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Nicolas und sein menschlicher Freund Brendan sind nach einem Unfall in einem alten Tunnel verschüttet. Um dem verletzten Brendan die Wartezeit bis zu ihrer Bergung zu verkürzen, erzählt Nicolas ihm die Geschichte seiner schlimmen Kindheit und Jugend im Kiew des angehenden 15. Jahrhunderts. Im Bordell geboren, wurde er mit etwa 12 Jahren an einen Gutsbesitzer verkauft, dem er erst nach Jahren entfliehen kann. Doch es ist nicht einfach, sich allein durchzuschlagen, um zu überleben verkauft er seinen Körper. Das wird ihm letztendlich zum Verhängnis, er wird schwer verletzt und droht zu sterben. Doch ein geheimnisvoller Fremder findet den Sterbenden und rettet ihn durch sein Blut. Fortan folgt Nicolas dem Vampir Wladimir und wird dessen Ziehsohn. Doch seine Vergangenheit lässt Nicolas nicht zur Ruhe kommen und er droht an einer Krankheit zu sterben. Um ihn zu retten macht Wladimir ihn zum Vampir. Nach Jahren verlässt Nicolas seinen Vampirvater, um sich die Welt anzusehen. Doch auch ein Unsterblicher ist nicht vor Gefahren gefeit.
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Seitenzahl: 586
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Kapitel 1: Der Unfall
Kapitel 2: Verkauft
Kapitel 3: Semjonovs Lustknabe
Kapitel 4: Sklavenjahre
Kapitel 5: Überleben in der Stadt
Kapitel 6: Abstieg in die Gosse
Kapitel 7: Ein neues Leben
Kapitel 8: Wladimirs Geheimnis
Kapitel 9: Die Macht der Frauen
Kapitel 10: Der Vampir in Wladimir
Kapitel 11: Familien
Kapitel 12: Wiedersehen mit Sonja
Kapitel 13: Vater und Sohn
Kapitel 14: Schuld und Unschuld
Kapitel 15: Die Abrechnung
Kapitel 16: Eine folgenschwere Entscheidung
Kapitel 17: Die Umwandlung
Kapitel 18: Vampirische Lehrjahre
Kapitel 19: Verhängnisvolle Fehler
Kapitel 20: Als Vampir entlarvt
Kapitel 21: Teufelsaustreibung
Kapitel 22: Die Rettung
Kapitel 23: Wanderjahre
Kapitel 24: Marija
Kapitel 25: Der Tod der Liebe
Kapitel 26: Das Erbe
„Schau nur Daddy, Bojan fürchtet sich vor Daisy.“ Aufgeregt zupfte Shawna am Hemdsärmel ihres Vaters und deutete auf die beiden ungleichen Hunde. Tatsächlich sah es so aus, als würde sich der große, massige Bullmastiff vor dem winzigen weißen Fellknäuel ängstigen. Er lag demütig ergeben auf der Seite und streckte eine große Pranke in die Luft, so als wolle er um Gnade bitten. Der kleine Westhighland-Welpe hing an seinem Ohr und zerrte mit hellem Knurren daran. Schließlich wurde es dem alten Rüden zu dumm. Mit einem leisen Grollen sprang er auf die Beine und schüttelte den kleinen Plagegeist ab. Dann trollte er sich in eine entfernte Zimmerecke wo er sich aufseufzend niederfallen ließ.
Daisy wollte ihm sofort nachsetzen, doch Daniel war schneller. Er packte den Welpen am Nacken und hob ihn hoch. Dann legte er das Hündchen behutsam in die Arme seiner Tochter. „Ich glaube für dich und Daisy wird es höchste Zeit ins Bett zu gehen. Kleine Mädchen und kleine Hunde brauchen ihren Schlaf. Sage deinen Onkeln gute Nacht.“
„Klar, Daddy!“ Widerspruchslos steuerte Shawna Brendan und Nicolas an, den Welpen hielt sie fest an die Brust gedrückt. „Gute Nacht Onkel Brendan, gute Nacht Onkel Nico. Und vielen Dank für die vielen Geschenke. Daisy ist wirklich das allerschönste Geburtstagsgeschenk. Ich habe mir schon so lange einen eigenen Hund gewünscht.“
Nicolas hob sie hoch und drückte ihr einen Kuss auf die Backe. „Gute Nacht, Shawna. Es freut mich, das Daisy dir gefällt. Brendan und ich haben extra das schönste Hundemädchen für dich ausgesucht.“ Er reichte sie an Brendan weiter, der sich ebenfalls herzlich von seiner kleinen Nichte verabschiedete.
Als Shawna in ihrem Zimmer verschwunden war, setzten sich die drei Vampire und ihr menschlicher Freund im Kaminzimmer zusammen.
„Ah, so ein Kindergeburtstag ist eine anstrengende Sache.“ Daniel streckte seine langen Beine aus und lehnte sich gemütlich im Sessel zurück. „Kaum zu glauben, wie schnell die Zeit verfliegt. Nun ist meine kleine Shawna schon fünf Jahre alt. Es kommt mir so vor, als hätte ich sie erst gestern zum ersten Mal im Arm gehalten. Ergeht es dir nicht ebenso, Tessa?“
Zärtlich legte er den Arm um die zierliche Frau und zog sie nahe zu sich heran. „Und noch immer kommt es mir wie ein Wunder vor, dass wir sie haben.“
„Ihre Existenz ist auf jeden Fall ein Wunder“, behauptete Nicolas ganz ernst.“ Ich werde nie begreifen, wie ein Baby in Tessas Vampirkörper überleben konnte. Und ihre Ähnlichkeit mit Daniel ist ein weiteres Wunder. Mit ihrem biologischen Erzeuger hat sie absolut nichts gemein, so, als hätte es ihn nie gegeben. Aber das ist auch gut. Auf diese Weise werdet ihr nicht ständig an Randall erinnert.“
Shawna war durch eine Vergewaltigung gezeugt worden. Die, damals noch menschliche Tessa, war von ihrem eifersüchtigen Chef, dem Wissenschaftler Dr. Tim Randall zuerst entführt, dann unter Drogen gesetzt und schließlich vergewaltigt worden. Nach ihrer abenteuerlichen Befreiung war aus der jungen, aufstrebenden Ärztin eine todkranke, süchtige Frau geworden. Und zu allem Unglück musste sie feststellen, dass sie schwanger war. Daniel hatte verzweifelt versucht ihr mit Gaben seines heilsamen Vampirblutes das Leben zu retten. Aber sie wurde zusehends schwächer. In seiner Angst die geliebte Gefährtin zu verlieren flehte er sie an, sie zum Vampir machen zu dürfen. Tessa willigte schließlich nach langem Bedenken ein. Niemand rechnete damals damit, dass das Kind in ihrem Leib die Umwandlung überstehen würde. Doch das Wunder geschah, das Ungeborene überlebte. Ein noch größeres Wunder war, dass sie statt ihrem leiblichen Vater Daniel glich. Und jetzt nach fünf Jahren war diese Ähnlichkeit nicht mehr zu übersehen. Shawna besaß die gleichen ebenholzschwarzen Haare wie der Vampir. Auch ihre Gesichtszüge waren seinen gleich. Und für ihr Alter war sie sehr groß, ebenfalls ein Merkmal, das auf den hochgewachsenen Vampir zutraf. Einzig die leuchtenden grünen Augen hatte sie von ihrer Mutter geerbt.
Die Vampire konnten sich das Phänomen dieser Ähnlichkeit nur dadurch erklären, das Daniels Blutgaben an Tessa die Gene des Ungeborenen verändert hatten. Denn Vampire, männliche wie weibliche, waren zeugungsunfähig. Nur Randall konnte Shawnas Vater sein. Doch obwohl Tessa, die Ärztin und Wissenschaftlerin, unermüdlich nach der Ursache dieser Verwandlung im Mutterleib forschte, war sie dem Geheimnis noch keinen Schritt näher gekommen.
Nach einer kurzweiligen Stunde, die sie plaudernd verbrachten, streckte Brendan gähnend seine Glieder. „Also ich weiß, dass ihr noch nicht müde seid. Aber leider fordert mein elender menschlicher Körper seinen Schlaf.
Und morgen muss ich schon in aller Frühe nach Edinburgh aufbrechen. Ich würde deshalb gerne nach Hause fahren.“
Nicolas musterte ihn kurz mit ärgerlich hochgezogener Augenbraue. Er mochte es nicht, wenn Brendan so abfällig über sein menschliches Dasein sprach. Doch um einen weiteren leidigen Wortwechsel zu vermeiden schwieg er zu dem unausgesprochenen Vorwurf des Freundes. Es war ihm längst bewusst, wie gerne Brendan ebenfalls zum Vampir werden wollte. Aber nach Nicolas‘ Meinung war die Zeit dafür noch nicht gekommen.
