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Jahrhundertelang lebten die Werwölfe Kanadas in Frieden mit den Menschen. Doch nun hat offenbar jemand ihr strenggehütetes Geheimnis entdeckt – und erledigt sie der Reihe nach mit Silberkugeln. Die Werwölfe bitten Vicki Nelson und ihren Freund, den Vampir Henry Fitzroy, um Hilfe. Doch schon bald sieht es aus, als wäre diese Angelegenheit eine Nummer zu groß für die beiden. Der 2. Band der Vampirkrimis um Vicki Nelson und Henry Fitzroy!
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Seitenzahl: 449
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TANYA HUFF
Für DeVerne Jones, der unermüdlich Hunderte von Fragen beantwortete, auch einige, die mir überhaupt nicht eingefallen waren.
Mit besonderem Dank an Ken Sagara, dessen Großzügigkeit es mir ermöglichte, dieses Manuskript rechtzeitig und mit intaktem Sehvermögen zu beenden.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Die Autorin
Der Dreiviertelmond, der tief am Nachthimmel hing, verwandelte selbst dröges, friedliches Farmland in eine geheimnisvolle Landschaft aus silbernem Licht und Schatten. Hinter jedem von zwei Monaten Sommer goldbraun gerösteten Grashalm erstreckte sich ein dünnes schwarzes Abbild. Die Büsche entlang der Zäune, Wege für die, die zu scheu waren, sich ins Freie zu wagen, raschelten einmal und waren dann wieder still, als eine Kreatur der Nacht ihren Geschäften nachging.
Eine große Schafherde, deren nach der Sommerschur kurzes Fell im Mondlicht milchweiß schimmerte, hatte sich in einer Ecke der Weide zur Nacht niedergelassen. Außer der rhythmischen Bewegung einiger Kiefern und dem gelegentlichen Zittern eines Ohres oder Zucken eines Lamms, das nicht lange stillhalten konnte, nicht einmal im Schlaf, schien die Herde eine Felsmasse aus hellem Stein zu sein. Eine Felsmasse, in die jäh Leben kam, als mehrere Köpfe sich gleichzeitig hoben und ihre Nüstern aristokratisch in den Wind hielten.
Sie waren offenbar vertraut mit dem Wesen, das über den Zaun auf die Weide sprang, denn obwohl die Mutterschafe wachsam blieben, beobachteten sie seine Annäherung eher mit leiser Neugier als mit Erschrecken.
Das große schwarze Tier hielt inne, um einen Zaunpfahl zu markieren, dann trottete es einige Schritte auf das Feld und setzte sich, wobei es den Blick stolz über die Schafe schweifen ließ. Etwas in seinem Schattenriss, in der Form seines Kopfes wies, ebenso wie seine Färbung, seine Größe und die Breite seiner Brust, auf einen Wolf hin, doch die Reaktion der Herde deutete eher auf einen Hund.
Davon überzeugt, dass alles war, wie es sein sollte, trabte es munter am Rande des Zauns entlang. Sein stolz erhobener Schwanz wehte wie eine Standarte hinter ihm her, und vom Mond versilberte Lichter flossen bei jeder Bewegung durch sein dichtes Fell. Es legte an Geschwindigkeit zu, sprang über eine Distel – mehr aus purer Freude am Springen als weil die Distel ihm im Weg war – und querte das untere Ende der Weide.
Ein Klang wie ein fernes Husten war die einzige Vorwarnung, dann explodierte der glänzend schwarze Kopf in einem Schauer aus Blut und Knochen. Der Körper, vom Einschlag von den Füßen gerissen, zuckte einen Moment lang wild und lag dann still.
Vor Schrecken über den plötzlichen Blutgeruch gerieten die Schafe in Panik, rasten zum anderen Ende des Feldes und pressten sich in einer zusammengeduckten, laut blökenden Masse gegen den Zaun. Zum Glück lag die Richtung, die sie eingeschlagen hatten, gegen den Wind. Als nichts weiter geschah, beruhigten sie sich langsam, und ein paar der älteren Mutterschafe bewegten sich mit ihren Lämmern aus der Herde heraus und ließen sich wieder nieder.
Es war unklar, ob die drei Geschöpfe, die kurz darauf über den Zaun sprangen, die Schafe überhaupt bemerkten. Auf riesigen Pfoten, die kaum den Boden zu berühren schienen, rannten sie auf den Leichnam zu. Eines von ihnen, die rotbraunen Nackenhaare gesträubt, verfolgte die Spur des toten Tieres zurück, doch ein Knurren des Größeren der beiden anderen ließ es innehalten.
Drei spitze Schnauzen hoben sich, und ihr Geheul versetzte die Schafe erneut in Panik.
Während die Töne an- und abschwollen, löschte ihre urtümliche Melodie jede Ähnlichkeit aus, die die drei Heulenden mit Hunden gehabt haben mochten.
Vicki hasste den August. Es war der Monat, in dem Toronto seine wahre Klasse bewies: Hitze und Luftfeuchtigkeit klebten an den Auspuffgasen, die Luft in der Schlucht aus Beton und Glas zwischen Yonge und Bloor nahm eine gelbbraune Tönung an, die einen bitteren Nachgeschmack in der Kehle hinterließ, jede lose Schraube in der Stadt beschloss, ihrer eigenen Wege zu gehen, und die Hitze zerkochte jegliche Restgeduld. Die Polizisten in ihren marineblauen Uniformhosen und -mützen und den schweren Stiefeln hassten den Monat sowohl aus persönlichen als auch aus beruflichen Gründen. Vicki hatte den Streifendienst damals rasch hinter sich gebracht und die Polizei vor über einem Jahr verlassen, aber sie hasste den August noch immer. Da er nun auf ewig mit ihrem Abschied von einem Beruf verbunden war, den sie geliebt hatte, war dieser ohnehin am wenigsten angenehme Monat für sie nun über die Maßen ekelhaft.
Als sie die Tür zu ihrer Wohnung aufschloss, gab sie sich Mühe, sich nicht selbst zu riechen. Sie hatte die letzten drei Tage in der Auftragsannahme einer Kaffeerösterei am Railside Drive gearbeitet. Im letzten Monat hatte eine Reihe von Maschinenausfällen die Firma geplagt, bis den Besitzern klar geworden war, dass es sich um Sabotage handelte. Verzweifelt – eine kleine Firma konnte sich keine Ausfallzeiten leisten, wenn sie mit den Konzernen konkurrieren wollte – hatten die Besitzer Vicki angeheuert, um herauszufinden, was vor sich ging.
»Victoria Nelson, Privatdetektivin, hat es wieder mal geschafft.« Sie schloss die Tür hinter sich und streifte ihr durchgeschwitztes T-Shirt ab.
Sie hatte gleich am ersten Tag den Kerl gefunden, der die Röstmaschinen blockierte. Aber es hatte sie zwei weitere Tage gekostet herauszufinden, wie er es machte, und ausreichend Beweise für eine Anklage zu sammeln. Am nächsten Morgen würde sie hingehen, den Bericht auf Mr Glassmans Schreibtisch legen und nie wieder in die Nähe dieses Ortes kommen.
Jetzt wollte sie erst mal duschen, etwas essen, das nicht nach Kaffee roch, und einen langen, anspruchslosen Abend vor der Flimmerkiste.
Sie kickte das schmutzige T-Shirt in die Ecke, während sie die Jeans auszog. Das einzig Gute an der Sache war, dass sie auf dem Heimweg einen Sitzplatz in der U-Bahn gehabt und niemand versucht hatte, sich an sie zu drängen, weil sie so stank.
Das heiße Wasser spülte gerade den Gestank und die Verkrampfung weg, da klingelte das Telefon. Sie versuchte es zu ignorieren, es von der Dusche übertönen zu lassen, hatte aber wenig Erfolg. Sie war schon immer ein Telefon-Junkie gewesen. Leise vor sich hin schimpfend drehte sie das Wasser ab, wickelte sich in Handtücher und rannte zum Telefon.
