Blutwalzer - Rebecca Michéle - E-Book
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Blutwalzer E-Book

Rebecca Michéle

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Beschreibung

Ein Tanz mit dem Tod: Der fesselnde Krimi »Blutwalzer« von Rebecca Michéle jetzt als eBook bei dotbooks. Eine schnelle Drehung, das Glitzern eines Tanzkleides, ein strahlendes Lächeln: Im Tanzclub von Rottweil wird viel Wert auf perfekte Haltung gelegt und Höchstleistungen um jeden Preis gefordert. Doch dann zerfällt der schöne Schein schlagartig, als die 17-jährige Angeline Schmidt erdrosselt auf dem Parkett aufgefunden wird. Die Kommissare Riedlinger und Mozer stoßen schon bald auf ein Netz aus Lügen, Neid und Intrigen, in das jedes einzelne Mitglied des Tanzvereins verwickelt zu sein scheint. Aber reicht das aus für einen Mord – oder hat der Täter ein anderes Motiv? Als bei der deutschen Meisterschaft in Rottweil eine weitere Tänzerin angegriffen wird, regt sich ein ganz neuer Verdacht ... Jetzt als eBook kaufen und genießen: der packende Schwaben-Krimi »Blutwalzer« von Rebecca Michéle ist der dritte Band in ihrer Reihe um die Kommissare Riedlinger und Mozer, der unabhängig von den anderen gelesen werden kann. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 369

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Über dieses Buch:

Eine schnelle Drehung, das Glitzern eines Tanzkleides, ein strahlendes Lächeln: Im Tanzclub von Rottweil wird viel Wert auf perfekte Haltung gelegt und Höchstleistungen um jeden Preis gefordert. Doch dann zerfällt der schöne Schein schlagartig, als die 17-jährige Angeline Schmidt erdrosselt auf dem Parkett aufgefunden wird. Die Kommissare Riedlinger und Mozer stoßen schon bald auf ein Netz aus Lügen, Neid und Intrigen, in das jedes einzelne Mitglied des Tanzvereins verwickelt zu sein scheint. Aber reicht das aus für einen Mord – oder hat der Täter ein anderes Motiv? Als bei der deutschen Meisterschaft in Rottweil eine weitere Tänzerin angegriffen wird, regt sich ein ganz neuer Verdacht ...

Über die Autorin:

Rebecca Michéle, geboren 1963 in Rottweil in Baden-Württemberg, lebt ihrem Mann in der Nähe von Stuttgart. Seit dem Jahr 2000 widmet sie sich ausschließlich dem Schreiben. Bisher sind mehr als 50 Romane und zahlreiche Kurzgeschichten in verschiedenen Genres erschienen. Rebecca Michéle erobert besonders mit ihren historischen Romanen und Krimis eine große Leserschaft.

Die Personen und die Handlung dieses Romans sind frei erfunden, ebenso die Ortschaft Oberlautern. Eventuelle Übereinstimmungen mit real existierenden Menschen und/oder Geschehnissen wären zufällig und von der Autorin nicht beabsichtigt.

Bei dotbooks erschienen bereits Rebecca Michéles historische Romane»Die zweite Königin«»Die Sängerin des Königs«»Die Melodie der Insel«

sowie ihre historischen Liebesromane»In den Armen des Fürsten«»In den Fesseln des Freibeuters«»In der Gewalt des Ritters«

und die zeitgenössischen Romane»Irrwege ins Glück«»Heiße Küsse im kalten Schnee«»Rhythmus der Leidenschaft«»Heiße Küsse im kalten Schnee«

Darüber hinaus veröffentlichte Rebecca Michéle bei dotbooks die Baden-Württemberg-Krimis»Blutfest«»Narrenblut«

Die Website der Autorin: www.rebecca-michele.de

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eBook-Neuausgabe März 2023

Dieses Buch erschien bereits 2016 unter dem Titel »Damenwahl« beim Silberburg-Verlag.

Copyright © der Originalausgabe 2016 by Silberburg-Verlag GmbH, Schönbuchstraße 48, D-72074 Tübingen.

Copyright © der Neuausgabe 2023 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Milano M, kzww, biinchob chuaynum, Boris Stroujko

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (mm)

ISBN 978-3-98690-212-4

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Rebecca Michéle

Blutwalzer

Ein Baden-Württemberg-Krimi

dotbooks.

Kapitel 1

Das Schwindelgefühl traf sie wie ein Hammerschlag. Die Wände kamen von allen Seiten auf sie zu, und der Boden unter ihren Füßen schwankte wie bei einem Erdbeben. Instinktiv spannte Angeline die Muskeln in ihrer Körpermitte an, verlagerte das Gewicht nach vorne und klammerte sich an den Arm ihres Partners. Durch den Schwung der Drehung verloren sie beide den Halt und stürzten zu Boden. Unsanft landete die junge Frau mit dem Po auf dem Parkett, ihr Partner kam auf ihr zum Liegen.

»Verdammt, spinnst du?« Verärgert rollte Jens sich von ihr herunter. »Kannst du nicht aufpassen? Und halt dich nicht an mir fest, wenn du nicht auf deinen Füßen stehen kannst!«

»Sorry, das war gewiss keine Absicht! Ich bin auf einem Strassstein ausgerutscht«, schwindelte Angeline und rappelte sich mühsam hoch, da er keine Anstalten machte, ihr aufzuhelfen. »Kein Grund, gleich auszuflippen.«

Jens Mauch musterte seine Partnerin unwillig.

»Wenn du im Arm geblieben wärst, so, wie es dir der Küttner schon tausendmal gesagt hat, dann hätte ich dich in der Achse auch halten können. Du bist heute mal wieder schrecklich unkonzentriert. Können wir jetzt weitermachen?«

Angeline klopfte sich den Staub von ihrem schwarzen, knöchellangen Trainingsrock. In ihrem verlängerten Rücken pochte und klopfte es, der Po würde morgen grün und blau sein. An Blutergüsse und Prellungen war die junge Tänzerin jedoch gewöhnt. Stürze und auch immer mal wieder unsanfte Tritte waren sowohl im Training als auch während der Wettkämpfe normal. Bisher hatte sie sich aber noch nie ernsthaft verletzt, und es gab genügend Mittelchen, die Schmerzen zu unterdrücken. Sie sagte Jens besser nicht, dass sie seit ein paar Tagen immer wieder unter unerklärlichem Schwindel litt. Wahrscheinlich hatte sie nur zu wenig getrunken, und jetzt war es auch schon wieder vorbei.

»Deine rechte Seite knickt im Fallaway ab«, konterte sie auf den Vorwurf ihres Tanzpartners. »Ich kann in deinem Arm nur bleiben, wenn du die Seite im Moment des Pivots hochhältst. Auch das hat Küttner dir erst gestern wieder mal gesagt.«

Jens’ dunkle Augenbrauen zogen sich unwillig zusammen. »Klaro, jetzt bin ich mal wieder schuld.« Er nahm ihren Arm und zog sie über das Parkett an den Anfang einer langen Seite in die Ausgangsposition. »Wir machen das gleich noch mal.«

Angeline schielte zur Wanduhr über der Tür. Es war kurz vor Mitternacht. Sie trainierten nun schon seit über vier Stunden. Obwohl ihr nicht mehr schwindlig war, fühlte sie sich erschöpft, und ihre Fußsohlen brannten. Zuerst hatten sie zwei Stunden Gruppentraining gehabt, was Angeline bereits viel abverlangt hatte, danach wollte Jens noch mal alle Anweisungen des Trainers durchgehen, damit diese sich festigen konnten.

