Bonames - Charly Weller - E-Book

Bonames E-Book

Charly Weller

3,0

Beschreibung

Frankfurt am Main in Angst und Schrecken. Die IAA bedroht von Anschlägen. Während einer Pressekonferenz ein Attentat auf einen Software-Entwickler, der maßgeblich in den Diesel-Betrugs-Skandal verstrickt war. Die Bedrohungslage ist ernst. Sehr ernst. Alle Polizeikräfte sind mobilisiert, um die Lage in den Griff zu kriegen. Als im nördlichen Stadtteil Bonames eine junge Bankangestellte erschossen am Steuer ihres Kleinwagens aufgefunden wird, fordert man den Gießener Kommissar Roman Worstedt als Spezialisten für soziale Brennpunkte an. Gemeinsam mit seiner Kollegin Regina Maritz soll Worstedt – hinter seinem Rücken despektierlich "Worschtfett" genannt – die Ermittlungen übernehmen. Je mehr die Hintergründe der unterschiedlichen Verbrechen zutage gefördert werden, desto mehr scheinen diese auf erschütternde Weise miteinander verwoben zu sein.

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Vom Autor bisher bei KBV erschienen:

Eulenkopf

Finsterloh

Katzenkönig

Totenwind

Charly Weller, geb. 1951 in Marburg a. d. Lahn, ist von Hause aus Filmemacher. Nach seiner Jugend in Gießen und Wetzlar studierte er zunächst Theologie, es folgte das Jura- und Publizistikstudium in Berlin. Zwischenzeitlich betätigte er sich als Fotograf, Journalist, Taxifahrer, Versicherungsvertreter und Kinobetreiber. Nach der Regieassistenz unter Peter Fleischmann drehte er erste eigene Filme und wurde ausgezeichnet, u. a. mit dem Prix du Jury in Cannes und dem Max-Ophüls-Förderpreis. Er war Regisseur zahlreicher Folgen von TV-Krimi-Serien wie Ein Fall für Zwei, Die Kommissarin, Im Namen des Gesetzes, Auf Achse und anderen.

Sein erster Kriminalroman Eulenkopf wurde 2015 für den Friedrich-Glauser-Preis in der Sparte Debüt nominiert. Heute lebt er mit seiner Ehefrau Ritchie als freier Autor und Regisseur in der Nähe von Gießen und ist als Dozent an der Technischen Hochschule Mittelhessen tätig.

Charly Weller

BONAMES

Originalausgabe

© 2018 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

www.kbv-verlag.de

E-Mail: [email protected]

Telefon: 0 65 93 - 998 96-0

Fax: 0 65 93 - 998 96-20

Umschlaggestaltung: Ralf Kramp

unter Verwendung von: © efks und © Frank Wagner -

www.fotolia.de

Lektorat: Volker Maria Neumann, Köln

Druck: CPI books Ebner & Spiegel GmbH, Ulm

Printed in Germany

Print-ISBN 978-3-95441-434-5

E-Book-ISBN 978-3-95441-444-4

Für Fred

Lebbe geht weider

Dragoslav Stepanović,Ex-Trainer Eintracht Frankfurt

Inhalt

Über den Autor

PROLOG

1. HUPEN

2. TO WHOM THE WHISTLE BLOWS

3. AUSGERECHNET BONAMES

4. WARMDUSCHER

5. DATTERICH

6. DARKNET

7. KRANTALER

8. GINGER UND FRED

9. DER MANN VON GHANA

10. HOPPLA

11. EIN GUTER FREUND

12. CHEFSACHE

13. EIGENE WEGE

14. FLÜGEL KAPUTT

15. KELLER OHNE LEICHE

16. MUTTIHEFT

17. AUF MONTAGE

18. ICH HASSE EUCH ALLE

19. FOSSILES ZWINKERN

20. SUPER STÖFFCHE

21. VOLLE DRÖHNUNG

22. SEERÄUBER JENNY

23. KEINE BULLEN

24. WÄLDCHESFUND

25. MEINE GINGER

26. LEBBE GEHT WEIDER

27. ZIMMERHUHN

28. TSCHÜ LOWI

29. VERDAMP LANG HER

30. DREI GEDECKE

31. WECKESSERS RACHE

32. WO IST PAPA

33. NORDEND CRASH

34. PFUI IST DAS

35. ZU DEN ESKIMOS

36. BESTE FRIKADELLEN

37. COMING HOME

38. ZWICK IN DER MÜHLE

39. LETZTE CHANCE

40. GROSSER BAHNHOF

41. SCHLECHTE BESSERUNG

42. LAST EXIT BONAMES

43. VON DEN LIPPEN

44. AUSZIEHEN

45. BUON APPETITO

46. AUF HILMAR

NACHWORT & DANKE

MANISCH-GLOSSAR

PROLOG

Weiß, alles weiß. Ein Bild, allenfalls vergleichbar mit dem Anfang des Films Fargo der Coen-Brüder aus dem Jahr 1996. Nur mit dem Unterschied, dass Fargo im winterlich verschneiten North Dakota spielte und wir es hier mit einer spätsommerlich abgelegenen Landstraße in der Nähe von Bonames zu tun haben, dem nördlichsten Stadtteil von Frankfurt am Main.

