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»Ihr erster Gedanke war, dass man sie lebendig begraben hatte. Dass sie sich in einem Sarg befand. Unter ihrem Rücken spürte sie Holz, und dicke Bretter auch zu ihrer Linken und zu ihrer Rechten, so nah, dass sie gerade noch den Arm heben konnte, um zu erfühlen, dass auch über ihr Holz war. Nie zuvor hatte sie Angst vor engen Räumen gehabt. Doch dieser Raum machte ihr große Angst.«
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Seitenzahl: 202
Das Buch
Sara wird vor einer Abtreibungsklinik von einem Pärchen religiöser Fanatiker entführt. Die Entführer haben es sich zum Ziel gesetzt, das Kind zu retten und Sara für ihre »Gottlosigkeit« zu bestrafen. Sie halten sie in einem Kellerverlies fest und drohen ihr, eine mächtige Geheimorganisation würde ihre Familie töten, sollte sie einen Fluchtversuch wagen. Doch bald muss Sara erkennen, dass der grausame Plan ihrer Entführer noch viel weiter geht. Weiter, als sie es je für möglich gehalten hätte.
Das Buch enthält als Bonusmaterial die beiden Kurzgeschichten Tapferes Mädchen und Rückkehr.
Der Autor
Jack Ketchum ist das Pseudonym des ehemaligen Schauspielers, Lehrers, Literaturagenten und Holzverkäufers Dallas Mayr. Seine Horrorromane zählen in den USA unter Kennern neben den Werken von Stephen King oder Clive Barker zu den absoluten Meisterwerken des Genres und wurden mehrfach ausgezeichnet.
www.jackketchum.net
Am Ende des Buchs finden Sie ein ausführliches Werkverzeichnis aller im Wilhelm Heyne Verlag erschienenen Ketchum-Romane.
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RIGHT TO LIFE
erschien 1998 bei Cemetery Press
Unter www.heyne-hardcore.de finden Sie das kompletteHardcore-Programm, den monatlichen Newslettersowie unser halbjährlich erscheinendes CORE-Magazinmit Themen rund um das Hardcore-Universum.
Weitere News unter www.facebook.com/heyne.hardcore
Vollständige deutsche Erstausgabe 06/2014
Lebendig (Right to Life) Copyright © 1998 by Dallas Mayr
Tapferes Mädchen (Brave Girl) Copyright © 2002 by Dallas Mayr
Rückkehr (Returns) Copyright © 2002 by Dallas Mayr
Copyright © 2014 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Redaktion: Marcel Häußler
Umschlaggestaltung: yellowfarm gmbh, S. Freischem,
unter Verwendung eines Motivs von © Roy Bishop / Arcangel Images
Satz: Schaber Datentechnik, Wels
ISBN 978-3-641-12448-9V002
www.heyne-hardcore.de
Inhalt
Lebendig
Tapferes Mädchen
Rückkehr
LEBENDIG
»… dass sie von ihrem Schöpfer mitgewissen unveräußerlichen Rechten begabt sind;dass zu diesem Leben, Freiheitund das Streben nach Glückseligkeit gehöre …«
– Thomas Jefferson
»God finds you naked and he leaves you dying.What happens in between is up to you.«
– Robyn Hitchcock and the Egyptians
Der erste Tag
1
New York City · 8. Juni 1998 · 10.20 Uhr
Schweigend fuhren sie zur Klinik.
Sie hatten alles am Abend zuvor besprochen. Jetzt gab es nichts mehr zu sagen.
Es musste nur noch getan werden. Sie mussten es nur noch hinter sich bringen.
Die morgendliche Rushhour war seit einer Stunde vorüber, und der Verkehr floss ziemlich zügig. Die Straßen der Upper West Side waren seltsam ruhig, wie in einem Traum. Der blaugrüne Toyota-Lieferwagen vor ihnen rollte von Ampel zu Ampel wie ein Lotse, der sie von einem Nirgendwo zu einem anderen Nirgendwo brachte und dem sie ohne eigentliches Ziel folgten.
Wir sind völlig am Ende, dachte Greg. Wir beide.
