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Cornwall 1906: Jago Carter-Jones, der vermögende Erbe von Allerby House, ist fest entschlossen, eine mittellose, amerikanische Sängerin zu heiraten. Halb Cornwall ist schockiert, so finden sich nur wenige Gäste bei der Hochzeit ein. Nur zwei Stunden nach der Trauung wird Jago tot aufgefunden. Erstochen – seine Frau Selena über ihn gebeugt, die Finger einer Hand um das Messer geklammert. Sie beteuert zwar ihre Unschuld, kann zum Tathergehen aber keine Angaben machen. Es droht ihr die Todesstrafe. Obwohl alles gegen Selena spricht, will Emily Tremaine an deren Schuld nicht glauben. Sie stellt eigene Ermittlungen an und gerät selbst in tödliche Gefahr.
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Seitenzahl: 343
Rebecca Michéle
Miss Emily und der Skandal von Allerby House
Ein Cornwall-Krimi
Inhalt
EINS
ZWEI
DREI
VIER
FÜNF
SECHS
SIEBEN
ACHT
NEUN
ZEHN
ELF
ZWÖLF
DREIZEHN
VIERZEHN
FÜNFZEHN
SECHZEHN
SIEBZEHN
ACHTZEHN
NEUNZEHN
ZWANZIG
EINUNDZWANZIG
EINS
Die Feder des Füllhalters kratzte über das schlichte, eierschalenfarbene Papier. Konzentriert arbeitete Horatio Cranleigh, Vikar der kleinen Pfarrgemeinde Lower Barton in Cornwall, an der Predigt für den nächsten Sonntag. Das Gebot »Du sollst nicht stehlen« sollte im Mittelpunkt stehen, denn in den letzten Wochen war es in der Gegend wiederholt zu Diebstählen gekommen. Nur Kleinigkeiten, wie ein Schaf und zwei Ziegen, eine Schubkarre, kleinere Gartengeräte und etwas Bauholz. Die Eigentümer waren finanziell zwar nicht sehr geschädigt, aber Diebstahl war eben Diebstahl. Die verantwortlichen Spitzbuben würden den Gottesdienst wohl nicht besuchen, dachte Cranleigh. Er wollte die Gemeinde aber aufrütteln, Augen und Ohren offenzuhalten und ihr alle Höllenqualen aufzählen, sollte jemand Informationen verschweigen, die zur Überführung des Täters führen könnten. In Lower Barton gab es zwar einen Polizeibeamten, der nahm die Sache aber nicht besonders ernst. Cranleigh lächelte spöttisch. Wie sollte der behäbige Constable Pollard die Diebstähle auch aufklären können? Im letzten Herbst war er mit einem Tötungsdelikt hoffnungslos überfordert gewesen. Die Niederlage, den Mordfall nicht gelöst zu haben, rumorte immer noch in Pollard.
Cranleigh zog frische Tinte aus dem Fässchen in den Tank des Füllfederhalters und setzte zum nächsten Satz an. Es klopfte an die Tür des Pfarrhauses. Cranleigh schenkte dem keine Beachtung. Erst, als es erneut und jetzt mehrmals hintereinander klopfte, hob er den Kopf und rief: »Mrs Nettlestone, es ist jemand an der Tür!«
Nichts rührte sich. Cranleigh erinnerte sich jetzt, dass seine Haushälterin zum Markt gegangen und er allein im Pfarrhaus war. Unwillig über die Störung – er war mit den Worten der Predigt gerade so schön in Schwung gewesen – stand er auf, ging zur Vordertür und öffnete sie.
»Was ist?«, blaffte er wenig freundlich.
Ihm gegenüber stand ein untersetzter, kleiner Mann, der dem hochaufgeschossenen Vikar gerade bis zur Schulter reichte. Sein rundes Gesicht war mit Falten durchzogen, unter einem schlichten, dunklen Hut ragten ein paar dünne, graue Haarsträhnen hervor. Cranleigh hatte den Besucher nie zuvor gesehen. Eines seiner Schäfchen aus Lower Barton war er nicht.
»Störe ich Sie, Mr Cranleigh?«, fragte der Fremde. Seine Stimme war ebenso behäbig wie seine Statur.
Cranleighs Blick fiel auf das Kollar, das den dicken Hals des Besuchers umschloss. Er wurde etwas freundlicher und fragte: »Sie sind ein Kollege?«
Der Fremde nahm seinen Hut ab und neigte den Kopf. »Wir sind uns bisher nicht begegnet, Mr Cranleigh. Mein Name ist James Lovatt. Ich bin der Vikar von Saint Fimbarrus.«
»Saint Fimbarrus?«, wiederholte Cranleigh.
Lovatt nickte. »Das ist der Name der Pfarrkirche in Fowey. Leider habe ich Sie bisher noch nicht in meinem Gottesdienst begrüßen dürfen.«
»Ich habe hier genügend zu tun«, erwiderte Cranleigh etwas brummig. Die Küstenstadt Fowey, etwa vier Meilen südwestlich von Lower Barton gelegen, war ihm namentlich bekannt, bisher hatte er aber keinen Grund und auch keine Gelegenheit gehabt, den Ort oder dessen Kirche aufzusuchen.
»Darf ich eintreten?«, fragte Lovatt. Wenn er Cranleighs Unmut bemerkte, ließ er es sich nicht anmerken. »Ich bin extra aus Fowey zu Ihnen gekommen, weil ich etwas mit Ihnen besprechen muss.«
Cranleigh blieb nichts anderes übrig, als den Kollegen hereinzubitten. Er führte Lovatt in sein Studierzimmer, bot ihm einen Platz, aber keinen Tee an. Der Vikar setzte sich hinter seinen Schreibtisch, schob seine angefangene Predigt zur Seite, legte die Fingerspitzen aufeinander und sah den Besucher fragend an.
»Was kann ich für Sie tun, Vikar?«
Lovatt zog ein blütenweißes Tuch aus seiner Manteltasche und tupfte Schweißperlen von seiner Stirn.
»Es ist ungewöhnlich warm für Mai«, sagte der ältere Geistliche. »Finden Sie nicht auch, Mr Cranleigh?«
»Ich habe keine Zeit, mir übers Wetter Gedanken zu machen«, antwortete Cranleigh. »Es wartet jede Menge Arbeit auf mich.« Er hoffte, der Kollege würde zur Sache kommen.
»Wie ich vorhin erwähnte, waren Sie noch nie in meiner Kirche«, begann James Lovatt. »Dabei handelt es sich um ein ausgesprochen schönes Gotteshaus. Es liegt auf einem kleinen Hügel. Man hat eine fantastische Aussicht über den Hafen von Fowey, die Mündung des Flusses ins Meer und auf die Gemeinde Polruan am gegenüberliegenden Ufer.«
»In der Regel suche ich Kirchen nicht wegen deren schönen Aussichten auf«, brummte Cranleigh. Er beherrschte sich, mit den Fingerspitzen nicht ungeduldig auf der Tischplatte zu trommeln. »Sie sagten, Sie müssten mit mir sprechen?«
»Es betrifft die skandalöse Angelegenheit der Trauung«, sagte der Kollege aus Fowey.