In beiden Fällen aber die Sicht beeinträchtigt von waschküchenhaft dichtem Nebel, der einen nicht die Hand vor Augen erkennen lässt. Dann zwei schwache Lichtpunkte, die langsam aus der frühmorgendlich fetten Milchsuppe auftauchen und sich schließlich als Scheinwerfer eines blauen Kleintransporters entpuppen. Auf dem fensterlosen Kasten des Fahrzeugs die gezeichnete Karikatur eines Installateurs und daneben die Aufschrift: Roland Weckesser – Heizung und Sanitär.

Das Auto verlangsamt seine Fahrt, um schließlich in die »Wohngemeinschaft Bonameser Straße« einzubiegen, einer Siedlung abseits urbaner Anbindung, die bei den Menschen, die hier leben, nur »Platz« genannt wird.

In den Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts als Wohnwagenstandplatz errichtet, siedelten sich zwischenzeitlich mehr als fünfhundert Schausteller, Zirkusartisten, Schrotthändler, Flüchtlinge sowie Sinti und Roma mit ihren Familien an. Aufgrund eines in den Achtzigerjahren ergangenen Zuzugsverbots leben heute nur noch rund siebzig Menschen hier.

Der Kleintransporter stoppt vor einer umzäunten Parzelle mit einer Art Wochenendhaus darauf sowie einem angrenzenden Unterstand mit offen stehendem Holztor. An der Einfahrt zu dem Anwesen hält eine Eisenkette zwei Flügel eines verrosteten Eisengitter-Tores mit einem Vorhängeschloss zusammen. Das Grundstück ist überwuchert von Unkraut und verwilderten Büschen sowie allerhand verrosteter Gerätschaft.

Aus dem Weckesser’schen Kleintransporter steigen zwei Männer aus. Ein älterer, um die fünfzig, in blauer Monteurskluft unter einer olivgrünen Anglerweste und mit einem Klemmboard unterm Arm. Der andere, fast zwanzig Jahre jünger, ebenfalls in Monteurskleidung zu einem grob karierten Holzfällerhemd, ist damit beschäftigt, eine Rufnummer in sein Handy einzutippen

Der Ältere tritt zu einem Klingelknopf neben der Einfahrt, unter dem auf gelbes Lassoband notiert der Name steht: Wilhelmi. Er drückt die Klingel mehrmals, worauf sich aber keine Reaktion einstellen will.

Der Jüngere setzt sein Handy ab und sagt: »Nix«, was bedeuten soll, dass er niemanden erreichen konnte.

»Scheiße«, sagt der Ältere und inspiziert die Eisenkette, die das Tor zusammenhält. Er wiegt das Vorhängeschloss in seiner Rechten, bevor er den Jüngeren losschickt: »Hol die Knollepetz.«

Woraufhin der Jüngere aus dem Ladeteil des Kleintransporters einen Bolzenschneider holt und ihn dem Älteren reicht, der sich sodann mit dem martialisch anmutenden Werkzeug an dem Schloss zu schaffen macht.

1. HUPEN

Hier«, rief der Mann in sein Handy, »können Sie das hören?« Er hielt es über die Brüstung des Balkons hinunter zur Straße, wo eines der dort parkenden Autos in einem fort am Hupen war.

Der Mann war barfuß und trug ein weißes, ärmelloses Feinripp-Unterhemd zu einer schwarzen Boxershorts-Unterhose mit rot aufgedruckten Eintracht-Adlern. Er war Mitte fünfzig, und sein zerzaustes Haar ließ vermuten, dass er kurz zuvor noch im Bett gelegen hat.

Am Abend zuvor hatte er keinen Alkohol getrunken. Nicht einen einzigen Tropfen. Was allerdings zur Folge hatte, dass er noch um vier Uhr in der Früh wach gelegen hat. Ihm fehlte zum Einschlafen schlichtweg seine angestammte Dröhnung.

Als er gegen halb sieben dann zur Toilette musste, war er einfach aufgeblieben. Er versuchte, sich zu erinnern, wann es zum letzten Mal seit seiner Jugend vorgekommen war, dass er um halb zehn Uhr abends ohne Alkohol ins Bett gegangen war. Ihm fiel nur die Woche ein, die er nach einer Blinddarmoperation im Krankenhaus verbracht hatte. Damals hatte er noch bei seinen Eltern auf dem »Platz« gewohnt. Bald darauf war er dann zu seinem älteren Bruder gezogen, der es in der Oberen Kreuzäckerstraße in Praunheim, direkt gegenüber vom Knast, zu einer kleinen Zweizimmerwohnung gebracht hatte.

Diesem Umzug hatte er es letztendlich zu verdanken, endlich eine Arbeit gefunden zu haben. Denn bis dahin waren seine Bewerbungsaktivitäten stets dann gescheitert, wenn er als Anschrift die Bonameser Straße 85 angeben musste. Da hieß es in der Regel gleich: »Ach, das Zigeunerlager«, und er war unten durch.

Die Obere Kreuzäckerstraße war da schon eine andere Hausnummer. Da meinte man eher, dass Zucht und Ordnung, für die innerhalb der Haftanstalt mit der ganzen Strenge des Gesetzes gesorgt wurde, über die Mauern hinaus auf die unmittelbare Umgebung übertragen würden.