»Können wir es für heute nicht gut sein lassen?«, wagte Angeline leise zu fragen. »Ich schreibe morgen eine Chemieklausur. Du weißt, was für eine Niete ich in den Naturwissenschaften bin. Wenn ich diese Arbeit wieder verhaue, komme ich nie über vier Punkte.«

Jens Mauch seufzte und verbarg nicht seinen Unwillen. »Und du weißt, dass in drei Wochen die Meisterschaft ist. Mensch, Angie, wir können das Ding packen, wenn du dich nur mehr anstrengst. Für die Schule lernen kannst du auch noch später. Wer braucht schon Chemie? Wir Tänzer sicherlich nicht.«

»Ein gutes Abi aber schon, wenn ich mich für das Studium zur Diplomtrainerin bewerben will«, konterte Angeline.

»Okay, wir tanzen noch einmal die Seite mit dem Fallaway, Overspin, Bombshell, Contra Check und die Achsen«, sagte Jens versöhnlich. »Sieh zu, dass du wenigstens einmal im Arm bleibst, und behalte den Kopf links.«

Jens hatte ja recht, dachte Angeline. Wen interessierte schon Chemie, wenn der Titel des Deutschen Meisters zum Greifen nahe war! Irgendwie würde sie das Abi schon auf die Reihe bekommen, außerdem hatte sie fast noch ein Jahr Zeit.

Angeline rollte ihre Schultern nach hinten, baute ihre Körpermitte auf und machte ihren Nacken lang. Es war, als wäre sie um einige Zentimeter gewachsen. Jens nahm sie in die Tanzhaltung und Angeline verlagerte das Körpergewicht auf ihren linken Fuß. Sie warteten auf den Beginn der nächsten Phrase der Musik ‒ eines Langsamen Walzers ‒ mit achtundzwanzig Takten pro Minute. Bei der Drei des vorherigen Taktes gab Jens’ Körper ihr den Hauch eines Impulses. Angelines Füße bewegten sich von selbst, an die Schritte und an die korrekte Fußarbeit verschwendete sie keinen Gedanken. Diese Abläufe waren durch jahrelanges Training automatisiert. Sie konzentrierte sich auf den Shape im richtigen Moment und wartete ab, bis seine rechte Körperseite ihr nun den Impuls für den Contra Check gab. Geschmeidig bog sie ihren Oberkörper nach links und nach hinten, das Becken angespannt und bei ihrem Partner belassend, damit sich kein Hohlkreuz bildete. Ihr Nacken übernahm die Bewegung, schien um Zentimeter länger zu werden, und schließlich bildeten ihr Oberkörper und der Kopf eine elegante Linie. Durch sanften, nicht sichtbaren Druck brachte Jens sie wieder in die Aufrechte, und sie wirbelten mit schnellen Achsen mehrere Meter durch den Raum. Am Ende der nächsten Musikphrase schwang Jens sie in einen Hover, ihre Füße berührten kaum das Parkett, und sie vollführte eine auf die Musik abgestimmte, rollende Kopfbewegung. Obwohl sie vor Müdigkeit kaum noch die Augen offen halten konnte, war Angeline in seinen Armen leicht wie eine Feder und passte sich seiner Führung an. Vergessen war die Klausur, vergessen ihre schmerzenden Fußsohlen und vergessen, dass ihre Schulfreundinnen heute Abend ins Kino gegangen waren, um sich den brandneuen Film mit Nat Wolff anzusehen.

Kino, Disco, Shopping, Grillabende ‒ das waren Dinge, die für Angeline nicht wichtig waren. Bereits als Kind war sie zu der Musik aus dem Radio durch das Haus getanzt. Als sie zehn Jahre alt war, meldeten ihre Eltern sie in der Ballettschule am anderen Ende der Stadt an, aber Angeline merkte bald, dass klassisches Ballett nicht ihre Welt war. Ihre Eltern belegten dann einen Tanzkurs bei Harald Liebig, und Angeline durfte sie manchmal begleiten. Sie war dann an der Tür zum großen Trainingssaal der Tanzschule gestanden, in dem die Turnierpaare trainierten, und hatte versucht, die Schrittkombinationen nachzuahmen.

Harald Liebig, der Inhaber der Tanzschule und Präsident des 1. Tanzsportklubs Rottweil e. V., hatte einen gleichaltrigen Jungen gefunden, und zwei Jahre später konnten Angeline und ihr Partner den ersten Landesmeistertitel der Juniorenklasse in den Lateinamerikanischen Tänzen für sich verbuchen. Dann jedoch schoss Angeline in die Höhe und überragte ihren Partner um einen Kopf.

Seit einem Jahr war nun der vier Jahre ältere Jens Mauch ihr Tanzpartner, der zuvor ebenfalls schon Erfahrungen mit einer anderen Partnerin gesammelt hatte. Tänzerisch harmonierten sie gut miteinander. Jens war ein hervorragender Tänzer mit einer erstklassigen Körperbeherrschung und gutem Taktgefühl, obwohl er erst vor vier Jahren mit dem Tanzsport begonnen hatte. Er war wohl so etwas wie ein Naturtalent. Dessen war Jens sich nur zu gut bewusst und neigte deshalb zu Rechthaberei und Arroganz. Angeline biss sich manchmal auf die Zunge und schwieg, weil sie Streit vermeiden wollte. Sie verstand genügend vom Tanzsport, um zu erkennen, dass nicht allein sie Fehler machte. Tanzen funktionierte nur, wenn zwei einzelne Körper zu einer Einheit verschmolzen. Kritik überließ Angeline grundsätzlich der Kompetenz ihrer Trainer, während Jens meinte, sie ständig verbessern zu müssen.

Der Erfolg machte das harte Training und alle anderen Widrigkeiten ohnehin wett. Es war ein unbeschreibliches Gefühl gewesen, als Angeline und Jens vor fünf Wochen Baden-Württembergischer Meister in der Kombination geworden waren. Der Wettkampf über zehn Tänze ‒ fünf Standard- und fünf Lateinamerikanische Tänze ‒ war die härteste Disziplin und verlangte den Paaren eine immense Kondition ab. Der Tanzsportverband Baden-Württemberg setzte nun für die kommende Deutsche Meisterschaft, die in Rottweil ausgetragen wurde, große Hoffnungen auf das junge und attraktive Paar.

Jens hatte recht: Sie konnten Meister werden, wenn sie die Standardtänze noch besser in den Griff bekamen, denn im Lateinbereich gab es kein anderes Paar in Deutschland, das ihnen den ersten Platz streitig machen konnte.

Nach weiteren zehn Durchgängen zeigte Jens sich endlich zufrieden, nahm einen langen Schluck aus seiner Wasserflasche und trocknete sich mit einem Handtuch die schweißnasse Stirn ab.

»Soll ich dich nach Hause fahren?«, fragte er, während Angeline sich die Tanzschuhe von den Füßen streifte und ihre verkrampften Zehen auf und ab bewegte.