»Welche Trauung?« Cranleigh runzelte die Stirn. Meine Güte, war der Mann umständlich! »Würden Sie bitte zur Sache kommen?«
»Sie haben bestimmt von der Verlobung Mr Jagos mit dieser … dieser Frau gehört. Die Hochzeit soll übernächsten Sonntag stattfinden.«
»Es tut mir leid, aber nein. Wer sind die Leute? Und was habe ich mit ihnen zu tun?«
Lovatt seufzte. »Sie haben tatsächlich nichts von dem Skandal mitbekommen, der ganz Cornwall seit Wochen beschäftigt?«
»Bei allem Respekt, Mr Lovatt, aber Klatsch und Tratsch konnte ich noch nie etwas abgewinnen.« Cranleighs Miene verdunkelte sich, seine buschigen Augenbrauen zogen sich zu einem dunklen Balken zusammen. »Entweder Sie erklären mir jetzt den Grund Ihres Besuches oder ich muss Sie bitten zu gehen.« Er deutete auf die beschriebenen Papierbögen. »Ich habe wirklich zu tun.«
»Schon gut, schon gut!« James Lovatt schien endlich zu merken, dass sein Kollege in Lower Barton langsam aber sicher die Geduld verlor. »Mr Jago ist der älteste Sohn von Sir Harold Carter-Jones«, erklärte er jetzt eilfertig, »und der Erbe von Allerby House. Das Anwesen befindet sich etwa eine Meile nördlich von Fowey, ergo gehören die Carter-Jones‘ zu meinem Kirchspiel. Die Familie blickt auf einen jahrhundertealten Stammbaum zurück. Sir Harold hat einen Sitz im Oberhaus inne und verfügt über großen Einfluss in Cornwall.«
»Von dieser Familie habe ich tatsächlich schon gehört«, sagte Cranleigh. Sein Interesse wurde langsam geweckt, wenngleich er sich immer noch keinen Reim auf das Anliegen des Kollegen machen konnte. »Es gibt noch einen weiteren Sohn, nicht wahr?«
»David Carter-Jones«, antwortete Lovatt. »Er spielt aber keine Rolle.« Er räusperte sich und fuhr fort: »Mr Jago befand sich für längere Zeit auf Reisen, unter anderem hielt er sich einige Monate in Amerika auf. Vor drei Wochen ist er nun nach Hause zurückgekehrt. Leider nicht allein. Er hat sich verlobt und möchte übernächsten Sonntag heiraten.«
»Ich fürchte, ich verstehe nicht, was die Angelegenheiten der Carter-Jones’ mit mir zu tun haben.«
»Nun ja, die Sachlage ist so …« Lovatt sah sein Gegenüber verständnislos an. »Sie haben tatsächlich noch nichts von dieser Mesalliance gehört, Mr Cranleigh«, stellte er fest. »Bei der Braut handelt es sich nicht nur um eine Amerikanerin, sondern auch um eine Revuetänzerin. Stellen Sie sich das vor, Kollege! Ein Weib, das ihre Reize gegen bare Münze öffentlich zur Schau stellt. Es ist sogar zu befürchten, dass sie sich nur unzureichend bekleidet zeigt, wenn nicht sogar völlig hüllenlos.«
Cranleighs rechte Augenbraue schoss nach oben. »Sie scheinen Erfahrung mit solchen Etablissements zu haben, Mr Lovatt«, sagte er süffisant. Die Angelegenheit begann ihn zu amüsieren.
»Kollege, ich muss doch sehr bitten!« Lovatt fuhr aus dem Stuhl hoch. Seine ohnehin rosigen Wagen färbten sich noch einen Ton röter. »Ich bin lediglich ein Mann, der weiß, wie es in der Welt zugeht.«
Beruhigend hob Cranleigh eine Hand. »Setzen Sie sich wieder, Mr Lovatt. Ich denke, für Ihren Blutdruck ist es besser, wenn Sie sich nicht aufregen. Ich verstehe immer noch nicht, warum Sie zu mir gekommen sind.«
James Lovatt atmete mehrmals tief ein und aus, tupfte sich wieder über die schweißnasse Stirn, dann sagte er: »Die Hochzeit mit einer Tänzerin ist natürlich eine völlig unakzeptable Verbindung für den Erben von Allerby House und den zukünftigen Lord Carter-Jones. Sir Harold war außer sich. Er drohte seinem Sohn mit Enterbung, aber Mr Jago ist von seinem Entschluss, die Amerikanerin zu seiner Frau zu machen, nicht abzubringen, auch ohne den Segen seines Vaters und ohne dessen Geld.«
»Ich sehe keine Veranlassung, mich in Familieninterna einzumischen«, sagte Cranleigh nachdenklich. »Wenn sich Sir Harold von seinem Sohn lossagt, ist das zwar bedauerlich, aber in einem solchen Fall …«
»Die Hochzeit wird stattfinden«, unterbrach Lovatt aufgebracht. »Schlussendlich hat Sir Harold nachgegeben, er liebt seinen ältesten Sohn zu sehr, um ihn zu verlieren. Mr Jago ist der Überzeugung, die Wogen werden sich glätten und die Gesellschaft wird seine Frau akzeptieren.«
»Gut und schön, ich denke, Sie haben mir den aktuellen Klatsch nun in aller Ausführlichkeit unterbreitet.« Seine Ungeduld konnte Cranleigh nicht länger verbergen. »Die Familie gehört zu Ihrer Gemeinde, Mr Lovatt. Ich bin sicher, Sie haben alles in Ihrer Macht Stehende getan …«
»Ich kann das Paar nicht trauen«, platzte Lovatt heraus.
»Wie bitte?« Cranleigh glaubte, sich verhört zu haben.
Lovatt drückte seinen Rücken durch, um etwas größer zu erscheinen. »Ich habe meine Prinzipien, Mr Cranleigh. Das Sakrament der Ehe darf niemals leichtfertig erteilt werden. Man muss nicht besonders welterfahren sein, um zu erkennen, dass diese Person nur eines im Sinn hat: Den Titel einer Lady, eine Stellung in der Gesellschaft und das Geld der Carter-Jones´. Das kann und werde ich nicht unterstützen.«
»Ihre Bedenken sollten Sie mit Sir Harold besprechen«, erwiderte Cranleigh. »Ich sehe nicht, wie ich Ihnen behilflich sein könnte.«
»Sie sollen die Trauung vollziehen.«
»Was?« Nun glaubte sich Cranleigh verhört zu haben.
