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Der dritte Fall für Kommissar »Worschtfett«! Schnelle Schnitte, starke Typen – Wieder einmal echtes Krimi-Kino auf Papier aus Hessen. Am Rande des Gießener Güterbahnhofs wird ein herrenloser Koffer gefunden. Als man ihn öffnet, kommt etwas Schreckliches ans Tageslicht: Ein männlicher Torso. Wer war der Tote, und warum wurde er so zugerichtet? Der einzige Hinweis scheint zunächst ein mit Knasttinte aufgetragenes Tattoo auf der Schulter des verstümmelten Körpers zu sein. Die Ermittlungen führen Kommissar Roman Worstedt nach Wien, wo seine Kollegin Regina Maritz sich gerade auf den bevorstehenden Vienna City Marathon vorbereitet. Zwischen Heurigen-Schmäh und Prater-Idylle kämpft Kommissar ›Piefke Worschtfett‹ sich durch ein Gewirr von bizarren Ereignissen und kommt dabei Schritt für Schritt einem teuflischen Verbrechen auf die Spur.
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Seitenzahl: 259
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Charly WellerKatzenkönig
Vom Autor bisher bei KBV erschienen:
Eulenkopf
Finsterloh
Charly Weller, geb. 1951 in Marburg a. d. Lahn, ist von Hause aus Filmemacher. Nach seiner Jugend in Gießen und Wetzlar studierte er zunächst Theologie, es folgte das Jura- und Publizistikstudium in Berlin. Zwischenzeitlich betätigte er sich als Fotograf, Journalist, Taxifahrer, Versicherungsvertreter und Kinobetreiber. Nach der Regieassistenz unter Peter Fleischmann drehte er erste eigene Filme und wurde ausgezeichnet, u. a. mit dem Prix du Jury in Cannes und dem Max-Ophüls-Förderpreis. Er war Regisseur zahlreicher Folgen von TV-Krimi-Serien wie Ein Fall für Zwei, Die Kommissarin, Im Namen des Gesetzes, Auf Achse und anderen.
Sein erster Kriminalroman Eulenkopf wurde 2015 für den Friedrich-Glauser-Preis in der Sparte Debüt nominiert. Heute lebt er als freier Autor und Regisseur in der Nähe von Gießen und in Wien.
Charly Weller
Originalausgabe
© 2016 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheimwww.kbv-verlag.deE-Mail: [email protected]: 0 65 93 - 998 96-0Fax: 0 65 93 - 998 96-20Umschlaggestaltung: Ralf Krampunter Verwendung von:© Avantgarde und © goodween123 - www.fotolia.deLektorat: Volker Maria Neumann, KölnPrint-ISBN 978-3-95441-323-2E-Book-ISBN 978-3-95441-340-9
für Ritchie
»In den 30 Jahren unter den Borgias hat
es nur Krieg gegeben,
Terror, Mord und Blutvergießen,
aber dafür gab es Michelangelo, Leonardo da Vinci
und die Renaissance.
In der Schweiz herrschte brüderliche Liebe,
500 Jahre Demokratie und Frieden.
Und was haben wir davon? Die Kuckucksuhr!«
Orson Welles alias Harry Lime in Der Dritte Mann
Schriftliche Erklärung desHubertus Grassner, UntersuchungshäftlingJustizanstalt Josefstadt, Wien:
Jetzt, nur noch wenige Tage vor dem Prozess gegen mich, bekomme ich mehr und mehr Angst, was mich vor Gericht erwarten mag. Immer häufiger wird mir tagsüber schwindelig, und ich kann mich vor Atemnot kaum noch auf den Beinen halten. Nachts hingegen mache ich dann kein Auge zu. Und wenn ich tatsächlich mal zum Schlafen komme, wache ich bereits nach kurzer Zeit wieder auf, schweißgebadet und aus schrecklichen Träumen.