Langsam und träge hob er seine hohe Gestalt aus dem Sessel und nickte zustimmend. „Ich richte mich ganz nach dir. Unsere beiden Turteltäubchen hier werden sicher dankbar für unseren Aufbruch sein.“
Grinsend zwinkerte er Daniel und Tessa zu, die noch immer eng aneinander geschmiegt, in dem Sessel saßen. Er winkte lässig ab als Daniel so tat, als wolle er sie zur Türe begleiten. „Nein, nein, bleib ruhig sitzen, wir finden auch alleine hinaus.“
„Es ist besser, ich fahre“, schlug er wenig später vor, als sie an Brendans Wagen angekommen waren. „Du hast Alkohol im Blut. Wir wollen nicht riskieren, dass du ins Röhrchen pusten musst.“
Brendan nickte zustimmend und begab sich auf die Beifahrerseite. Müde ließ er sich auf den Sitz fallen und schloss die Augen. Nachdem Nicolas den Sitz seinen langen Beinen angepasst hatte fuhr er langsam durch das Burgtor und dann die gewundene Zufahrtsstraße hinab. Nach ein paar schweigsamen Minuten warf er einen schnellen Blick auf seinen stillen Beifahrer. Brendan tat als schlafe er, doch Nicolas‘ Vampirsinnen entging nicht, dass er in Wahrheit hellwach war.
„Welche trüben Gedanken wälzt du in deinem Kopf, Bren? Darf ich daran teilhaben?“
„Wieso weißt du, dass ich nicht schlafe? Schnüffelst du wieder einmal in meinen Gedanken herum?“ Brendan wandte ihm das Gesicht zu und blickte ihn fast feindselig an.
Der Vampir seufzte innerlich auf. Er konnte sich denken, was nun kam. Dieses Thema wurde in letzter Zeit immer mehr zum Streitpunkt zwischen ihnen. Doch er war nicht gewillt, jetzt zu streiten. Deshalb lenkte er besänftigend ein.
„Du kennst mich lange genug. Inzwischen sollte dir klar sein, dass ich nicht unaufgefordert in deinen Gedanken schnüffele, wie du das nennst.
Aber deine plötzliche schlechte Laune ist auch so unübersehbar. Lass mich raten, es ist wieder einmal das alte leidige Thema, oder? Immer wenn du Tessa siehst, fällt es dir wieder ein. Du beneidest sie glühend darum, ein Vampir zu sein. Stimmt‘s?“
Nun drehte sich Brendan so auf seinem Sitz zur Seite, dass er den Freund genau vor Augen hatte. „Warum fragst du, wenn du es genau weißt. Ja, es stimmt, ich beneide sie darum. Schau sie dir an, sie ist eine Schönheit und wird es für immer bleiben. Ich hingegen werde ständig älter. Mag sein, dass ich jetzt noch jung und attraktiv genug bin, um dich an mich zu binden. Aber wie ist es in ein paar Jahren? Ich bin jetzt fünfunddreißig, aber die Jahre fliegen dahin. Ich werde alt und du bleibst ewig jung. Irgendwann sehe ich aus, als wäre ich dein Vater. Sage mir nicht das würde dich nicht stören, das kann ich nicht glauben. Ich habe einfach Angst, du verlässt mich eines Tages. Auch wenn du mir noch so oft versicherst, du wirst mich immer lieben.“
Nicolas nahm den Blick nicht von der gewundenen Straße, doch er konnte sich Brendans leidenden Gesichtsausdruck lebhaft vorstellen. Innerlich seufzte er erneut auf. In gewisser Weise verstand er dessen Ängste sehr gut. Deshalb entschloss er sich, ihm wenigstens ein kleines Zugeständnis zu machen.
„Brendan“, begann er. „Ich werde dir ein kleines Geheimnis offenbaren. Ich sehe, wie sehr du leidest, aber glaube mir, das ist ganz unnötig. Also nur so viel. Ich kann mir durchaus vorstellen, dich eines Tages zu meinesgleichen zu machen. Aber so etwas darf nie willkürlich geschehen. Es ist keineswegs einfach, ein neues Geschöpf der Nacht zu erschaffen. Und gerade das wichtigste Kriterium erfüllst du, zumindest im Moment, noch nicht.“
„Und welches Kriterium wäre das?“ fragte Brendan atemlos. Die Offenbarung machte ihn fast sprachlos vor Aufregung. Doch sogleich schlich sich Sorge in seine Gedanken. Was, wenn er dieses wichtige Kriterium niemals erfüllen konnte?
„Das wäre, dass du nicht in akuter Gefahr schwebst zu sterben. Nur dieser Grund berechtigt mich dazu, es zu tun. So war es damals bei mir und auch bei Daniel. Und so war es ebenfalls bei Tessa. Du weißt selbst, wie krank sie war. Unrettbar krank. Er schwieg eine Weile und schaute abwesend durch die Windschutzscheibe. Dann gab er sich einen Ruck und fuhr fort.„Weißt du, ich habe lange vor Daniel schon einmal einen Vampir erschaffen. Weil ich wollte, dass die Frau die ich liebte für immer so schön und jung bleibt. Und weil sie mich genauso inständig darum gebeten hat wie du. Aber es war ein gewaltiger Fehler denn sie war nicht zum Vampir bestimmt. Am Ende sah ich mich gezwungen sie zu töten. Es war das Schlimmste, was ich jemals tun musste, doch ich hatte keine Wahl.“
Abermals schwieg er lange Zeit. Als er dann sein Gesicht Brendan zuwandte war es von Kummer gezeichnet. Leise fuhr er fort: „Inzwischen weiß ich, dass nur wenige Menschen prädestiniert sind ein vampirisches Leben zu führen. Ob du dazu gehörst kann ich erst in der Stunde deines nahenden Todes spüren. Und deshalb werde ich dich niemals ohne zwingenden Grund zu einem Vampir machen.“
Brendan nickte stumm. Dann fragte er zaghaft. „Aber wenn ich eines Tages dem Tode nahe bin wirst du es dann in Erwägung ziehen?“
Der Vampir versicherte ihm ernsthaft. „Ich verspreche es dir und wenn du geeignet bist, so werde ich nichts lieber tun. Tut mir leid, ich hätte dir das wirklich schon eher erklären müssen. Es hätte uns vielleicht manchen Streit erspart.“
Eine Weile schwiegen sie beide. Nicolas konnte sich denken, dass Brendan trotzdem nicht zufrieden war. Doch es war die reine Wahrheit, die er ihm gesagt hatte. Und je eher Brendan begriff, dass es ihm bitterernst war, desto besser.
„Wenn du müde bist, leg dir doch den Sitz um und versuche zu schlafen“, schlug er etwas später vor, als Brendan neben ihm verhalten gähnte. Er deutete durch die Windschutzscheibe nach vorne. „Sieht so aus, als gäbe es eine größere Verzögerung. Dort unten scheint ein Unfall passiert zu sein.“
Jetzt fielen auch Brendan die blinkenden Warnlichter auf. Die ganze Straße war voll davon. „Scheint eine größere Sache zu sein“, murrte er und gähnte erneut herzhaft. „Vielleicht sollte ich mich wirklich hinlegen und versuchen ein wenig zu schlafen. Immer noch besser, als morgen total übermüdet nach Edinburgh zu fahren.“
Er zerrte an den Hebeln unter dem Sitz herum, um sich in eine liegende Position zu bringen. Kurz darauf musste Nicolas den Wagen abbremsen. Vor ihnen hielt bereits eine lange Schlange Fahrzeuge.
Ein Polizist ging von Wagen zu Wagen und erklärte den Autofahrern, was passiert war.
„Guten Abend“, grüßte er höflich und tippte sich kurz an die Mütze, als er bei ihnen angelangt war. „Leider bleibt die Straße für noch mindestens zwei Stunden gesperrt. Ein Lastzug ist umgekippt und hat seine ganze Ladung verloren. Die Straße ist unpassierbar, Sie müssen warten oder wenden.“
„Das hat uns gerade noch gefehlt“, murrte Brendan ärgerlich, als der Polizist zum nächsten Wagen weiterging. „Zwei Stunden. Dann brauche ich gar nicht mehr ins Bett zu gehen, sondern kann gleich weiterfahren. Hoffentlich schaffen wir es noch, bis zum Morgengrauen daheim zu sein. Ich möchte dich ungern als Leiche durch die Gegend transportieren.“
„Sollen wir lieber umkehren und auf der Burg übernachten?“
Unwillig schüttelte der Freund den Kopf. „Dann müsste ich morgen in aller Frühe zur Mühle zurückfahren. Meine Unterlagen sind alle dort. Und die brauche ich unbedingt.“
Er überlegte einen Moment. „Du könntest über den alten Pass fahren. Um diese nächtliche Zeit sieht man auf der unbeleuchteten Strecke zwar kaum etwas, aber für dich ist das ja kein Problem.“
„Ich weiß nicht so recht, Bren.“ Nicolas wiegte unbehaglich seinen Kopf.
„Der alte Pass ist schon bei Tage eine gefährliche Strecke. Er wurde vor zweihundert Jahren für Postkutschen errichtet. Und der baufällige Tunnel ist alles andere als sicher. Deshalb ist er für Autos gar nicht zugelassen.“
„Ach, komm schon. Um diese Zeit steht dort bestimmt keine Polizei. Es wäre mir wirklich lieber, den Rest der Nacht im Bett zu verbringen. Über den Pass sind wir in einer halben Stunde zu Hause.“
„Na gut, wenn du meinst“, gab Nicolas schließlich nach, scherte aus der Schlange aus, wendete und fuhr ein Stück auf der Straße zurück. Die Zufahrt zur alten Passstraße war hinter verwilderten Büschen kaum auszumachen, doch der Vampir kannte die Umgebung wie seine Westentasche. Gemächlich fuhr er die gepflasterte Straße hinauf. Weder vor noch hinter ihnen war ein Fahrzeug auszumachen, anscheinend trauten die anderen Fahrer der dunklen Straße nicht. Oder sie kannten die Abkürzung überhaupt nicht.