»Aus dem Grund bin ich hier«, fuhr Lovatt eifrig fort. »Seit fast dreißig Jahren untersteht mir das Kirchspiel von Fowey. Ich habe mir einen guten Ruf erworben, meine Schäflein mögen und ehren mich. In zwei, drei Jahren werde ich mich in den Ruhestand zurückziehen. Ich liebe meine Gemeinde, die Aussicht auf etwas Ruhe und Beschaulichkeit jedoch …«
Den Rest ließ Lovatt offen und Cranleigh verstand. Nach den geschilderten Umständen waren die meisten Leute wohl gegen die Verbindung zwischen Jago Carter-Jones und der amerikanischen Tänzerin. Obwohl vor Gottes Angesicht alle Menschen gleich waren, egal welcher Abstammung, welchen Geschlechts und welchen Berufs, könnte James Lovatt im Ansehen seiner Gemeinde sinken, wenn er die skandalöse Verbindung segnete.
Cranleighs steingraue Augen verengten sich.
»Damit ich Sie richtig verstehe, Mr Lovatt«, fragte er mit einem scharfen Unterton. »Von mir erwarten Sie, dass der Unwille der Leute auf mich fällt, während Sie aus der Sache fein raus sind?«
»Nun ja, also …« Mit zwei Fingern fuhr Lovatt in sein Kollar, als würde ihm die Luft knapp werden. Cranleigh überlegte, ob er ihm ein Glas Wasser holen sollte. Nicht, dass der Kollege noch einen Herzanfall erlitt und vom Stuhl fiel. »Sie sind noch nicht lange in der Gegend«, fuhr James Lovatt fort, »und wie man so hört, ist nicht jeder mit Ihrem Verhalten einverstanden. Sie scheinen Ihre Schäflein öfters vor den Kopf zu stoßen und kümmern sich generell nicht um die Meinungen anderer.«
James Lovatt musste sich ausgiebig über Cranleigh erkundigt haben, denn er hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Cranleigh presste die Lippen zusammen. Sicherlich gab es beliebtere Geistliche als ihn. Seit er in Lower Barton die Pfarrei übernommen hatte, war es ihm nicht gelungen, einen persönlichen Zugang zum Großteil seiner Gemeinde zu finden. Horatio Cranleigh war niemand, der sich verstellte, um Wohlwollen oder gar Freundschaft zu erlangen. Er äußerte offen seine Meinung, nahm kein Blatt vor den Mund und sagte so manchem die Wahrheit, die dieser gar nicht hören wollte.
Er stützte die Handflächen auf die Schreibtischplatte, stemmte sich halb aus dem Stuhl hoch, sah Lovatt fest in die Augen und sagte leise: »Jetzt verstehe ich, Kollege. Sie denken: Der Vikar von Lower Barton kann sich ruhig noch unbeliebter machen.
»So habe ich das nicht gemeint«, ruderte Lovatt zurück. »Es könnte für Sie die Chance sein, in einem größeren Wirkungskreis bekannt zu werden. Die Pfarrei Fowey betreut über doppelt so viele Schäfchen wie Lower Barton.«
»Ich fürchte, die bescheidene Kirche von Lower Barton wird für die Hochzeitsgesellschaft eines künftigen Lords zu klein sein«, wandte Cranleigh ein.
»Die Trauung findet natürlich in Saint Fimbarrus statt«, erklärte Lovatt eifrig. Dass Cranleigh sein Ansinnen nicht sofort abgelehnt hatte, gab ihm Aufwind. »Es ist allerdings zu bezweifeln, dass viele Gäste kommen werden. Jeder, der etwas auf sich und seinen guten Namen hält, wird dieser Hochzeit fernbleiben.«
»Es ist mir neu, dass Geistliche snobistische Ansichten an den Tag legen«, sagte Cranleigh kühl.
»Es hat weniger mit Snobismus als mit dem gesunden Menschenverstand zu tun«, erwiderte Lovatt schlagfertig. »Wenngleich sich die Welt im Wandel befindet – nicht zum Guten, am Rande bemerkt –, eine Nackttänzerin und der Erbe einer angesehenen aristokratischen Familie, eine solche Verbindung kann unter keinen Umständen akzeptiert werden. Mr Cranleigh, auch Sie werden wissen, wie solche Frauen ihr Leben gestalten. Sie pfeifen auf das Sakrament der Ehe, um mit ihren Liebhabern Unzucht zu treiben.«
»Der vorliegende Fall beweist das Gegenteil«, erwiderte Cranleigh unterkühlt. »Ich werde niemanden be- oder gar verurteilen, dem ich nie begegnet bin, sondern bilde mir selbst mein Urteil. Wie lautet denn der Name der besagten Dame?«
»Eine Dame ist sie ganz gewiss nicht!« Zischend stieß Lovatt die Luft aus. »Sie nennt sich Selena Baker. Ob das überhaupt ihr richtiger Name ist, sei dahingestellt.«
»Ich werde mit der Dame sprechen«, betonte Cranleigh.
Trotz seiner Körperfülle sprang Lovatt erstaunlich flink auf, beugte sich über den Schreibtisch und ergriff Cranleighs Hände. Auch Lovatts Handinnenflächen waren schweißnass. Cranleigh musste sich beherrschen, seine Hände nicht ruckartig zurückzuziehen.
»Sie tun es also!«
»Das habe ich nicht gesagt«, erwiderte Cranleigh. Endlich ließ der Kollege ihn los. Nur schwer widerstand Cranleigh dem Impuls, seine Hände an der Soutane abzuwischen. »Ich erkläre mich lediglich bereit, Miss Baker aufzusuchen und mir ein eigenes Urteil über sie zu bilden. Wo kann ich sie finden?«
Nun lächelte Lovatt in einer Art, die fast etwas Verschlagenes an sich hatte. »Das ist ein weiterer Grund, warum ich Sie um den kleinen Gefallen bitte«, erklärte er. »Da Sir Harold die Frau selbstverständlich nicht in seinem Haus dulden kann, solange sie nicht mit Jago verheiratet ist, hält sich das Weib in Higher Barton auf. Dort bereitet sie sich auf die Hochzeit und ihre künftige Stellung in der Gesellschaft vor. Ich habe gehört, Sie haben einen guten Kontakt zu Sir Alwyn und Miss Emily Tremaine. So gesehen gehört Mr Jagos Verlobte sogar zu Ihrer Pfarrgemeinde.«
Cranleigh schluckte trocken. Bei der Nachricht fehlten ihm tatsächlich die Worte, was nur selten geschah. Aber eigentlich überraschte es ihn nicht, dass sich ausgerechnet Miss Emily um die Braut von Jago Carter-Jones kümmerte.
»Da ist noch eine Kleinigkeit«, fuhr Lovatt fort, »die Ihre Bereitschaft, mir den kleinen Gefallen zu tun, nicht beeinflussen wird, dennoch …«
»Dennoch was?«
»Es ist mir nicht verborgen geblieben, dass Ihr Kirchendach einer dringenden Reparatur bedarf«, erklärte Lovatt, sein Lächeln war siegesgewiss. »Sie möchten doch nicht, dass Ihre Schäfchen während der Gottesdienste nass werden, nicht wahr? Sir Harold würde sich entsprechend großzügig zeigen.«
Cranleighs Kiefer mahlten aufeinander. Ihm lag auf der Zunge zu sagen, er sei nicht käuflich, der Kollege aus Fowey hatte aber durchaus recht. Während des vergangenen regenreichen Winters hatte er an drei Stellen Eimer im Chor aufstellen müssen. Der Kirchenbasar im letzten Herbst hatte längst nicht genug Geld eingebracht, um das Dach instand setzen zu lassen. Alwyn Tremaine oblagen zwar alle Gebäude in Lower Barton, darunter auch die Kirche, aber Cranleigh verabscheute es, jemanden um Geld anzubetteln.