Am meisten Angst habe ich davor, dass mir bei meinen Schilderungen die Stimme versagen könnte oder ich angesichts meiner einfachen Bildung nicht die richtigen Wörter finde, um den Hintergrund meines Handelns nachvollziehbar darstellen zu können. Deshalb möchte ich über meine bereits getätigten Aussagen hinaus das Nachfolgende ergänzend zu Protokoll geben:
Ich verfluche den Tag, an dem ich zum ersten Mal von dem Katzenkönig gehört habe. Und ich kann nur jedem raten, sofort auf dem Absatz kehrtzumachen und das Weite zu suchen, wenn dieses Wort in seinem Beisein fällt, um nicht in den gleichen verhängnisvollen Bann dieses Satans zu geraten wie ich. Und am Ende ebenfalls zu so einem schlimmen Verbrechen getrieben zu werden, wie es mir widerfahren ist.
Ich war immer ein anständiger Mensch. Das kann jeder bestätigen, der mich kennt. Ich habe mir nie etwas zuschulden kommen lassen und werde das bestimmt auch in meinem weiteren Leben nicht tun. Ich habe stets die Gesetze geachtet und nie jemandem wehtun wollen.
Mit dem, wofür ich mich nun verantworten muss, wollte ich niemandem ein Leid zufügen oder sonst wie schaden. Vielmehr ging es mir einzig und allein darum, mich für das Gute unter den Menschen einzusetzen. Für das Gute und letztendlich dafür, die Menschheit vor ihrem Untergang zu bewahren. Ich wollte mit allen mir verfügbaren Mitteln verhindern, dass der Katzenkönig die Menschheit vernichtet.
Man möchte mir glauben, dass ich mir jetzt, wo mein gesamtes Leben wie ein Scherbenhaufen vor mir liegt, nichts sehnlicher zurückwünsche als die Zeit, da ich noch nie etwas von dem Katzenkönig gehört habe.
All dies bitte ich inständig bei der Beurteilung meiner Tat zu berücksichtigen.
Hubertus Grassner
Lars Schieferstein,Polizeikommissar im Streifendienst, Gießen:
K einen Schritt weiter«, hatte Wagenbach gesagt und sich Worstedt in den Weg gestellt, als der eingetroffen war, »Anweisung von Kroko.«
Knapp 20 Minuten zuvor war über Funk die Info gekommen, dass eine Frau beim Notruf gemeldet habe, auf dem Gelände des Gießener Güterbahnhofs einen herrenlosen Koffer entdeckt zu haben. Weil meine Kollegin Pia Schellhorn und ich gerade in der Nähe, also in der Lahnstraße, unterwegs waren, sind wir sofort hingefahren.
Wir trafen dort die Frau, die den Notruf abgesetzt hatte. Sie war in Begleitung einer weiteren Dame. Die beiden hatten einen Schäferhund dabei, der einen weißen Plastiktrichter über dem Kopf trug. Das sah aus wie ein Parabol-Richtmikrofon. Damit sollte offenbar verhindert werden, dass das Tier sich an einer Wunde leckt.
Die beiden Damen hießen, wie aus den nachfolgenden Gesprächen herauszuhören war, Ingrid und Maren. Die Aufnahme ihrer Personalien ergab, dass Ingrid im Rosenpfad wohnte und Maren in der Heinrich-Will-Straße. Obwohl die beiden Adressen nur wenige Hundert Meter voneinander entfernt in der Nähe des Neuen Friedhofs liegen, gilt der Rosenpfad als gehobene Wohngegend, wogegen die Heinrich-Will-Straße das eher nicht ist.
Ingrid war vielleicht Anfang vierzig und hatte eine makellos schlanke Figur. Ihr kurz geschnittenes, schwarz gefärbtes Haar verlieh ihr eine dominante Strenge. Dieser Eindruck wurde noch dadurch unterstrichen, dass sie eine schwarze Lederjacke trug, die an Marlon Brando in dem Film Der Wilde erinnerte: Biker-Look in Used-Optik, geflochtene Schulterklappen, rote Paspeln und diverse Metall-Applikationen. Ihr schräg verlaufender Front-Zipper gerade so weit geöffnet, dass ansatzweise die Spitzen eines sich darunter befindlichen roten BHs zu erkennen waren. Die Augen hinter einer schwarzen Ray-Ban mit grünen Gläsern. Dazu lilafarbene Leggins, kurze, schmuckverzierte Cowboy-Stiefelchen und in der Rechten eine martialisch anmutende Hundeleine aus Leder.