»Oh, da bist du ja, Liebes. Warum hat das so lange gedauert?«
»Es ist eine sehr kleine Wohnung, Mom«, seufzte Vicki. Sie hätte es wissen müssen. »Ist dir nicht beim siebten Klingeln die Idee gekommen, dass ich vielleicht nicht ans Telefon gehen will?«
»Natürlich nicht. Ich wusste, dass du da bist, sonst hättest du deinen Anrufbeantworter eingeschaltet.«
Vicki ließ die Maschine nie an, wenn sie daheim war. Sie hielt das für den Gipfel der Unhöflichkeit. Vielleicht war es Zeit, das zu überdenken. Das Handtuch rutschte, und sie schnappte danach – im zweiten Stock lag die Wohnung nicht hoch genug, um nackt herumzulaufen. »Ich war unter der Dusche.«
»Dann habe ich dich ja nicht bei etwas Wichtigem gestört. Ich wollte dich anrufen, ehe ich das Büro verlasse …« Damit der Fachbereich Biowissenschaften für den Anruf zahlen muss, ergänzte Vicki im Stillen. Ihre Mutter war als Sekretärin länger bei der Queen’s University in Kingston als die meisten angestellten Professoren und nutzte die Vergünstigungen ihres Berufs so oft und so weit wie möglich aus.
»… und herausfinden, wann du Urlaub hast, damit wir etwas Zeit miteinander verbringen können.«
Klar. Vicki liebte ihre Mutter sehr, aber mehr als drei Tage in ihrer Gesellschaft brachten sie an den Rand des Muttermords. »Mom, ich habe keinen Urlaub mehr. Ich bin jetzt selbstständig und muss annehmen, was anfällt. Außerdem warst du erst im April hier.«
»Da warst du im Krankenhaus, Vicki, das war nicht gerade ein Höflichkeitsbesuch.« Die beiden vertikalen Narben an ihrem linken Handgelenk waren zu dünnen roten Linien auf der hellen Haut verblasst. Es sah wie ein Selbstmordversuch aus, und es hatte viel Fantasie erfordert, um ihrer Mutter nicht erzählen zu müssen, wie sie dazu gekommen war. Dass ein soziopathischer Hacker sie einem Dämon hatte opfern wollen, war nichts, was ihre Mutter besonders gut verkraftet hätte. »Sobald ich ein freies Wochenende habe, komme ich vorbei. Versprochen. Ich muss auflegen, ich tropfe den Teppich voll.«
»Bring doch diesen Henry mit. Ich würde ihn gerne mal kennenlernen.«
Vicki grinste. Henry Fitzroy und ihre Mutter. Das könnte ein Wochenende in Kingston wert sein. »Lieber nicht, Mom.«
»Warum denn nicht? Was stimmt mit ihm nicht? Warum ist er mir im Krankenhaus aus dem Weg gegangen?«
»Er ist dir nicht aus dem Weg gegangen, und mit ihm ist alles in Ordnung.« Gut, er ist 1536 gestorben. Aber das hat ihn nicht aufgehalten. »Er ist Autor und ein wenig … außergewöhnlich.«
»Außergewöhnlicher als Michael?«
»Mutter!«
Sie hörte beinahe, wie ihre Mutter die Augenbrauen hochzog. »Süße, du erinnerst dich vielleicht nicht daran, aber du bist schon mit einer ganzen Reihe außergewöhnlicher Jungs ausgegangen.«
»Ich gehe nicht mehr mit Jungs aus, Mom. Ich bin fast zweiunddreißig.«
»Du weißt, was ich meine. Erinnerst du dich an den Kerl in der Highschool? Ich erinnere mich nicht mehr an seinen Namen, aber er hatte einen Harem …«
»Ich rufe dich an.«
»Bald.«
»Bald«, versprach Vicki, rettete wieder das Handtuch und legte auf. »Ich bin mit außergewöhnlichen Jungs ausgegangen …« Sie schnaubte und machte sich auf den Weg zurück ins Bad. Gut, ein paar von ihnen waren ein wenig seltsam gewesen, aber sie war sich mehr als hundertprozentig sicher, dass keiner von ihnen ein Vampir gewesen war.
Sie drehte das Wasser wieder an und schmunzelte, als sie sich die Szene ausmalte. Mom, ich möchte dir Henry Fitzroy vorstellen. Er trinkt Blut. Ihr Grinsen wurde breiter, während sie unter das Wasser trat. Ihre Mutter, die unendlich praktisch veranlagt war, würde wahrscheinlich fragen, welche Blutgruppe. Es gehörte einiges dazu, das Weltbild ihrer Mutter zu erschüttern.
Sie leerte gerade eine Pfanne Rührei auf einen Teller, als das Telefon noch einmal klingelte.
»Typisch«, murmelte sie, schnappte sich eine Gabel und ging ins Wohnzimmer. »Das verdammte Ding klingelt nie, wenn ich gerade nichts mache.« Sonnenuntergang war erst in ein paar Stunden – es war also nicht Henry.
»Vicki? Celluci hier.« Da es so viele Michaels bei der Polizei von Toronto gab, hatten die meisten von ihnen sich angewöhnt, sich nur mit Nachnamen zu melden. »Erinnerst du dich noch an den Namen von Quests mutmaßlichem Komplizen? Den Typen, den wir nie anklagen konnten.«
»Guten Abend, Michael. Schön, dich zu hören. Mir geht es gut, danke.« Sie schob sich eine Gabel Ei in den Mund und wartete auf die Explosion.
»Lass den Scheiß, Vicki. Er hatte so einen Frauennamen … Marion, Marilyn …«
»Margot. Der Mann hieß Alan Margot. Warum fragst du?«
Trotz des Verkehrslärms hörte sie das selbstzufriedene Grinsen in seiner Stimme. »Das ist streng geheim.«
»Hör mal zu, du Mistkerl, wenn du schon mein Gehirn benutzt, weil du zu faul bist nachzuschlagen, dann komm mir nicht mit ›Das ist streng geheim‹. Nicht, wenn du deine Rente erleben willst.«
Celluci seufzte. »Verwende das Gehirn, dessen Benutzung du mir vorwirfst.«
»Ihr habt schon wieder eine Leiche aus dem See gefischt?«
»Vor wenigen Augenblicken.«
Also war er noch vor Ort. Das erklärte den Hintergrundlärm.
»Das gleiche Muster von Blutergüssen?«
»Soweit ich das sagen kann, ja. Der Gerichtsmediziner hat die Leiche gerade mitgenommen.«
»Nagel das Schwein endlich fest.«
»Das«, erklärte Mike ihr, »ist mein Plan.«
Vicki legte auf und glitt in ihren Lederliegesessel, wobei sie die Eier gefährlich auf der Lehne balancierte. Zwei Jahre zuvor war das ihr Fall gewesen. Sie war dafür verantwortlich gewesen, den Drecksack zu finden, der ein fünfzehnjähriges Mädchen bewusstlos geschlagen und dann in den Ontariosee geworfen hatte. Sechs Wochen Arbeit, und sie hatten einen Mann namens Quest festgenommen, angeklagt und ihm die Tat nachgewiesen. Vicki war sich sicher gewesen, dass noch ein weiterer Mann darin verwickelt war, aber Quest wollte nicht reden, und sie konnten keine zweite Anklage erheben.
Diesmal …
Sie riss sich die Brille von der Nase. Diesmal würde Celluci ihn schnappen, und Vicki Nelson, der Ex-Liebling der städtischen Polizei, würde auf ihrem Hintern sitzen. Das Zimmer vor ihr verschwamm zu einer nicht zu unterscheidenden Masse aus ineinander verlaufenden Farben, und sie setzte die Brille wieder auf.
»Scheißdreck!« Vicki holte tief Luft und zwang sich zur Ruhe. Schließlich war alles, worauf es ankam, dass Alan Margot gefasst wurde – nicht, wer die Verhaftung vornahm. Sie nahm die Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein. Die Jays spielten in Milwaukee.
»Die Jungs des Sommers«, seufzte Vicki und machte sich über ihre mittlerweile kalten Eier her, während sie sich dem hypnotischen Akzent der Moderatoren überließ, die durch die Show vor dem Spiel führten. Wie die meisten Kanadier eines bestimmten Alters war Vicki in erster Linie Eishockeyfan, aber es war fast unmöglich, in Toronto zu leben, ohne eine gewisse Zuneigung zu Baseball zu entwickeln.
Es war am Ende des Siebten, beim Spielstand von drei zu fünf, die Jays lagen zwei Läufe zurück, zwei waren draußen und ein Mann am zweiten mit Mookie Wilson am Schlag. Wilson schlug mehr als dreihundert gegen Rechtshänder, und Vicki sah, wie der Fänger der Brewers schwitzte. Da klingelte das Telefon. »Typisch.« Sie machte den Arm lang und zog das Telefon auf ihren Schoß. Sonnenuntergang war um 20:41. Jetzt war es 21:05. Das musste Henry Fitzroy sein.
Erster Ball.
»Ja?«
»Vicki? Hier spricht Henry. Alles in Ordnung bei dir?«
Erster Schlagfehler.