»Sie haben es auf den Punkt gebracht, Mr Lovatt«, sagte er ruhig. »Selbstverständlich werde ich auch mit Jago Carter-Jones ein ausführliches Gespräch führen. Ob ich das junge Paar dann trauen werde oder nicht, hängt allerdings allein von dem Eindruck ab, den ich von ihm erhalten werde.«
Cranleigh stand auf, das Zeichen, dass er das Gespräch für beendet hielt, und sagte: »Am besten fahre ich gleich nach Higher Barton raus. Ich werde Ihnen meinen Entschluss mitteilen.«
»Zögern Sie mit Ihrer Entscheidung nicht zu lange, Mr Cranleigh«, mahnte Lovatt. »Der Termin der Hochzeit ist bereits in zehn Tagen anberaumt und entsprechend ist alles vorbereitet.«
Zu wenig Zeit, einen anderen Dummen zu finden, dachte Cranleigh grimmig. Er war froh, als die Haustür hinter dem Kollegen aus Fowey ins Schloss fiel.
ZWEI
Emily Tremaine half ihrem Gast, das leichte Nachmittagskleid in einen leinenen Sack zu legen, um es vor Staub und Schmutz zu schützen. Das zitronenfarbene Kleid war aus Georgette mit einer schmalen Taille gearbeitet. Die luftigen Puffärmel reichten bis zu den Ellenbogen, der Saum war mit rosaroten Rosen bestickt.
»Die Farbe ist sehr auffällig«, sagte Emily. »Nur wenige Frauen können sie tragen. Dir steht sie ausgezeichnet.«
»Gelb ist die Farbe der Saison«, erwiderte Selena lächelnd. »Glücklicherweise unterscheidet sich die Mode in den Staaten kaum von der in England.« Sie musterte Emilys rostfarbenes Kleid aus einem dünnen Wollstoff, mit langen Ärmeln und einem schmalen Bahnenrock. »Möchtest du dir nicht auch ein neues Kleid schneidern lassen?«
»Meine Garderobe ist praktisch, bequem und völlig ausreichend«, antwortete Emily. »Auf dem Land gibt es wenig Möglichkeiten, sich elegant zu kleiden.«
Selena schmunzelte. »Unsere Hochzeit ist eine gute Gelegenheit, um sich richtig herauszuputzen.«
»Keine Sorge, für diesen besonderen Anlass habe ich meine Mutter gebeten, mir mein bestes Ballkleid zu schicken.« Emily stimmte in Selenas Lachen ein. »Es stammt zwar aus der vorletzten Saison, ich denke aber nicht, dass es jemandem auffallen wird. Damit es mir passt, werde ich mich sogar in ein Korsett quetschen lassen.«
»Ich kenne kaum eine Frau, die auch ohne Korsett eine so tadellose Figur macht«, sagte Selena neidlos. »In Amerika verzichten immer mehr Frauen, auch die aus der besseren Gesellschaft, auf die steifen, unbequemen Mieder.«
»Am anderen Ufer des großen Teiches scheint vieles fortschrittlicher als in England zu sein«, bemerkte Emily. »Du hast mir schon so viel von Amerika erzählt. Ach, ich könnte dir stundenlang zuhören.«
»Du musst die Staaten bald selbst besuchen«, schlug Selena vor, dann wechselte sie das Thema: »Jetzt fehlen nur noch die Morgen- und Nachmittagsgarderoben. Eure Schneiderin ist ausgezeichnet. Sie hat alle meine Wünsche perfekt umgesetzt. Ich kann es kaum erwarten, das Brautkleid anzuziehen und in ihm zum Altar zu schreiten. Es scheint mir noch ewig zu dauern.«
»Die letzten zehn Tage werden schneller vergehen, als dir lieb ist, Selena«, mahnte Emily. »Es gibt noch so viel zu tun. Morgen fahren wir nach Truro, um deine restliche Ausstattung zu besorgen.«
Selena Bakers Brautkleid war vor zwei Tagen von der Schneiderin geliefert worden und hing wohlverwahrt im Schrank. Beim Anblick des duftigen Traums aus elfenbeinfarbener Seide und zart geklöppelter Spitze war Emily für einen Augenblick etwas wehmütig geworden. Mit bald neunundzwanzig Jahren hatte sie wenig Hoffnung, selbst als strahlende Braut vor den Altar zu treten. Eigentlich wollte sie auch nicht heiraten, nur um verheiratet und vermeintlich versorgt zu sein. Die Ehe bedeutete für Emily eine Form von Unterdrückung. Für ihren Mann gab die Frau alles auf, selbst ihr eigenes Geld, sofern sie über welches verfügte. Stets musste sie ihrem Gatten zustimmen, zu allem Ja und Amen sagen, keine eigene Meinung haben und durfte keinen Beruf ausüben. In ihrer Gesellschaftsschicht engagierte sich eine ehrbare Gattin allenfalls in verschiedenen Komitees und Wohltätigkeitsvereinen. Da saß man dann mit Matronen beisammen, trank Massen von Tee, aß süßen Kuchen und überlegte, welche Wohltaten man mit dem Geld der Ehemänner tun könnte. Bei diesen Gedanken schüttelte sich Emily wie ein nasser Welpe. Nein, die Ehe war nichts für Emily. Sie war glücklich und zufrieden mit ihrem Leben und wollte daran nichts ändern.
»Alles in Ordnung, Emily?«, fragte Selena besorgt. »Du hattest gerade einen Gesichtsausdruck, als würde man dich gleich zur Folterbank schleppen.«
»Alles ist gut.« Emily winkte ab und lächelte unbeschwert. »Ich dachte nur daran, wie unterschiedlich wir beide sind. Du kannst es kaum erwarten, dir das Joch der Ehe überstreifen zu lassen, während ich hoffe, meine Persönlichkeit niemals wegen eines Mannes aufgeben zu müssen.«
»Verheiratet zu sein heißt nicht, sich aufzugeben«, erwiderte Selena ernst. »Jedenfalls nicht an der Seite des richtigen Mannes«, sie lächelte versonnen, »… den man von Herzen liebt.«
Sie liebt Jago Carter-Jones sehr, dachte Emily. Wenn man so mit Haut und Haaren in jemanden verliebt ist, sieht man nicht die Schwierigkeiten die auf einen zukommen könnten. In Emilys Leben hatte es bisher keine tiefe, aufrichtige Liebe gegeben, und ohne solche Gefühle würde sie keinem Mann ihre Hand reichen.