Auf halber Höhe gab es einen engen Tunnel, der mitten durch den Berg führte. Nicolas hatte schon oft überlegt, welch unglaubliche Arbeit es vor zweihundert Jahren gewesen sein mochte, solch einen langen Tunnel zu graben. Wie viele Menschen schufteten hier wahrscheinlich jahrelang? Und wie viele Tote hatte das Bauwerk wohl gefordert, ehe es fertiggestellt war?
Die Innenwand des Tunnels bestand aus riesigen quadratischen Steinen, die kunstvoll ineinander gefügt waren. Kleine Rinnsale liefen an den Steinen herab und machten das Pflaster glitschig. Die Straße, für Kutschen und Fuhrwerke gebaut, war kaum breit genug um zwei Fahrzeuge aneinander vorbei zu lassen. Nicolas fuhr noch langsamer, er wollte Brendans Auto nicht beschädigen, indem er es an die Wand fuhr. Hoffentlich kommt mir keiner entgegen, dachte er schaudernd. An manchen Stellen ragten Stützpfeiler in die Fahrbahn, dort war die Straße wirklich verdammt eng.
Schon kurze Zeit später bemerkte er den Lichtschein, der ihnen entgegen kam. Das überlaute Brummen eines starken Motors war zu hören. Verdammt, das klang gar nicht gut. Das hörte sich nach einem großen Fahrzeug an, zu groß, um an ihm vorbeizukommen. Zu allem Überfluss schien es der Fahrer auch noch sehr eilig zu haben. Der Kerl musste ein Verrückter sein.
Als das Fahrzeug in Sicht kam, traute Nicolas seinen Augen nicht. Das war ein Traktor, der ihnen da entgegenkam. Aber keines dieser kleinen Exemplare, die zur Feldarbeit benutzt wurden. Nein, das Ding besaß gigantische Ausmaße. Wahrscheinlich gehörte es zu dem großen Gutshof, der oben auf dem Berg lag. Dort wurden starke Zugmaschinen benötigt um die schweren Ladungen die steilen Straßen hinauf und hinab zu befördern. Aber was suchte solch ein Koloss um diese Zeit in diesem alten Tunnel? Er konnte nicht weiter darüber nachdenken, denn das schwere Fahrzeug kam direkt auf ihn zu. Doch dazwischen befand sich ausgerechnet auch noch einer der Stützpfeiler des Tunnels, der gut einen Meter in die Straße hinein ragte.
Nicolas trat instinktiv auf die Bremse und brachte den Wagen kurz vor dem Pfeiler zum Stehen. Der Fahrer des Traktors schien das Hindernis überhaupt nicht zu bemerken. Ungebremst fuhr er auf den Steinwall zu. Der ohrenbetäubende Krach ließ Nicolas zusammenfahren. Doch er kam nicht zum Erschrecken. Mit ungläubigem Blick sah er, wie der Traktor an den Pfeiler fuhr und von der eigenen Wucht hochgehoben wurde. Wie in Zeitlupe erzitterten die schweren Steine der Stützmauer und gaben nach, wölbten sich langsam durch.
Aus den Augenwinkeln bemerkte er wie Brendan neben ihm aus dem Liegesitz hochfuhr. Geistesgegenwärtig legte er seine Hand auf die Brust des Freundes und drückte ihn zurück. Brendan war zu überrascht um Gegenwehr zu leisten. Und dann war es zu spät noch irgendetwas zu unternehmen. Der Stützpfeiler stürzte mit lautem Poltern zusammen und begrub das Auto unter tonnenschweren Steinen.
Nicolas kam mit einem Ruck ins Bewusstsein zurück. Wo war er und was war geschehen? Etwas war anders als es hätte sein dürfen. Alarmiert riss er die Augen auf und wollte sich aufrichten. Aber er konnte sich kaum bewegen. Entsetzen packte ihn. In seinem langen Leben war es ihm schon einige Male passiert, dass er aufgewacht und plötzlich wehrlos war. Meist befand er sich dann in der Hand irgendwelcher Feinde, die ihm nach seinem unsterblichen Leben trachteten. Allerdings hatte er sich schon seit Jahren keine Feinde mehr geschaffen. Wer also hielt ihn gefangen?
Fast gleichzeitig mit seiner bangen Frage schoss ihm die Erinnerung an die Ereignisse der vergangenen Nacht ins Gehirn. Der Unfall, die Abkürzung über den Pass, der Traktor, die Steine. Der Tunnel war über ihnen eingestürzt.
„Brendan!“ rief er bestürzt und versuchte abermals sich aufzurichten. Doch ein Felsbrocken auf seiner Brust hinderte ihn daran. Er war auf seinem Sitz eingeklemmt und hing ziemlich schief darin. Vorsichtig bewegte er den Kopf um die Lage zu sondieren. Das Autodach war eingedrückt, er stieß mit dem Kopf daran. Sein Sitz schien gebrochen, die Lehne hing nach hinten. Anscheinend hatten ihn die Steine mit solcher Wucht getroffen, dass es ihn samt Sitzlehne nach hinten gedrückt hatte. Sicher war er durch den Unfall getötet oder zumindest schwer verletzt worden. Aber während des Tages hatte ihn sein starkes Vampirblut wieder zuverlässig und vollständig geheilt. Doch was war mit Brendan? Mühselig drehte er sich nach der Seite um, auf der sich Brendan befinden musste. Doch oh Schreck, hier war das Wagendach fast bis auf den Sitz herab eingedrückt. Brendan lag irgendwo darunter begraben. Panik überfiel den Vampir. Nein, das durfte nicht sein. Brendan konnte nicht tot sein. Aber sein Verstand sagte ihm, dass genau das der Fall sein musste.
„Bren“, flüsterte er heißer und Tränen schossen ihm in die Augen. Warum hatte er der Bitte des Freundes nicht entsprochen und ihn zum Vampir gemacht? Jetzt war er tot, zerquetscht zwischen den Trümmern seines Wagens. Keine Macht der Welt konnte ihn ins Leben zurückrufen.
„Bren, das habe ich nicht gewollt“, stammelte er immer wieder. „Verzeih mir, aber das habe ich nicht gewollt.“
„Ich… verzeih dir…, Nicolas“, erklang eine schwache Stimme aus dem Trümmerhaufen. „Aber ich… kann kaum atmen… Irgendwas… liegt auf meiner… Brust.“
Sofort vergaß Nicolas seinen Kummer. Brendan war nicht tot, er lebte. Zumindest im Moment noch. Natürlich würde er alles tun, was in seiner Macht stand, um ihn nicht sterben zu lassen. Mit seinen übermenschlichen Kräften versuchte er den Stein, der ihn behinderte, wegzuschieben. Nach einiger Zeit bewegte sich der Fels tatsächlich ein wenig. Das spornte ihn an, sich noch mehr abzumühen. Kurz darauf rutschte der Felsbrocken über die Motorhaube und fiel auf andere Steine. Das Wagendach auf seiner Seite hochzustemmen war dagegen ein Kinderspiel. Er drückte es so weit nach oben, dass er sich darunter bewegen konnte. Glücklicherweise waren seine Beine nicht eingeklemmt.
Er verlor keine Zeit und drehte sich zu Brendans Seite hin. Durch einen schmalen Spalt konnte er den Freund unter dem eingedrückten Wagendach erkennen. Brendan lag flach auf dem Rücken, der Liegesitz hatte im wahrscheinlich das Leben gerettet. Hätte er in normaler Position im Wagen gesessen, wäre er von den Steinen zermalmt worden. Doch auch so war sein Leben bedroht. Das Wagendach drückte auf seine Brust, so dass er nur schwer atmen konnte. Doch wie sollte Nicolas ihm helfen?
„Halte aus, Bren“, beschwor er ihn. „Ich muss erst schauen, wie ich dir helfen kann.“ Ein mühsamer Atemzug war die einzige Antwort.
Nun, da Nicolas sich bewegen konnte, versuchte er die Tür auf seiner Seite aufzustemmen. Sie war verzogen, doch er schaffte es sie aufzuwuchten. Mit protestierendem Quietschen schwang sie endlich auf und prallte an einen Felsblock. Er zwängte sich durch den entstandenen Spalt ins Freie. Nun konnte er das ganze Ausmaß des Unfalls überblicken. Doch was er sah beruhigte ihn nicht im Geringsten. Über Brendans Wagenseite lagen etliche Felsbrocken aufgetürmt. Zu viele, selbst für seine Kräfte. Zum Glück waren sie so ineinander verkeilt, dass sie sich gegenseitig hinderten herabzufallen. Sonst wäre Brendan unter ihnen zerquetscht worden. Aber wie sollte er ihn aus dem Wagen bringen?
Direkt auf dem Autodach lag ein länglicher, flacher Stein. Über ihm war eine schmale Lücke, nicht viel, höchstens zehn Zentimeter. Nicolas überlegte, ob er es wagen konnte diesen flachen Stein herauszuziehen.
Würden die verkeilten Steine darüber halten, oder würden sie endgültig zusammenstürzen?
Ein gequälter Seufzer drang an seine Ohren. Brendan rang verzweifelt nach Atem. Er musste handeln, wenn er den Freund nicht leiden lassen wollte. Entschlossen griff er nach dem Stein und zog vorsichtig daran. Er ließ sich kaum bewegen, zumindest an einer Stelle wurde er von den Felsen darüber gehalten.