»Ja, es geht mir gut. Du rufst nur zu einer ungünstigen Zeit an.«
»Tut mir leid, aber ich habe ein paar Freunde, die deine Hilfe brauchen.«
»Meine Hilfe?«
»Sie brauchen die Hilfe eines Privatdetektivs, und du bist der einzige, den ich kenne.«
Zweiter Schlagfehler.
»Ausgerechnet jetzt?« Nur noch zwei Innings bis Spielende. Wie verzweifelt konnte jemand schon sein?
»Victoria, es ist wirklich wichtig.« Sie erkannte an Henrys Stimme, dass dem so war.
Sie seufzte tief, als Wilson aus dem linken Feld schlug und das Inning beendete, und schaltete den Fernseher aus. »Nun, wenn es so wichtig ist …«
»Ist es.«
»… dann bin ich gleich da.« Auf halbem Weg zur Gabel kam ihr plötzlich ein Gedanke, und sie riss den Hörer wieder hoch.
»Henry?«
Er war noch da. »Ja?«
»Diese Freunde, das sind doch keine Vampire?«
»Nein.« Trotz seiner Besorgtheit klang er belustigt. »Es sind keine Vampire.«
Greg schenkte der jungen Frau ein neutrales Kopfnicken, als er den Summer an der Sicherheitstür zum Foyer für sie betätigte. Ihr Name war Victoria Nelson, und sie war den Sommer über einige Male zu Besuch gekommen, als er am Empfang saß. Obwohl sie wie ein Mensch wirkte, den er unter anderen Umständen gemocht hätte, kam er nicht über den Eindruck hinweg, den er bei ihrer ersten Begegnung im Frühling gewonnen hatte. Es half nichts, dass seine Beobachtungen bestätigten, dass sie nicht der Typ war, der halb nackt die Tür öffnete. Das bewies seiner Ansicht nach nur, dass sein Gefühl richtig gewesen war, dass sie in jener Nacht etwas vor ihm verborgen hatte.
Nur was?
Während der letzten Monate hatte seine Überzeugung, Henry Fitzroy sei ein Vampir, nachgelassen. Er mochte Fitzroy, respektierte ihn und war sich im Klaren darüber, dass all dessen Eigenheiten eher daherkamen, dass er ein Schriftsteller und damit ein Geschöpf der Nacht war, aber ein letzter nagender Zweifel blieb.
Was hatte die Frau in jener Nacht verborgen – und warum?
Manchmal erwog Greg, sie seinem Seelenfrieden zuliebe zu fragen, aber die Entschlossenheit in ihrem Gesicht hielt ihn immer davon ab. Daher überlegte er weiter und hatte ein Auge auf die Dinge. Nur für alle Fälle.
Vicki empfand deutliche Erleichterung, als die Fahrstuhltüren sich hinter ihr schlossen. Gregs prüfender Blick gab ihr immer das Gefühl, nun, schmutzig zu sein. Aber das ist meine eigene Schuld. Ich habe ihm praktisch nackt die Tür geöffnet. Es war die einzige Lösung gewesen, die ihr in diesem Augenblick eingefallen war, und da sie funktioniert und den alten Mann von seiner Absicht abgehalten hatte, einen Krocketstock in Henrys Herz zu bohren, hatte sie auch keinen Grund, über die Nachwirkungen zu klagen.
Sie drückte den Knopf für den 14. Stock und stopfte ihr weißes Polohemd ordentlicher in die roten Laufshorts. Das kleine »Abenteuer« im letzten Frühjahr hatte ein paar Pfunde weggeschmolzen, und bis jetzt war es ihr gelungen, sie daran zu hindern, den Weg zurückzufinden. Vicki war zu muskulös, um schlank zu sein – ein geheimes Verlangen, das sie niemandem gegenüber eingestand –, aber es war nett, eine etwas klarer definierte Taille zu haben. Sie blinzelte im grellen Neonlicht, während sie ihr Spiegelbild in der glänzenden Stahlwand des Fahrstuhls musterte. Nicht schlecht für ein altes Weib, entschied sie und schob die verhasste Brille die Nase hoch. Sie fragte sich, ob sie sich formeller hätte kleiden sollen, kam aber zu dem Schluss, dass es Freunden Henry Fitzroys, des unehelichen Sohns Heinrichs VIII. und ehemaligen Herzogs von Richmond et cetera, et cetera wahrscheinlich egal war, ob die Privatdetektivin in Shorts kam.
Als der Lift Henrys Stockwerk erreichte, hängte Vicki sich die Tasche ordentlich über die Schulter und setzte ihr professionelles Gesicht auf. Es hielt so lange an, bis die Tür der Wohnung aufschwang und das einzige Wesen im Flur ein riesiger rotbrauner Hund war.
Es – nein, er – musste ein Hund sein. Vicki streckte die Hand aus, damit er daran schnüffeln konnte. Wölfe hatten nicht diese Farbe.
Oder diese Größe. Oder doch? Sie hätte noch hinzufügen können, dass Wölfe im Allgemeinen nicht in Eigentumswohnungen in der Innenstadt Torontos hausten, aber da es sich um Henrys Wohnung handelte, war alles möglich.
Die Augen des Tiers waren schwarz umrandet, was zu einem bemerkenswert ausdrucksvollen Gesicht beitrug. Es schnüffelte begeistert an der angebotenen Hand, dann schob es den Kopf fordernd unter Vickis Finger.
Vicki grinste, zog die Tür zu und kraulte das Tier dann gehorsam hinter den spitzen Ohren. »Henry?«, rief sie, während ein Schwanz, der schwer genug war, um einen ausgewachsenen Mann zu Boden zu schlagen, rhythmisch gegen die Wand klopfte. »Bist du da?«
»Im Wohnzimmer.«
Etwas in seiner Stimme ließ sie die Stirn runzeln, aber eine untertassengroße Pfote auf ihrem Fuß lenkte sie augenblicklich ab. »Runter da, du Riesenvieh.« Der Hund verlagerte gehorsam sein Gewicht. Sie packte seine Schnauze sanft mit einer Hand und schüttelte den riesigen Kopf hin und her. »Komm, Junge, sie warten auf uns.«
Er lächelte – es gab kein anderes Wort dafür –, wirbelte herum und hüpfte ins Wohnzimmer. Vicki folgte in etwas gemessenerem Tempo.
Henry stand an seinem üblichen Platz an der Fensterfront und sah hinab auf die Stadt. Die Lampen, die er bei den seltenen Gelegenheiten benutzte, wenn er Besuch hatte, ließen rote Lichter in seinem hellen Haar schimmern und verwandelten seine haselnussbraunen Augen fast in Gold. Tatsächlich vermutete Vicki nur, dass sie diese Wirkung auf seine Augen hatten, da sie auf eine solche Entfernung keine Einzelheiten erkennen konnte.
Sie wurde jedoch nie müde, ihn zu betrachten. Er besaß eine Ausstrahlung, die seine Erscheinung von angenehm zu außergewöhnlich verwandelte, und sie verstand absolut, warum die arme Lucy und die arme Mina keine Chance gegen sein berühmtes Roman-Alter-Ego hatten.
Er war nicht allein. Die junge Frau, die am CD-Spieler herumfummelte, drehte sich um, als Vicki das Zimmer betrat, und Vicki unterdrückte ein Lächeln, als sie merkte, wie Henrys weiblicher Gast sie offensichtlich und gründlich musterte. Sie sah auch genau hin.
Eine Tänzerin?, fragte sie sich. Das Mädchen war klein, aber geschmeidig, muskulös und hatte eine Haltung, die man fast als herausfordernd bezeichnen könnte. Versuch’s gar nicht erst, Kleine. Wenn ich auch nicht ganz doppelt so alt bin wie du – das Mädchen konnte nicht älter als siebzehn oder achtzehn sein –, bin ich doch ganz bestimmt gemeiner. Die kurze Mähne aus weißblondem Haar war, wie Vicki überrascht bemerkte, natürlich: Die Brauen hätten aufgehellt sein können, aber nicht die Wimpern. Wenn sie auch nicht hübsch im eigentlichen Sinne war, so bildete das helle Haar doch einen exotischen Kontrast zu ihrer tiefen Sonnenbräune, und dieses Strandkleid überließ wenig Bräune der Fantasie.
Ihre Blicke trafen sich, und Vicki zog die Brauen hoch. Nur für einen Augenblick begriff sie beinahe, was wirklich vor sich ging, dann war der Augenblick vorbei, und das Mädchen hob den Blick und lächelte schüchtern. Der große rote Hund hatte sich an Henrys Seite geschoben, den Kopf auf gleicher Höhe mit dessen Körpermitte, und jetzt traten beide vor. Henry trug eine auffallend neutrale Miene zur Schau. Der Hund wirkte belustigt.