Seinen ersten Job hatte er dann bei einem Einkaufsmarkt gefunden. Er erinnerte sich so gut daran, weil für den nächsten Morgen ein Vorstellungsgespräch anstand, an dem ihm sehr gelegen war und bei dem es ebenfalls um einen Job im Lager eines Einkaufsmarktes ging. Alle möglichen Arbeiten hatten sie ihm über die Jahre hinweg unterjubeln wollen. Autowaschanlage, Müllabfuhr und all so’n Zeug, was kein Schwein machen will. Aber er war nicht für jeden Dreck zu haben. Da hatten sie sich geschnitten. Er fand immer einen Weg, warum er nicht genommen wurde. Um sich lieber als Harzer mit kleinen Nebeneinkünften über die Runden zu bringen.

Weil ihm an diesem Job, um den es an dem Morgen gehen sollte, so verdammt viel lag, wollte er für das Vorstellungsgespräch unbedingt ausgeschlafen sein. Ausgeschlafen, fit und hellwach. Um alles in der Welt. Und um den Ausgang des Gesprächs auch ja nicht dem Zufall zu überlassen, hatte er sich nach der Tagesschau noch ein Hemd gebügelt. Er erinnerte sich, dass er sich zum letzten Mal ein Hemd gebügelt hatte, als seine Frau gestorben war. Das war jetzt sieben Jahre her. Als er dann das frisch gebügelte Hemd betrachtete, kam ihm in den Sinn, vielleicht noch etwas mehr hermachen zu können, wenn er dazu eine schöne Jacke trug. Weil er aber außer einer Eintracht-Fan-Jacke nur diverse Jeansjacken und Kapuzenpullover im Schrank hängen hatte, rief er seinen Freund Harry an. Die beiden kannten sich von Kindesbeinen an. Harry war ebenfalls »auf dem Platz« groß geworden, und weil er so außerordentlich wortgewandt war, stand er im Ruf, landesweit einer der gefragtesten Rekommandeure für Fahrgeschäfte zu sein.

Harry wohnte im dritten Stock und fuhr jede Woche in bestem Zwirn nach Bad Nauheim zum Ball-Paradox ins Café König. Dort machte er dann auf dicke Hose und gab sich als Börsenmakler aus, um mit einsamen Damen, die zur Kur in Bad Nauheim weilten, das Tanzbein zu schwingen. Gelegentlich hatte er Hilmar schon angefixt, doch mal mitzukommen, aber der war für diese Art von Ringelpiez mit Anfassen nicht zu haben. Denn seit dem Tod seiner Frau hatte er mit Weibern nichts mehr am Hut.

Als Hilmar ihn an diesem Abend anrief und nach einer Jacke fragte, die was hermachen würde, meinte Harry, seinen Ohren nicht zu trauen. Was will dieser verlauste Althippie auf einmal mit einer schicken Jacke, dachte er sich, meinte aber im nächsten Moment: »Komm runter, du kriegst was verpasst, dass Graf Koks neben dir aussieht wie ein indischer Bettelmönch.« So kam es, dass Hilmar ein kariertes Sakko über sein Hemd anziehen konnte, das an die früheren Auftritte des Moderators Peter Frankenfeld im Fernsehen erinnerte.

Als Hilmar fast dreißig Jahre zuvor schon mal bei einem Einkaufsmarkt gearbeitet hatte, hatte er als Einkaufswagenschubser auf dem Hof angefangen. Zu der Zeit mussten noch keine Geldstücke oder Chips als Pfand in die Einkaufswagen gesteckt werden, um sie benutzen zu können. Sein Job war es deshalb gewesen, die auf dem Parkplatz wild verstreut stehen gelassenen Wagen einzusammeln und in den vorgesehenen Standbuchten zusammenzuschieben. Er hatte diese Arbeit geliebt. Das kann man nicht anders sagen. Denn er war den ganzen Tag über an der frischen Luft gewesen, und es gab niemanden, der ihm was zu sagen hatte. Er war rundherum sein eigener Herr und hat auch später immer wieder gesagt, dass er dieser Arbeit am liebsten bis ans Ende seiner Tage nachgegangen wäre.

Dann aber hieß es auf einmal, dass neue Einkaufswagen eingeführt werden sollten. Und zwar solche, wo eine Münze eingesteckt werden müsste, um sie benutzen zu können. Auf diese Weise sollten die Leute dazu angehalten werden, ihre Einkaufswagen nach der Benutzung selbst zu den Abstellbuchten zurückzubringen. Als er zum ersten Mal davon hörte, war ihm schlagartig klar, was die Einführung dieser neuen Wagen für ihn bedeutete. Nämlich, dass man ihn wegrationalisieren würde.

Als er dann während einer Frühstückspause das Gerücht streute, mit seiner bevorstehenden Entlassung zu RTL gehen zu wollen, wollte der Chef des Marktes auf einmal tatsächlich mit ihm reden. Man würde ihn doch nicht im Regen stehen lassen, schleimte der Mann rum und bot ihm schlussendlich an, ins Lager des Marktes wechseln zu können.

Richtig begeistert war Hilmar über diese Versetzung nicht. Jedenfalls nicht gleich. Dafür war die Arbeit im Freien einfach eine viel zu große Erfüllung für ihn gewesen. Aber wenigstens müsste er nicht stempeln gehen, sagte er sich, und fand nach anfänglichen Eingewöhnungsschwierigkeiten doch recht bald Gefallen an seinem neuen Tätigkeitsfeld. Was in erster Linie darauf zurückzuführen war, dass unter den Lagerarbeitern eine außergewöhnliche Kollegialität bestand. So war es an der Tagesordnung, sich den persönlichen Bedarf an Lebensmitteln kurzerhand von der Rampe hinunter in den Kofferraum seines dort zuvor postierten Autos einzuladen. Im Endeffekt war das die beste Zeit seines Lebens. Alles in Saus und Braus. Und dann war damals auch noch Ramona in sein Leben getreten. Seine Ramona.