Nicolas erschauerte. Wenn seine Berechnung nicht aufging, so wäre Brendan in ein paar Sekunden tot. Aber wenn er nichts tat, so würde er vielleicht jämmerlich ersticken. Schon jetzt drohte ihm Bewusstlosigkeit wegen des Sauerstoffmangels. Er konnte nur sehr flach atmen, von Minute zu Minute wurde seine Situation hoffnungsloser.
Mit einem kräftigen Ruck riss er den Stein aus seiner Verankerung. Die Felsen, die auf ihm geruht hatten, gaben nach, kamen bedenklich ins Rutschen. Aber sie lösten sich nicht voneinander. Doch nun wurden Brendans Beine noch stärker gequetscht, denn die Karosserie hatte an der Vorderseite unter der Last nachgegeben. Nicolas hörte sein schmerzerfülltes Stöhnen und beeilte sich, wieder zu ihm ins Auto zu kriechen. Im Inneren des Wagens hatte sich nichts verändert. Noch immer drückte das Wagendach Brendans Brustkorb zusammen. Er röchelte schwach, Eile war geboten. Doch wie sollte er das eingedrückte Dach anheben, ohne Brendan noch mehr zu verletzen?
Fieberhaft arbeiteten seine Gedanken, dann kam ihm die einzig durchführbare Idee. Er brach den kaputten Sitz vollends aus seiner Verankerung, legte sich flach mit dem Rücken darauf und schob sich dicht an den Spalt heran. Sein linker Arm passte zum Glück gerade hindurch. Nun drückte er mit aller Kraft, zu der er noch fähig war, von unten an das Autodach. Langsam, wie im Zeitlupentempo, hob sich das Blech an. Nun konnte er auch seinen Ellenbogen durch den Spalt zwängen und als Hebel benutzen. Das ging schon leichter und bald hatte er das Dach soweit angehoben, dass es nicht mehr auf Brendans Brust drückte. Erleichtert hörte er dessen kräftiger werdende Atemzüge.
Doch noch weiter konnte er das Dach nicht hinauf drücken. Der Spalt reichte auf keinen Fall aus, Brendan herauszuziehen. Um ihn zu befreien bedurfte es der Kräfte schwerer Maschinen. Sie waren auf Hilfe von außen angewiesen.
Doch immerhin befand der Freund sich jetzt nicht mehr in unmittelbarer Lebensgefahr. Er würde ihm nicht einfach unter den Augen wegsterben. Nein, das würde er zu verhindern wissen. Nicolas drehte sich auf die Seite, um in die Lücke zu spähen. Seine nachtsehenden Augen konnten auch noch in den dunkelsten Winkel blicken. Das schmerzverzerrte Gesicht Brendans kam in sein Blickfeld. Die weit aufgerissenen Augen versuchten vergeblich, sein Gesicht zu erkennen. Um ihn zu beruhigen griff Nicolas nach Brendans Arm und drückte ihn sachte. „Beruhige dich, Bren. Ich werde dich nicht im Stich lassen. Lass mich dich kurz untersuchen. Hast du starke Schmerzen?“
„Meine Beine“, wimmerte Brendan schwach. „Ich kann sie nicht bewegen, aber sie schmerzen höllisch.“
„Ja, ich weiß. Ein paar Felsbrocken liegen darauf. Aber der Schmerz ist ein gutes Zeichen. Wenigstens ist noch Leben in ihnen.“ Er war mit seinem kurzen Check fertig. Brendan hatte Gott sei Dank keine inneren Verletzungen. Bis auf seine eingeklemmten Beine und einige Prellungen war er unversehrt.
„Ich würde dir gerne ein wenig von meinem Blut geben. Das nimmt dir die Schmerzen für eine Weile und macht dich ein wenig ruhiger. Wirst du es annehmen?“
Brendan starrte ihn eine Weile ungläubig an. Dann sagte er atemlos. „Du fragst mich ernsthaft, ob ich dein Blut annehmen will? Ja weißt du denn nicht, wie lange ich mir das schon wünsche?“
Der Vampir lächelte leise in sich hinein. Natürlich wusste er, wie sich Brendan nach seinem Blut verzehrte. Seit er ihm vor Jahren davon erzählt hatte, dass er dereinst Daniel von seinem Blut gab, wollte Bren es ebenfalls testen. Doch Vampirblut war für einen Menschen nur in extremen Situationen von Nutzen. Es konnte viele Krankheiten und fast alle Verletzungen heilen, durfte aber nur in besonderen Notfällen verabreicht werden. Und da Brendan bisher weder schwer krank, noch lebensgefährlich verletzt gewesen war, musste er bisher auf diese Erfahrung verzichten.
„Nun, heute ist es soweit. Ich gebe dir vorerst nur ein Schlückchen, es wird die Schmerzen in deinen Beinen mindern. Bei Bedarf kannst du aber später noch mehr haben. Leider kann ich dir nicht sagen, wie lange wir hier ausharren müssen. Meine Kräfte reichen auf keinen Fall aus, uns selbst zu befreien.“
„Was ist überhaupt geschehen? Ich kann mich an nichts erinnern.“
Nicolas klärte ihn in knappen Worten auf. Dann meinte er. „Vermutlich hast du keine Ahnung wie lange du ohne Bewusstsein warst. Aber vermutlich ist seit dem Unfall mehr als ein Tag vergangen.“
Es stellte sich heraus, dass Brendan die ganze Zeit bewusstlos gewesen hatte. Erst Nicolas‘ Stimme hatte ihn ins Bewusstsein zurückgeholt.
„Die Bewusstlosigkeit war vielleicht mein Glück“, meinte er nachdenklich. „Denn in der Ohnmacht reichte mir die wenige Luft aus, die ich bekam. Sobald ich erwachte wurde das Gefühl ersticken zu müssen übermächtig.“
Während er redete hatte sich Nicolas mit einem Taschenmesser, das im Wagen lag, die Pulsader geöffnet. Jetzt hielt er sein blutendes Handgelenk durch den Spalt an Brendans Lippen. Er musste den Freund nicht auffordern, gierig sog Brendan an der kleinen Wunde. Als der Vampir nach kurzer Zeit seinen Arm zurückzog, stieß er einen protestierenden Klagelaut aus.
„Das reicht fürs Erste, Bren. Später gebe ich dir noch ein wenig. Ich werde nun für einige Zeit den Wagen verlassen um unsere Lage zu erkunden. Ich komme aber so schnell als möglich zu dir zurück.“ Er wartete noch Brendans Zustimmung ab, dann verließ er das zerstörte Auto.
Sein Ziel war der Traktor, der hinter der umgestürzten Mauer lag. Um ihn zu erreichen musste er über die Felsbrocken klettern und sich durch eine enge Lücke zwängen.
Im Gegensatz zu Brendans Wagen lag der Traktor nicht unter Steinen begraben. Aber durch die Wucht des Aufpralls war er umgestürzt und stark beschädigt. Er lag wie eine riesige Barriere mitten auf der engen Straße. Seine mächtigen Räder sahen aus wie die in die Luft gestreckten Beine eines verendeten Dinosauriers.
Schon während seiner Kletterpartie über die Steine war Nicolas der schwache Herzschlag des Traktorfahrers aufgefallen. Der Mann schien schwer verletzt zu sein. Und er blutete. Der Geruch des Menschenblutes ließ die Gier des Vampirs erwachen. Seine Zähne wuchsen zu gefährlichen Mordwerkzeugen an.
Eilig umrundete er den Traktor und stand dann vor dem reglosen Mann. Der Aufprall hatte ihn vom Sitz des Traktors geschleudert, dann war das schwere Fahrzeug auf ihn gestürzt. Nur sein Oberkörper ragte darunter hervor. Beine, Becken und Bauch lagen unter der stählernen Last begraben. Es grenzte an ein Wunder, dass der Mann noch lebte. Aber er war nicht mehr zu retten, seine Beine und sein Unterleib konnten nur noch eine breiige Masse sein.
Nicolas Entschluss stand schnell fest. Er würde dem Unglücklichen einen schnellen Tod und sich selbst eine willkommene Mahlzeit bereiten. Gewissensbisse bereitete ihm dieser Entschluss nicht. Der Verunglückte konnte so und so nicht überleben.
Schnell kniete er sich neben den reglosen Körper, beugte sich über ihn. Mit schlafwandlerischer Sicherheit fanden seine Zähne die Stelle am Hals unter der noch schwach die Schlagader pulsierte.
Schon die ersten Züge bestätigten dem Vampir was er bereits vermutet hatte. Der Mann hatte sich stark betrunken hinters Steuer des Traktors gesetzt. Kein Wunder, dass er ungebremst in den Stützpfeiler gerast war. Sein umnebeltes Gehirn konnte ihm die Gefahr nicht mehr aufzeigen. Selbst jetzt, Stunden nach dem Unfall, hatte der Verletzte noch eine Menge Alkohol im Blut.
Nicolas, du wirst dir ebenfalls einen Rausch holen, sagte der Vampir zu sich selbst. Aber wenn er nicht auf unbestimmte Zeit hungrig bleiben wollte, war das Blut des Mannes die einzige Alternative. Also riskierte er betrunken zu werden und saugte ihn aus.