In der Stille dachte er daran, wie sie letzte Nacht in ihrer Wohnung im Bett gelegen hatten, wie sie sich geliebt hatten – unter Tränen, die mit der sanften, quälenden Regelmäßigkeit der Wellen bei Ebbe gekommen und wieder versiegt waren. Selbst ihre Herzschläge hatten sie kaum gehört, und sie waren enger beisammen gewesen, als sie es sich je träumen lassen oder für möglich gehalten hätten, verbunden im bitteren, traurigen Bewusstsein, dass diese Freude jetzt und für eine lange Zeit auch Schmerz bedeuten würde. Ihre kühlen Tränen hatten sich auf seiner Wange mit seinen eigenen vermischt, und er hatte ihren herben Duft gerochen und gespürt, wie sie auf seine Brust gefallen waren, als sie rittlings auf ihm gesessen hatte wie ein Schiff auf windstiller See. Danach hatte sie die lange dunkle Nacht in einen warmen, unruhigen Schlaf gehüllt.
Genauso schweigend hatten sie die lärmenden Morgenrituale – Wasser, Rasierer, Zahnbürste – hinter sich gebracht. Er und Sara waren mit dieser Sache allein, so allein, wie man nur sein konnte. Wortlos hatten sie am Frühstückstisch Kaffee getrunken. Greg hatte seinen Arm über das glatte Kiefernholz hinweg ausgestreckt, um einen Augenblick lang ihre Hand zu nehmen, noch einmal ihre Wärme zu spüren, noch einmal eine Verbindung zwischen ihnen herzustellen, bevor sie durch die Haustür in die kühle, grelle Morgenluft traten. Vorbei an den geschäftigen New Yorkern an der Ecke 91st und West End Avenue, vorbei an Autos und Taxis und Lieferwagen. Dann in die noch kühlere, hallende Tiefgarage nebenan. Greg war über den Broadway nach Downtown gefahren. Das Rad der Zeit hatte sich gedreht, sie unweigerlich an diesen schrecklichen, leeren Ort geführt. Sie in diese Stille, diese völlige emotionale Erschöpfung getrieben.
»Alles in Ordnung?«, fragte er schließlich.
Sie nickte.
Es war nicht mehr weit bis zur Klinik – 68th Ecke Broadway, nur fünf Straßen entfernt. Der einzigen ihrer Art, die auf der gesamten West Side vom Village bis zur Bronx noch übrig war. Die anderen beiden Kliniken hatten dichtgemacht.
»Es ist ein Mädchen«, sagte sie.
Diese Feststellung – und nicht seine Frage – hatte die Stille endgültig durchbrochen.
»Woher willst du das wissen?«
»Ich weiß es einfach. Ich weiß noch, wie sich Daniel angefühlt hat, selbst in diesem frühen Stadium. Und diesmal … fühlt es sich anders an.«
Eine schwere, drückende Last legte sich auf ihn. Er hatte die Geschichte in den sechs Jahren, die sie sich nun schon kannten, viele Male gehört, und mit der Zeit und der Entfernung war Sara zu einem tieferen Verständnis und einer allmählich veränderten Wahrnehmung der Ereignisse gelangt. Ihr Sohn Daniel war im Alter von sechs Jahren auf einem zugefrorenen See eingebrochen. Selbst seinen Körper hatte sie verloren – er war unter dem Eis verschwunden und nie gefunden worden.
Wenn es je eine Frau gegeben hatte, mit der er ein Kind – ganz besonders ein Mädchen – zeugen und hätte großziehen wollen, dann sie.
Seine schweißnassen Hände umklammerten das Lenkrad.
Das war natürlich völlig undenkbar.
»Warum lässt du mich nicht einfach vor der Klinik raus«, sagte sie, »und suchst einen Parkplatz? Ich kann mich ja schon mal anmelden. Dann müssen wir nicht so lange warten.«
»Wirklich?«
»Lass mich einfach raus. Kein Problem.«
»Und was, wenn die Spinner mit den Schildern wieder da sind?«
»Die können mir nichts tun, außer mich zur Weißglut treiben. Keine Sorge, die lassen mich schon durch.«
Nein, wahrscheinlich würde sie sich nicht von ihnen einschüchtern lassen. Als sie letzte Woche zur Untersuchung gefahren waren, hatten sieben dieser Spinner auf dem Gehweg vor dem Eingang zur Jamaica Savings Bank gewartet – jener Bank, der das Gebäude gehörte und die das Risiko eingegangen war, ihre Räumlichkeiten an die Klinik zu vermieten. Sieben Männer und Frauen hatten hinter blauen Polizeiabsperrungen gestanden und Schilder mit der Aufschrift KINDER HABEN EIN RECHT AUF LEBEN oder ABTREIBUNG IST LEGALISIERTER GENOZID hochgehalten, mit Flugblättern herumgewedelt und Plastikfiguren von zwölfwöchigen Föten auf ihren Handflächen herumgezeigt.