»Das ist nicht nötig. Ich werde hier duschen, damit ich meine Eltern nicht wecke. Die schlafen bestimmt schon tief und fest.«

»Okay, vergiss aber nicht, alle Lichter auszumachen, die Fenster zu schließen und die Türen abzusperren.«

»Danke für den Hinweis, ohne den ich die Räume sicher offen stehen gelassen hätte«, erwiderte sie spitz.

Nicht immer konnte sie Jens’ Überheblichkeit auf sich beruhen lassen.

Alle Turniertänzer hatten eigene Schlüssel für die Räumlichkeiten, da sie oft bis spät in die Nacht oder auch schon am frühen Morgen trainierten. Harald Liebig hatte großes Vertrauen in seine Paare, das auch bisher von niemandem missbraucht worden war.

Noch im Trainingsraum tauschte Jens seine Lackschuhe mit bequemen Sneakers, schnappte sich die Sporttasche und wandte sich zum Gehen.

»Morgen legen wir mal eine Pause ein, ich hole dich dann am Samstag um acht ab.«

»Okay, ich werde fertig sein.«

Am Samstag waren acht Stunden Kadertraining im Landesleistungszentrum des baden-württembergischen Tanzsportverbandes in Pforzheim angesetzt. Die A 8 zwischen Stuttgart und Karlsruhe war eine einzige Baustelle mit ständigen Staus, und sie mussten pünktlich um zehn Uhr vor Ort sein. Norbert Küttner, der Landestrainer, ließ keinen Verspätungsgrund gelten.

Im Umkleidebereich schälte sich Angeline aus der schweißnassen Trainingskleidung. Sie freute sich auf eine zuerst heiße und dann eiskalte Dusche. Ihren Eltern würde sie besser nicht sagen, dass Jens sie nicht nach Hause gefahren hatte, denn sie wollten nicht, dass sie mitten in der Nacht allein unterwegs war. Von der Tanzschule im Gewerbegebiet Hinterprediger bis zu ihrem Elternhaus in der Tannstraße waren es etwa fünfzehn Minuten Fußweg. Was sollte in einer beschaulichen Kleinstadt wie Rottweil schon geschehen? Außerdem war Angeline kein ängstliches Mädchen. Nach der Deutschen Meisterschaft wollte sie mit den Fahrstunden beginnen. Im Herbst wurde sie achtzehn, und einige Schulfreunde hatten bereits mit siebzehn den Führerschein gemacht und durften mit Begleitung fahren. Bisher aber hatte Angeline die Zeit für die Fahrschule gefehlt, da im vergangenen halben Jahr ein Turnier dem nächsten gefolgt war.

Angeline schlüpfte in ihre Badeschuhe, hängte das Handtuch an den Haken vor der Duschkabine und drehte den Hahn auf. Einige Minuten stand sie mit geschlossenen Augen unter dem Strahl und genoss das heiße Wasser auf ihrem Körper. Die morgige Chemieklausur würde sie schon irgendwie hinbekommen. Ihre Noten in den meisten Fächern ließen nichts zu wünschen übrig. Wenn Angeline etwas interessierte, dann lernte sie gern und schnell, nur zu den Naturwissenschaften fand sie keinen Zugang. In erster Linie wollte Angeline tanzen und ‒ sobald sie volljährig war ‒ den ersten Trainerschein machen. Sie arbeitete gern mit Kindern, und gute Trainer für die so genannten »Tanzmäuse« waren rar. Wenn sie weiterhin so erfolgreich waren, könnten sie und Jens in drei, vier Jahren zu den Professionals wechseln, und nach ihrer aktiven Zeit wollte sie auf jeden Fall an die Trainerakademie nach Köln gehen und das Studium zur Diplomtrainerin absolvieren. Nun, sie hatte noch Zeit, und es war gut, dass ihre Eltern sie zu nichts drängten und all ihre Pläne unterstützten. Allerdings bestanden sie auf ein gutes Abitur, was durchaus in Angelines Interesse war.

Angeline massierte sich nun das nach frischer Mango duftende Shampoo in die schulterlangen, blonden Haare.

Sie stand mit dem Gesicht zur Wand und konnte es im ersten Moment nicht fassen, als sie plötzlich einen heftigen Druck an ihrer Kehle spürte. Instinktiv fuhren ihre Hände zum Hals. Im Bruchteil einer Sekunde ertastete sie etwas, das sich wie Stoff anfühlte, dann wurde ihr die Luft abgeschnürt. Sie röchelte, vergeblich versuchten ihre Hände Halt an den nassen Wandfliesen zu finden. Vor ihren Augen tanzten bunte Kreise. Sie sackte zusammen und spürte es nicht mehr, als sie mit dem Gesicht hart auf den Boden aufschlug.

Das heiße Wasser rauschte unvermindert auf den leblosen Körper hinab …

Kapitel 2

Dreißig Jahre Erfahrung im aktiven Polizeidienst bei der Kriminalpolizei schützten Hauptkommissar Jürgen Riedlinger nicht vor der Beklemmung, die er stets empfand, wenn er vor dem Opfer eines Gewaltverbrechens stand. Wenn es sich dabei um ein Mädchen handelte, das brutal aus seinem jungen Leben gerissen worden war, spürte er zusätzlich Abscheu und Wut in sich. Unwillkürlich ballten sich seine Hände zu Fäusten.

Die Leiche lag auf dem Rücken und war nackt.

»Ist sie …?«

Riedlinger brauchte seinen Satz nicht zu vollenden. Der aus Tübingen hinzugerufene Pathologe Dr. Kunstfeld kniete neben der Toten und antwortete, ohne den Kommissar anzusehen.

»Das kann ich jetzt noch nicht sagen, Herr Riedlinger. Auch zur Todesursache im Moment nur so viel: Es sieht danach aus, als wäre das Mädchen von hinten angegriffen und stranguliert worden. Die Einblutungen im Gewebe sind deutlich zu erkennen. Wahrscheinlich wurde ihr Kehlkopf zerquetscht. Mehr jedoch …«

»Nach der Obduktion, ich weiß. Können Sie in etwa sagen, wie lange sie tot ist?«

»Tut mir leid, Herr Riedlinger, da das warme Wasser die ganze Zeit über den Körper lief, kann ich im Moment auf Grund der Körpertemperatur noch keinen Todeszeitpunkt feststellen.«

Jürgen Riedlinger wandte sich vom Anblick der Leiche ab. Auf den ersten Blick sah es so aus, als ob die junge Frau gerade unter der Dusche gestanden hätte, als sie angegriffen wurde. Eine Flasche mit Haarshampoo lag in der Ecke, in dem metallenen Korb an der Wand stand ein Duschgel. Ein rotes, flauschiges Handtuch hing am Haken vor der Duschkabine.

»Wer hat sie gefunden?«, fragte Riedlinger in die Runde.

»Harald Liebig, der Inhaber der Tanzschule«, antwortete ein uniformierter Beamter. »Er und die Eltern der jungen Frau. Sie warten im Barbereich.« Der Beamte räusperte sich und sah Riedlinger unsicher an. »Ich fürchte, die Mutter ist ziemlich am Ende.«

»Das wären Sie auch, wenn Sie Ihre Tochter tot auffinden würden«, erwiderte Jürgen Riedlinger tonlos.