Danach verschloss er sorgfältig die kleinen Wunden, die seine Reißzähne hinterlassen hatten. Er konnte nur hoffen, dass niemand auf die Idee kam, nach dem fehlenden Blut bei der Leiche zu suchen. Der Gedanke machte ihm jedoch keine allzu großen Sorgen. Da der Tod des Mannes auf jeden Fall auf den Unfall zurückgeführt werden würde, war es unwahrscheinlich, dass der Körper auf einem Seziertisch landete.
Es wurde höchste Zeit zu Brendan zurückzukehren. Sicher ängstigte ihn die lange Abwesenheit des Freundes bereits.
„So, ich habe alles in die Wege geleitet. Daniel weiß über unsere Notlage Bescheid und setzt sich bereits mit Luke in Verbindung. Der wird alles Weitere veranlassen. Ich hoffe, wir werden spätestens morgen hier heraus sein.“ Nicolas versuchte es sich auf dem lädierten Autositz so bequem wie möglich zu machen. Kein leichtes Unterfangen bei seiner beachtlichen Körpergröße von fast zwei Metern.
Brendan wusste, dass die Vampire sich miteinander per Telepathie verständigen konnten, deshalb zeigte er sich nicht erstaunt. Trotzdem fragte er verwundert: „Luke Frasier? Aber der ist doch Inspektor bei Scotland Yard. Was haben die mit einem eingestürzten Tunnel zu tun?“ Der Vampir registrierte mit Erleichterung, wie kräftig seine Stimme wieder klang.
„Natürlich ist das kein Fall für den Yard. Aber Luke kennt mich und weiß über meine… kleinen Eigenheiten bestens Bescheid. Es kann durchaus der Fall sein, dass sich die Bergungsarbeiten bis in den Morgen hinziehen. Die Helfer würden dann meinen leblosen Körper ins Leichenschauhaus bringen, was ich natürlich vermeiden möchte. Ich hoffe, dass Luke das irgendwie verhindern kann.“
Mit Luke Frasier waren er und die Vampire schon seit einigen Jahren freundschaftlich verbunden. Der Inspektor von Scotland Yard leitete damals die Ermittlungen nach Tessas Entführung. Dabei freundete er sich mit Daniel und Nicolas an, nicht ahnend, dass seine neuen Freunde Vampire waren.
Erst als Luke in Lebensgefahr geriet und sie ihm zu Hilfe eilten, mussten sie sich Luke als Vampire zu erkennen geben. Obwohl ihm das Wissen um die Taten der Vampire in Konflikt mit seiner Berufsauffassung und seinen Moralvorstellungen brachte, hielt der Inspektor an seiner Freundschaft zu den Vampiren fest. Und wenn er gebraucht wurde, so wie in diesem Fall, konnten sie sich hundertprozentig auf Luke Frasier verlassen.
„Ich habe bei meiner kurzen Inspektion des Tunnels versucht das Ausmaß des Schadens abzuschätzen“, nahm Nicolas den Faden wieder auf. „Ich muss dir leider sagen, es sieht nicht sehr gut aus. Ein großer Teil des Tunnels ist hinter unserem Auto eingestürzt, er war wohl baufälliger als er aussah. Und die Passstraße ist nicht gerade gut geeignet für große und schwere Rettungs- und Räumfahrzeuge.“
Ein langer Seufzer Brendans drang aus dem Spalt. „Das kann ja Tage dauern, bis sie sich durch das Geröll und die Steine gekämpft haben. Ich glaube, meine Idee mit der Abkürzung war nicht besonders gut.“
„Niemand konnte damit rechnen, dass ein Betrunkener auf diesen Pfeiler auffahren würde. Außerdem ist es müßig, sich darüber Gedanken zu machen. Was wäre wenn…? Es ist nun einmal geschehen und wir müssen nun halt hier ausharren, bis wir befreit werden. Für mich ist das Wichtigste, dass dir nichts Schlimmes passiert ist. Deine Beine scheinen zwar gebrochen zu sein, aber du schwebst nicht in Lebensgefahr. Falls deine Schmerzen schlimmer werden, so sage es mir. Ich gebe dir dann noch ein wenig von meinem Blut.“
Brendan lachte leise. „Erst verweigerst du mir jahrelang, von deinem Blut zu kosten und nun drängst du es mir förmlich auf.“
„Tja, besondere Umstände erfordern eben auch besondere Maßnahmen. Und wenn wir lange hier festsitzen, so wird mein Blut das einzige sein, was du in den Magen bekommst. Außer dem Wasser, das an den Steinen herunter rinnt, kann ich dir leider nichts anbieten. Hast du Durst, soll ich dir ein wenig Wasser bringen? Ich vergesse leicht, wie dringend Menschen Flüssigkeit benötigen. Es ist schon zu lange her, mich an meine menschlichen Bedürfnisse zu erinnern.“
„Im Moment habe ich keinen Durst. Später vielleicht. Aber da du gerade von Erinnerungen sprichst. Ich wollte schon immer einmal deine Lebensgeschichte hören. Bisher hast du sie mir mit der Ausrede vorenthalten, dazu würdest du Stunden benötigen. Nun ich denke, diese Zeit haben wir jetzt. So wie es aussieht, werden wir hier noch viele Stunden verbringen müssen.“
Nicolas schwieg eine Weile zu dem Vorschlag. Dann meinte er ohne große Begeisterung. „Ich weiß nicht ob meine Lebensgeschichte dazu taugt, uns das Warten zu erleichtern. Sie ist nicht gerade erbaulich, fürchte ich. Soll ich dir nicht lieber ein paar meiner Abenteuer erzählen? Die sind sicher amüsanter.“
Doch Brendan blieb hartnäckig. „Von deinen Abenteuern hast du mir schon öfter erzählt. Mir scheint fast, du scheust dich davor, über dein Leben zu reden. War es denn so furchtbar?
„Ja, das war es leider. Aber wenn es dich so interessiert, will ich kein Spielverderber sein. Und Zeit spielt momentan wirklich keine Rolle. Zumindest lenkt uns meine Geschichte ein wenig von der unfreiwilligen Gefangenschaft ab. Also, wo soll ich beginnen? Am besten bei meiner Geburt. An die kann ich mich zwar nicht mehr erinnern, aber trotzdem ist sie bezeichnend was meinen späteren Lebensweg betraf…
…meine Geburt war anscheinend für niemanden besonders wichtig, weshalb sonst konnte mir später niemand sagen, wann genau ich zur Welt gekommen bin. Meinen Berechnungen nach muss ich schätzungsweise irgendwann zwischen 1400 und 1403 geboren worden sein. Sicher ist nur, dass ich in einem Bordell in der Nähe Kiews geboren wurde und meine Mutter bei meiner Geburt starb. Mein Vater war unbekannt.
Zur damaligen Zeit waren Geburten in Bordellen nichts Ungewöhnliches. Weder die Huren noch ihre Freier wussten über Verhütungsmethoden Bescheid, man verließ sich höchstens auf die Mittelchen eines Kräuterweibes, die nur allzu oft versagten. Wenn das der Fall war, blieb den Frauen höchstens noch, sich einer Engelmacherin anzuvertrauen, die das unerwünschte Plag beseitigte. Doch allzu oft mussten das auch die Frauen mit dem Leben bezahlen. Nun, falls sich meine Mutter vor einem frühen Tod fürchtete und deshalb gegen eine Abtreibung war, so hat es ihr nichts genutzt. Wie mir später erzählt wurde, war sie sehr zierlich gebaut, viel zu zart für ein kräftiges Baby wie mich. Sie überlebte meine Geburt nur um wenige Stunden. Wenn du so willst, war sie das erste meiner ungezählten Opfer…
Über meine ersten Jahre kann ich nichts berichten. Heute scheint es mir fast ein Wunder, dass ich überhaupt überlebt habe. Ich habe oft überlegt, wer mich wohl genährt hat, soweit ich zurückdenken kann, fällt mir niemand ein, der sich je um mich gekümmert hat. Vielleicht hatte eine der anderen Frauen im Bordell Mitleid mit mir und nahm sich meiner an. Oder eine Dirne, die zur selben Zeit ein Kind geboren hatte, besaß zu viel Milch für ein Baby und ihre Brüste schmerzten, deshalb stillte sie mich mit. Ich weiß es nicht. Das Einzige, was mir schon früh klar wurde - es gab keine Menschenseele, die mich mochte…
Meine ersten schwachen Erinnerungen beginnen als ich wohl fünf oder sechs Jahre alt war. Ich erinnere mich für das spärliche Essen, das man mir gab, gearbeitet zu haben. Niedere Arbeiten wie fegen, die Stiefel der Männer putzen, die derweil mit den Damen beschäftigt waren. Manchmal musste ich auch Erbrochenes oder Blut aufwischen, wenn es zu einem Streit zwischen betrunkenen Freiern gekommen war.
Als ich größer wurde steckte mich Sonja, die Frau der das Bordell gehörte, zu den Stallknechten. Dort gefiel es mir recht gut. Die Arbeit mit dem Vieh und den Pferden machte mir Spaß. Und die Knechte sprachen mit mir. Im Bordell hatte es kaum jemand für nötig gefunden mit mir zu reden. Die Damen befahlen mir was ich zu tun hatte und das war’s. Kannst du dir vorstellen, dass ich im Alter von sechs oder sieben Jahren kaum einen ganzen Satz zusammenbringen konnte?