Einer der Spinner, ein überraschend gut aussehender Mann um die vierzig, hatte Sara sein kleines Exemplar unter die Nase gehalten. Sara hatte sich an Gregs Arm geklammert, zu ihm umgedreht und ihn ein dummes Arschloch genannt. Dann waren sie an den drei Polizisten vorbeigegangen, die vor der Tür herumlungerten und diese Widerlinge auf Kosten der braven Steuerzahler – wie sie selbst, vielen Dank auch – im Auge behielten.
Eine andere, durchschnittlich aussehende Frau in demselben Alter wie der Mann hatte sich aus der Gruppe gelöst, war ihnen zum Aufzug gefolgt, mit ihnen nach oben gefahren und hatte sich mit einer Zeitschrift ins Wartezimmer gesetzt, bis Sara aufgerufen wurde. Da war sie aufgestanden und gegangen. Eine etwas subtilere Form der Belästigung. War das überhaupt erlaubt? Sie hatten kein Wort mit ihr gesprochen, obwohl er das gerne getan hätte. Sara hatte offensichtlich geahnt, was er in diesem Augenblick dachte. Zum Teufel mit ihr, hatte sie geflüstert. Sie ist die Mühe nicht wert.
Ja, sie würde mit diesen Leuten schon fertigwerden.
Trotzdem war es ihm lieber, wenn er sie begleitete.
»Auf die paar Minuten kommt es jetzt auch nicht mehr an«, sagte er. »Ich suche schnell einen Parkplatz, dann gehen wir zusammen rein.«
Sie schüttelte den Kopf. »Bitte, Greg. Ich will das so schnell wie möglich hinter mich bringen, verstehst du?«
»Okay. Klar. Ich verstehe.«
Doch das stimmte nicht ganz. Wie auch? Selbst nach dem langen Gespräch von gestern Abend konnte er unmöglich abschätzen, wie sie sich im Augenblick fühlte. Nicht jetzt, am helllichten Tag, weit entfernt von ihrem vertrauten, gemütlichen Zuhause und ihrem Bett und seinen tröstenden Armen. Ohne in Tränen Zuflucht nehmen zu können. Plötzlich wollte, nein, musste er die Gewissheit haben, dass sie ihn nicht hasste, ihm nicht die Schuld dafür gab – obwohl sie ihm genau das letzte Nacht zweimal versichert und er ihr geglaubt hatte. Doch das war eine andere Situation gewesen. Er wollte die Gewissheit, dass sie ihm vergab. Alles. Seine Ehe. Seinen Sohn. Sogar sein Geschlecht. Dafür, dass er als Mann geboren worden war und diese Bürde nicht tragen musste, selbst wenn er gewollt hätte. Er hätte, ohne zu zögern, die Last auf seine Schultern genommen, wäre dies nur irgendwie möglich gewesen.
Das Diaphragma hatte sie im Stich gelassen. Das passierte gelegentlich. Sie waren erwachsen und sich der Risiken bewusst. Es war ihr Diaphragma, aber das war egal. Er hatte sich in seinem ganzen Leben nicht so schuldig gefühlt wie jetzt.
Füge niemandem Schaden zu, hatte ihm seine Mutter eingetrichtert, als er noch ein kleiner Junge gewesen war. Der hippokratische Eid. Ihre ganz persönliche goldene Regel. Und jetzt fügte er der Frau Schaden zu, die er liebte.
Und der Schaden wurde immer größer.
Hinter der nächsten Kreuzung tauchte an der Ecke 68th Street ein unscheinbares graues Hochhaus auf, das wahrscheinlich Mitte der Sechziger erbaut worden war. Im Erdgeschoss befand sich die Bank, darüber Büroetagen. Auf der anderen Seite des Broadway waren ein Supermarkt und ein riesiges Sony-Multiplexkino. Und tatsächlich standen vor dem Eingang zur Klinik lange blaue Polizeiabsperrungen, hinter denen zwei Beamte wachten. Menschen mit Schildern in den Händen gingen davor auf und ab.
»Fahr noch ein Stück weiter«, sagte sie. »Ich will nicht mitten in der Menge aussteigen.«
Er hielt hinter den Protestierern. Sie öffnete die Tür.