»Es ist schön, dass wir Freundinnen geworden sind«, riss Selena Emily aus den Gedanken. »Du und dein Onkel haben mich freundlich und bereitwillig auf Higher Barton aufgenommen, obwohl ganz Cornwall mich ablehnt und über die Hochzeit entrüstet ist.«
»Das wird sich bald ändern«, erwiderte Emily. »Du musst den Leuten hier Zeit lassen. New York ist weit weg und das Leben in Amerika ist kaum mit dem unseren zu vergleichen. Für die Engländer bist du ein exotisches Wesen, ähnlich einem Affen im Tierpark. Wenn sie dich aber erst besser kennen, werden sie dich mögen.«
»Das hast du lieb gesagt, Emily.« Selenas Lächeln wirkte etwas verkrampft. »Ich bin sicher, Jago und ich werden sehr glücklich miteinander werden. Sein Vater hat sich an den Gedanken gewöhnt, mein Schwiegervater zu werden. David hingegen …« Sie seufzte. »Ich fürchte, Jagos Bruder hasst mich.«
»Nicht doch, Selena, Hass ist ein so garstiges Wort.« Tröstend legte Emily eine Hand auf Selenas Arm. »David ist über die Verbindung nicht erfreut, da er seinen Bruder aber liebt, wird er dich sicherlich akzeptieren.«
»Glücklicherweise ist Allerby House groß genug, um sich aus dem Weg zu gehen«, erwiderte Selena. »Wäre es nicht wundervoll, wenn David auch bald heiraten und einen eigenen Hausstand gründen würde? Du weißt nicht zufällig, ob es in Davids Leben eine Frau gibt?«
»David ist ein ruhiger, besonnener Mann«, antwortete Emily. »Nur selten kann man hinter seine Stirn sehen und ahnen, was er denkt und fühlt.«
Emily verzichtete darauf, Selena zu erzählen, dass ihr Onkel im letzten Jahr geplant hatte, sie, Emily, solle David Carter-Jones heiraten. Für Emilys Geschmack war David zwar etwas zu ruhig, optisch aber durchaus attraktiv. Als zweiter Sohn eines vermögenden, einflussreichen Adligen würde David den Familienbesitz zwar nicht erben, seine Zukunft war dennoch aussichtsreich. Allein jedoch, dass er keine Haustiere mochte und von seiner Frau absolute Unterwerfung erwartete, hatte Emily schnell vor Augen geführt, dass sie niemals seine Frau werden würde. David Carter-Jones sah es ähnlich. Er sah in Emily eine der unsäglichen Suffragetten, die immer zahlreicher wurden und, seiner Ansicht nach, ihren Geschlechtsgenossinnen revolutionäres Gedankengut in die Köpfe pflanzten und sie aufstachelten, gegen die bewährten Ordnungen zu verstoßen.
»Allerby House ist ein wundervolles altes Gemäuer«, plapperte Selena unbeschwert weiter. »Ich freue mich wahnsinnig darauf, dort zu leben.«
»Wird es dir in Cornwall nicht zu einsam werden?«, fragte Emily. »Dein bisheriges Leben hast du in New York verbracht, einer der größten Städte der Welt. Die unzähligen Theater, Museen und sonstigen Vergnügungen werden dir sicher fehlen.«
Für einen Moment zog ein Schatten über Selenas Gesicht. Schnell winkte sie ab und sagte unbeschwert: »Jago und ich werden regelmäßig nach London reisen. Mir ist es egal, wo ich lebe. Hauptsache, Jago und ich sind beisammen.« Sie sah Emily fragend an. »Ob es in Allerby House ein Verlies, verborgene Kammern und geheime Gänge gibt? Das Haus ist uralt! Es muss einfach ganz viele Geheimnisse bergen. Vielleicht spukt es sogar.«
Emily platzte lachend heraus: »Ihr Amerikaner denkt, in jedem alten englischen Haus wandert ein Geist herum. Bei meinen Besuchen in Allerby House ist mir noch keine weiße Frau oder ein kopfloser Reiter begegnet. Was Geheimgänge und so angeht – da musst du Jago fragen.«
»Er lacht mich wie du aus«, antwortete Selena gespielt ernst. »Wenn ich seine Frau bin, werde ich das Haus von oben bis unten absuchen.«
»Mehr als eine Menge Spinnweben mit den entsprechenden Bewohnern wirst du wohl nicht finden«, bemerkte Emily trocken.
Selena strich noch einmal über den Kleidersack, schloss die Schranktür und sagte dann: »Entschuldige mich bitte kurz. Ich muss dringend mal p…«
»Selena!«, rief Emily betont streng.
»Entschuldigung, es ist mir rausgerutscht«, erwiderte Selena zerknirscht. »Ich wollte sagen: Ich gehe kurz meine Nase pudern.«
»Schon besser.«
Lächelnd sah Emily ihr nach, als Selena das gemütliche, helle Eckzimmer im Westflügel verließ. In den letzten zwei Wochen hatte sie an Selenas Sprache und ihrer Ausdrucksweise kräftig gefeilt, es gab aber immer noch eine Menge zu tun. Allerdings bezweifelte Emily, dass Selena Baker jemals das Auftreten und Benehmen an den Tag legen würde, wie es in der englischen Oberschicht von einer Lady erwartet wurde.
Emily war verblüfft gewesen, als Onkel Alwyn ihr mitgeteilt hatte, sie würden einen Gast aufnehmen.
»Es handelt sich um die Braut von Jago Carter-Jones«, hatte Alwyn erklärt. »Sie kommt aus Amerika, dort soll sie als Tänzerin aufgetreten sein. Wahrlich nicht gerade die Art Frau, die mein Freund Harold sich als Schwiegertochter gewünscht hätte. Da die Braut in England keine Verwandten oder andere Bekanntschaften hat und es natürlich unmöglich ist, vor der Hochzeit mit ihrem künftigen Mann unter einem Dach zu wohnen, werden wir uns um sie kümmern.«
»Du meinst wohl, ich werde mich um die Dame kümmern«, erwiderte Emily. »Ich habe von der Neuigkeit gehört, dass Mr Jago eine Amerikanerin heiraten möchte. Du siehst mich erstaunt, Onkel, dass du so bereitwillig eine Bürgerliche, die zudem noch Tänzerin gewesen war, in Higher Barton aufnehmen willst.«
»Ich weiß, du hältst mich für einen steifen Snob.« Alwyn seufzte, als läge alle Last der Welt auf seinen Schultern. »Ich mache das nur der alten Freundschaft zu Harold Carter-Jones wegen. Über den Entschluss seines Sohnes war er zuerst sehr verärgert, musste aber einsehen, dass er ihm die fixe Idee nicht ausreden kann. Emily, bisher hast du Jago Carter-Jones nicht kennengelernt. Er ist ganz anders als sein Bruder David. Nicht so ernst und arbeitseifrig, im Gegenteil. Jago liebt das Leben und dessen Leichtigkeit und Schönheiten. Er schlägt sehr seinem Vater nach, während David das Naturell seiner ernst veranlagten Mutter geerbt hat.«
»Ich habe gehört, dass so gut wie jeder in Cornwall die Verbindung für einen Skandal ansieht«, bemerkte Emily. »Wenn sich die zwei aber lieben …«
»Das gilt es herauszufinden«, wandte Alwyn ein. »Selena Baker ist nur wenig jünger als du. Es wird dir sicher gelingen, die Absichten der Tänzerin zu ergründen. Es ist ja nicht ausgeschlossen, dass sie es lediglich auf das Geld der Carter-Jones’ abgesehen hat.«
»Ich soll Jagos Braut ausspionieren?« Empört stemmte Emily die Hände in die Seiten.