Das wenige, was ich sprechen konnte, hatte ich mir im Kontakt mit den anderen Kindern selbst beigebracht. Aber meist wollten sie nicht mit mir spielen und ich hatte auch kaum Zeit dazu. Sobald mich Sonja entdeckte, drängte sie mir eine neue Arbeit auf.
Für die anderen Kinder war ich nur der dumme Nikolai. Das ist mein richtiger Name, ich habe ihn im Laufe der Jahrhunderte ein wenig geändert. In meiner weiteren Erzählung werde ich der Einfachheit halber bei Nicolas bleiben.
Also, die Knechte redeten mit mir und brachten mir bei, in ganzen Sätzen zu sprechen. Bald merkten sie, dass ich gar nicht so dumm war, wie alle meinten. Ich begriff schnell und konnte im Stall bald alle anfallenden Arbeiten selbständig ausführen. Ich hätte mir gut vorstellen können, mein restliches Leben so zu verbringen. Aber das sollte nicht sein.
Auch in den Ställen begegnete ich täglich den Freiern der Mädchen. Sie stellten ihre Pferde dort unter, während sie sich vergnügten. Aber was ich nicht ahnte, ab und zu war auch einmal ein Mann dabei, der sich nicht, oder nicht nur für Frauen interessierte. In den meisten Bordellen hielt man für solche Kunden Knaben oder junge Männer parat, die ihnen zu Willen waren. Auch Sonja beschäftigte ein oder zwei Hausknechte, wie sie die älteren Jungen nannte. Doch was deren Aufgabe war, davon wusste ich nichts.
Eines Tages kam ein Mann und drückte mir die Zügel seines Pferdes in die Hand. Ich wollte mit dem Gaul losgehen um ihn in einzustellen, da hielt mich eine kräftige Hand an der Schulter zurück. Ich blieb erschrocken stehen und überlegte fieberhaft, was ich falsch gemacht hatte. Sonja konnte sehr ungemütlich werden, wenn sich einer der Gäste über mich beschwerte. Schon wegen nichtigerer Dinge hatte sie mir erbarmungslos eine Tracht Prügel verpasst.
Ängstlich sah ich zu dem Mann hoch. „Ja, Hosjain?“ - so heißt Herr auf russisch - fragte ich und mein Herz klopfte vor Aufregung. Aber er strich mir bloß über meine Haare und meinte mit seltsam gepresst klingender Stimme. „Du bist ein sehr hübscher Junge. Bist du zu haben?“
Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wovon er sprach. Trotzdem ich Tag und Nacht mit den Huren lebte, war mir nicht klar, was sie eigentlich machten. Zwar hörte ich öfter ihr Stöhnen oder Schreien, aber ich wusste nicht, warum sie es taten. Ich glaube, ich machte mir auch nie Gedanken darüber. Zu ihren Zimmern hatte ich sowieso keinen Zutritt.
„Ich weiß nicht Herr, da müsst Ihr Sonja fragen“, antwortete ich verwirrt. Dass es genau die falsche Antwort war, konnte ich nicht ahnen. Der Mann entfernte sich mit beschwingten Schritten und ich vergaß ihn schnell.
Höchstens eine Viertelstunde später kam Sonja in den Stall gerauscht. Sie hielt geziert ihre Röcke hoch, damit sie nicht beschmutzt wurden. Angewidert sah sie sich um und rümpfte die Nase. Dann rief sie nach mir. Natürlich kam ich sofort angerannt. Ich hatte also doch etwas falsch gemacht und sollte bestraft werden. Doch mir fiel nichts ein. Betreten stand ich vor ihr und starrte auf den schmutzigen Boden.
„Schau mich an“, befahl sie mir und ich hob zögernd den Kopf. Sie musterte mich lange und intensiv. „Wasch‘ dir Gesicht und die Hände und komm dann zu mir.“ Im Weggehen rief sie noch über die Schulter. „Und kämme dir gefälligst die Haare, du siehst furchtbar aus mit diesen Zotteln.“
Ich muss ihr wohl ziemlich verdattert nachgeschaut haben. Dann drehte ich mich gehorsam zum Wasserfass um und tauchte meine Hände hinein. Aber wie um Himmels Willen, sollte ich mich kämmen. Ich besaß noch nicht einmal einen Kamm. Mein langes Haar hing mir wirr um den Kopf. Ich fuhr mir höchstens ab und zu einmal mit den Fingern durch.
„Komm her, ich kämme dich.“ Der alte Knecht kam mit einem groben Holzkamm in der Hand an geschlurft, der normalerweise für die Schweife und Mähnen der Pferde benutzt wurde. Er fuhr mir mit dem Ungetüm sachte durch die Haare und entwirrte die verfilzten Knoten. Dabei sprach er kein Wort, er schaute mich nur traurig an.
„Was ist? Was hat sie mit mir vor?“ fragte ich ängstlich. „Warum sagt mir keiner etwas?“ „Ach Junge“, murmelte der Alte nur. „Du bist wirklich zu hübsch für den Stall. Mich wundert nur, dass es der Hosjajka, - der Herrin – bisher noch nicht aufgefallen ist.“
Mir wurde immer banger zumute. Doch es nutzte nichts, ich musste Sonjas Befehl gehorchen. Zögernd verließ ich den Stall und trabte auf das Haus zu.
„Da bist du ja endlich.“ Sonja riss die Türe auf und zog mich herein. Sie zupfte mit spitzen Fingern an dem schäbigen Stoff meines Kittels herum. Barsch meinte sie: „Viel Staat kannst du mit diesen Fetzen ja nicht machen.“
Sie packte meinen Arm und zog mich hinter sich her die Treppe hinauf. Mein Herz klopfte stärker. Hier oben befanden sich die Zimmer der Frauen. Bisher war es mir streng verboten gewesen, auch nur einen Fuß in die obere Etage zu setzen. Vor einem der Zimmer blieb sie stehen und drehte mich so, dass ich sie ansehen musste. Mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete, blaffte sie:
„Du gehst jetzt da hinein. Ein Herr erwartet dich dort. Du tust alles was er dir aufträgt, verstehst du mich. Wage es nicht, ihn zu verärgern.“ Zur Unterstützung ihrer Worte schüttelte sie mich grob. Ich nickte nur stumm. Mein Hals war vor Angst ganz ausgetrocknet.
Sie klopfte kurz an die Türe und schob mich dann in das Zimmer hinein.
Dann entfernte sie sich rasch. Ich hörte ihre hölzernen Absätze über den alten Dielenboden hämmern. Mein Blick war fest auf den Boden gerichtet, ich wagte nicht den Kopf zu heben. Dann kam eine Hand in mein Blickfeld und hob mein Kinn an. Vor mir stand der Mann aus dem Stall und er war fast nackt.
Nur ein Laken war um seine Hüften geschlungen. Und unter dem Laken bewegte sich etwas, als er mich anzüglich grinsend musterte. Er kam gleich zur Sache. „Zieh dich aus mein Junge. Wie heißt du?“
Ich musste ein paar Mal schlucken, bevor ich stotternd herausbrachte.
„Ni… Nicolas, Herr.“
„So, so, Nicolas. Ein schöner Name. Er passt zu dir.“ Während er das sagte gab er mir mit der Hand ein Zeichen, mich zu entkleiden. Ich tat es sehr zögernd. Am liebsten hätte ich die Türe aufgerissen und wäre davongelaufen. Aber meine Angst vor Sonja war noch größer als die vor diesem Mann. Ungehorsam pflegte sie mit einer Tracht Prügel und einem Tag Essenentzug zu bestrafen. Das wollte ich nicht riskieren.
Was dann kam, kannst du dir sicher denken. Nachdem ich ganz ausgezogen war, ging alles sehr schnell. Der Kerl ließ sein Laken zu Boden fallen und legte sich auf das Bett. Dann befahl er mir, mich neben ihn zu legen…
Viel später ließ er endlich von mir ab. Zufrieden grinsend tätschelte er meinen nackten Hintern und stand auf, um sich anzuziehen. Ich rührte mich nicht und wagte auch nicht aufzublicken aus Angst, er würde von vorne beginnen. Aber er war vollauf befriedigt. Bevor er ging kam er noch einmal zu mir. Ich zuckte heftig zusammen, als er meinen Arm von meinem verweinten Gesicht zog. Aber er drückte mir nur eine Münze in die Hand. „Die ist für dich. Du hast sie dir verdient. Doch wenn ich das nächste Mal komme, möchte ich nicht, dass du nochmals so laut schreist. Außerdem hast du mir in die Hand gebissen, als ich dir den Mund zuhielt. Aber das war ja alles noch neu für dich, du wirst dich schon noch daran gewöhnen.“
Als Sonja wenig später das Zimmer betrat, lag ich noch immer reglos auf dem Bett. „Was ist los?“ keifte sie mich an. „So schlimm kann es doch nicht gewesen sein. Marsch, geh an deine Arbeit zurück.“
Sie zerrte mich grob am Arm vom Bett. Ich stieß einen Klagelaut aus und ließ die Münze fallen. Sonja war schneller als ich, sie bückte sich behände trotz ihrer beachtlichen Leibesfülle und hob das Geldstück auf. Flugs verschwand es in ihrer Rocktasche.
„Das brauchst du nicht. Du bekommst ja schließlich von mir alles was du brauchst.“ Mit raschelnden Seidenröcken verschwand sie durch die Tür und ließ mich in meinem Elend alleine zurück.