Er legte seine Hand auf ihren Arm, um sie aufzuhalten, doch dann wusste er nicht, was er sagen sollte. Er saß einfach nur da und ließ seine Finger langsam über ihre warme, weiche Haut gleiten. Sie zwang sich zu einem Lächeln, doch dahinter erkannte er deutlich, wie sehr ihr die Sorge und die Schlaflosigkeit zugesetzt hatten. Ihre Augen hatten ihn noch nie belügen können. Und auch jetzt nicht.
»Ich bin gleich bei dir«, sagte er. »Vielleicht finde ich drüben auf der 67th oder der Amsterdam einen Parkplatz.«
»Ich komm schon klar.«
Sie stieg aus und schloss die Tür. Er sah ihr nach, wie sie auf das Dutzend Menschen zuging, das auf dem Gehweg am Ende des Blocks seine Runden drehte. Er fuhr langsam an ihr vorbei, und sie warf ihm einen Blick zu, diesmal ohne zu lächeln. Dann schulterte sie ihre Handtasche. Er passierte die streng blickende, selbstgerechte Menge, die sich um die Ecke drängte wie Fliegen um einen Kadaver, und bog ab.
Na los, dachte sie. Es geht nicht anders. Du hast keine andere Wahl.
Er hat eine Frau und einen Sohn. Das wusstest du, als du dich mit ihm eingelassen hast, und insgeheim hast du nie daran geglaubt, dass er sie verlassen würde. Nicht, bevor sein Sohn alt genug war. Obwohl du daran glauben wolltest, obwohl er etwas anderes behauptet hatte. Auf seine eigene Art und Weise war Greg sehr treu. Das war eine der Eigenschaften, die sie so an ihm liebte.
Eigentlich war es eine Schande, wie gut sie miteinander auskamen. Es war grausam. Wäre es doch nur eine simple Affäre – ohne Liebe, Zärtlichkeit, Fürsorge, Gemeinsamkeiten, das volle Programm.
Du hattest alles, dachte sie. Dabei hattest du in Wahrheit gar nichts.
Dann fiel ihr auf, dass sie in der Vergangenheitsform über ihre Beziehung nachdachte.
Wieso nur?
Sie beobachtete ihn durch das Beifahrerfenster, als er an ihr vorbeifuhr. Sie brachte es nicht über sich, noch einmal zu lächeln, obwohl sie wusste, wie sehr er sich danach sehnte, wusste, wie er sich fühlte. Doch mehr als ein Lächeln hatte sie an diesem Tag nicht in sich, und das hatte sie bereits im Auto verbraucht.
Das Geräusch ihrer Absätze, die Vibrationen ihrer Schritte gingen ihr durch Mark und Bein. Die kalten, harten Straßen von New York. Sie zitterte. Ein junger lateinamerikanischer Fahrradkurier schoss an ihr vorbei. Er fuhr nicht nur in die falsche Richtung, sondern auch noch auf dem Gehweg. Sie warf ihm einen verächtlichen, wütenden Blick zu, doch er war zu schnell, um ihn zu bemerken.
Sie hatte kalte Hände. Ihr Gesicht war gerötet. Sie fürchtete sich vor den Demonstranten, die nur wenige Meter vor ihr auf und ab gingen. Obwohl sie ihm gegenüber das Gegenteil behauptet hatte.
Das war keine weitere Untersuchung. Diesmal wurde es ernst.
Heute würde ein Leben beendet werden.
Einen Moment lang war sie auf sie beide wütend. Sara und Greg spielen ein Spiel namens Liebe.
Nein, dachte sie. Seien wir ehrlich.
Es war kein Spiel.
Und das war das Traurigste an der Geschichte. Es war einfach nicht fair. Nach Daniels Tod und ihrer gescheiterten Ehe war sie jahrelang allein gewesen – bis sie jemanden kennenlernte, der all das besaß, was sie an Sam vermisst hatte – und mehr. Zärtlichkeit. Rücksicht. Nüchternheit. Und er liebte sie. Er wollte sie nicht nur, wollte nicht nur mit ihr schlafen, sondern liebte sie, und sie liebte ihn mit einer Leidenschaft zurück, die sie selbst erstaunte. Nur um aufs Neue zu lernen, dass die Liebe keinen Schutz bot. Auf lange Sicht brauchten die Menschen die Liebe so dringend wie Nahrung oder ein Dach über dem Kopf. Andererseits war die Liebe auch ein grausamer Scherz, ein Trick – beides zugleich, zwei Seiten derselben Münze. Und man wusste nie, auf welcher Seite die Münze zum Liegen kam. Denn wenn es nicht auf diese Art endete, wenn man sich nicht plötzlich zwischen Liebe und äußeren Zwängen wiederfand, wenn es wirklich funktionierte, dann würde ein Partner früher oder später sterben und den anderen einsam zurücklassen. Die Liebe trug immer den Tod der Liebe in sich.