Er atmete ein paar Mal tief durch, verließ den Umkleidebereich und kehrte in den Eingangsbereich der Tanzschule zurück. Die linke Seite wurde von einer etwa fünf Meter langen Bar eingenommen, rechts standen Tische und Stühle. In der hinteren Ecke saßen ein Mann und eine Frau. Die Frau hatte ihren Kopf an der Brust ihres Mannes geborgen, sodass Riedlinger nur eine Flut von hellbraunen Locken, nicht jedoch ihr Gesicht sehen konnte. Der Mann hielt sie mit beiden Armen umklammert, seine Mimik war wie eingefroren, und er starrte auf einen imaginären Punkt irgendwo an der gegenüberliegenden Wand.

Mit dem Rücken an die Bar gelehnt, sah ein Mann in mittleren Jahren Riedlinger entgegen.

»Sind Sie der zuständige Ermittler?«, fragte er mit tiefer, sonorer Stimme. »Kommen Sie von der Mordkommission?«

»Kriminalhauptkommissar Riedlinger, und ja, im allgemeinen Sprachgebrauch wird unsere Abteilung so genannt.«

Riedlinger zückte seinen Ausweis, verzichtete jedoch auf den Hinweis, dass die Abteilung korrekterweise als »Dezernat für Tötungsdelikte« bezeichnet wurde. Das spielte im Moment keine Rolle, und der Mann hatte auch keinen Blick für den Ausweis.

»Sie sind Herr Liebig?«

Der Tanzlehrer nickte, stieß sich vom Tresen ab und trat dicht neben den Kommissar.

»Es ist so schrecklich«, flüsterte er und machte eine Kopfbewegung zu dem Paar in der Ecke. »Das sind Angelines Eltern. Ich weiß gar nicht, was ich sagen oder tun soll.«

Verständnisvoll nickte Riedlinger. Ein Psychologe war bereits verständigt. Er selbst würde mit den Eltern des Opfers erst später sprechen. Solange sie unter Schock standen, machte eine Befragung wenig Sinn. Der Tanzlehrer wirkte gefasster, er würde ihm die ersten notwendigen Informationen über das Opfer geben können.

»Können wir uns irgendwo ungestört unterhalten?«

»Gehen wir ins Büro.«

Riedlinger folgte Harald Liebig in einen kleinen, fensterlosen Raum mit deckenhohen Aktenschränken, einem Schreibtisch mit Computer und einer Telefon-, Fax- und Kopieranlage.

Harald Liebig schloss die Tür hinter ihnen. Sie verzichteten darauf, sich zu setzen.

»Wer ist die Tote?«, fragte Riedlinger knapp.

»Ihr Name ist Angeline Schmidt, siebzehn Jahre alt und Tänzerin in meinem Tanzsportklub«, erklärte Liebig. »Ich kann es nicht fassen! Ist sie, ich meine, hat man sie …?«

Riedlinger zuckte mit den Schultern. »Das werden die Untersuchungen ergeben. Bitte schildern Sie mir, wie Sie das Mädchen gefunden haben.«

Harald Liebig fuhr sich mit gespreizten Fingern durch sein volles, dunkles Haar, und Riedlinger bemerkte, dass seine Hand zitterte. Der Tanzlehrer schien doch nicht so ruhig zu sein, wie er nach außen wirkte.

Liebig schluckte mehrmals trocken, bevor er leise sagte: »Heute Morgen rief mich Frau Schmidt, Angelines Mutter, an. Es war kurz vor sieben Uhr, und zuerst war ich ziemlich ungehalten über die frühe Störung. Sie müssen wissen, dass ich in der Regel bis spät in die Nacht arbeite, dafür schlafe ich morgens länger.« Seine Mundwinkel zogen sich herunter. »Angelines Mutter war sehr aufgeregt und meinte, ihre Tochter wäre in der letzten Nacht nicht nach Hause gekommen.«

»Warum hat Frau Schmidt ausgerechnet Sie angerufen?«, hakte Riedlinger nach. »Im dem Alter ist es doch nicht außergewöhnlich, eine Nacht fortzubleiben.«

»Nicht Angeline, sie ist … sie war die Zuverlässigkeit in Person«, antwortete Liebig leise. »Sie und Jens, das ist Angelines Tanzpartner, haben gestern Abend trainiert. Als ich kurz nach elf Uhr das Haus verlassen habe, waren sie noch im großen Saal, und es hatte nicht danach ausgesehen, als würden sie das Training bald beenden.«

»Allein?« Riedlinger runzelte die Stirn. »Sie wollen sagen, die jungen Leute waren hier ganz allein? Und so spät am Abend?«

Liebig nickte. »Das ist durchaus üblich. Unsere Turnierpaare haben alle einen Schlüssel für die Räumlichkeiten. Am Donnerstagabend findet das wöchentliche Gruppentraining für die Sportler statt. Angeline und Jens haben nach dem Gruppenunterricht immer noch eine oder zwei Stunden frei trainiert, manchmal sind auch noch andere Paare dabei. Die Letzten löschen dann das Licht und schließen die Räume ab. Dabei hat es nie Probleme gegeben.«

Jürgen Riedlinger konnte sich unter dem Begriff Gruppentraining nichts vorstellen, das spielte im Moment aber keine Rolle.

Er fragte: »Was haben Sie heute Morgen nach dem Anruf von Frau Schmidt gemacht?«

»Nun, da die Schmidts darauf drängten, unverzüglich in der Tanzschule nachzusehen, habe ich mich rasch angezogen und mich auf den Weg gemacht.«

»Sie wohnen nicht in diesem Gebäude?«, unterbrach Riedlinger ihn.

»Wir haben ein Haus in der Predigerstraße, das sind zu Fuß keine fünf Minuten«, erklärte Harald Liebig. »Ich hielt es zwar für übertrieben und habe vermutet, das Mädchen habe sich vielleicht eine schöne Nacht mit einem Freund gemacht, dann jedoch …« Er zuckte mit den Schultern und hob hilflos die Hände. »Angelines Eltern und ich trafen zeitgleich vor der Tanzschule ein. Als ich aufsperren wollte, war die Tür nicht abgeschlossen. Als wir hineingingen, habe ich das Wasser in der Dusche rauschen gehört, und die Beleuchtung war auch noch an. Tja, und dann …« Er seufzte laut. »Es war so furchtbar, und ich konnte Frau Schmidt nicht davor bewahren, ihre Tochter so zu sehen. Ich habe dann sofort den Notruf gewählt.«

»Haben Sie etwas angerührt?«

Er nickte und sah Riedlinger entschuldigend an.

»Zuerst habe ich das Wasser abgestellt, und Herr Schmidt und ich haben Angeline natürlich umgedreht …«

»Umgedreht?« Erneut hakte Riedlinger ein. »Das heißt, sie lag auf dem Bauch?«

»Ja, ja, wir haben nachgesehen, was geschehen ist, und ob Angeline …«, er stockte, sein Adamsapfel bewegte sich auf und nieder, »also, ob sie vielleicht nur gestürzt und bewusstlos ist. Wir wollten ihr helfen. Dann habe ich jedoch den starren Blick ihrer aufgerissenen Augen gesehen. Ich habe nach ihrem Puls gefühlt und noch versucht, sie zu reanimieren. Dabei hat Frau Schmidt die ganze Zeit geschrien, ihr Mann hat sie schließlich aus der Dusche rausgebracht. Es war furchtbar.«

Er barg sein Gesicht in beide Hände, und seine Schultern zuckten, als weinte er. Der Tod des Mädchens schien ihn zutiefst zu erschüttern.