Ihre erste Begegnung fand an dem Tag statt, als Edwin Müller, der Detektiv des Marktes, von der Ambulanz abtransportiert wurde. Der Mann hatte einen größeren Karton mit einem Guckloch versehen und sich von einem Gabelstapler hoch in eines der Regale bugsieren lassen. Von diesem erhöhten Standpunkt aus wollte er ausspähen, ob Kunden etwas klauten. Was Müller aus diesem Winkel jedoch nicht mitkriegen konnte, war, dass ein Regalauffüller eine Leiter an das Regal angestellt hatte und hochkletterte, um Waren aus den dort gelagerten Kartons zu holen. So kam es, dass dieser Mann sich völlig unbedarft gerade an dem Karton zu schaffen machte, in dem Müller auf der Lauer lag. Plötzlich hallte ein markerschütternder Schrei durch den Verkaufsraum, weil der Regalauffüller dem Detektiv sein Trapezmesser unbeabsichtigt durch die Kartonwand hindurch in die linke Wange gerammt hatte. Die Folge war eine böse Narbe in der betroffenen Gesichtshälfte, die dem Detektiv anschließend den Namen »Scarface« eintrug. Große Teile der Belegschaft wurden an diesem Tag Zeuge, wie der verletzte Detektiv blutüberströmt aus dem Karton geborgen wurde. Mit blankem Entsetzen im Gesicht konnte die anwesende Fleischereifachverkäuferin Ramona nicht anders, als sich einem der Anwesenden an die Schulter zu drücken. Zu dem Zeitpunkt wusste sie noch nicht, dass es sich bei dem Mann, der ihr da zögerlich Trost spendete, um Hilmar Petri handelte.

Nach diesem Vorfall trafen die beiden eine Woche später zufällig auf dem Gang zum Pausenraum aufeinander. Sie blieben einfach stehen und glotzten sich an wie zwei schwangere Mondkälber, wie man so sagt. Bis Ramona schließlich meinte: »Na?«

Um nicht den Eindruck zu erwecken, mundfaul zu sein, entgegnete Hilmar daraufhin: »Und?«

Dann ergriff Ramona erneut die Initiative und meinte: »Sonst nix?«

Was Hilmar wiederum nicht unkommentiert stehen lassen wollte und seinerseits anführte: »Was denn noch?«

So begann seinerzeit die Liebe zwischen Ramona von der Metzgerei und Hilmar aus dem Lager. Nach außen hin ließen die beiden sich nicht anmerken, dass sie zusammengekommen waren. Und gleichzeitig eine gewinnbringende Allianz zur Verbesserung ihres leiblichen Wohlergehens pflegten. Denn fortan orderte Hilmar bevorzugt bestes Rinderfilet bei seiner Liebsten, das er auch eingepackt bekam, aber von Ramona zur Berechnung des Preises auf der Registrierkasse als Schlachtabfall für den Hund deklariert wurde. Was den Preis selbstredend nachhaltig günstiger gestaltete.

Die beiden zogen zusammen in die Wohnung im Ben-Gurion-Ring, in der zuvor Ramona mit ihrem geschiedenen Mann gelebt hatte und wo Hilmar nun immer noch wohnte. Sie lebten wie die Maden im Speck. Und bestimmt wäre das auch noch lange so weitergegangen, wenn nicht so oft Sendungen mit Reisen in ferne Länder im Fernsehen gelaufen wären. Dabei hatte ein Bericht über die Insel Lombok Ramona so sehr in ihren Bann gezogen, dass sie nirgendwo anders mehr Urlaub machen wollte als auf diesem indonesischen Eiland. Nur zu gerne hätte Hilmar seiner Liebsten diesen Wunsch erfüllt, aber es war klar, dass er es mit seinem Verdienst nie dazu bringen würde. Entsprechend lag für ihn auf der Hand, sich um zusätzliche Einnahmequellen bemühen zu müssen.

Da kam es ihm nicht ungelegen, dass sein Bruder meinte, in dem Markt, wo Hilmar arbeitete, einen Verstärker entdeckt zu haben, der seine Gnade gefunden hätte. Das Teil, sagte er, sei für achthundert Mark im Angebot, aber er würde auf der Stelle zweihundert dafür hinblättern, wenn er es als »vom Laster gefallen« abschnappen könnte. So kam es, dass Hilmar sich ein paar Tage später mit besagtem Verstärker sowie einem Karton Waschpulver auf der Kundentoilette einschloss. Er klebte den Verstärker hermetisch mit Plastikfolie ab und ritzte das Waschpulverpaket fein säuberlich mit einem Skalpell auf. Dann entfernte er so viel Waschpulver aus dem Paket, dass der Verstärker leicht darin verstaut werden konnte. Sein Plan war, an der Kasse das Waschmittel zu bezahlen und den Verstärker als Beifang mitzunehmen. Und wahrscheinlich wäre das auch glattgegangen, wenn er nicht das überschüssige Waschpulver der Einfachheit halber in die Kloschüssel gekippt hätte. Denn anstatt es auf diese Weise zu entsorgen, verursachte er ein Schaumbad, das den gesamten Toilettentrakt in Mitleidenschaft zog und Scarface auf den Plan rief. Zu seiner fristlosen Kündigung und einem Hausverbot bekam Hilmar auch noch vom Gericht dreißig Tagessätze à fünfzehn D-Mark aufgebrummt. Zudem wurden seine Bewerbungen bei anderen Einkaufsmärkten von da an stets negativ beschieden. Was er darauf schob, dass die Märkte offenbar untereinander schwarze Personallisten führten.