»Victoria, ich möchte dir Rose Heerkens vorstellen. Ihre Familie hat Schwierigkeiten, bei denen du ihnen, wie ich glaube, helfen kannst.«
»Sehr erfreut.« Vicki streckte die Hand aus, und nach einem raschen Blick auf Henry – was hat er ihr über mich erzählt? – nahm die junge Frau sie. Sehr wenige Frauen waren gut im Händeschütteln, da man sie nicht dazu erzog, aber Vicki war sowohl von dem Griff, der ihrem gleichkam, als auch von der schwieligen Handfläche überrascht.
Rose ließ Vickis Hand los und wies mit der gleichen Bewegung auf den Hund, der sich an ihre Beine drückte. »Das ist Sturm.« Sturm hob eine Pfote.
Vicki grinste, als sie sich bückte, um sie zu nehmen. »Sehr – erfreut, Sturm.« Der große Hund bellte kurz, lehnte sich vor und leckte Vicki mit genügend Kraft übers Gesicht, um ihre Brille wegzuschieben.
»Sturm, aus!« Mit beiden Händen in seinem rotbraunen Nackenfell zerrte Rose den Hund weg. »Vielleicht möchte sie nicht vollgesabbert werden.«
»Oh, das macht nichts.« Sie wischte ihr Gesicht mit der Handfläche ab und schob ihre Brille wieder hoch. »Was für ein Hund ist er? Er ist wunderschön.« Dann lachte sie, weil Sturm offenbar das Kompliment verstanden hatte und selbstgefällig aussah.
»Ermutigen Sie ihn nicht noch, Miss Nelson, er ist eh schon eitel genug.« Rose presste ihr Knie hinter Sturms Schulter und schob, bis er umfiel. »Was die Rasse angeht – er ist eine Landplage.« Sturm schien es nichts auszumachen, dass sie ihn so unsanft umgeworfen hatte. Mit heraushängender Zunge rollte er sich auf den Rücken, streckte alle viere in die Luft und sah erwartungsvoll zu Vicki hoch.
»Du willst, dass ich dir den Bauch kraule, was?«
»Sturm.« Henrys Befehl brachte das Tier vom Boden hoch. Es stand da und sah sehr verdrossen aus.
Vicki sah Henry erstaunt an. Was war denn los mit ihm?
»Vielleicht«, er begegnete Vickis Blick, dann ließ er den seinen über Rose und den Hund schweifen, »sollten wir zur Sache kommen.«
Nicki merkte, dass sie auf die Couch zuging, ohne bewusst die Entscheidung getroffen zu haben, sich zu bewegen. Sie hasste es, wenn er das tat, sie hasste es, wie sie darauf reagierte und sie hasste es, sich nicht sicher zu sein, ob es der Vampir oder der Prinz war, auf den sie reagierte – irgendwie schien es weniger verwerflich zu sein, sich einer übernatürlichen Fähigkeit zu unterwerfen, als einem mittelalterlichen Westentaschendiktator nachzugeben. Seine untote Hoheit und ich werden eine kleine Unterhaltung darüber führen müssen …
Sie warf ihre Tasche hin, lehnte sich in die rote Samtpolsterung zurück und sah zu, wie Rose es sich im Sessel gemütlich machte und Sturm sich ihr zu Füßen auf den Boden warf. Er sah herrlich aus auf dem cremefarbenen Teppich, aber das rotbraune Fell biss sich ein wenig mit dem Scharlachrot des Sessels. Henry legte ein jeansbekleidetes Bein auf die Armlehne der Couch und ließ sich neben ihr nieder, so nah, dass Vicki einen Moment lang nur noch ihn bemerkte.
»Es ist noch zu früh, Vicki, du hast viel Blut verloren.«
Sie war errötet. Es war ihr nie in den Sinn gekommen, dass er nicht mit ihr … darauf lief es doch hinaus, oder? »Sie haben das meiste im Krankenhaus ersetzt. Wirklich.«
»Ich glaube dir.« Henry hatte gelächelt, und sie hatte plötzlich die im Treppenhaus verfügbare Luftmenge als nicht ausreichend empfunden.
Er hatte mehr als 450 Jahre Zeit, um dieses Lächeln zu üben, hatte sie sich selbst ermahnt. Los, atme!
»Wir müssen sehr vorsichtig sein«, hatte er hinzugesetzt und ihr die Hände leicht auf die Schultern gelegt. »Ich will dich schließlich nicht verletzen.« Es hatte so sehr wie ein Dialog aus einer schlechten Seifenoper geklungen, dass Vicki gegrinst hatte.
»Solange du dich nur daran erinnerst, dass ich keine paar hundert Jahre habe«, hatte sie entgegnet und nach ihren Schlüsseln gekramt, »werde ich versuchen, dich nicht zu drängen.« Das war vor fast vier Monaten gewesen, als sie nach ihrem Krankenhausaufenthalt zum ersten Mal miteinander ausgegangen waren – und sie hatten immer noch nicht.
Vicki hatte versucht, geduldig zu sein, aber es gab Zeiten – und so nah, wie er jetzt bei ihr saß, war dies eine davon –, in denen sie ihm die Füße wegtreten und ihn zu Boden zerren wollte. Mit einiger Anstrengung gelang es ihr, sich auf die anstehende Angelegenheit zu konzentrieren.
Da jeder darauf zu warten schien, dass sie etwas sagte, setzte sie ihre beste Freund-und-Helfer-Miene auf und wandte sich an Rose. »Wozu brauchen Sie meine Hilfe?«
Erneut warf Rose Henry einen Blick zu. Vicki sah dessen Reaktion zwar nicht, doch sie schien die jüngere Frau zu beruhigen, denn sie holte Luft, strich ihr Haar mit zitternden Fingen aus dem Gesicht und sagte: »Im letzten Monat hat jemand zwei Mitglieder unserer Familie erschossen.« Sie musste sich unterbrechen und ihren Kummer herunterschlucken, ehe sie fortfuhr: »Wir brauchen Ihre Hilfe, Miss Nelson, um den Mörder zu finden.«
Mord. Nun, das war eindeutig ein wenig ernster, als Vicki erwartet hatte – und ein Doppelmord noch dazu. Sie schob ihre Brille hoch und dämpfte ihre Stimme voll Anteilnahme, als sie fragte: »Hat die örtliche Polizei keine Spuren gefunden?«
»Sie weiß nichts davon.«
»Was meinen Sie mit: ›Sie weiß nichts davon‹?« Vicki konnte sich verschiedene mögliche Bedeutungen vorstellen, und keine davon gefiel ihr besonders.
»Warum zeigst du es ihr nicht, Rose«, schlug Henry ruhig vor. Vicki fuhr herum, um ihn anzusehen, da ihr peripheres Sehvermögen zu schlecht war, um ihr den Luxus zu gestatten, ihn aus dem Augenwinkel zu betrachten. Seine Miene passte zu seinem Tonfall. Was immer Rose ihr zeigen sollte, war wichtig. Besorgt drehte sie sich um. Rose, die auf ihre Aufmerksamkeit gewartet hatte, schlüpfte aus ihren Sandalen und stand auf. Sturm trottete neben sie, nachdem er kurz an den Sandalen geschnüffelt hatte. Mit einer raschen Bewegung streifte sie das Strandkleid ab, stand einen Herzschlag lang nackt da, und dann waren da, wo eine weißblonde junge Frau und ein großer rotbrauner Hund gestanden hatten, ein rothaariger junger Mann und eine große weiße Hündin. Der junge Mann hatte starke Ähnlichkeit mit der jungen Frau: Beide besaßen die gleichen hohen Wangenknochen, die gleichen großen Augen, das gleiche spitze Kinn und den gleichen biegsamen Tänzerkörper, wie Vicki mit einem raschen Blick auf den augenscheinlichen Unterschied bemerkte.
»Werwölfe«, hörte sie sich sagen, verblüfft über ihre Ruhe. Wahrscheinlich Henrys Einfluss. Das kommt davon, wenn man mit Vampiren abhängt … das soll der Kerl mir büßen.
Der junge Mann zwinkerte ihr völlig unbeirrt von ihrer Musterung und seiner Nacktheit zu.
Vicki war ziemlich durcheinander, besonders, als sie sich erinnerte, wie sie den Hund behandelt hatte – nein, den Wolf. Den Werwolf. Oh, zum Teufel! Sie merkte, wie sie errötete und wandte kurz den Blick ab. Als sie wieder hinschaute, stellte sie fest, dass sie den Augenblick der Verwandlung verpasst hatte und Rose ihr Kleid wieder über den Kopf zog. Der junge Mann – Sturm? – zog ergeben ein Paar leuchtend blaue Shorts an, die das Nötigste bedeckten.