Maren hingegen war vielleicht Mitte dreißig, mit bestimmt doppelt so vielen Kilos auf den Rippen wie Ingrid und in einen roten, ausgewaschenen Overall gezwängt. Dieser übersät von unzähligen Reißverschlüssen und jede einzelne Körperwölbung drall abzeichnend. Sie hatte schulterlange, braune Locken und trug knöchelhohe Billo-Sneakers. Vor ihrem mächtigen Busen hing eine recht professionell wirkende Fotokamera an einem Strap um den Hals.
Der Schäferhund hieß, soweit zu hören war, Bob. Es war nicht auszumachen, wer von den beiden Damen sein Frauchen sein mochte. Eher hatte man den Eindruck, dass er den beiden als Kindersatz diente.
Die Schilderungen von Ingrid und Maren, wie sie auf den herrenlosen Koffer aufmerksam wurden und sodann die Polizei verständigten, erfolgte in einer Art, wie gemeinhin alte Ehepaare Witze erzählen: Jedes Mal, wenn der eine eine Passage zum Besten gibt, fällt der andere ihm ins Wort, weil er meint, korrigierend einschreiten zu müssen.
Was dennoch zu erfahren war, war, dass Ingrid durch die unverhoffte Beerbung einer entfernten Tante aus Berlin, die einst als Sekretärin für Willy Brandt tätig war, Maren das Geld für eine Canon-Power-Shot vorgestreckt habe, weil die nämlich davon beseelt sei, Fotografin werden zu wollen.
In der Woche, die Maren nunmehr stolze Besitzerin ihrer neuen Kamera war, hatte man selbige bereits an einer Reihe von pittoresken Orten der Stadt zum Einsatz gebracht: vor dem Stadttheater, am Schiffenberg, am neuen Teich im Stadtpark Wieseckaue – und jetzt auch hier, am Güterbahnhof.
Während Ingrid auf scharf getrimmt in verschiedenen Posen abgelichtet wurde, hätte Bob plötzlich angeschlagen. Der Hund stand dabei vor dem Betonsockel, auf dem der besagte Koffer lag, der sich auf einem Transportgestell mit Rollen befand. Man habe dann sofort gerufen: »Pfui, pfui ist das, aus, pfui!«, und Bob an die Leine gelegt. Anschließend habe man die Polizei verständigt.
Nachdem wir dann eingetroffen waren, hat die Einsatzleitstelle uns angewiesen, das Gelände weiträumig mit rot-weißem Flatterband abzusichern, um den Zugang Unbefugter zu unterbinden.
Dieser Teil des Güterbahnhofs hatte seine beste Zeit hinter sich. Eine rattige Angelegenheit das. Die Gleisbetten zugewachsen mit Unkraut, der Putz an den Gebäuden abgebröckelt, das Kopfsteinpflaster von Sträuchern und wild wachsenden Bäumen zerfurcht. Und zwischendrin irgendwelche Betongebilde, bei denen es sich um Eingänge zu Luftschutzbunkern aus dem Zweiten Weltkrieg handelt oder was auch immer. Alles, was hier noch helfen könnte, wäre ein Geschwader von Planierraupen.
Ansonsten befindet sich der Güterbahnhof auf der der Stadt zugewandten Seite der Lahnstraße. Auf der anderen Seite führt eine Böschung hinunter zu einer großen Wiese und der Lahn. Vor zwei Jahren hatten sich dort an einem Sonntag jede Menge Picknicker eingefunden, um mit fast zweieinhalb Kilometer Kolter an Kolter den Weltrekord im Massenpicknick für das Guinnessbuch aufzustellen.
Gleich neben der Wiese befindet sich die Wohnsiedlung Henriette-Fürth-Straße, Einheimischen besser bekannt als Margaretenhütte, eine ehemalige Armensiedlung. Heute einer von drei sozialen Brennpunkten Gießens mit manischem Hintergrund. Wobei manisch nichts mit dem Krankheitsbild manisch-depressiv zu tun hat. Vielmehr handelt es sich um einen Sonderwortschatz jenisch-rotwelschen Ursprungs, der früher als Räubersprache zur geheimen Verständigung diente. Im Laufe der Jahre wurde dieser von Schaustellern und fahrendem Volk übernommen. In Gießen ist dieser Soziolekt deshalb verbreitet, weil viele Schausteller und ambulante Gewerbetreibende hier ihren Sitz haben.