Weil er sich an diesem Morgen um neun Uhr bei dem Marktleiter in Rödelheim vorstellen sollte, machte er sich kurz nach acht los. Er wollte auf keinen Fall zu spät kommen. Da er schon lange kein Auto mehr hatte, fuhr er mit der U-Bahn. Vorher kontrollierte er noch zu Hause, dass er auch ja seinen präparierten VGF-Fahrschein dabeihatte. Diesen hatte er sich im Jahr zuvor zugelegt und ihn seitdem immer wieder aufs Neue benutzt. Für diese Mehrfachbenutzung hatte er die Seite, auf die in dem Entwerter die Fahrtdaten aufgedruckt wurden, mit Klarlack übersprüht. Wodurch die für die jeweilige Fahrt relevanten Daten zwar aufgedruckt wurden, hernach jedoch mit ein wenig Spucke umgehend wieder entfernt werden konnten. So war der Fahrschein kostensparend vielfach verwendbar. Und um auf Nummer sicher zu gehen, deponierte er das Ticket auch noch in einem transparenten Klarsichtetui, um nicht Gefahr zu laufen, dass der Aufdruck aus Versehen verwischt werden könnte.

Um zwölf Minuten vor neun traf er in dem Einkaufsmarkt in Rödelheim ein. Die Sekretärin des Marktleiters unterbrach misslaunig ihr konzentriertes Lösen eines Kreuzworträtsels, um ihrem Chef über die Gegensprechanlage in dessen Büro zu vermelden: »Chef, hier ist ein gewisser …«

Mit einem entsprechenden Blick forderte sie Hilmar auf, nochmals seinen Namen zu nennen.

»Petri«, ergänzte Hilmar den Satz der Sekretärin, »Hilmar Petri.«

Die Sekretärin leitete den Namen weiter, woraufhin aus dem Lautsprecher der Gegensprechanlage eine Männerstimme blaffte: »Hab jetzt keine Zeit. Ich ruf ihn nachher an. Um zwei. Sag ihm das. Um vierzehn Uhr.«

»Alles klar«, beendete die Sekretärin die Konversation und nickte Richtung Hilmar, der wiederum bestätigend zurücknickte, die Information erhalten zu haben.

Unterwegs zur Tür des Büros wandte Hilmar sich nochmals um: »Meine Nummer haben Sie ja, oder?«

»Sowieso.«

»Oder soll ich sie Ihnen vielleicht sicherheitshalber noch mal aufschreiben?«

»Wenn ich sage, dass ich Ihre Nummer habe, habe ich sie gefälligst auch, okay?«

»Alls klar. Dann noch einen schönen Tag.«

Offenbar kam es der Dame dann doch eine Spur zu schroff vor, wie sie sich Hilmar gegenüber verhalten hatte. Weshalb sie zum Abschied ein wenig schönwettertechnisch meinte: »Schickes Sakko.«

»Danke«, entgegnete Hilmar und dachte bei sich: Druff geschisse. Dann war er weg.

Die Rückfahrt über rankten seine Gedanken um die Frage, warum der Marktleiter so mit ihm umgesprungen war. War ihm wirklich was dazwischengekommen, sodass er keine Zeit hatte? Oder gab es vielleicht nach wie vor diese schwarze Liste? Oder war dieser Mensch ganz einfach nur ein arrogantes Arschloch? Er spielte in seinem Kopf ein Sammelsurium von Schlagfertigkeiten durch, mit denen er sich hätte souveräner verhalten können, zu denen er in der Situation jedoch nicht fähig war.

Vertieft in diese Gedanken, bemerkte Hilmar den Kontrolleur erst, als der sich bereits vor ihm aufgebaut hatte.

»Ihren Fahrschein bitte«, sagte der Mann, woraufhin Hilmar das Klarsichtetui aus der inneren Brusttasche von Harrys Sakko fingerte.

Verdammte Scheiße, dachte er in dem Moment, weil ihm einfiel, dass er über den ganzen Zirkus tatsächlich vergessen hatte, den Fahrschein auf den aktuellen Stand zu bringen, also den alten Aufdruck wegzuwischen und das Ticket erneut zu entwerten.

Der Kontrolleur brauchte einen Moment, bevor er sagte: »Der Abstempelung zufolge ist der Fahrschein ungültig. Sie hätten sich für die Rückfahrt einen neuen lösen müssen.«

Hilmar fiel als Ausrede ein: »Ich bin eine Station zu weit gefahren und hatte gedacht …«

»Tut mir leid. Das kann ich nicht akzeptieren …«

Der Mann begann, den Fahrschein aus dem Etui zu fingern, wobei der Aufdruck tatsächlich verschmiert wurde.

»Was ist denn das?«, meinte der Kontrolleur, als er das bemerkte.

»Keine Ahnung …«, entgegnete Hilmar.

»Dann werde ich Ihnen mal sagen, wonach das verdammt aussieht«, fuhr der Kontroletti fort, »nach einer Urkundenfälschung, danach sieht das aus. Ich denke, wir steigen an der nächsten Haltestelle mal zusammen aus, einverstanden?«

Was sollte er machen? Was sollte er nur machen? Beten?