Riedlinger nahm es ohne Wertung zur Kenntnis.

»Es war also allgemein bekannt, dass die jungen Leute bis in die Nacht hinein trainieren und dass die Räumlichkeiten nicht abgeschlossen sind?«

»Ja, ja, natürlich … Hier gibt es doch nichts zu stehlen. Die Tageseinnahmen von der Bar nehme ich immer mit nach Hause und zahle sie am nächsten Vormittag bei der Bank ein.« Harald Liebig sah Riedlinger bittend, beinahe schon verzweifelt an. »Herr Kommissar, von alledem hier … davon wird doch nichts in den Zeitungen stehen?«

»Das wird sich wohl nicht vermeiden lassen.«

Der Tanzlehrer rang die Hände. »Eine Leiche im Klub! Wenn das bekannt wird, kann ich den Laden schließen! Da kommt doch keiner mehr in die Kurse!«

»Na, na, Herr Liebig«, versuchte Riedlinger ihn zu beruhigen. »So schlimm wird es schon nicht werden. Die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf, informiert zu werden. Die vollen Namen und die Örtlichkeiten werden natürlich nicht genannt.«

»Rottweil ist eine kleine Stadt, Herr Kommissar.« Liebig lächelte bitter. »Die Nachricht wird wie ein Lauffeuer die Runde machen. Ausgerechnet jetzt, nachdem ich aus dem Gröbsten raus bin und der Betrieb Gewinn abwirft.«

Ein Klopfen an der Tür unterbrach sie.

»Doktor Kunstfeld wäre im Moment hier fertig«, sagte der eintretende Beamte, »und lässt fragen, ob die Leiche zur Obduktion in die Rechtsmedizin abtransportiert werden kann.«

Bei den sehr nüchternen Worten zuckte Riedlinger zusammen.

»Von mir aus.«

Es war zu befürchten, dass die Spurensicherung nicht viel feststellen würde, da das Wasser die ganze Nacht über den Körper gelaufen war. Daher war es wichtig zu erfahren, ob Harald Liebig etwas aufgefallen war. Der Mann schien im Moment für weitere Fragen aber nicht in der Verfassung zu sein.

Riedlinger griff in die Innentasche seiner Jacke und reichte dem Tanzlehrer seine Karte.

»Kommen Sie bitte gegen Mittag in mein Büro, ich habe noch weitere Fragen.«

Liebig steckte die Karte ein und fragte: »Ihre Leute … wie lange werden die hier noch brauchen? Heute Nachmittag haben wir eine Gruppe Tanzmäuse und eine Hip-Hop-Gruppe …«

»Die Räume bleiben bis auf weiteres versiegelt.«

»Das können Sie nicht machen!«, rief Harald Liebig. »Ich kann die Kurse unmöglich absagen! Allein heute Abend haben wir im kleinen Saal drei Tanzkurse und im großen Saal den Übungsabend für die Goldstargruppe!«

»Herr Liebig, wir haben eine Tote, und alles deutet auf Fremdeinwirkung hin«, entgegnete Jürgen Riedlinger ernst. »Ihr Klub ist ein Tatort, und bevor nicht alle Spuren gesichert sind, betritt außer der Polizei niemand mehr die Tanzschule. Auch Sie nicht.«

Harald Liebig presste die Lippen aufeinander. Er sah ein, dass ihm keine andere Wahl blieb, als den Anweisungen der Polizei Folge zu leisten.

»Wenn es etwas gibt, was ich tun kann …« Er ballte die Hände zu Fäusten. »Angeline war noch so jung, so voller Lebenslust und gerade am Anfang einer großen Karriere!«

»Wir sprechen später«, antwortete Riedlinger. »Es gibt noch viele Fragen, und es ist wichtig, dass Sie mir alles, was Sie über das Mädchen wissen, erzählen. Im Moment nur noch eine Frage: Waren Sie allein, als Sie die Tanzschule gestern Abend verlassen haben?«

Liebig nickte. »Da ich donnerstags die Turniergruppe trainiere, ist meine Frau nicht hier. Sie ist Tanzlehrerin, hat aber keine Ausbildung zur Tanzsporttrainerin. Als ich nach Hause kam, hat sie bereits geschlafen.«

»Dann kann sie nicht bezeugen, wann Sie nach Hause gekommen sind?«

Liebig brauchte einen Augenblick, bis er verstand.

»Brauche ich etwa ein Alibi?«, rief er entsetzt. »Ich habe Angeline nichts angetan, Herr Kommissar! Ich habe das Mädchen gemocht, außerdem könnte ich nicht einmal einer Fliege etwas zuleide tun.«

Riedlinger ging auf Liebigs Ausbruch nicht ein. »Gibt es sonst noch Angestellte?«

»Eine Bedienung für die Bar, die aber nur stundenweise beschäftigt ist und gestern Abend nicht hier war. Am Wochenende und bei Veranstaltungen helfen zusätzlich zwei Tänzerinnen beim Ausschank aus.«

»Notieren Sie bitte die Namen und vollständigen Anschriften aller, die sich gestern Abend in der Tanzschule aufgehalten haben.«

Jürgen Riedlinger verließ das Büro und trat just in dem Moment in den Eingangsbereich, als der Zinksarg hinausgetragen wurde. Angelines Eltern hielten sich an den Händen und starrten den Trägern nach. Mit zwei Fingern lockerte Riedlinger seinen Hemdkragen, der ihm plötzlich zu eng geworden schien, räusperte sich und trat zu den Schmidts.

»Kriminalhauptkommissar Jürgen Riedlinger. Ich weiß, es ist jetzt sehr schwer für Sie, ich muss aber mit Ihnen sprechen.«

Die Frau zeigte keine Reaktion, aber die Wangenmuskulatur des Mannes zuckte. Leise sagte er: »Selbstverständlich, Herr Kommissar, ich stehe Ihnen für alle Fragen zur Verfügung. Hauptsache, Sie finden dieses Schwein, das unserer Tochter das angetan hat.«

Herrn Schmidts Stimme war ruhig und emotionslos, Riedlinger spürte jedoch, dass er sich nur mühsam beherrschte.

»Fahren Sie jetzt nach Hause, ich werde Sie am Nachmittag aufsuchen«, antwortete er.

Es war besser, wenn die Eltern nicht länger an dem Ort blieben, an dem ihre Tochter gestorben war.

Bis zum Nachmittag würde er hoffentlich auch schon die ersten Ergebnisse der Obduktion vorliegen haben.

***

Das Haus lag still in der Sonne dieses Tages Anfang Mai. Im Vorgarten knospten sorgfältig beschnittene und ausladende Rosenbüsche, in den Zweigen einer Baumgruppe sang eine Amsel. Es war jedoch eine trügerische Idylle, denn Jürgen Riedlinger und seine Mitarbeiterin Regina Müller wussten, dass hinter den hellen Mauern des gepflegten Einfamilienhauses große Trauer eingekehrt war.

