Designermarke. Die anderen Jungen trugen die gleichen Hosen.
Sie brauchten das Geld nicht. Sie wollten es ihm bloß einfach wegnehmen.
Na schön, sollten sie es doch haben.
Er hoffte nur, dass es alles war, wonach ihnen der Sinn stand.
»Hier«, sagte er und wies auf die Wagenschlüssel in seiner Hand. »Der Kleinste ist für das Handschuhfach. Die Brieftasche liegt drin.«
Nimm sie und verschwinde, dachte er.
Noch immer grinsend, schüttelte der Junge den Kopf.
»Du hast also einen zerbeulten alten Pick-up, eine Brieftasche mit zwanzig Dollar drin und eine Angelausrüstung, die einen Scheiß wert ist. Dazu zwei Fische und einen verdammten Hund. Was, zum Teufel, besitzt du eigentlich, Alter?«
Er antwortete nicht. Darauf gab es einfach keine Antwort. Und der Junge wollte auch gar keine hören.
»Einen Scheißdreck besitzt du!«
Es bestand immerhin die Chance, dass der Junge nicht schießen würde, falls er auf ihn zuginge und versuchte, ihm die Waffe abzunehmen. Aber er schätzte diese Chance nicht sehr hoch ein. Denn in der Stimme lag eine Gleichgültigkeit, die ihm von Anfang an missfallen hatte, die sich inzwischen aber in Eiseskälte verwandelt hatte. Er schaute zu dem dicken Jungen und sah, dass dessen leeres dümmliches Grinsen ihm keine Hilfe sein würde. Als er zu dem Jüngsten im gelben T-Shirt blickte, merkte er, dass dieser vor lauter Angst verstummt war. Auch das würde ihm wenig nützen.
Auch wenn die Angst des Jungen womöglich dessen Lüge über die Angelausrüstung erklärte.
Er hörte das Wasser hinter sich und den Wind in den Bäumen.
Er hielt die Schlüssel ausgestreckt.
Er wartete. Niemand rührte sich.
In dem Jungen arbeitete es. Etwas baute sich auf. Ob dies ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war, konnte der alte Mann nicht deuten.
Du könntest hier und heute sterben, dachte er. Bist du bereit dafür?
Auch darauf hatte er keine Antwort.
»Wie heißt er eigentlich?«, fragte der Junge.
»Wer?«
»Der Hund. Wie heißt er?«
Für den alten Mann war es immer nur der Hund gewesen. Auf einen Pfiff hin stand das Tier bei Fuß und gehorchte seinen Händen, einem Klatschen, einem Wink oder einem Fingerschnippen. Wahrscheinlich hatte er seit Monaten keinen Grund gehabt, den Namen des Hundes zu benutzen. Aber natürlich hatten er und Mary ihm als Welpen einen gegeben, etwas Einfaches wegen seiner Farbe.
»Red«, sagte er.
Der Junge starrte ihn ernst an, nickte beinahe teilnahmsvoll. Für einen Augenblick schien die kalte Bosheit in seinen Augen ins Wanken zu geraten.
»Das ist gut«, sagte er leise. »Das ist richtig gut. Red.«
Der Junge holte tief Luft und stieß sie wieder aus. Plötzlich wirkte er ganz ruhig. Der alte Mann dachte schon, der Sturm hätte sich vielleicht verzogen - obwohl er nicht verstand, wie dies allein die Nennung des Namens verursacht haben sollte. Aber dann fuhr der Junge auf einmal herum, der Hund sprang auf - um so vieles langsamer, als er es noch vor einem Jahr getan hätte -, denn er spürte etwas, das jenseits der ausgestreckten Hand seines Besitzers oder dessen Macht über die Ereignisse lag. Der Junge ging einen Schritt auf ihn zu, das Krachen der Schrotflinte zerriss die idyllische Stille des Waldes, des Flusses und des sonnigen Junitages. Es verwüstete den Frieden, der das Leben des alten Mannes bis dahin erfüllt hatte. Man hörte nicht einmal ein Bellen oder Winseln, denn die obere Schädelhälfte des Hundes war verschwunden. Die aufmerksamen braunen Augen, die Nase mit den vernarbten Katzenbissen, alles war verschwunden, war in einem blutigen Sprühregen aus vertrautem Fleisch ins Gebüsch gespritzt. Plötzlich war das bloße Aussehen des Hundes nur noch Erinnerung.
Fassungslos stand der alte Mann da.
Warum?, fragte er sich. Mein Gott, warum?
Die Beine des Hundes zuckten.