Den Tod.
Den Tod des Kindes in ihr, ihres und seines Kindes, das doch eigentlich ein wundervolles, lebendiges, gesundes Kind hätte sein sollen, die Essenz all dessen, was sie gemeinsam hatten.
Sara glaubte sogar zu wissen, wann sie sie empfangen hatte – auf einem warmen, windigen Strand an jenem Abend auf St. John vor drei Monaten. Sie waren verrückt aufeinander gewesen, ganz besonders an diesem Ort, an dem sie den Alltag hinter sich lassen konnten. Es war fast lächerlich gewesen. Sie hatten den ganzen Abend, selbst während des Essens, nicht aufhören können sich zu berühren, zu streicheln, zu lachen. Und dann hatten sie sich im Wasser der Karibik geliebt, in den warmen Wellen unter dem gütigen Bauch der Sterne und des Himmels.
Und das war dabei herausgekommen.
Es war, als würden sie die Liebe selbst töten.
Wenn sie in sich hineinblickte, sah sie ein wunderschönes kleines Mädchen.
Jetzt, in diesem Moment auf der sonnendurchfluteten, hektischen Straße, wurde ihr bewusst, dass das Kind existierte. Sein Verlust würde eine schmerzhafte Leere hinterlassen und jenem anderen Verlust von vor so vielen Jahren überraschend ähnlich sein. Und sie fragte sich, wie lange sie danach noch zusammenbleiben konnten. Wenn es nicht sowieso schon vorbei war.
Sie fragte sich, ob sie das Kind in sich nicht auf mehrere Arten tötete.
Sie hatte wieder angefangen zu weinen. Verschwommen nahm sie die Polizeiabsperrungen vor sich wahr. Sie blinzelte sich die Tränen aus den Augen, anstatt sie wegzuwischen, was diesen Leuten sicher nicht entgangen wäre. Diesen Gefallen wollte sie ihnen nicht tun.
Wie könnt ihr nur?, dachte sie. Wie könnt ihr so kleingeistig und gemein und so unglaublich egoistisch sein und mich dann angreifen, wenn ich am verwundbarsten bin?
Doch natürlich würden sie genau das tun.
Es war ihr Recht, ihre Mission. So sahen sie es jedenfalls.
Es gab viele Übel auf der Welt, und ihrer Meinung nach stand eines dieser Übel direkt vor ihr.
Sie hörte, wie sich ein Wagen näherte und dicht am Randstein neben ihr herfuhr. Die Reifen knirschten über Glassplitter und Schotter. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie den Kotflügel und die hellblaue Motorhaube, das Beifahrerfenster und das Wagendach. Es war ein Kombi mit Kunstholzbeschlägen an den Seiten, vielleicht zehn Jahre alt. Umständlich fuhr ein Bus links daran vorbei. Eine elegante, schlanke junge Frau, die einen Doppelkinderwagen mit zwei Babys vor sich herschob, kam ihr entgegen. Dahinter ein Teenager auf einem Skateboard.
Und dann blieb der Wagen stehen, und die Beifahrertür öffnete sich direkt vor ihr, und sie spürte, wie jemand von hinten einen Arm unter den Brüsten um ihren Körper legte und ihre Arme einklemmte, während seine andere Hand herumtastete, bis sie ihren Mund gefunden hatte, um ihren Protestschrei zu ersticken, ihr Kinn umklammerte, damit sie ihn nicht beißen konnte, und dann wurde sie in den Wagen gestoßen, ohne dass er die Hand von ihrem Mund genommen hätte, und sie starrte auf den Gehweg und bemerkte, dass ein Demonstrant in einer dunkelblauen Windjacke sie bemerkt hatte, sie direkt anstarrte, alles mitbekommen hatte und nichts sagte, kein Wort zu den anderen oder den Polizisten vor der Kliniktür, und darüber war sie sehr erstaunt, als sich plötzlich eine Nadel in das nackte Fleisch ihres Oberarms bohrte und sie sah, dass die Person am Steuer, eine Frau, eine Plastikspritze in der Hand hielt und mit der anderen das Lenkrad fest umklammerte, während der Mann, der sie gepackt hatte, die Autotür zuknallte.