Riedlinger hatte bewusst die siebenundzwanzigjährige Kriminalanwärterin gebeten, ihn zu den Eltern des Opfers zu begleiten. Obwohl er viel Erfahrung in Gesprächen mit Angehörigen hatte, war eine Frau sensibler, besonders wenn ein Elternpaar das einzige Kind durch ein schreckliches Verbrechen verloren hatte. Vor einer Stunde waren die ersten Ergebnisse aus der Rechtsmedizin eingetroffen: Angeline Schmidt war von hinten erdrosselt worden. Der Pathologe grenzte den Todeszeitpunkt zwischen Mitternacht und zwei Uhr ein. Wie von Riedlinger befürchtet, hatte das über Stunden laufende Wasser viele Spuren vernichtet. Der forensischen Pathologie standen aber noch andere Möglichkeiten zur Verfügung. Riedlinger musste abwarten, denn weitere Untersuchungen und Tests konnten Wochen in Anspruch nehmen.

Nach ihrem Klingeln wurde die Haustür unverzüglich geöffnet.

»Ich habe Sie durchs Fenster gesehen«, sagte Bastian Schmidt.

Seine Augen waren gerötet, sein Haar zerzaust, und er atmete schwer, als er die Beamten hereinbat.

Riedlinger und Regina Müller traten in ein sonnendurchflutetes Wohnzimmer. Durch die Fensterfront ging der Blick in einen quadratischen Garten mit Blumen-, Gemüsebeeten und Obstbäumen. Die Häuser in der Tannstraße waren in den 1960er und 1970er-Jahren errichtet, die meisten in den letzten Jahren renoviert oder umgebaut worden.

»Möchten Sie etwas trinken?«, fragte Bastian Schmidt.

»Danke, nein«, erwiderte Jürgen Riedlinger und sah sich um. »Wenn wir uns aber setzen dürften?«

Sie nahmen in einer gemütlichen Sitzgruppe aus hellem Veloursleder Platz, und Regina Müller stellte sich vor. Bastian Schmidt nickte nur, als würden ihn ihre Worte gar nicht erreichen.

»Wie geht es Ihrer Frau?«, fragte Regina einfühlsam.

»Sie schläft. Ich habe unsere Hausärztin gerufen, sie hat ihr eine Spritze gegeben, und die Polizeipsychologin ist jetzt bei ihr. Ich danke Ihnen, dass Sie sofort jemanden geschickt haben, ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll, wie mich verhalten …«

»Das ist nur zu verständlich, Herr Schmidt«, erwiderte Regina Müller. »Die Psychologin steht Ihnen so lange zur Verfügung, wie Sie sie benötigen.«

Bastian Schmidt sah Riedlinger fragend an. »Es ist bestimmt nicht nötig, dass Sie mit meiner Frau sprechen, nicht wahr? Ich meine, nicht heute, nicht jetzt …«

»Darf meine Kollegin einen Blick in das Zimmer Ihrer Tochter werfen?«, fragte Jürgen Riedlinger anstelle einer Antwort. »Erlauben Sie, dass wir Laptop und Ähnliches zur Auswertung mitnehmen? Das Handy Ihrer Tochter haben wir in ihrer Sporttasche gefunden. Wir werden es ebenfalls auswerten. Sie haben doch nichts dagegen?«

Herr Schmidt machte eine müde Handbewegung. »Schauen Sie sich ruhig um und nehmen Sie alles mit, was Ihnen notwendig erscheint. Ich hoffe, Sie finden etwas, das Sie zu dem Täter führt.« Nun deutete er zur Treppe. »Angelines Zimmer ist …«, er schluckte schwer, »war das zweite auf der linken Seite im ersten Stock.«

Regina verließ das Wohnzimmer.

Riedlinger nahm das Gespräch wieder auf: »Wenn Sie sich dazu in der Lage fühlen, Herr Schmidt, erzählen Sie mir bitte von Ihrer Tochter. Hatte sie einen Freund, ich meine, einen festen Freund? Mit wem hat sie sich getroffen? Hatte sie mit jemandem Streit? Es ist wichtig, die Adressen aller Freunde und Personen aufzulisten, mit denen Ihre Tochter regelmäßigen Kontakt hatte.«

»Selbstverständlich, Herr Kommissar …«

»Bitte nur Riedlinger, wir werden nicht mit dem Titel angesprochen.«

»Unsere Tochter hatte keinen festen Freund, also … kein Interesse an einer festen Beziehung. Sie hätte dafür gar keine Zeit gehabt, weil sie doch jede freie Minute beim Training war. In Angelines Leben gab es nur die Schule und das Tanzen. Sie war eine gute Schülerin, na ja, bis auf ein, zwei Fächer, aber wir können ja nicht alle in allen Bereichen glänzen. Wir hatten keine Bedenken, dass sie im nächsten Jahr ein gutes Abitur schafft. Nach dem Unterricht hat sie immer ihre Hausaufgaben gemacht und gelernt, dann ging sie zum Training. Zusätzlich ging sie drei- bis viermal in der Woche joggen, um ihre Kondition zu verbessern.«

»Sie hat täglich trainiert?«, hakte Riedlinger nach.

Bastian Schmidt nickte. »Wenn Angeline nicht krank war, eine Erkältung oder so etwas hatte, dann hat es kaum einen Abend gegeben, an dem sie nicht auf der Tanzfläche stand.«

Riedlinger sah auf seinen Zettel, auf dem er sich einige Stichworte aus dem Gespräch mit dem Tanzlehrer notiert hatte.

»Was ist mit dem Tanzpartner Ihrer Tochter? Er und Angeline waren kein Paar?«

»Jens Mauch?« Bastian Schmidt schüttelte den Kopf. »Das war eine rein tänzerische Beziehung. Nun ja, Angeline hat einmal angedeutet, dass Jens anfangs versucht hatte, sich an sie heranzumachen, aber er war überhaupt nicht ihr Typ. Soviel ich weiß, haben sie sich nie außerhalb des Trainings und der Turniere getroffen.«

»Was ist mit Freundinnen, anderen Mädchen in Angelines Alter?«

»Bis vor einigen Monaten war unsere Tochter eng mit einem Mädchen befreundet.«

»War?« Riedlinger hatte deutlich den Unterton in Schmidts Stimme gehört.

»Ja, es war eine typische Mädchenfreundschaft«, erklärte Bastian Schmidt. »Die beiden kannten sich seit der Grundschule und sind später auch gemeinsam auf das Leibniz-Gymnasium gegangen. Bevor Angeline mit Jens Mauch getanzt hat, war sie oft mit Nicola zusammen. Dann jedoch, wie ich bereits gesagt habe, hatte Angeline keine Zeit mehr für Freundschaften außerhalb des Tanzsportes. Mit Jens ist sie in die S-Klasse aufgestiegen, da muss man viel tun, um mit den Besten mithalten zu können.«

Der Begriff S-Klasse war Riedlinger bisher nur in Verbindung mit einem Stuttgarter Autohersteller bekannt, im Moment wollte er diesbezüglich aber nicht nachfragen.

»Nicola und wie weiter?«

»Esposito, ihre Eltern sind die Inhaber der Pizzeria in der Hochturmgasse. ›Da Luigi‹.«

Riedlinger kannte das italienische Restaurant. Er aß dort hin und wieder, auch wenn er einen saftigen Zwiebelrostbraten mit Bratkartoffeln jeder Pizza vorzog.

Regina Müller kehrte ins Wohnzimmer zurück, unter dem Arm trug sie einen Laptop.