Als er ihren Blick spürte, sah er auf, lachte und trat mit ausgestreckter Hand vor. »Hi. Ich glaube, eine weitere Vorstellung wäre angebracht. Peter.«
»Hi.« Offenbar änderten die Namen sich mit der Gestalt. Wie betäubt nahm Vicki die angebotene Hand. Sie hatte die gleichen dicken Schwielen wie Roses Hand. Das ergab tatsächlich Sinn, weil sie zeitweise auf allen vieren herumrannten. »Sie sind Roses Bruder?«
»Wir sind Zwillinge.« Er grinste, und das erinnerte Vicki so sehr an den Gesichtsausdruck, den der rotbraune Hund gehabt hatte, dass sie merkte, wie sie zurückgrinste. »Sie ist älter, ich bin hübscher.«
»Lauter«, korrigierte Rose und machte es sich wieder im Sessel gemütlich. »Komm, setz dich.« Mit dem Ausdruck eines Märtyrers tat Peter, wie ihm geheißen, ließ sich anmutig auf dem gleichen Fleck, den er als Sturm eingenommen hatte, nieder und lehnte seinen Rücken gegen die Knie seiner Schwester.
»Wir entschuldigen uns für die Theatralik, Miss Nelson«, fuhr diese fort, »aber Henry meinte, es sei der beste Weg, es Ihnen zu zeigen. Er meinte, Sie …«
Sie zögerte, und Henry beendete gewandt den Satz: »… dass du ein Mensch bist, der seinen eigenen Augen traut.«
Vicki vermutete, dass er das als Kompliment meinte, also begnügte sie sich mit einem Schnauben und einem mäßig sarkastischen: »Du musst es ja wissen.«
»Sie werden uns helfen, nicht?« Peter beugte sich vor und legte die Hand leicht auf Vickis Knie. Es lag nichts Sexuelles in der Geste, und der Gesichtsausdruck, der sie begleitete, zeigte eine Kombination aus Sorge und Hoffnung.
Werwölfe. Vicki seufzte. Erst Vampire und Dämonen, jetzt Werwölfe. Was kommt als Nächstes? Sie schlug die Beine übereinander, schüttelte Peters Hand ab und lehnte sich bequem zurück. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde dies eine lange Geschichte werden. »Vielleicht sollten Sie besser von vorne beginnen.«
»Von vorne«, wiederholte Rose, und ihre Betonung verwandelte die Äußerung in eine Frage. Sie seufzte und schob eine Strähne hellen Haars aus dem Gesicht. »Es begann wohl mit der Erschießung Silbers.«
»Silber?«, fragte Vicki. Sie hatte das Gefühl, wenn sie jetzt nicht höllisch aufpasste, würde sie schnell gar nichts mehr verstehen.
»Unsere Tante«, begann Rose, doch Peter unterbrach sie, als er Vickis Miene bemerkte.
»Wir haben zwei Namen«, erläuterte er. »Einen pro Gestalt.« Er legte eine Hand mit kurzen Fingern auf die braun gebrannten Muskeln seiner Brust. »Dies ist Peter, aber an der Tür hat Sturm Sie begrüßt, und Rose heißt in ihrer Fellgestalt Wolke. Es ist einfacher, als Außenstehenden zu erklären, warum die Hofhunde dieselben Namen tragen wie die Familienmitglieder.«
»Das kann ich mir vorstellen«, stimmte Vicki zu und freute sich, dass er ihre Vermutung bestätigt hatte. »Aber ist das nicht etwas verwirrend?«
Peter zuckte die Achseln. »Warum? Sie haben doch auch mehr als einen Namen. Sie sind für manche Miss Nelson, für andere Vicki, und Sie finden das nicht verwirrend.«
»Nein, gewöhnlich nicht«, gab ihm Vicki recht. »Also, jemand hat Ihre Tante in ihrer … äh, Wolfsgestalt erschossen.« Man nannte sie Werwölfe, also war Wolf wahrscheinlich die bevorzugte Bezeichnung. Es schien auf jeden Fall akzeptabler zu sein als Hund. Wenn man bedenkt, dass ich mir, ehe Henry in mein Leben trat, über solche Dinge nicht den Kopf zerbrechen musste … Sie musste ihm bei Gelegenheit dafür danken.
»Stimmt.« Peter nickte. »Unsere Familie hat eine große Schaffarm direkt nördlich von London, Ontario …«
Die Pause reizte Vicki zu einer Bemerkung, doch sie behielt ihre höflich interessierte Miene bei und schwieg.
»… und jemand hat Silber erschossen, als sie nach der Herde sah.«
»Nachts?«
»Ja.«
»Wir erwogen, die Polizei zu informieren, dass jemand einen unserer Hunde erschossen hat«, fuhr Rose fort. »Davon gingen wir zunächst auch aus: irgendein Blödmann mit einem Gewehr, der nicht wissen konnte, dass sie mehr als das war. So etwas passiert, Leute verlieren ständig Hunde.« Ihre Stimme brach bei den letzten Worten, und Peter stieß mit dem Kopf gegen ihre Knie. Berührungen schienen ihnen wichtig zu sein, bemerkte Vicki.
Rose fuhr Peter mit den Fingern durchs Haar und fuhr fort: »Aber das Letzte, was wir brauchen können, ist die Polizei, die herumschnüffelt, Fragen stellt und, Sie wissen schon, Dinge sieht. Daher beschloss die Familie, allein damit fertig zu werden.« Peter bleckte die Zähne. Sie waren lang, weiß und der am wenigsten menschliche Zug an ihm.
Wenn »die Familie« Silbers Mörder gefangen hätte, wurde Vicki klar, dann hätte Gerechtigkeit wenig mit Gesetz und Gerichten zu tun gehabt. Vor einem Jahr noch hätte diese Vorstellung sie abgestoßen, aber vor einem Jahr hatte sie auch noch eine Polizeimarke gehabt, und die Dinge waren wesentlich einfacher gewesen. »Was haben Sie den Leuten erzählt, die fragten, wohin Ihre Tante Sylvia verschwunden sei?«
»Sie habe beschlossen, sich Onkel Robert in Yukon anzuschließen. Sie hatte schon immer darüber gesprochen, daher war niemand überrascht. Tante Nadine – sie war Sylvias Zwillingsschwester …« Rose schluckte wieder schwer, und Peter drückte sich näher an sie. »Sie ließ sich ein Weilchen nicht sehen. Die Bande zwischen Zwillingen sind bei uns sehr stark, und sie musste dauernd heulen. Doch dann schoss Montagnacht jemand Ebenholz – Onkel Jason – in den Kopf, als er nach den Mutterschafen mit den Herbstlämmern sah. Niemand hörte etwas, und wir konnten nirgends eine Fährte aufnehmen.«
»Hochgeschwindigkeitsgewehr, wahrscheinlich Schalldämpfer und Zielfernrohr«, vermutete Vicki. Sie runzelte die Stirn. »Hört sich nach einem Mordsschützen an: ein bewegliches Ziel bei Nacht zu treffen …«
»Montag war Vollmond«, warf Henry ein. »Es gab viel Licht.«
»Spielt bei einem Zielfernrohr keine Rolle – und es war kein Vollmond, als Silber starb.« Vicki schüttelte den Kopf. »Ein Schuss wie dieser, zwei Schüsse …«
»Das ist noch nicht alles«, unterbrach Rose und warf Vicki etwas zu. »Vater fand das in der Nähe der Leiche.«
Vicki schnappte danach, doch der kleine Metallklumpen landete in ihrem Schoß. Während sie im Stillen ihren Mangel an Tiefenwahrnehmung verfluchte, wühlte sie in den Falten ihrer Shorts, und als sie es herausfischte, starrte sie verblüfft auf das hinunter, was es einzig und allein sein konnte – trotz des verbeulten Aussehens: eine Silberkugel. Sie biss die Zähne zusammen und schluckte ihre instinktive Reaktion hinunter: Der Lone Ranger hatte den Onkel der beiden erschossen?