»Sachte, sachte, Nichte«, wiegelte Alwyn ab. »Deine gute Menschenkenntnis hast du bereits unter Beweis gestellt, Emily, ebenso dein Näschen, Dingen auf den Grund zu gehen. Sir Harold und ich möchten lediglich, dass du die Braut näher kennenlernst und die Ernsthaftigkeit ihrer Absichten ergründest. Offenbar stammt sie aus einfachen Verhältnissen. Ihr Leben in Amerika unterscheidet sich sehr von dem, was von einer englischen Lady erwartet wird. Es kann nicht schaden, wenn du einen guten Einfluss auf sie ausübst.«
»Ach, du bist der Ansicht, ich habe einen guten Einfluss auf andere?« Emily kniff ein Auge zusammen, musterte ihren Onkel und schmunzelte. »Ich dachte, mit meinen modernen Ansichten sei ich eine Schande für jede Dame der Gesellschaft.«
»Das habe ich so nie gesagt«, brummte Alwyn. »Leg nicht jedes Wort auf die Goldwaage, Nichte! Du hast durchaus gute Eigenschaften, wenngleich ich wahrlich viele deiner Ideen nicht verstehen kann. Ich habe aber gelernt, sie zu respektieren, sofern es nicht zum Schaden anderer oder unseres Namens ist.«
»In den letzten Monaten hast du viel getan, Onkel Alwyn«, gab Emily zu. »Die Minenarbeiter haben einen eigenen Arzt, der sich um sie kümmert, und die Kinder ein eigenes Schulhaus.«
»Vergiss bei deiner Lobeshymne auf mich bitte nicht die Sanierung der Cottages der Arbeitersiedlung«, sagte Alwyn betont ernst, die Fältchen in seinen Augenwinkeln tanzten jedoch auf und ab.
»Als nächstes wäre dann das Telefon …«
»Und ein Automobil, ich weiß«, unterbrach er Emily. »Ein Schritt nach dem anderen, Nichte. Jetzt empfangen wir erst mal Jagos Verlobte, gehen zu der Hochzeit und dann sehen wir weiter.«
Selena Baker war eine der schönsten Frauen, die Emily je gesehen hatte. Sie war mittelgroß, mit einer eher kleineren Brust, einer sehr schmalen Taille und langen, wohlgeformten Beinen. Ihr heller, klarer Teint stand in Kontrast zu ihren dunkelbraunen Augen und dem schwarzen Haar, das wie polierter Lack glänzte und in sanften Wellen über ihre Schultern fiel. Bereits bei ihrer ersten Begegnung, als Jago Carter-Jones seine Verlobte nach Higher Barton gebracht und vorgestellt hatte, waren Emilys Sympathien der schönen Frau zugeflogen. Selena Baker war sich ihres liebreizenden Äußeren zwar bewusst, jedoch nicht eingebildet. Sie war nicht schüchtern oder zurückhaltend, aber weit davon entfernt, vulgär zu wirken, wie es von manchen erwartet worden war. Emily schmunzelte über Selenas amerikanischen Akzent und die vielen Wörter, die in den beiden Ländern unterschiedlich waren und die gleichen Sachen beschrieben. Selena war lernwillig und bemüht, so schnell und so viel wie möglich von dem Leben zu erfahren, auf das sie mit raschen Schritten zusteuerte.
Selenas Rückkehr in das Zimmer brachte Emily wieder in die Gegenwart zurück. Sie wollte gerade an der Klingelschnur ziehen und den Tee bestellen, da trat der Butler ins Zimmer.
»Was gibt es, Marston?«, fragte Emily.
»Mylady, Vikar Cranleigh möchte Sie sprechen.«
»Cranleigh?« Emily runzelte die Stirn. Außer bei den sonntäglichen Gottesdiensten hatte sie den Geistlichen seit Wochen nicht mehr gesehen. »Er ist hier?« Der Butler nickte. »Gut, führen Sie ihn in die Bibliothek. Ich werde ihn dort empfangen.«
»Mr Cranleigh bittet darum, auch Miss Baker zu sprechen«, sagte Marston.
»Mich?«, fragte Selena. »Ich kenne den Mann doch überhaupt nicht.« Sie sah zu Emily. »Nach allem, was du mir über euren Vikar erzählt hast, ist er kein sehr umgänglicher Mensch.«
Emily schmunzelte. »Horatio Cranleigh hat durchaus positive Eigenschaften. Meistens versteht er es jedoch, sie zu verstecken. Marston, servieren Sie bitte den Tee und etwas Gebäck in der Bibliothek, auch für Mr Cranleigh. Mein Onkel ist noch unterwegs?«
»Ja, Mylady. Mylord meinte heute Vormittag, er würde frühestens zum Dinner zurück sein.«
Nachdem sich der Butler zurückgezogen hatte, trat Emily vor den Spiegel auf der Frisierkommode und steckte eine Haarsträhne fest, die sich aus ihrem Knoten am Hinterkopf gelöst hatte. Dann gingen sie und Selena nach unten in die Bibliothek.
Wie die Große Halle stammte auch die Bibliothek aus dem 16. Jahrhundert. Einst waren es zwei kleinere Schlafräume für den jeweiligen Lord und die Lady Tremaine gewesen, im 17. Jahrhundert war dann die mittlere Wand eingerissen worden und so der größere Raum entstanden. Deckenhohe Bücherregale bedeckten drei Seiten. Nach Westen ausgerichtet führten bodentiefe Glastüren zu einer gefliesten Terrasse. Ein hoher, breiter Kamin spendete auch an kühlen Tagen Wärme. Für Emily war die Bibliothek der schönste Raum im Haus. Regelmäßig saß sie in dem bequemen Sessel vor dem Kamin und las in einem der zahlreichen Bücher. Nicht selten lag Sabu auf ihrem Schoß. Der hübsche, rote Kater hatte einen Narren an Emily gefressen – und sie an ihm. Obwohl seine Aufgabe im Mäusejagen in den Stallungen bestand, der Sabu auch nachkam, suchte er regelmäßig Emilys Nähe.
Heute war von Sabu keine Spur zu entdecken. Vor dem Kamin stand ein großer, athletisch gebauter Mann. Wie immer war er ganz in Schwarz gekleidet, das Kollar war der einzige helle Farbtupfer an seiner Erscheinung.