»Hat Ihre Tochter ein Tagebuch geführt?«, fragte sie. »In ihrem Zimmer habe ich keines gefunden.«

Schmidt zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Wenn, dann machen die jungen Leute das doch irgendwo im Netz. Ich werde meine Frau fragen.«

Riedlinger stand auf, und Bastian Schmidt umklammerte seinen Arm.

»Sie werden ihn doch finden, nicht wahr?«

Riedlinger wünschte, er könnte dem verzweifelten Mann versprechen, dass der Mensch, der seine Tochter getötet hatte, verurteilt werden würde. Das war beim jetzigen Stand der Ermittlungen jedoch unmöglich.

Daher sagte er nur: »Wir tun alles in unserer Macht Stehende, noch sind wir aber ganz am Anfang.«

»Wann können wir Angeline denn … ich meine, wir müssen mit dem Pfarrer sprechen …«

»Wir benachrichtigen Sie, wenn Ihre Tochter freigegeben werden kann«, antwortete Regina Müller.

Bastian Schmidt begleitete die beiden Beamten nicht hinaus, sondern blieb wie gelähmt an der Wohnzimmertür stehen.

Als sie im Auto saßen, wischte sich Riedlinger über die Stirn. »Ich glaube, an solche Gespräche werde ich mich nie gewöhnen.«

»Was für einen Eindruck haben Sie von dem Mann?«, fragte Regina Müller. »Auf mich wirkt er sehr beherrscht, wahrscheinlich muss er jetzt die Nerven behalten, um alles zu regeln, was notwendig ist, und um für seine Frau eine Stütze zu sein. Der Zusammenbruch wird kommen, wenn ihm bewusst wird, dass seine Tochter niemals wieder zur Tür hereinkommen wird.«

Riedlinger sah seine Mitarbeiterin überrascht an.

»Haben Sie nebenbei Psychologie studiert, und ich habe es nicht mitbekommen?«

Sie schmunzelte. »Das ist die Erfahrung, das bleibt in unserem Job nicht aus, und ein gewisses psychologisches Gespür müssen wir alle haben. Von Ihnen, Chef, habe ich gelernt, niemanden, wirklich niemanden, aus dem Kreis der Verdächtigen auszuschließen. Auch nicht die Eltern eines Opfers, gleichgültig, welch verzweifelten Eindruck sie machen.«

»Die Erfahrung zeigt leider auch, dass manchmal eine Fassade, die uns dargeboten wird, Risse hat«, bestätigte Jürgen Riedlinger und seufzte. »Wäre ich eine Frau, würde ich jetzt sagen: Mein Bauchgefühl schließt die Schmidts als Täter aus. Es zählen aber keine Gefühle, sondern nur Fakten und Beweise.« Er deutete auf den Laptop, den Regina auf ihrem Schoß liegen hatte. »Bringen Sie den so schnell wie möglich in die Technik. Die sollen sich sputen, alle Daten auszuwerten. Die heutige Jugend teilt doch jeden Schritt, den sie macht, mit anderen irgendwo im Internet.«

Er startete den Wagen und fuhr die Tannstraße in Richtung der Schramberger Straße entlang.

»Ich würde mir noch gern einen Lkw vom Imbiss holen«, sagte er zu seiner Mitarbeiterin. »Möchten Sie auch etwas, Frau Müller?«

»Gern, für mich aber nur eine Butterbrezel«, antwortete sie. »Sobald wir wieder im Büro sind, mache ich uns einen guten Kaffee.«

Riedlinger nickte zufrieden. Er liebte Kaffee und herzhaftes Essen, am liebsten Gerichte, die seine Frau Karin zubereitete. Sein Bauchumfang überschritt zwar die ärztlich empfohlene Grenze um einige Zentimeter, seine Blutwerte und sein Blutdruck waren aber im Normbereich, und er fühlte sich völlig gesund. Gut, er brachte vielleicht ein paar Kilos zu viel auf die Waage, aber er war Mitte fünfzig und fand, dass er keine Figur wie ein Bodybuilder haben musste. Von Diäten hielt er nichts, denn mit leerem Magen konnte er nicht denken, und dieser neue Fall würde seine ganze Konzentration erfordern.

***

Zur selben Zeit lief Kriminaloberkommissar Wolfgang Mozer, zwei Stufen auf einmal nehmend, die steile, enge Treppe ins Dachgeschoss eines Hauses in der Metzgergasse hinauf. Das Gebäude war viele Jahrhunderte alt, von außen und innen modernisiert, der Geruch der Vergangenheit hing aber immer noch in den Mauern. Oben angekommen, drückte er auf den Klingelknopf auf der rechten Seite. Hinter ihm erklomm nun auch ein uniformierter Beamter das oberste Stockwerk. Er schwitzte vor Anstrengung, obwohl er mindestens zehn Jahre jünger als Mozer war.

Auf Mozers Klingeln hin regte sich nichts, und er versuchte es erneut. Zusätzlich klopfte er nachdrücklich an die Tür.

»Herr Mauch!«, rief er laut. »Bitte, öffnen Sie!«

»Vielleicht ist er nicht zu Hause«, keuchte sein Kollege und schnappte nach Luft.

Wolfgang Mozer klopfte ein drittes Mal, dann hörten sie endlich Schritte hinter der Tür, und eine Stimme rief deutlich genervt: »Verdammt noch mal, was ist denn los?«

»Kriminalpolizei, bitte öffnen Sie die Tür.«

»Polizei?« Der Schlüssel drehte sich im Schloss, und die Tür wurde einen Spalt geöffnet. Ein dunkelhaariger junger Mann musterte die Männer misstrauisch. »Kann ich Ihren Ausweis sehen?«

Mozer hatte diesen bereits in der Hand, und Jens Mauch öffnete die Tür ganz. Er trug dunkelgrüne Boxershorts, und Mozer sah beinahe neidvoll auf einen nahezu perfekt ausgebildeten Sixpack an seinem unbekleideten Oberkörper. Er selbst war auch gut trainiert und hatte kein Gramm überflüssiges Fett an seinem Körper, mit dem jugendlichen Aussehen seines Gegenübers konnte er es mit seinen sechsundvierzig Jahren natürlich nicht mehr aufnehmen.

»Herr Mauch?«, fragte Wolfgang Mozer. »Jens Mauch?«

»Ja, der bin ich. Höchstpersönlich und in voller Schönheit«, antwortete Jens unwillig. »Was wollen Sie denn? Egal, was es ist, ich habe nichts damit zu tun.«

Nun öffnete sich die gegenüberliegende Wohnungstür, und eine zierliche, grauhaarige Frau spähte hinaus. Mit verächtlich geschürzten Lippen sagte sie: »D’ Bolizei en onserm Häusle? I han gwisst, dass Se den do«, ihr knochiger Zeigefinger deutete auf Mauch, »bald hole werdet. Arbeided de ganze Dag nix ond hängd dahanna bloß rom.«

»Dürfen wir bitte eintreten?« Mozer ignorierte die Nachbarin. »Es ist wohl besser, wenn nicht das ganze Haus unser Gespräch mit anhört.«

Jens Mauch gab die Tür frei und musterte erst Mozer, dann den uniformierten Beamten kritisch.