Henry griff ihr über die Schulter, fischte den matt schimmernden Gegenstand von ihrer Handfläche und hielt ihn zwischen Daumen und Zeigefinger ins Licht. »Eine Silberkugel«, erklärte er, »eine der traditionellen Arten, um Werwölfe zu töten. Ein Mythos. Die Kugel reicht völlig aus.«
»Kann ich mir vorstellen.« Ein Schuss mit Kaliber 30 … Vicki wusste, dass die Kugel zumindest diese Größe gehabt haben musste, um überhaupt noch eine Form zu haben, nachdem sie Fleisch und Knochen durchbohrt hatte und dann in den Boden eingeschlagen war. Abgeschossen aus einem Hochgeschwindigkeitsgewehr, hatte sie nach ihrem Durchschlag zweifellos nur sehr wenig von Ebenholz’ Kopf übriggelassen. Sie wandte sich wieder Rose und Peter zu, die sie ausdruckslos beobachtet hatten. »Ich nehme an, dass Sie eine ähnliche Kugel bei der Leiche Ihrer Tante nicht gefunden haben, sonst hätten Sie es erwähnt?«
Rose sah düster auf ihren Bruder hinunter, dann schüttelten beide den Kopf.
»Egal. Selbst ohne Kugel deutet das Muster auf denselben Schützen hin.« Vicki seufzte, beugte sich vor und stützte die Unterarme auf die Oberschenkel. »Noch etwas, worüber man nachdenken muss: Wer auch immer Ebenholz erschossen hat, schoss gezielt auf Werwölfe. Wenn einer weiß, was Sie sind, wissen es auch andere. Das ist ein Fakt. Diese Todesfälle könnten die Folge einer …«
»Hexenjagd sein«, ergänzte Henry ruhig, als sie innehielt.
Sie nickte und fuhr fort, ohne den Blick von den Zwillingen abzuwenden. »Sie sind anders, und das ängstigt die meisten Leute. Sie könnten ihre Angst an Ihnen auslassen.«
Peter tauschte einen langen Blick mit Rose. »Es muss nicht so kompliziert sein«, sagte er. »Unser älterer Bruder Colin gehört der Londoner Polizei an, und Barry, sein Partner, weiß, dass er ein Werwolf ist.«
»Ist sein Partner Scharfschütze?« Alles in allem war die Idee nicht abwegig. Ebenso wenig war es undenkbar, dass besagter Partner ein Gewehr Kaliber 30 besaß, denn in jeder beliebigen Kleinstadt hatten mindestens sechs Leute eines davon. Die beiden nickten. Vicki seufzte tief. »Übel. Hat Ihr Bruder ihn zur Rede gestellt?«
»Nein, Onkel Stuart wollte das nicht. Er sagte, das Rudel löst seine Probleme selbst. Tante Nadine überzeugte ihn, Henry anzurufen, und der überredete beide, uns zu Ihnen schicken, weil Sie vielleicht unsere einzige Chance sind. Werden Sie uns helfen? Onkel Stuart sagte, wir sollen alles tun, was Sie verlangen.«
Peters Hand lag wieder auf ihrem Knie, und er sah so flehentlich zu ihr auf, dass sie ohne nachzudenken sagte: »Sie wollen, dass ich herausfinde, dass Barry es nicht getan hat.«
»Wir wollen, dass Sie herausfinden, wer es war«, korrigierte Rose. »Wer immer es war.« Dann schimmerte für einen Augenblick die Angst durch. »Jemand tötet uns, Miss Nelson. Ich will nicht sterben.«
So kehren wir zurück aus dem Reich des Fantastischen und schlagen hart in der Realität auf. »Ich will auch nicht, dass Sie sterben«, erklärte Vicki leise. »Aber ich bin vielleicht nicht die geeignete Person für diese Aufgabe.« Sie schob ihre Brille hoch und holte tief Luft. Beide Todesfälle hatten sich nachts ereignet, und ihre Augen erlaubten ihr nicht, nach Einbruch der Dunkelheit zu arbeiten. Es war schon in der Stadt schlimm genug, aber auf dem Land, ohne Straßenlaternen, an denen sie sich orientieren konnte, würde sie blind sein. Andererseits, welche andere Chance hatten sie? Sicher war sie besser als nichts, und ihr mangelndes Sehvermögen beeinträchtigte schließlich nicht ihren Verstand, ihre Ausbildung oder ihre Jahre an Erfahrung – und dies war eine wesentliche Aufgabe, es ging um Leben und Tod. Die Art von Aufgabe, die Mike immer noch hatte. Verdammt! Sie konnte trotz ihrer Behinderung arbeiten.
»Ich kann nicht sofort los.« Die Erleichterung, die sich gemischt mit Hoffnung auf den Gesichtern der beiden abzeichnete, verriet ihr, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. »Leider habe ich unaufschiebbare Termine. Wie wäre es mit Freitag?«
»Freitagabend«, warf Henry ein. »Nach Sonnenuntergang. Inzwischen wird niemand allein irgendwohin gehen. Niemand! Sowohl Ebenholz als auch Silber sind gestorben, als sie allein waren, und das ist der Teil des Musters, den ihr beeinflussen könnt. Sorgt dafür, dass der Rest der Familie das versteht. Bleibt in Sichtweite des Hauses. Bleibt, genau genommen, soweit es euch möglich ist, in Sichtweite von jemandem, der kein Werwolf ist. Unser Täter zählt darauf, dass ihr euch niemandem anvertrauen könnt, und solange es Zeugen gibt, solltet ihr sicher sein. Habe ich etwas vergessen, Vicki?«
»Ich glaube nicht.« Er hatte vergessen, sie nach ihrer Meinung zu fragen, ehe er mit seiner kleinen Rede begonnen hatte, aber das würden sie später besprechen. Dass er sie begleiten würde, löste ihr Transportproblem und schuf alle möglichen neuen, um die sie sich kümmern musste – auch später. Sie freute sich nicht auf »später«.
»Während der nächsten beiden Tage«, erklärte sie den Zwillingen, »möchte ich, dass Sie mir eine Liste machen – genau genommen zwei: die Leute, die wissen, was Sie sind, auf der einen, und die, die es vermuten könnten, auf der anderen. Holen Sie sich dazu Informationen bei jedem in der Familie.«
»Kein Problem.« Peter stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und sprang auf. Offenbar hatte die Tatsache, dass sie und Henry zusammenarbeiteten, sie nicht überrascht. Vicki fragte sich, was Henry ihnen erzählt hatte. »Gleich als Erstes morgen früh«, sie wickelte die Kugel in Papiertaschentücher und verstaute sie in einem der kleinen Gefrierbeutel, die sie immer in der Handtasche hatte, »werde ich die hier zur Ballistik bringen und sehen, ob sie mir etwas über die Waffe sagen können, aus der sie kam.«
»Aber Colin hat gesagt …«, begann Rose.
Vicki schnitt ihr das Wort ab. »Er hat gesagt, das würde zu peinlichen Fragen führen. Nun, das würde es in London, und angesichts der Situation Ihrer Familie ist das nichts, worüber Sie Tratsch brauchen können. Gute Polizisten erinnern sich an jede noch so winzige Information, und wenn Colin Silberkugeln herumreicht, könnte das zu Ihrer Entlarvung führen. Aber«, sie ließ größtmögliche Beruhigung in ihrer Stimme mitschwingen, »dies ist Toronto. Wir haben eine wesentlich höhere Verbrechensrate, und die Tatsache, dass ich eine Silberkugel herumreiche, hätte nicht die Bohne zu bedeuten, selbst wenn jemand sich daran erinnern sollte.«
Sie machte eine Pause, um Luft zu holen, und stopfte den kleinen Plastikbeutel mit den Papiertaschentüchern und der Kugel tief in eine sichere Ecke ihrer Handtasche. »Erwarten Sie jedoch nicht zu viel, das Ding ist in einem fürchterlichen Zustand.«
»Das werden wir nicht. Wir werden Tante Nadine sagen, dass sie Sie Freitagnacht erwarten kann.« Peter lächelte sie mit so tiefer, inniger Dankbarkeit an, dass Vicki sich wie ein Miststück fühlte, weil sie auch nur erwogen hatte, den Werwölfen nicht zu helfen. »Danke, Miss Nelson.«
»Ja, danke.« Rose stand auch auf und fügte Peters Strahlen ihr stilles Lächeln hinzu. »Wir wissen das sehr zu schätzen. Henry hatte recht.« Womit Henry diesmal recht gehabt hatte, ging unter, weil Peter seine Shorts abstreifte. Vicki hätte eigentlich darauf gefasst sein müssen, aber für einen Augenblick lenkte der nackte junge Mann sie ein wenig ab. Das Wiedererscheinen Sturms war eine echte Hilfe. Er schüttelte sich energisch und rannte Richtung Tür.
»Warum …«, begann Vicki.