»Mr Cranleigh.« Emily nickte ihm zu. »Welch’ Ehre, dass Sie uns besuchen.«
»Ob es eine Ehre ist, wird sich erst noch herausstellen«, brummte er, besann sich dann aber auf die Umgangsformen und neigte den Kopf. »Miss Tremaine, ich freue mich, Sie bei bester Gesundheit anzutreffen.« Sein Blick glitt zu Selena. »Ich nehme an, Sie sind Miss Selena Baker.«
»Das ist mein Name«, erwiderte Selena und musterte den Vikar eingehend. »Emily hat mir bereits viel von Ihnen erzählt, Vikar.«
»Glauben Sie nicht einmal die Hälfe«, bemerkte Cranleigh. »Miss Tremaine neigt manchmal zu Übertreibungen.«
»Tja, eigentlich obliegt es mir, Gäste einander vorzustellen«, bemerkte Emily trocken. »Ich glaube, das kann ich mir jetzt sparen.«
»Als ob Sie großen Wert auf Konventionen legen, Miss Tremaine«, sagte Cranleigh. »Nun, ich möchte Ihre Zeit auch nicht lange in Anspruch nehmen. Was mich heute nach Higher Barton führt, ist …« Er legte seine Fingerspitzen aufeinander, betrachtete einen Moment seine schmalen, gepflegten Nägel, hob dann den Kopf und erklärte: »Mr Lovatt lehnt es ab, die Trauung zu vollziehen.«
»Mr Lovatt?« Emily runzelte die Stirn.
»Der Vikar von Fowey«, antwortete Selena und seufzte. »Die Nachricht kommt nicht überraschend. Jago deutete an, dass es Schwierigkeiten geben wird.«
»Warum will der Vikar euch nicht trauen?«, fragte Emily erstaunt.
»Das liegt wohl auf der Hand, Miss Tremaine«, sagte Cranleigh. Er musterte Selena. Aufmerksam, interessiert, aber nicht abschätzend. »Sie, Miss Baker, stammen aus einer anderen Welt als die ehrbare Familie Carter-Jones.«
»Wollen Sie andeuten, Selena sei nicht ehrbar?«, fragte Emily empört. Sie stemmte die Arme in die Seiten. »Von einem Geistlichen habe ich nicht angenommen, er wäre ein Snob und steckte einen Menschen ohne ihn zu kennen in eine Schublade.«
Cranleighs Miene glich einem Gewittersturm kurz vor dem Ausbruch. Emily hielt ihm das gleiche Argument entgegen, wie er zuvor dem Vikar von Fowey. »Deswegen mein heutiger Besuch. Eben weil ich über niemanden vorschnell ein Urteil fälle, ohne die Person zu kennen. Ihr hitziges Temperament geht mal wieder mit Ihnen durch, Miss Tremaine.«
»Ihre Worte kamen dennoch einer Beleidigung gegenüber Miss Baker gleich, Vikar!«
»Lass es gut sein, Emily«, sagte Selena leise. Bei ihren nächsten Worten klang ihre Stimme bitter: »Euch Engländern erscheint es unvorstellbar, dass sich zwei Menschen unabhängig von Stand, Herkunft und Geld ineinander verlieben. Weil ich aus einfachen Verhältnissen stamme, geht ihr davon aus, dass ich mich mit Jago nur eingelassen habe, um versorgt zu sein und die große Dame zu spielen.«
»So denke ich nicht über dich, Selena!«, sagte Emily nachdrücklich. Sie sah zum Vikar. »Und Mr Cranleigh ebenso nicht. So ist es doch, nicht wahr?«
Cranleighs Tonfall wurde eine Spur freundlicher, als er antwortete: »Kollege Lovatt hat mich gebeten, die Zeremonie der Trauung zu übernehmen.«
»Wir sollen in Lower Barton heiraten?«, fragte Selena überrascht.
»Nicht in Lower Barton, sondern wie geplant in der Kirche in Fowey. Mr Lovatt überlässt mir dafür großzügig sein Gotteshaus.«
»Wie überaus freundlich von ihm«, presste Emily zwischen den Zähnen hervor. Über die Dünkelhaftigkeit dieses Lovatt war sie zornig. Am liebsten wäre sie auf der Stelle nach Fowey gefahren und hätte dem arroganten Gottesmann ihre Meinung gesagt.
»Und?«, fragte Selena. »Werden Sie es machen, Mr Cranleigh?«
Er antwortete nicht, sah zu Emily und sagte: »Lassen Sie mich mit Miss Baker allein.«
»Aber …«
»Das ist in Ordnung, Emily.« Selena straffte die Schultern, sie wirkte sehr selbstbewusst. »Wenn euer Vikar mich und meine Liebe zu Jago auf Herz und Nieren prüfen möchte – ich habe nichts zu verbergen.«
Zögernd verließ Emily das Zimmer. In der Halle ging sie unruhig auf und ab. Am liebsten hätte sie durchs Schlüsselloch gelinst und ein Ohr an die Tür gelegt. Das ging dann aber doch zu weit.
Nach einer halben Stunde kam Mr Cranleigh aus der Bibliothek. Ohne Erklärung, nur mit einem Nicken in Richtung Emily, schritt er an ihr vorbei und verließ Higher Barton.
Emily ging in die Bibliothek. Selena stand vor den Glastüren und sah in den Garten hinaus.
»Was hat er gesagt?«, fragte Emily gespannt.
Langsam drehte sich Selena zu ihr um. »Er macht es«, antwortete sie. »Auch Mr Cranleigh hegt Zweifel an meiner Aufrichtigkeit. Trotzdem wird er Jago und mich in Saint Fimbarrus in Fowey am übernächsten Sonntag trauen.«
DREI
Emily konnte sich nicht erinnern, jemals eine schönere und glücklichere Braut gesehen zu haben. Die elfenbeinfarbene Seide schmiegte sich eng an Selenas Oberkörper, ließ den Ansatz ihrer Brüste auf schickliche Weise frei, weitete sich an ihren Hüften und fiel in einem ausgestellten, mit belgischen Spitzen verzierten Glockenrock bis zu den Knöcheln hinab. Die schwarzen Haare hatte Selena locker aufgesteckt und mit Hasenglöckchen geschmückt, die zu dieser Jahreszeit in Cornwall in verschwenderischer Fülle blühten. Auf einen Schleier hatte sie verzichtet. Nach der etwa einstündigen kirchlichen Zeremonie und der Fahrt in der offenen Kutsche nach Allerby House ließen nun einige der blauen Blüten die Köpfe hängen. In einer Stunde würden Selena und Jago Carter-Jones sich ohnehin umziehen und zu ihrer Hochzeitsreise aufbrechen.
Horatio Cranleigh trat neben Emily. Sie standen vor dem Portal des Herrenhauses in der angenehm warmen Sonne. Zwei livrierte Diener, die Rücken durchgestreckt und mit ausdruckslosen Mienen, gingen zwischen den Gästen umher und boten auf Tabletts Champagner und erfrischenden Punsch an. Cranleigh nahm sich eine Sektschale und prostete Emily zu.