Von da an wurde alles anders. Der Mann kam von nun an öfter und verlangte nach mir. Und eines Tages kam ein zweiter und ein dritter…
Sonja meinte rüde, ich solle mich gefälligst an die Freier gewöhnen. Aber jedes Mal, wenn ich einen von ihnen kommen sah, wurde mir schlecht vor Angst. Ich versuchte mich zu verstecken. Aber vergeblich. Sonja stöberte mich überall auf. Und oft verrieten mich auch die anderen Bediensteten. Heute glaube ich, sie taten es zu meinem Wohl. Denn je länger Sonja mich suchen musste, desto härter fiel ihre Strafe aus. Natürlich wurde ich erst bestraft, nachdem ich den Männern zu Willen gewesen war. Keine Striemen auf meinem Rücken sollte ihnen den Spaß an meinem Körper vermiesen.
Als ich älter und größer wurde, begann ich mich trotz drohender Strafen vehement gegen die Freier zu wehren. Für mein Alter von etwa zwölf Jahren war ich bereits sehr groß, größer als die meisten Männer. Zwar war ich dünn, doch von der schweren Stallarbeit war mein Körper kräftig. Immer öfter beschwerten sich die Kerle bei Sonja über meine mangelnde Bereitschaft, ihnen zu Willen zu sein. Und da sie auf die gute Einnahmequelle die ich ihr bot nicht verzichten wollte, zwang sie mich mit immer härteren Strafen dazu, meine Aufgabe zu erfüllen. Ich wehrte mich dennoch, da befahl sie dem Hausburschen mich zu bändigen. Das war den meisten Freiern zu dumm, sie wollten einen willigen Knaben, nicht einen den sie vergewaltigen mussten. Immer seltener verlangte man nach mir. Ich ging glücklich zu meiner Arbeit im Stall zurück, doch mein Glück währte nicht sehr lange.
Ohne den Hurenlohn, den sie für meine unfreiwilligen Dienste eingesteckt hatte, war ich für Sonja wertlos geworden.
Die gierige Alte kürzte aus Wut über die entgangenen Geschäfte meine eh schon kümmerlichen Essensrationen. Ich wurde noch dünner und wenn mir nicht ab und zu einer der Stallknechte ein Stück Brot zugesteckt hätte, wäre ich vielleicht sogar verhungert.
Nach ein paar Wochen verlangte plötzlich wieder ein Mann nach mir. Sonja zwang mich, zu ihm aufs Zimmer zu gehen, verzichtete aber diesmal auf die gewohnten Maßregelungen. Ein seltsamer Ausdruck stand in ihren Augen, den ich nicht deuten konnte.
Beim Anblick des Mannes rutschte mir das Herz in die Hose. Er musterte mich mit kalten Augen, wie ein Metzger, der auf dem Viehmarkt ein Kalb abschätzend betrachtet.
Nach seiner teuren Kleidung zu schließen war er ein wohlhabender Mann. Sein ganzes Gebaren ließ darauf schließen, dass er es gewohnt war zu befehlen. Und das seinen Befehlen bedingungslos gehorcht wurde. Er würde Widerstand nicht dulden, das wurde mir sofort klar. Auf den ersten Blick machte er eigentlich keinen schlimmen Eindruck, er sah noch recht passabel aus für einen Mann von zirka fünfzig Jahren. Seine Figur war zwar etwas korpulent und er war nicht übermäßig groß, aber er wirkte kraftvoll und aktiv. Nur der Blick seiner schiefergrauen Augen war eiskalt und gnadenlos. Mit knappen Worten befahl er mir, mich zu entkleiden und ich wagte nicht, mich ihm zu widersetzen. Nervös schälte ich mich aus meinen schäbigen Kleidern. Nackt und zitternd stand ich vor ihm. Seine drehende Handbewegung sagte mir, ich solle mich umdrehen, ich befolgte sie so eilig, dass ich stolperte. Der Mann flößte mir alleine durch seinen grimmigen Gesichtsausdruck eine Heidenangst ein. Ich war darauf gefasst, aufs Bett geworfen und vergewaltigt zu werden. Doch nichts geschah.
„Zieh dich wieder an!“ kommandierte die Stimme hinter mir und ich tat es eilig. Heimlich atmete ich auf, anscheinend fand er keinen Gefallen an mir. Doch seine nächsten Worte gaben mir zu denken.
„Komm hinunter und warte vor Sonjas Tür“, war alles was er sagte. Mir rann bei dem eiskalten Ton ein Schauer über den Rücken. Ohne sich zu vergewissern ob ich seinem Befehl nachkam, ging er aus der Tür und die Treppen hinab. Er war sich sicher, ich würde ihm gehorchen.
Schwitzend harrte ich vor der Tür aus. Der Schweiß lief mir in Bächen über Gesicht und Rücken und daran war nicht die sommerliche Hitze schuld. Obwohl ich nicht den Schimmer einer Ahnung hatte, was Sonja mit dem Mann aushandelte, war mir doch bewusst, dieses Gespräch würde mein ganzes Leben verändern. Der Gedanke machte mir Angst.
Dann ging die Türe auf und die beiden traten mir entgegen. Ich konnte in Sonjas Geschäftszimmer blicken und sah auf dem Tisch ein prall gefülltes Säckchen liegen. Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Sie hatte mich an diesen Kerl verkauft. Einfach verkauft, wie man einen Hund oder ein Pferd verkaufte. Und nun besiegelten die zwei ihren Handel auch noch per Handschlag.
Ich wollte mich ihr zu Füßen werfen und sie anflehen, mich zu behalten. Oder mich einfach umdrehen und zur Tür hinaus fliehen. Aber ich stand da wie erstarrt. Bis mich eine grobe Hand im Genick packte und wegschleifte. Vergeblich wartete ich auf ein erklärendes Abschiedswort von Sonja, noch ehe wir die Haustür erreichten fiel ihre Zimmertür hinter ihr ins Schloss.
Der Mann fand es ebenfalls nicht für nötig, mich über mein weiteres Schicksal aufzuklären. Die Hand verschwand aus meinem Genick und stieß mich stattdessen vorwärts. Mitten im Hof stand ein gesatteltes Reitpferd in der sengenden Sonne. Matt ließ es den Kopf hängen. Seine Flanken waren mit blutigen Striemen übersät und Fliegen tummelten sich in den schwärenden Wunden. Als ich darauf zugestoßen wurde, überkam mich Panik. Wie würde mein neuer Herr mit mir umgehen, wenn er schon sein wertvolles Reittier so übel behandelte?
Er zeigte es mir sofort. Schweigend zog er einen langen Strick aus der Satteltasche und band ihn mir um beide Handgelenke. Das andere Ende befestigte er um den Sattelknauf. Dann stieg er auf und gab dem Pferd die Sporen. Es wieherte gequält auf und trabte an. Wenn ich nicht umgerissen werden wollte, so musste ich mich beeilen, dem Tier zu folgen. Also rannte ich nebenher und hatte noch nicht einmal Zeit, mich nochmals nach meinem bisherigen Zuhause umzuschauen.
Der Herr dachte nicht daran, das Tempo zu drosseln. Ich lief keuchend hinterher. Meine Lungen brannten bald wie Feuer, ich bekam Seitenstechen und meine Beine schmerzten fürchterlich. Ich war nicht gewohnt, so lange und so schnell zu laufen. Irgendwann konnte ich nicht mehr. Meine Knie gaben nach und ich strauchelte. Schließlich fiel ich der Länge nach hin und wurde ein paar Meter über den steinigen Boden geschleift. Jetzt endlich hielt der Reiter an. Noch immer wortlos zog er auffordernd an dem Strick um meine Hände. Das raue Seil hatte die Haut an meinen Gelenken aufgescheuert, es brannte höllisch. Aber ich verkniff mir einen Schmerzenslaut. Mühsam rappelte ich mich auf und blinzelte zu ihm hoch.
„Scheinst ja nicht gerade viel gewohnt zu sein“, meinte er abfällig und ein verächtliches Grinsen verzog sein Gesicht. Dann ließ er sein Pferd im Schritt weitergehen und ich stolperte erneut hinterher.
Wir kamen an einen Waldrand und dort standen unter den Bäumen viele Reit- und Packpferde. Männer lagen im Schatten auf ausgebreiteten Decken und dösten. Ein Mann hielt Wache und rief den anderen etwas zu, als wir uns näherten. Eilig erhoben sich alle und packten ihre Decken zusammen. Bis wir bei ihnen angelangt waren, saßen sie schon auf ihren Pferden. Keiner von den Männern schien verwundert über den gefesselten Knaben, der hinter dem Pferd ihres Herrn herlief. Ja, sie vermieden es sogar, mich anzublicken. Nur ab und zu streifte mich ein flüchtiger Blick. Der Zug setzte sich in Bewegung und ich musste wohl oder übel Schritt halten. In der Karawane gab es etliche Ersatzpferde, die ohne Lasten und Reiter mitliefen. Aber mein neuer Herr erlaubte mir nicht, eines der Tiere zu reiten. In gemäßigtem Tempo ging es stundenlang weiter. Ich glaube, ich verfiel in eine Art Trance. Mechanisch setzte ich einen Fuß vor den anderen und schaute nur auf den Boden, um ja nicht zu stolpern und zu fallen.