Rose verstand, was sie meinte, und grinste. »Weil er es liebt, beim Autofahren den Kopf aus dem Fenster zu strecken.« Sie seufzte, während sie die Shorts wieder in die Tasche stopfte. »Sturm ist ein lausiger Beifahrer.«
»Er scheint begierig zu sein wegzukommen.«
»Wir hassen die Stadt«, erklärte Rose und rümpfte die Nase. »Sie stinkt. Nochmals danke, Miss Nelson. Bis Freitag.«
»Gern geschehen.« Sie sah zu, wie Henry Rose zur Tür begleitete, sie ermahnte, vorsichtig zu sein, und dann zurückkam. Seine Miene schob die Anklage über seine Anmaßung, die sie eigentlich erheben wollte, auf. »Was ist?«
Er hob die rotgoldenen Brauen. »Jemand ermordet meine Freunde«, erinnerte er sie flüsternd.
Vicki errötete. »Es tut mir leid«, entschuldigte sie sich. »Es ist schwer, das inmitten all dieser«, sie machte eine Handbewegung, während sie nach dem passenden Wort suchte, »Merkwürdigkeiten nicht aus den Augen zu verlieren.«
»Es ist aber wichtig, das muss im Auge zu behalten.«
»Ich weiß.« Sie zwang sich, nicht griesgrämig zu klingen. Es hätte nicht nötig sein dürfen, dass er sie daran erinnerte. »Du hast nie auch nur einen Augenblick geglaubt, ich könnte Nein sagen, nicht wahr?«
»Ich habe dich im Laufe der letzten Monate kennengelernt.« Seine Miene wurde weicher. »Du magst es, wenn jemand dich braucht, und das tun sie, Vicki. Es gibt nicht viele Privatdetektive, denen sie das anvertrauen könnten.«
Das war sicher wahr. Was ihr Bedürfnis anging, gebraucht zu werden, so war das nur eine witzige Bemerkung, die sie leicht ignorieren konnte. »Sind alle Werwölfe so«, sie suchte nach dem richtigen Wort, »beherrscht? Wenn meine Familie das durchmachen würde, was ihre gerade durchmacht, wäre ich ein emotionales Wrack.«
Das bezweifelte er, aber die Frage verdiente eine Antwort. »Von Kindesbeinen an lernen Werwölfe zu verbergen, was sie sind, nicht nur körperlich. Zum Besten des Rudels zeigt man Fremden nie seine Verwundbarkeit. Du solltest dich geehrt fühlen, dass du so viel zu sehen bekommen hast. Außerdem neigen Werwölfe dazu, viel mehr in der Gegenwart zu leben als Menschen. Sie betrauern die Toten, dann leben sie weiter. Aber sie tragen nicht die Last des Gestern, sie erwarten nicht das Morgen.«
Vicki schnaubte. »Wie poetisch. Aber dadurch sind sie fast unfähig, mit solchen Situationen umzugehen, oder?«
»Darum sind sie zu dir gekommen.«
»Was, wenn ich nicht da gewesen wäre?«
»Dann wären sie alle gestorben.«
Vicki runzelte die Stirn. »Warum kannst du sie nicht retten?«
Er ging zu seinem üblichen Platz am Fenster und lehnte sich ans Glas. »Weil sie sich von mir nicht helfen lassen.«
»Weil du Vampir bist?«
»Weil Stuart nicht dulden würde, dass jemand seine Autorität derart infrage stellt. Wenn er das Rudel nicht retten kann, dann kann ich es auch nicht. Du bist eine Frau, du bist Nadines Problem, und Nadine ist im Augenblick niedergeschmettert durch den Verlust ihrer Schwester. Wenn du eine Werwölfin wärst, könntest du ihr wahrscheinlich jetzt ihren Rang abnehmen, aber da du das nicht bist, solltet ihr beide miteinander auskommen.«
Er schüttelte den Kopf über ihre Miene. »Du kannst sie nicht mit menschlichen Maßstäben messen, Vicki, egal wie menschlich sie die meiste Zeit auch wirken mögen. Es ist zu spät, jetzt noch einen Rückzieher zu machen. Du hast Rose und Peter gesagt, dass du ihnen helfen wirst.«
Sie hob das Kinn. »Siehst du Anzeichen dafür, dass ich einen Rückzieher machen will?«
»Nein.«
»Richtig, das werde ich nicht.« Vicki holte tief Luft. Sie hatte mit dem Stadtrat von Toronto zusammengearbeitet, sie konnte auch mit Werwölfen zusammenarbeiten. Bei Letzteren würde das Knurren und Schnappen zumindest etwas bedeuten. Genau genommen würden die Werwölfe wohl das Geringste ihrer Probleme werden. »Es könnte Probleme geben, wenn ich den Fall übernehme.«
»Wie die Tatsache, dass du kein Auto fährst.«
Sie hörte das Lächeln in seiner Stimme. »Nein. Echte Probleme.«
Er drehte sich um und breitete die Arme aus. Die Bewegung ließ sein Haar im Lampenlicht golden schimmern. »Erklär’s mir.«
Retinitis Pigmentosa. Ich erblinde, sehe nachts nichts, habe beinahe kein peripheres Sehvermögen. Sie konnte es nicht sagen. Mit Mitleid konnte sie nicht umgehen. Nicht von Henry. Nicht nach dem, was sie mit Mike Celluci durchgemacht hatte. Scheiß drauf! Sie schob ihre Brille hoch und schüttelte den Kopf.
Henry ließ die Arme sinken. Als die Stille unbehagliche Ausmaße annahm, sagte er: »Ich hoffe, es macht dir nichts aus, dass ich mich selbst eingeladen habe. Ich fand, wir waren das letzte Mal ein ziemlich gutes Team, und ich dachte, du könntest ein wenig Hilfe gebrauchen, um mit den … Merkwürdigkeiten klarzukommen.«
Sie brachte ein fast echtes Lachen zustande. »Ich arbeite tagsüber, und du übernimmst die Nacht?«
»Wie beim letzten Mal.« Er lehnte sich an das Glas und beobachtete, wie sie sich das durch den Kopf gehen ließ und daran zu knabbern hatte. Sie war eine der dickköpfigsten, streitlustigsten und selbstbewusstesten Frauen, die er in 450 Jahren kennengelernt hatte, und er wünschte, sie würde sich ihm anvertrauen.
Was immer das Problem auch war, sie könnten gemeinsam eine Lösung finden, denn es konnte nicht groß genug sein, um sie davon abzuhalten, alles, was sie hatte, für den Fall einzusetzen. Er würde es nicht zulassen. Seine Freunde starben.
»Ich will nicht sterben, Miss Nelson.«
Ich will auch nicht, dass Sie sterben, Rose. Sie nagte an ihrer Unterlippe. Wenn sie zusammenarbeiteten, würde er es entdecken. Vicki musste entscheiden, ob das wichtiger war als das fortgesetzte Sterben Unschuldiger. So gesehen war das keine echte Wahl, nicht wahr? Wenn sie allein nicht ihre größte Chance war, so waren sie und Henry es zusammen. Scheiß drauf, wir werden einen Weg finden!
Henry sah, wie ihre Miene sich veränderte, und lächelte.
Im Laufe seiner langen Existenz hatte er gelernt, Menschen zu lesen, die zarten Nuancen zu registrieren, die ihre geheimsten Gedanken widerspiegelten. Die meiste Zeit gab Vicki sich nicht mit Nuancen ab. Ihre Gedanken waren so einfach zu lesen wie eine Anschlagtafel.
»Freitag nach Sonnenuntergang. Du kannst mich abholen.«
Er verneigte sich, und das begleitende Lächeln nahm den Spott aus dieser Geste. »Wie die Dame befiehlt.« Vicki erwiderte das Lächeln, dann gähnte sie und streckte sich, den Rücken durchgedrückt und die Arme auf dem roten Samt ausgebreitet.
Henry beobachtete den Puls an ihrem Halsansatz. Er hatte seit drei Nächten nicht getrunken, und der Hunger wuchs. Vicki wollte ihn. Er roch ihr Verlangen die meiste Zeit, wenn sie zusammen waren, hatte sich aber wegen des Blutverlusts, den sie im Frühling erlitten hatte, zurückgehalten – und, wie er zugeben musste, weil er wollte, dass der Zeitpunkt gut gewählt war. Das eine Mal, als er von ihr getrunken hatte, war ein so hektischer Notfall gewesen, dass ihr all die zusätzlichen Freuden entgangen waren, die es für beide beteiligten Parteien mit sich bringen konnte.
Der Duft ihres Lebens erfüllte die Wohnung, und Henry trat auf sie zu, wobei er seinen Schritt ihrem Herzschlag anpasste. Als er die Couch erreichte, streckte er die Hand aus.