Dunkelheit senkte sich über diese neuen Ängste und die altbekannten Sorgen. Dann fuhren sie langsam davon.
Er ging an einer alten Frau mit einem Einkaufswagen voller Lebensmittel vorbei, an den Demonstranten, die er diesmal kaum registrierte, und an dem Polizisten und der Polizistin vor dem Eingang. Er marschierte durch die Drehtür und an den Geldautomaten der Bank entlang zum Aufzug, betrat die Kabine und drückte den Knopf für den elften Stock. Die Tür zur Anmeldung öffnete sich vor ihm, und er musste einer jungen blonden Frau in Jeans und T-Shirt Platz machen. Sie lächelte ihn an. Oder sie lächelte einfach, weil die Welt heute so schön war.
Zumindest sie war glücklich.
Er trat ein. Das Wartezimmer war leer. Mein Gott, dachte er, haben sie etwa schon angefangen?
Wo doch so ziemlich alles, was in New York City mit einer medizinischen Behandlung zu tun hatte, endlose Wartezeiten bedeutete?
Die Sprechstundenhilfe hinter dem Glasfenster lächelte ebenfalls. Ein rein förmliches Lächeln, das wohl aufmunternd wirken sollte. Sehen Sie? Wir beißen nicht.
»Sara Foster«, sagte er leise.
Sie konsultierte ihr Klemmbrett.
»Ja. Sie hat einen Termin um Viertel vor elf bei Dr. Weller.«
»Ist sie schon drin?«
Auf der Wanduhr hinter ihr war es zehn Uhr dreißig.
»Nein, erst um Viertel vor elf, Sir.«
»Sie hat sich noch nicht angemeldet?«
Sie schüttelte den Kopf. »Bis jetzt nicht. Wollen Sie sich nicht setzen? Sie wird sicher gleich kommen.«
»Das verstehe ich nicht. Ich habe sie gerade vor der Tür abgesetzt. Genau vor dem Eingang. Vor einer Minute.«
Die Arzthelferin runzelte verwirrt die Stirn. »Tut mir leid. Hier war niemand.«
Das sieht Sara gar nicht ähnlich, dachte er.
Irgendetwas stimmt hier nicht.
»Ein paar Häuser weiter ist eine Drogerie und nebenan ein Tabakladen. Vielleicht wollte sie noch etwas besorgen? Setzen Sie sich doch. Sie kommt bestimmt gleich.«
»Warum sollte sie …? Also gut, ich bin gleich zurück.«
Er fuhr mit dem Aufzug nach unten.
Nach der zu kalt eingestellten Klimaanlage in der Klinik traf ihn die heiße Sommersonne wie ein Schlag. Schwitzend spähte er durch die offen stehende Tür des Tabakladens, sah jedoch nur einen alten Mann, der sich ein Lotterielos kaufte. Dann warf er einen Blick in die Drogerie. Er sah sich zu beiden Seiten um, beobachtete die andere Seite des Broadway, die Menschen vor dem Multiplex und die Einkaufenden vor dem Supermarkt. Schließlich umrundete er erneut die Demonstrierenden und wandte sich direkt an die Polizisten vor der Tür.
»Entschuldigung«, sagte er. »Haben Sie eine Frau hineingehen sehen?«
Die Polizistin war fast so groß wie ihr Partner, über ein Meter achtzig. Sie hatte ihr blondes Haar unter die Schirmmütze gesteckt und stellte das Kaugummikauen ein, sobald er auf sie zukam.
»Gerade eben? Nein, Sir.«
»Haben Sie vor fünf oder zehn Minuten eine Frau gesehen, weiße kurzärmlige Bluse, blauer Rock, Anfang vierzig, langes dunkles Haar?« Er deutete die Straße hinunter. »Sie ist aus dieser Richtung gekommen. Ich habe sie dort aussteigen lassen. Sie hat einen Termin in der Klinik.«
Die Polizistin sah ihren Partner an. Genau wie Greg, der ihn jetzt zum ersten Mal bewusst wahrnahm. Der Beamte wirkte erschreckend jung. Er war groß und sportlich, konnte aber noch keine zwanzig sein. Greg schätzte, dass seine Kollegin gut und gerne zehn Jahre älter war. Der Beamte schüttelte den Kopf.