»Sie trinken nicht auf das Wohl des jungen Paares?«, fragte er.
»Ich habe bereits mit Selena und Mr Jago angestoßen«, antwortete Emily. »Tagsüber trinke ich keinen Alkohol. Er steigt mir schnell zu Kopf.«
»Ich eigentlich auch nicht«, sagte Cranleigh, »aber bei dem Anlass mache ich eine Ausnahme.«
Er hob sein Glas in Richtung des Brautpaares, das neben dem Springbrunnen stand und mit zwei älteren Damen plauderte. Offenbar hatte Jago eben einen Scherz gemacht, denn Selena lachte laut auf, und die Damen schmunzelten.
»Trotz Ihrer Bedenken haben Sie Selena und Jago getraut«, sagte Emily. »Mir gefiel Ihre Predigt. Ich glaube, Sie haben dabei auch ein- oder zweimal gelächelt. Jetzt feiern Sie eine Verbindung, die Sie eigentlich für anstößig halten. Nun ja, der Champagner ist recht schmackhaft. Als Landpfarrer kommen Sie wohl eher selten in den Genuss solch edler Getränke.«
»Soll das ein Vorwurf sein?« Schlagartig verdüsterte sich Cranleighs Gesichtsausdruck.
»An einem so wundervollen und glücklichen Tag wie heute verspürte ich nicht den Drang, Vorwürfe zu machen.«
Spöttisch zog der Vikar eine seiner buschigen Augenbrauen hoch und erwiderte: »In der Tat sind Sie heute recht zahm, Miss Tremaine.«
»Zahm?« Emily runzelte die Stirn. »Ist es Ihrer Aufmerksamkeit entgangen, dass ich kein Pferd bin, das gezähmt gehört?«
»Meine Höflichkeit verbietet mir, eine ehrliche Antwort zu geben.«
»Das ist unglaublich!« Emily beherrschte sich mühsam, nicht zornig mit dem Fuß aufzustampfen. »Sie sind unmöglich! Ich weiß nicht, warum ich auch nur einen Atemzug darauf verschwende, mit Ihnen Konversation zu machen.«
David Carter-Jones, der jüngere Bruder des Bräutigams, trat zu ihnen. Er hatte Emilys Ausbruch mitbekommen und sagte beschwichtigend: »Aber, aber, wer wird an einem so schönen Tag denn streiten?«
Horatio Cranleigh musterte den jungen Adligen, sagte: »Meinen Glückwunsch zu Ihrer neuen Schwägerin«, drehte sich um und stapfte davon.
Grimmig blickte Emily dem Vikar nach. Was hatte sie denn jetzt schon wieder falsch gemacht? Eben hatte sie Horatio Cranleigh noch ein Lob zu seiner Predigt ausgesprochen. Am besten ging sie ihm für den Rest des Tages aus dem Weg.
»Waren Sie schon einmal in Paris, Emily?«, fragte David, um die Situation zu entspannen.
»Das Vergnügen hatte ich bisher nicht«, antwortete Emily und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf David Carter-Jones. »Auch Wien, Venedig und Rom kenne ich nur von Bildern und Reisebeschreibungen.«
»Das Schicksal teilen wir.« David lächelte, aber Emily meinte, einen besorgten Schimmer in seinen Augen zu erkennen.
»Wie lange plant Ihr Bruder fortzubleiben?«, fragte sie.
»Das kann man bei einer Hochzeitsreise nie genau sagen«, antwortete David. »Oft sind einige Wochen geplant, die sich dann zu mehreren Monaten ausweiten. Da mein Bruder aber das ganze letzte Jahr nicht zu Hause war, wird sein Fehlen kaum ins Gewicht fallen.«
Aus dem letzten Satz hatte Emily eindeutig einen bitteren Unterton herausgehört. »Der Besitz ist bei Ihnen und Ihrem Vater in den besten Händen«, sagte sie.
»Jago hat sich noch nie um Allerby gekümmert.« David sah wohl keine Veranlassung, sich gegenüber Emily zu verstellen. »Mein Bruder bereist lieber die Welt, als seinen Pflichten nachzukommen. Warum sollte er sich auch anders verhalten? In den Augen unseres Vaters ist Jago einfach perfekt.« Nun erst wurde es David bewusst, dass er gegenüber Emily keine derart privaten Äußerungen machen sollte. Er deutete eine Verbeugung an und fügte hinzu: »Sie müssen mich jetzt entschuldigen. Ich sollte mich auch um die anderen Gäste kümmern.«
Emily schlenderte zu ihrem Onkel, der sich angeregt mit einer greisen, schwarz gekleideten Frau unterhielt. Ihr Gesicht war von tiefen Falten durchzogen, der Rücken gekrümmt, und sie stützte sich schwer auf einen Krückstock. Ihre wasserhellen Augen blickten hingegen wach.
»Ah, Emily!« Alwyn Tremaine winkte sie zu sich heran. »Miss Bedford, ich möchte Ihnen meine Nichte Emily Tremaine vorstellen.«
Die alte Dame reichte Emily die Hand. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Miss. Einst war ich das Kindermädchen von Sir Harold. Manchmal war er ein wirklich schlimmer Junge.« Ihr vergnügliches Lächeln, das zahnlose Kiefer entblößte, strafte ihre Worte Lügen. Sie hob die Hand und drohte Alwyn. »An Sie, Mylord, erinnere ich mich ebenfalls gut. Sie und Harold trieben Ihre Scherze mit mir und dem ganzen Personal. Aber Ihre Kröten und Mäuse, die Sie mir ins Bett steckten, haben mich nie wirklich schockiert, im Gegenteil. Ich brachte die armen Tiere wieder nach draußen und ließ sie laufen.«
»So schlimm waren wir doch gar nicht«, sagte Alwyn lächelnd. »Ich freue mich, Sie bei solch guter Gesundheit zu sehen, Miss Bedford.«
»Ach, ich habe inzwischen ein knackiges Alter erreicht«, erwiderte die einstige Kinderfrau. »Jeden Tag knackt es nämlich woanders in meinem Körper.«
Emily und Alwyn lachten unbeschwert. Emily konnte sich den Onkel kaum als Jungen vorstellen, der anderen Streiche spielte.
»Ich habe den Eindruck gewonnen, Mr David ist es ganz recht, wenn sein Bruder sich so wenig wie möglich in Allerby aufhält«, sagte Miss Bedford nun. Ihr Körper mochte alt sein, ihr Geist war es nicht die Spur. »Mr David kümmert sich trefflich um den Besitz, da der liebe Harold auch in die Jahre gekommen ist.«
»Mit Mr Jago habe ich bisher nur wenige Worte gewechselt«, erwiderte Emily. »Dennoch habe ich den Eindruck gewonnen, er eignet sich nicht für die Land- und Verwaltungsarbeit.«
»Jago eignet sich für keine Art von Arbeit.«
Emily und Alwyn zogen gleichzeitig geräuschvoll die Luft ein, dann sagte Alwyn: »Das sind harte Worte, Miss Bedford.«