Vicki ergriff sie und zog sich hoch. »Danke dir.« Sie gähnte wieder und ließ ihn los, um sich die Faust vor den Mund zu halten.
»Mann, bin ich kaputt. Du würdest nicht glauben, wann ich heute Morgen aufgestanden bin, und dann habe ich den ganzen Tag damit verbracht, praktisch zwei Jobs in einer Fabrik zu machen, in der es bestimmt 80 Grad Celsius hatte.« Sie hängte sich ihre Tasche über die Schulter und ging zur Tür. »Du musst mich nicht hinausbringen. Ich erwarte dich Freitag nach Sonnenuntergang.« Sie winkte und war verschwunden.
Henry öffnete den Mund, um zu protestieren, schloss ihn, öffnete ihn wieder und seufzte.
Bis der Aufzug die Lobby erreichte, war es Vicki gelungen, mit Lachen aufzuhören. Henrys erschütterte Miene war unbezahlbar gewesen, und sie hätte ein Jahr ihres Lebens dafür gegeben, einen Fotoapparat zu haben. Wenn seine untote Hoheit glaubt, er habe die Lage unter Kontrolle, dann hat er sich geschnitten. Es hatte sie fast mehr Willenskraft gekostet, als sie besaß, diese Wohnung zu verlassen, aber das war es wert gewesen.
»Fang so an, wie du auch weitermachen willst«, flüsterte sie und wischte sich die schweißnassen Hände an den Shorts ab. »Vielleicht haben Moms alte Sprichwörter mehr Wert, als ich dachte.« Sie lächelte, als sie ins Taxi stieg, immer noch berauscht vom Sieg. Dann lehnte sie sich zurück und schaute hoch zu den unscharfen Rechtecken aus Licht, aus denen das Gebäude zu bestehen schien. Sie sah ihn nicht, konnte noch nicht einmal mit Sicherheit sagen, welches der hell erleuchteten Fenster Henrys war. Aber er war dort oben. Schaute auf Vicki herab. Wollte sie. So, wie sie ihn wollte – und sie fühlte sich wie eine Teenagerin, deren Hormone gerade verrücktspielten.
Warum zum Teufel war sie dann nicht da oben bei ihm?
Sie ließ den Kopf gegen das stinkende Leder des Sitzes sinken und seufzte. »Ich bin so eine Idiotin.«
»Vielleicht«, stimmte der Taxifahrer zu und drehte sich mit einem Grinsen um, das seine Goldzähne zeigte. »Wollen Sie eine fahrende Idiotin sein? Der Taxameter läuft.«
Vicki starrte ihn an. »Huron Street«, knurrte sie. »Südlich vom College. Fahren Sie.«
Der Taxifahrer schnaubte verächtlich und sah wieder nach vorn. »Bloß weil Sie kein Glück in der Liebe haben, Lady, ist das kein Grund, es an mir auszulassen.« Das Brummen des Taxifahrers mischte sich mit dem Verkehrslärm, und den ganzen Weg die Bloor Street hinunter spürte Vicki Henrys Blick heiß im Nacken. Es würde eine lange Nacht werden.
Die Kassette war zu Ende, und Rose fummelte ohne Erfolg zwischen den Sitzen nach einer neuen. Die lange Fahrt von Toronto zurück hatte sie steif werden lassen, müde und zu angespannt, um die Augen von der Straße zu nehmen – selbst wenn es nur ein leeres Stück Kies kaum einen Kilometer von daheim entfernt war. »He!« Sie knuffte Peter in den Rücken. »Warum machst du dich nicht nützlich und suchst … Sturm, halt dich fest!« Sie stieg voll auf die Bremse. Das Heck des Wagens schlingerte, und das Lenkrad wand sich wie ein lebendiges Wesen unter ihren Händen. Sie kämpfte darum, die Kontrolle zurückzubekommen, und war sich vage bewusst, dass Peter, nicht Sturm, sich neben ihr festklammerte. Wir werden es nicht schaffen! Der Schatten, den sie auf der Straße gesehen hatte, rückte drohend näher, wurde dunkler.
Näher. Dunkler.
Dann, gerade als sie glaubte, sie könnten rechtzeitig anhalten und die Erleichterung ihrem Herz wieder erlaubte zu schlagen, traf die vordere Stoßstange den Schatten.
Gut. Sie waren beide unversehrt. Es war nicht Teil seines Plans, dass sie bei einem Autounfall starben. Schade, dass ihn die Änderung der Windrichtung von seinem gewöhnlichen Jagdrevier fernhielt, aber es war nicht notwendig, ganz aufzugeben. Er legte die Wange gegen das Gewehr und beobachtete die Szene, die sich abspielte, durch das Zielfernrohr. Sie waren fast daheim. Einer von ihnen würde Hilfe holen und den anderen zurücklassen.
»Ich vermute, Dad hatte die ganze Zeit recht. Dieser alte Baum ist verrottet. Direkt am Wurzelstock abgefault.« Peter hockte auf dem Stamm und sah im Scheinwerferlicht wie ein rothaariger Puck aus. »Glaubst du, wir können ihn bewegen?«
Rose schüttelte den Kopf. »Zu zweit nicht. Lauf heim und hol Hilfe. Ich warte hier.«
»Warum gehen wir nicht zusammen?«
»Weil ich das Auto nicht hier stehen lassen will.« Sie schob wieder das Haar aus dem Gesicht. »Es sind nur fünf Minuten zu Fuß. Es wird mir schon nichts passieren. Himmel, du bist in letzter Zeit so überfürsorglich.«
»Bin ich nicht! Es ist nur …« Sie hörten zur selben Zeit, wie sich ein Pick-up näherte, und einen Herzschlag später gingen Rose und Storm ums Auto herum, um ihm entgegenzutreten. Nur die Farm der Heerkens grenzte an diese Straße. Nur die Heerkens fuhren bei Nacht hier. Sein Griff schloss sich fester um das schweißnasse Metall.
»Sie teeren hinter der Kreuzung. Stinkt wie sonst was.« Frederick Kleinbein zog seine Hose über die Wölbung seines Bauchs und strahlte Rose an. »Ich hab ’nen langen Umweg in Kauf genommen, um dem Gestank zu entgehen. Gut, was? Wir nehmen die Kette vom Laster, binden sie um ’n Baum und ziehen das Ding an den Straßenrand.« Er streckte die Hand aus, umfasste sanft Sturms Schnauze und schüttelte seinen Kopf hin und her. »Vielleicht sollten wir dich auch an ’n Baum binden, was? Dann kannst du für deinen Lebensunterhalt mal ’n bisschen arbeiten.«
»Niemand ist so blind wie die, die nicht sehen wollen …« Er würde keine Gelegenheit zum Schießen bekommen.
»Danke, Mr Kleinbein.«
»Ach, wofür denn? Sie haben doch die halbe Arbeit gemacht und der Laster die andere Hälfte.« Er lehnte sich aus dem Fenster und rieb sich mit einem schneeweißen Taschentuch die Stirn. »Sie und der Riesenwelpe da gehen jetzt heim, was? Sagen Sie Ihrem Vater, dass was vom Holz an der Krone noch gut zum Verbrennen is’. Wenn er’s nicht will, ich schon. Sagen Sie ihm auch, dass ich seine Senkgrubenpumpe noch vor Monatsende zurückgebe.«
Rose trat zurück, als er den Gang einlegte, und dann wieder vor, als er noch etwas über den hinzufügte, das sie aufgrund des Motorenlärms nicht verstanden hatte. »Was?« Aber er winkte nur mit seinem kräftigen Arm und war fort.
»Er hat gesagt«, erklärte Peter, sobald das rote Band der Rücklichter verschwunden und es sicher war, sich zu verwandeln, »grüßen Sie Ihren Bruder – und dann hat er gelächelt.«
»Glaubst du, er hat dich gesehen, als er herfuhr?«
»Es ist normal, dass er so etwas sagt. Er kann mich gemeint haben, aber auch Colin. Der hat ihm bei der Heuernte geholfen. Du machst dir zu viele Sorgen.«
»Vielleicht«, gab sie zu, ergänzte aber im Stillen, während Sturm wieder den Kopf aus dem Fenster streckte: Vielleicht auch nicht.
Er blieb, wo er war, und sah zu, wie sie wegfuhren, dann nahm er die Silberkugel aus dem Gewehr und steckte sie ein.
Er würde sie einfach ein andermal verwenden.
»Sind Sie sicher?« Der ältere Mr Glassman klopfte mit einem manikürten Fingernagel auf den Bericht. »Das wird vor Gericht Bestand haben?«