Irgendwann hielt der Zug endlich an. Es dämmerte bereits und wir befanden uns auf einer großen Lichtung.
Zu meiner großen Überraschung band mir mein Herr die Hände los. Mit dem Kinn deutete er auf einen nahen Bach. „Geh dort hin und bade. Und wasch auch deine Haare. Du siehst furchtbar verdreckt aus und stinkst wie ein Iltis. Aber lasse dir nicht einfallen zu türmen. Hier wimmelt es von Bären und Wölfen. Die hätten dich bald erwischt. Außerdem ist es bis zur nächsten Ansiedlung weit. Du würdest sie nie lebend erreichen.“ Er reichte mir eine dünne Decke. „Die ist für die Nacht, es ist warm, sie wird dir genügen. Wasch deine Kleider aus und hänge sie zum Trocknen über einen Ast.“
Das Wasser des Baches war angenehm kühl und ich genoss es, mir den Dreck und Schweiß vom Körper zu spülen. Bei Sonja war baden ein Luxus, der mir nie zustand. Nur bevor sie mich zu einem Freier schickte, musste ich mich notdürftig waschen.
Ich legte mich ganz ins Wasser und ließ es über meine Haut strömen. Dann wusch ich meine Haare mit dem Stück Talgseife, dass mir mein Herr mitgegeben hatte. Sie hatten eine Wäsche bitter nötig. Und das Ergebnis war sehenswert. Aus den fettigen, langen Strähnen von undefinierbarer Farbe wurde eine wahre Flut glatter hellblonder Haare. Mit dem Rest der Seife wusch ich noch meine alte Hose und den zerschlissenen Kittel aus. Als ich damit fertig war, legte ich die Sachen sorgfältig über einen tief hängenden Ast.
Der würzige Duft von gebratenem Fleisch stieg mir in die Nase und das Wasser lief mir im Mund zusammen. Wenn ich jetzt noch eine ordentliche Mahlzeit bekam, wäre das Auskommen mit meinem neuen Herrn vielleicht doch nicht so schlimm. Hungrig drehte ich mich um.
Da stand er direkt vor mir und ich stieß einen erschrockenen Schrei aus.
Sein Blick war nun nicht mehr kalt und berechnend wie am Morgen. Jetzt stand ein gieriges Flackern in seinen Augen als er mich ungeniert betrachtete. Unwillkürlich wich ich einige Schritte zurück. Der Baum bremste meinen Rückzug.
„Dachte ich‘s mir doch, dass hinter dem schmuddeligen Jungen ein hübscher Bengel steckt. Meine Investition hat sich zweifellos gelohnt.“
Seine Stimme klang heiser, so als wäre er erkältet. Er kam heran und grapschte Besitz ergreifend nach meinen nackten Schultern. Er drückte mich auf die Knie und nestelte an seinem Hosenstall herum. „Besorg’s mir!“ befahl er barsch und zog sein erigiertes Glied hervor.
Ich prallte zurück und schüttelte abwehrend den Kopf. In nur ein paar Metern Abstand lagerten seine Knechte. Sie taten zwar als bemerkten sie nichts, aber natürlich schauten sie alle verstohlen zu uns her. „Nein!“ stieß ich trotz meiner Angst hervor.
Sein eben noch lüsternes Gesicht verwandelte sich zu einer wütenden Grimasse. Ohne Vorwarnung packte er meine Haare und zerrte mich hoch. Dann ohrfeigte er mich mit der flachen Hand. Rechts und links trafen mich die schmerzhaften Streiche. Ich biss mir auf die Zunge und Blut lief mir aus dem Mundwinkel über das Kinn. Das brachte ihn anscheinend zur Vernunft. Er hielt inne und starrte mich zornig an. Doch wenn ich dachte er überlege es sich anders, so sah ich mich getäuscht. Nah zog er mein Gesicht zu seinem. Ein Spuckeregen traf mich als er mich gefährlich leise anzischte.
„Du wirst tun, was ich dir sage. Jetzt, sofort und von nun an immer. Du bist dir anscheinend nicht im Klaren über den Zweck, zu dem ich dich erworben habe. Sonja hat mir bereits erzählt, du wärst störrisch wie ein Esel. Aber ich habe bisher noch jeden klein gekriegt und auch du wirst mir schon bald aus der Hand fressen.“ Grob zwang er mich erneut auf die Knie. „Und nun fang endlich an…“
Nicolas hielt in seiner Erzählung inne und starrte schweigend durch die zerbrochene Windschutzscheibe. Sein Gesicht war eine undurchdringliche Maske, doch das konnte Brendan nicht sehen. Dennoch fühlte er den Schmerz der Erinnerung, der seinen Freund quälte. Schuldgefühle stiegen in ihm hoch. Er hätte Nicolas nicht an diese Demütigungen erinnern sollen. Doch noch ehe er zu entschuldigenden Worten ansetzen konnte unterbrach ihn der Vampir.
„Nein, Bren. Du musst dir keine Gedanken um meine Gefühle machen. Es ist alles schon so lange her. Und ich kann es inzwischen einfach als eine unangenehme Lebenserfahrung betrachten, die eben geschehen ist.“ Er schien plötzlich abgelenkt und hob lauschend den Kopf. Dann meinte er zufrieden:
„Luke und Daniel sind bereits hier. Sie stehen auf der anderen Seite der Steine und suchen nach einer Lücke. Aber wenn ich von hier aus keine gefunden habe, so werden sie von draußen bestimmt auch keine finden. Gib mir einen Moment Zeit, mich mit Daniel zu verständigen. Dann bin ich wieder für dich da.“
Daniel erklärte ihm auf telepathischem Wege, es seien bereits Räumfahrzeuge unterwegs. Allerdings kamen sie von Glasgow her und sie waren nicht sehr schnell. Aber Luke zeige sich zuversichtlich, dass noch im Laufe der Nacht mit ihrer Befreiung begonnen werden konnte.
Daniel erkundigte sich nach Brendans Befinden und war erleichtert als er hörte, dass es ihm leidlich gut ging. Er zog sich aus Nicolas‘ Gedanken zurück, um gemeinsam mit Luke Frasier den Rettungstrupp zu erwarten. Nicolas erklärte Brendan was er mit Daniel besprochen hatte. Dann machte er es sich wieder so gemütlich, wie es die beengten Verhältnisse in dem zerstörten Wagen zuließen. Ohne Umschweife kehrte er zu seiner Geschichte zurück.
„Nach den böse ausgesprochenen Worten meines neuen Herrn war mir endgültig klar, wie meine Zukunft aussehen würde. Eine grauenvolle Angst überfiel mich. In meinem Innersten hatte ich mich der heimlichen Hoffnung hingegeben, der Mann wolle mich als Knecht oder Arbeiter haben. Zu den damaligen Zeiten war es nicht ungewöhnlich, dass sich reiche Herren Arbeitskräfte kauften. Dann war man ein Leibeigener ohne Rechte. Leibeigene arbeiteten für Unterkunft und Essen und wenn sie dafür zu alt oder krank wurden, war das meist ihr Todesurteil. Ihr Schicksal war ein hartes Los, dennoch hätte ich es dem, das mir bevorstand, bei weitem vorgezogen.
Boris Semjonov, so hieß mein neuer Herr, machte nicht viel Federlesens. Er packte mich brutal an den Haaren und zwang mich zu tun, was er von mir erwartete. Und obwohl ich mich sonst immer energisch gewehrt hatte, getraute ich mich nicht ihm zu trotzen. Schon sein unbarmherziger Blick jagte mir eine heillose Angst ein.
Nachdem er befriedigt war, ließ er mich los und schickte mich mit gleichgültigen Worten zum Lager. Mit beschämt gesenkten Kopf schlich ich mich zum Feuer zurück und kauerte mich nieder. Die dünne Decke hielt ich fest um meinen Körper gewickelt. Doch sie bot mir keinen Schutz, ich fühlte mich nackt und bloß.
Nun wieder gutgelaunt, kam er hinter mir her und setzte sich ebenfalls ans Feuer. Anscheinend war es ihm völlig egal, was seine Leute gesehen hatten. Er säbelte ein großes Stück von der Rehkeule ab, die auf einem Spieß über dem Feuer briet und warf es mir in den Schoß.
„Da, iss, damit du etwas auf die Rippen bekommst. Die geizige Sonja hat dich nicht allzu üppig gefüttert, he? Dir stehen ja alle Knochen hervor wie bei einer alten Mähre. Das gefällt mir nicht.“
Eigentlich war mir der Appetit gründlich vergangen. Ich hatte das Gefühl mich erbrechen zu müssen, wagte es aber nicht. So nahm ich schweigend das Stück Fleisch und zwang mich, es ganz aufzuessen. Unter anderen Umständen hätte ich die Mahlzeit sicher genossen. Fleisch bekam ich bei Sonja so gut wie nie. Ich ergatterte höchstens einmal ein Stück Speck, das in der alltäglichen Kohlsuppe schwamm.
Bald nach dem Essen legten sich die Knechte zum Schlafen um das Feuer nieder. Ein Mann musste Wache stehen und außerdem aufpassen, damit das Feuer nicht ausging. Es wurde nicht wegen der Wärme, sondern um wilde Tiere abzuschrecken die ganze Nacht am Brennen gehalten. Die Männer lösten sich nach einiger Zeit gegenseitig ab, so dass jeder genug Schlaf bekam.