»Red!«, brüllte der Junge feixend. »Red!«
Schon war der Gewehrlauf wieder auf ihn gerichtet. Der Junge ist schnell, dachte der alte Mann.
Das war etwas, das er sich merken musste.
»Jetzt ist er wirklich rot, der gute Red! Knallrot!«, rief der Junge und lachte höhnisch.
Es war ein blutberauschtes, stumpfes, einfältiges Lachen. So hatte er sie im Krieg lachen gehört, nachdem sie ihr Herz und ihre Seele verloren hatten.
Der alte Mann sagte nichts.
Er blickte auf die leere Patronenhülse am Boden, dann schaute er wieder zur Schrotflinte zurück, die noch immer auf ihn zielte.
»Vergiss nicht, das nächste Mal mehr Geld mitzunehmen. Dann passiert dir so was vielleicht nicht noch einmal, Opa.«
Der Junge drehte sich zu seinen Freunden um.
»Verschwinden wir«, sagte er.
Die beiden sahen aus, als wäre ihnen nichts lieber.
Das magere Bürschchen war kreidebleich, sogar dem Dicken stand das Unbehagen ins Gesicht geschrieben. Der Junge mit der Schrotflinte schien es nicht zu bemerken.
»Wir wollen deine verdammten Schlüssel nicht«, sagte er. »Für zwanzig Dollar machen wir uns nicht solche Mühe. Heute ist dein Glückstag. Und lass dir bloß nicht einfallen, uns zu verfolgen. Dann bleibt es auch dein Glückstag.«
Der alte Mann nickte. »Du hast immer noch das Gewehr.«
»Stimmt. Ich hab immer noch das Gewehr.«
Der Junge blickte auf den Hund und fing wieder zu lachen an. »Meine Fresse! Red ist ja voll rot!«, brüllte er. Im nächsten Moment lachte auch der Dicke los und schüttelte den Kopf, als wäre sein Freund hier ein bisschen verrückt. Auf unsichere Weise stimmte jetzt sogar der Junge im gelben T-Shirt mit ein, obwohl er nicht mit dem Herzen dabei zu sein schien.
Das war heute dein zweiter Fehler, mein Sohn, dachte der alte Mann. Der erste war, mit den beiden überhaupt hergekommen zu sein.
Er hörte, wie sie lachend über den Hügel davonmarschierten. Hörte sie noch, als man sie längst nicht mehr sah.
Als er sicher war, dass sie nicht umkehren würden, bückte er sich, hob die Patronenhülse auf und steckte sie ein.
Dann ging er zu seinem Hund.
Einen langen Moment betrachtete er ihn und überlegte. Er zog sein Hemd aus und legte es dem Hund um den zerschmetterten Kopf, hob den Leib an, schob das Hemd darunter und wickelte ihn darin ein. Mit der Hand, die der Hund immer so aufmerksam und voller Neugier beobachtet hatte, strich er ihm über den Rücken und die warmen Flanken. Als er die Hand zurückzog, war sie rot besudelt.
Der Junge hatte sich darüber lustig gemacht.
Mary hatte ihm den Hund zum 53. Geburtstag geschenkt.
Es war ein guter Hund gewesen. Ein verdammt guter. Sein Körper war noch warm.
Er erhob sich, klappte den Deckel des Angelkastens zu und verschloss ihn, sammelte Rute und Kühlbox ein und trug alles zu der Stelle, wo der Hund lag. Er knotete die Hemdsärmel um dessen blutverschmierten Hals, hob den Hund an und klemmte ihn sich behutsam unter den Arm. Mit der anderen Hand nahm er Rute, Angelkasten und Kühlbox und ging los.
Der Hund wurde sehr schwer.
Zweimal musste er stehen bleiben und sich ausruhen, aber den Hund ließ er nicht los. Er stellte nur die Sachen ab, hockte sich hin und legte ihn sich vorsichtig auf den Schoß, hielt ihn fest, atmete den vertrauten Geruch des Fells und den frischen Duft des Blutes.
Als er zum zweiten Mal stehen blieb, weinte er schließlich um seinen Verlust und um die lange schöne Vergangenheit, die sie miteinander geteilt hatten. Mit der Faust schlug er währenddessen auf die karge Erde ein, die sie hierher geführt hatte.
Dann machte er sich wieder auf den Weg.
Die Originalausgabe RED erschien bei A Leisure Book, Dorchester Publishing Co., Inc., New York
Vollständige deutsche Erstausgabe 12/2008 Copyright © 1995 by Dallas Mayr
Copyright © 2008 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House Redaktion: Tim Jürgens
eISBN : 978-3-641-03281-4
www.heyne-hardcore.de
Leseprobe
www.randomhouse.de