»Was passiert denn jetzt?«, fragte er den Kontrolleur.

»Haben Sie Ihren Personalausweis dabei?«

»Leider nicht, nein.«

»Dann werden wir die Polizei verständigen, um Ihre Personalien aufzunehmen. Von mir erhalten Sie eine Zahlungsaufforderung für die Strafe wegen Schwarzfahrens. Und was die Urkundenfälschung angeht, wird die Staatsanwaltschaft sich mit Ihnen in Verbindung setzen.«

Mit dem Einlaufen des Zuges in die U-Bahn-Station Festhalle liefen Hilmars Gedanken Amok. Was hatte er sich da verdammt noch mal eingebrockt? Warum konnte ihm so etwas passieren? Wie sollte er da nur wieder rauskommen?

Als die Türen des Waggons sich öffneten, versetzte er dem Kontrolleur in seiner Verzweiflung einen beherzten Tritt mit der Fußspitze an dessen Schienbein, um im nächsten Moment wie von der Tarantel gestochen den Bahnsteig hinunterzuflüchten. Er lief wie um sein Leben, und es sah tatsächlich so aus, als könnte ihm die Flucht gelingen. Immerhin hatte der Kontrolleur noch nicht seine Personalien aufgenommen und auch noch nicht die Polizei verständigt. Vielleicht würde ja doch noch alles gut ausgehen. Das dachte Hilmar Petri, bis ihm plötzlich um eine Ecke herum Menschen entgegenkamen, die genau in die Richtung wollten, aus der er angelaufen kam. Und ehe er sich versah, war er auch schon mit einem der Männer so wuchtig aufeinandergeprallt, dass beide zu Boden gingen.

Zu Hause angekommen, war er müde wie Sau. Er ließ sich mit allen Klamotten am Leib auf sein Bett fallen und hatte für heute die Schnauze voll. Von allem.

Als er kurz einschlief, träumte er von Ramona. Seiner Ramona. Wie sie ihm an ihrem letzten gemeinsamen Tag gegenübergesessen hatte. Da hatten sie schon lange keine gute Laune mehr miteinander, und die Gespräche über Lambok lagen auch schon eine Ewigkeit zurück. Da hatte sie gefragt, ob er ihr den Salzstreuer holen könne. Weil er aber keinen Bock hatte aufzustehen, hat er ihr die Packung Salz gegeben, die gerade in seiner Nähe stand. Und ehe er sich versah, hatte sie einen Esslöffel voll davon in ihren Mund gefahren. Er hatte bereits eine erste Ladung Karlskrone intus gehabt, weshalb es etwas dauerte, bis er wissen wollte, wofür diese Salzfresserei gut sein sollte. Da hatte sie aber schon drei weitere Löffel in sich hineingeschaufelt gehabt und gesagt, er solle sich gefälligst um seinen eigenen Scheiß kümmern. Was er dann auch tat, bis er vier Karlskronen später ins Schlafzimmer kam. Da lag sie auf dem Bett und gab keinen Mucks mehr von sich. Die Sanitäter konnten anschließend nur noch ihren Tod feststellen und meinten, sie sei offensichtlich von der zugeführten Menge Salz innerlich verdurstet. Das war’s dann gewesen mit Ramona.

Die Beerdigung hat er hernach über vier Jahre lang abgestottert. Jeden Monat war er zu der Pietät getrabt und hatte die Raten abgedrückt. Das war ihm heilig. Das sollte seine Ramona ihm wert sein.

Als er um halb zwei aus dem Bett aufstand, ging es ihm nicht gut. Wie würde das Gespräch mit dem Marktleiter ausgehen? Er zog die guten Klamotten aus und stieg in sein Räuberzivil. In seinem Innern spürte er eine große Unruhe. Er dachte, ob er sich vielleicht einen genehmigen sollte. Er hatte noch eine halb volle Flasche Jägermeister in seinem Tiefkühlfach. Aber dann verwarf er den Gedanken auch gleich wieder. Er wollte das Telefonat unbedingt nüchtern über die Bühne bringen. Dann dachte er, dass es ihn beruhigen könnte, wenn er eine rauchen würde. Aber auch da sah es schlecht aus. Er hatte auf seinem Nachhauseweg vergessen, sich Tabak von der Trinkhalle – wie hier in Bonames der Kiosk hieß – mitzubringen. Es war wirklich nicht sein Tag. Wenn er sich jetzt noch losmachen würde, wäre er bestimmt nicht rechtzeitig zurück, wenn der Marktleiter anrief. Also holte er die ausgedrückten Kippen aus seinem Aschenbecher heraus und bröselte sie auf, um sich daraus eine neue Zigarette zu drehen. Das war nicht einfach, weil der alte Tabak völlig ausgetrocknet war und sich nicht miteinander verbinden wollte. Damit der Brösel nicht aus dem gerollten Zigarettenpapier nach vorne herausfiel, musste er die Selbstgedrehte wie einen Joint nach oben halten. Aber besser als nix, sagte er sich, bis auf einmal von der Straße her ein Hupen erklang. Er meinte, dass es sich um die Alarmanlage eines dort parkenden Autos handelte, wie sie in der Gegend öfters ausgelöst wurden. Also rauchte er weiter.