Bevor die Tür geschlossen wurde, hörten sie die Nachbarin rufen: »Ond d’ Kehrwoch machd er au nie! Scho deswega sollt mr en eischberra. Mir send a aschdändigs ond saubers Haus.«

»Gute Nachbarschaft sieht aber anders aus«, bemerkte Mozer trocken und sah sich in der länglichen Diele um.

Ebenso wie sein Kollege Riedlinger machte er sich gern ein Bild von dem privaten Umfeld der Personen, mit denen sie es zu tun hatten. Linker Hand war eine winzige Küche mit einer kargen Ausstattung, geradeaus führte eine Tür in einen Raum, der zugleich Schlaf- und Wohnzimmer war. Mozer betrat das Zimmer und sah sich um. Das Kissen und die Decke auf dem Bett waren zerwühlt.

Jens Mauch folgte seinem Blick. »Ich habe gepennt, daher habe ich Ihr Klingeln nicht gleich gehört. Darf ich bitte erfahren, was Sie von mir wollen?«

Wolfgang Mozer kommentierte die Tatsache, dass der junge Mann am Nachmittag noch schlief, mit keinem Wort.

Er kam gleich zur Sache und fragte: »Wo waren Sie, nachdem Sie gestern Abend die Tanzschule Liebig verlassen haben?«

»Gestern Abend?«, wiederholte Jens überrascht. »Ich bin nach Hause gefahren, hab noch ein Weilchen im Internet gezockt und mich dann aufs Ohr gehauen. Es war spät, darum schlafe ich gern etwas länger. Etwas dagegen?« Er nahm eine regelrecht provozierende Haltung gegenüber den Beamten ein.

»Kann das jemand bezeugen? Vielleicht Ihre Nachbarin?«

Jens Mauch verschränkte die Arme vor der Brust und trat einen Schritt zurück.

»Hören Sie, wenn es um die alte Sache von damals geht… damit habe ich längst Schluss gemacht. Das ist aus und vorbei, und ich habe mir seitdem nichts mehr zuschulden kommen lassen.«

Der Mann ist also aktenkundig, dachte Mozer. Er würde das später im Büro überprüfen.

Laut sagte er: »Sie wissen es also noch nicht? Hat Sie niemand informiert?«

»Was wissen?«, fragte Jens und griff nach seinem Handy, das auf einer umgedrehten Obstkiste neben seinem Bett kg.

Das Display zeigte mehrere Anrufe, darunter fünf von Harald Liebig.

»Wenn ich penne, schalte ich das Ding auf lautlos, möchte ja schließlich nicht gestört werden«, erklärte er.

»Sie kennen Angeline Schmidt.« Es war eine Feststellung, keine Frage.

Jens’ rechte Augenbraue schoss nach oben. »Angeline, klar doch. Geht es um sie? Hat sie was angestellt?« Er grinste und schüttelte den Kopf. »Das kann ich mir nicht vorstellen. Angie ist die Tugendhaftigkeit in Person.«

»Angeline Schmidt wurde heute Morgen tot aufgefunden.«

»Was?« Jens taumelte und griff Halt suchend nach dem Türrahmen. »Sie machen Witze!«

Ernst sah Mozer ihn an. »Wenn es sich um ein Tötungsdelikt handelt, mache ich niemals Scherze.«

»Tötungsdelikt?«, wiederholte Mauch langgezogen und wurde noch blasser. »Sie meinen, Angeline wurde ermordet?«

»Derzeit müssen wir davon ausgehen.«

»Ist es auf dem Heimweg passiert?«, fragte Mauch. »Ich wollte sie nach Hause fahren, sie hat aber darauf bestanden, zu Fuß zu gehen. Hat man sie überfallen? Vielleicht sogar …? Mein Gott, ich hätte darauf bestehen sollen, sie zu fahren …« Er schlug die Hände vors Gesicht.

Wolfgang Mozer ließ dies jedoch unbeeindruckt. In seiner Laufbahn hatte er schon viele Täter erlebt, die auf den ersten Blick schockiert wirkten und taten, als wüssten sie von nichts.

»Sie haben sich also in der Tanzschule voneinander getrennt? Bitte schildern Sie, wann und wo Sie Frau Schmidt zum letzten Mal gesehen haben.«

Fahrig wischte Jens sich über die Stirn, bevor er antworten konnte: »Wir haben bis etwa um Mitternacht im Tanzsportzentrum trainiert, das werden Sie aber schon wissen. Angeline wollte dort noch duschen, um ihre Eltern nicht zu wecken, ich bin dann gegangen.«

»War sonst noch jemand in der Tanzschule?«

»Nein, warum sollte jemand um diese Zeit noch dort sein? Harald Liebig war schon länger fort. Meistens waren Angeline und ich donnerstags immer die Letzten.«

»Ich muss Sie bitten, uns in die Direktion zu begleiten«, sagte Mozer. »Bitte ziehen Sie sich an.«

»Bin ich etwa verhaftet?« Jens Mauch starrte Mozer entsetzt an. »Was ist eigentlich passiert? Wie ist Angeline gestorben und wo?«

»Das werden Sie alles noch erfahren«, antwortete Mozer ruhig. »Im Moment scheint es, dass Sie der Letzte gewesen sind, der Angeline lebend gesehen hat.«

»Falsch, Herr Kommissar«, belehrte Jens ihn. »Der Letzte war der Mörder, und das bin ich auf keinen Fall.«

Mozer ging auf seine Bemerkung nicht ein, wandte sich zum Ausgang und sagte: »Bitte beeilen Sie sich. Wir warten vor der Tür.«

Die kleine Wohnung lag im dritten Stock, es bestand also nicht die Gefahr, dass Mauch versuchen könnte, durch ein Fenster zu flüchten. Sicherheitshalber hatte Wolfgang Mozer aber einen zweiten Beamten an der Rückseite des Hauses positioniert.

Natürlich spähte die Nachbarin wieder durch den Türspalt, als Mozer den Hausflur betrat.

»Was hot er verbrocha?«

Wolfgang Mozer war geneigt, der naseweisen Dame zu sagen, sie möge sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern, besann sich jedoch und fragte freundlich: »Haben Sie gesehen oder gehört, wann Herr Mauch letzte Nacht nach Hause gekommen ist?«

Für einen Moment war die Frau verwirrt. Mit vor der Brust verschränkten Armen lehnte sie am Türpfosten, im Blick Sensationslust.

»Brauchd’r an Alibi?«

»Beantworten Sie bitte einfach nur meine Frage, Frau …«, Mozer sah auf das Klingelschild, »… Bäuerle. Haben Sie Herrn Mauch kurz nach Mitternacht nach Hause kommen sehen?«

»Sagen Sie jetzt bloß nichts Falsches, Sie alte Hexe! Sie stehen doch immer hinter der Tür, um ja nichts zu verpassen.«

»Herr Mauch, ich muss doch sehr bitten!«, wies Mozer den jungen Mann zurecht. »An einer Anzeige wegen Beleidigung dürften Sie sicher nicht interessiert sein, oder? Frau Bäuerle, haben Sie Herrn Mauch in der letzten Nacht gesehen?«

Mauch presste die Lippen zu einem schmalen Strich, und die Nachbarin antwortete: »Middernachd, saget Sie? Ach Herrgodd, da schlafet anschdändige Mensche längschd. Jedenfalls sötte, die am nächschde Morga ufschdeha ond schaffe gange müsset.«