»Tut mir leid, Sir«, sagte die Polizistin und sah an ihm vorbei.
»Gibt es ein Problem?« Greg drehte sich um und sah sich einer viel kleineren Frau in einem braunen Businesskostüm mit weiter Hose gegenüber. Der oberste Knopf ihrer maßgeschneiderten Bluse stand offen, sodass ihr Schlips leicht schief hing. Greg konnte kein Make-up erkennen. Sie hatte mittellanges, gelocktes rotes Haar.
»Ich bin Lieutenant Primiano vom zwanzigsten Revier.« Sie hielt ihm ihre Dienstmarke hin. »Sie sagten etwas von einer Frau?«
»Sie ist verschwunden.«
»Wie das?«
»Ich habe sie an der Ecke hier rausgelassen und bin weiter, um einen Parkplatz zu suchen. Ich fuhr an ihr vorbei und habe den Wagen um die Ecke auf der 67th abgestellt. Sie hat einen Termin um Viertel vor elf und wollte direkt in die Klinik gehen. Sie muss genau auf Sie zugekommen sein, nachdem sie ausgestiegen ist. Ich war schon in der Klinik. Die Dame an der Anmeldung sagt, dass sie dort nicht aufgetaucht ist. Sie hat gemeint, dass sie vielleicht im Tabakladen oder in der Drogerie sein könnte, aber da ist sie nicht, ich habe nachgesehen. Das sieht ihr gar nicht ähnlich. Sara ist zuverlässig. Sie sollte in diesem Augenblick da oben im Wartezimmer sein.«
»Hatten Sie eine Auseinandersetzung? Haben Sie sich über irgendetwas gestritten?«
»Überhaupt nicht. Es ist alles in Ordnung.«
Er spürte, wie er errötete, als ihm diese Worte über die Lippen kamen. Nichts war in Ordnung. Nicht heute.
Aber das war ihre Privatangelegenheit.
Die Frau sah ihn einen Augenblick lang an, dann nickte sie. »Ella, Sie behalten hier alles im Auge, ja? Dean, fragen Sie mal rum, ob sie jemand gesehen hat. Wie heißen Sie, Sir?«
»Greg Glover.«
»Das hier sind Officer Kaltsas und Officer Spader. Gehen wir doch wieder rein, Mr. Glover.«
Sie befragte den Pförtner und Wellers Sprechstundenhilfe und dann den Arzt selbst auf forsche und direkte Art. Das Ganze dauerte etwa zehn Minuten, kam Greg aber wie eine Ewigkeit vor. Weller gab zu bedenken, so etwas könne schon einmal vorkommen, es sei nicht ungewöhnlich, dass es sich die Leute in letzter Minute anders überlegten. Da könne man niemandem einen Vorwurf machen.
»Ausgeschlossen«, sagte Greg. »Sara hätte es sich niemals anders überlegt. Unmöglich.«
Als sie das Gebäude wieder verlassen hatten, erkundigte Primiano sich, was Kaltsas, der junge Cop, von den Demonstranten erfahren hatte.
»Nichts«, sagte er. »Niemand hat sie gesehen. Einer ist mir allerdings unangenehm aufgefallen.«
»Inwiefern?«
»Ist wahrscheinlich nur ein Spinner, was weiß ich. Hat mir auf jeden Fall nicht gleich geantwortet. Irgendwas ist mit dem.«
»Welcher ist es?«
»Der bärtige Glatzkopf in der blauen Windjacke. Der mit dem DEIN BAUCH GEHÖRT NICHT DIR-Schild da drüben.«
Greg sah hinüber. Ein Mann mittleren Alters mit schütterem Haar, der zwischen zwei älteren Damen im Kreis marschierte.
»Okay. Nehmen Sie sich ihn noch mal vor. Wir brauchen seinen Namen, seine Adresse und Telefonnummer. Sehen Sie zu, dass er uns nicht sofort abhaut, aber seien Sie nicht zu grob. Ich werde mit Mr. Glover mal die Gegend erkunden, vielleicht entdecken wir sie ja irgendwo.«
»Geht klar.«
»Haben Sie ein Foto bei sich? Von Sara?«