Als er dann aber die Selbstgedrehte fertig hatte und das Hupen immer noch zu hören war, ging ihm doch langsam die Muffe. Er dachte, wie er sich wohl bei dem Telefonat mit dem Marktleiter konzentrieren sollte, wenn dieser Krach ihm den Nerv raubte. Es gab nur eins: Er musste die Polizei verständigen. Die sollten sich darum kümmern, das wäre doch deren Job. So kam es, dass er fünf Minuten vor zwei auf seinem Smartphone die 110 wählte, die Nummer des Notrufs.

2. TO WHOM THE WHISTLE BLOWS

Nachdem Hanno Erlenbrecht mit der U4 an der Station Festhalle eingetroffen war, ging er unterwegs zum Pressecenter der Messe noch einmal – so gut er es eben konnte – alles im Geiste durch, was er sich für seinen Auftritt vorgenommen hatte.

Er wusste, dass das, was ihm bevorstand, alles andere als ein Sonntagsspaziergang werden würde. Aber er wollte endlich reinen Tisch machen, sich endlich von dem Ballast befreien, der ihn die letzten Jahre über tonnenschwer belastete. Er fühlte sich wie ein Boxer, der vor einem Kampf alle Situationen, die ihm begegnen könnten, in seinem Kopf immer wieder durchspielt und sich ins Bewusstsein ruft, worauf er würde achten müssen. Denn jede Unachtsamkeit, jede Vernachlässigung der Abwehr, jeder Punch könnte ihn zu Boden zwingen. Er war sich im Klaren darüber, dass sein Auftreten für die Glaubwürdigkeit dessen, was er offenbaren wollte, über jeden Verdacht der Fragwürdigkeit erhaben sein musste.

Dafür war es unablässig, jede Aussage klar und deutlich und mit dem Brustton der Überzeugung von sich zu geben. Er musste darauf achten, möglichst seinen Blick nicht durch unnötiges Zwinkern zu verklären. Fragen sollte er keinesfalls mit »selbstverständlich« beantworten, weil ihn das überheblich erscheinen lassen könnte. Gleichfalls sollte er auf jede Frage unmittelbar antworten ohne unnötige Pausen, weil jedes Überlegen als Ausflucht ausgelegt werden könnte. Jede unangemessen lange Pause in seinem Redefluss, jede falsche Wortwahl würde seine Mission gefährden können. Ebenso sollte er seinen Körper stets gerade halten, weil dadurch Stärke und Aufrichtigkeit signalisiert würde. Und auch sollte er es unbedingt vermeiden, sich zum Mikrofon herunterzubeugen, weil dies als Demutshaltung wahrgenommen werden könnte. Deshalb sollte seine erste Handlung auf dem Podium sein, unbedingt das Mikrofon auf die richtige Höhe einzustellen.

Als er den Raum erreicht hatte, in dem die Pressekonferenz stattfinden sollte, hatten sich dort bereits mehr als zweihundert Medienvertreter eingefunden. Durch die Menge war ein Raunen zu vernehmen: »Da ist er.« Die Ankündigung seines Vorhabens hatte für mannigfache Aufregung gesorgt. Diesen Auftritt wollte sich niemand entgehen lassen. Kameras waren auf das Podium gerichtet, auf dem in der Mitte ein Schild mit seinem Namen stand, Tonangeln waren in Bereitschaft, und die besten Plätze waren von Vertretern der Fachpresse und überregionalen Medien in Beschlag genommen worden.

Auf seinem Weg zum Podium wurde Hanno plötzlich von einem Mann angesprochen, der ihm nicht unbekannt war.

»Lothar«, begrüßte er ihn, »was machst du denn hier?«

»Die Doris hat mich angerufen«, antwortete Lothar, »sie hat gesagt, dass sie sich Sorgen macht um dich.«

»Ach Lothar«, entgegnete Hanno, »wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen?«

»Bestimmt drei, vier Jahre«, antwortete Lothar, »wie geht es dir? Alles in Ordnung?«

»Du, Lothar, lass uns hinterher in Ruhe miteinander reden, ja, wenn der ganze Rummel vorbei ist, okay?«

»Alles klar. Mach dir kein’ Kopp, alter Junge«, versuchte Lothar, den Freund zu beruhigen.

»Aber schau mal kurz«, meinte Hanno, bevor er seinen Weg in Richtung Podium fortsetzte, »fällt dir was auf an meiner Hose? Ich bin da vorhin kurz hingefallen.«

Lothar trat einen Schritt zurück und entdeckte im Knieberech der Hose eine leichte Verschmutzung.

»Keine Sorge«, beruhigte er seinen Freund, »das wird schon niemandem auffallen.«

»Danke. Dann bis nachher.«

»Ja, bis nachher. Und viel Erfolg.«

»Danke.«

Auf seinem Weg in Richtung des Podiums wurde Hanno Erlenbrecht noch von drei anderen Männern begrüßt, mit denen er ebenfalls kurz das eine oder andere Wort wechselte. Und schließlich trat dann noch ein Rundfunkjournalist auf ihn zu. Der Mann war Mitte dreißig, hatte eine digitale Aufnahme-Unit geschultert sowie ein Mikrofon in der Hand, auf dessen Windschutz die Initialen SSM gepflockt waren.

»Entschuldigung, Herr Erlenbrecht«, sprach er Hanno an, »darf ich Ihnen kurz eine Frage stellen?«

Hanno hatte sich im Vorhinein streng untersagt, Fragen außerhalb der unmittelbaren Pressekonferenz zu beantworten. Deshalb war klar, dass er dem Reporter eine Abfuhr erteilen müsse. Wozu es dann aber nicht mehr kommen sollte. Denn in dem Moment, als der Mann sein Mikrofon auf Hanno richtete, löste sich aus dem Griff, in den offenbar der Lauf einer Pistole verbaut worden war, ein Schuss, der Hanno direkt ins Gesicht traf. Das Geschoss trat in seiner Kinnpartie ein und zerfetzte die Mundhöhle bis ins Gehirn hinein, um anschließend aus dem Hinterkopf mit einer Fontäne aus Blut durchsetzt mit Hirnmasse und Knochensplittern wieder auszutreten. Hanno knickten die Knie weg, und sein Körper klappte in sich zusammen wie eine Marionette, der man die Schnüre durchtrennt hat.

Gleichzeitig verwandelte sich der gesamte Raum mit einem Schlag in eine einzige Panik, und Hanno Erlenbrecht lag am Boden. Tot.

3. AUSGERECHNET BONAMES

Über Bonames?«, fragte Roman Worstedt, »was soll ich dir da erzählen? Das ist der nördlichste Stadtteil von Frankfurt. Gewissermaßen die Pforte zur Wetterau, sagen die einen. Andere sprechen bei der Hochhaussiedlung am Ben-Gurion-Ring von den Golanhöhen, weil es dort entsprechend schlimm zugehen soll. Was willst du noch wissen?«

Frank Krokoczinski blickte, Zeitdruck signalisierend, auf seine Armbanduhr. »Hattest du dort zu tun, als du noch in Frankfurt warst?«

»Ein einziges Mal. Das hatte mir gereicht. Wozu interessiert dich das überhaupt?«

»Was war das?«

»Vergiss es. Nicht der Rede wert.«

»Bonames ist ein sozialer Brennpunkt in Frankfurt?«

»Ist als solcher verschrien, ja. Aber worauf willst du hinaus? Ob ich weiß, dass es da eine manische Siedlung gibt, oder was?«

»Gibt es?«

»Ich weiß, dass da in den Fünfzigerjahren eine Siedlung für das ›fahrende Volk‹ errichtet wurde, wie es damals hieß, also für Schausteller, Schrottler, ambulante Gewerbetreibende und alle, die für die saubere Frankfurter Bürgerschaft nicht ins Stadtbild passten.«

»Ist das die Wohngemeinschaft Bonameser Straße?«

»Richtig, bei denen, die da wohnen, einfach ›Platz‹ genannt. Was ist dort?«

»Dort ist nichts. Aber so, wie es aussieht, haben wir einen Mord in Bonames«, brachte Kroko das Gespräch auf den Punkt.

»Was soll dabei heißen ›wir‹?«

»Guido Retzlaff hat mich angerufen. Ihr kennt euch?«

»Ja klar, von meiner Zeit bei der Frankfurter Bereitschaft, aber …«

»Er hat dich angefordert. Du sollst die Ermittlung übernehmen.«

»Wieso das denn?«

Roman Worstedt wusste, worum es ging. Er war beim Polizeipräsidium Mittelhessen zuständig für Kriminalfälle mit manischer Einbindung. In diese Position war er gekommen, weil er selbst manische Wurzeln hatte. Wobei »manisch« nichts mit dem Krankheitsbild manisch-depressiv zu tun hatte, sondern es sich dabei vielmehr um einen Soziolekt jenisch-rotwelschen Ursprungs handelte, der früher als Räubersprache zur geheimen Verständigung diente und mittlerweile bevorzugt unter Schaustellern und Kriminellen verbreitet war.

»Ach ja, werde ich jetzt vielleicht bald bundesweit herumgereicht«, entgegnete er seinem Vorgesetzten, »wenn es wo einen Mord gibt, mit dem irgendein Mano was zu tun haben könnte?«

»Nein, das wirst du nicht. Es ist ein absoluter Notfall. Die Kollegen in Frankfurt wissen nicht mehr, wo ihnen der Kopf steht. Da herrscht Alarmstufe dunkelrot. Es sind mehrere Bombendrohungen auf die IAA eingegangen. Kollegen aus fünf Bundesländern sind da im Einsatz sowie die Bundespolizei. Und heute Morgen hat es dann auch noch einen Ingenieur bei einer Pressekonferenz erwischt. Kopfschuss.«

»Dann wäre es ja wohl das Beste, den ganzen Rummel abzubrechen. Ich brauche das sowieso alles nicht. Dieses ganze Rumgefläze von irgendwelchen halb nackten Erotikschnecken auf den Kühlerhauben.«

»Völlig abwegig. Die IAA ist weltweit die größte Automobilausstellung. Die spült regelmäßig 300 Millionen Euro in die Stadt. Nicht auszudenken, was so ein Abbruch an Schadensersatzklagen nach sich ziehen würde. Ganz ausgeschlossen. Außerdem ist so eine Ermittlung für dich doch ein Kinderspiel.«

»Wenn das ein Kinderspiel ist, warum ermitteln dann nicht die Kinder in Frankfurt?«

»Roman.«

Roman sagte nichts.

»Also gut, mal Klartext«, fuhr Kroko nach einer kurzen Pause fort, »ich wollte dir die Möglichkeit geben, dich aus eigenen Stücken für den Fall zu entscheiden. Aber wenn du das nicht willst …«

»Ach ja, sind wir schon so weit miteinander?«

»Es liegt einzig an dir.«

»Und wo soll ich unterkommen für die Zeit? Du hast doch hoffentlich schon was gebucht für mich, oder?«