Nach und nach waren auf dem Gelände des Güterbahnhofs vier Streifenwagen eingetroffen sowie die Kriminalkommissare Wagenbach und Seipp. Nachdem diese weitere Telefonate mit der Leitstelle und dem Einsatzleiter Krokoczinski geführt hatten, traf Kriminalhauptkommissar Worstedt ein. Er hatte, soweit ich das mitbekommen habe, eigentlich dienstfrei und war in der Innenstadt aufgelesen worden.
Nachdem er aus dem Streifenwagen gestiegen war, der ihn hergebracht hatte, war er blindwütig losgestürzt in Richtung des Koffers, bis Wagenbach sich ihm in den Weg gestellt hat. In dem Moment hat gewissermaßen die Luft gebrannt. Denn es war klar, dass Wagenbach eindeutig seine Kompetenz überschritt, wenn er seinem Vorgesetzten, der Worstedt als ranghöherer Kommissar nun mal war, Weisung erteilen wollte.
»Soso, Anweisung von Kroko?«, hat Worstedt auch sogleich entgegnet, nachdem Wagenbach ihn davon abhalten wollte, sich dem herrenlosen Koffer zu nähern.
Mit Kroko war Frank Krokoczinski gemeint, unser Einsatzleiter und seinem Spitznamen entsprechend bissgefährlich wie ein Krokodil.
»Was hat er denn gesagt, unser lieber Kroko?«, hat Worstedt provoziert, »hat er vielleicht gesagt: ›Wenn der Kollege Worstedt zufällig vorbeischaut, dann sag ihm, dass er sich nicht dem herrenlosen Koffer nähern darf, weswegen ich ihn extra an den Güterbahnhof beordert habe.‹ Hat er das gesagt, ja?«
Wagenbach konnte nur kleinlaut einknicken: »Nein …«
»Nein, hat er nicht, aha. Und was hat er dann gesagt, hmm?«
»Er hat gesagt, niemand soll da hingehen.«
»Aha, ›niemand‹ hat er also gesagt. Und? Bin ich niemand, oder was.«
»Nein, natürlich nicht. Aber du weißt doch: die aktuelle Bedrohungslage.«
»Wer will es mir denn verbieten? Kannst du mir das sagen?«
Die Schaulustigen, die sich mittlerweile eingefunden hatten, bekamen alles mit. Außer den Stimmen der beiden Kommissare war nichts anderes mehr zu hören. Sogar Bob spitzte die Ohren. Man konnte nur hoffen, dass noch keine Pressevertreter vor Ort waren, die diese interne Auseinandersetzung hernach öffentlich ausschlachten würden.
»Von Wiesbaden ist ein Entschärfungstrupp unterwegs«, wollte sich sodann Seipp deeskalierend einmischen.
»Wozu denn das? Haben die nichts Besseres zu tun?«
»Um eine kontrollierte Sprengung mit einem Roboter vorzunehmen«, übernahm Wagenbach wieder das Wort, »die sind vor zehn Minuten losgefahren. Es hieß, dass sie in spätestens einer halben Stunde hier sein werden.«
Worstedt ging los, brummelte hörbar vor sich hin: »Wasʼn Stuss.«
»Roman, bleib stehen!«, versuchte Wagenbach dann nochmals, seinen Kollegen zu stoppen, »da kann alles Mögliche drin sein.«
»Alles Mögliche? Was meinst du damit? Schmutzige Unterwäsche und gebrauchte Pariser?«
»Roman!«
»Oder einen Sprengsatz des IS?«
Es war ihm nicht beizukommen. Und wie es schien, befand er sich nicht gerade in der besten Verfassung. An Flecken auf seiner verknitterten Kleidung hatte man sich ja im Laufe der Zeit gewöhnt, aber die Art, wie er jetzt seine Haare trug, ließ befürchten, dass er in einen Häcksler geraten war.
Während er dem Koffer näher kam, hielten wir anderen den Atem an. Manche von uns gingen in Deckung. Es war ganz offensichtlich, dass das Ärger geben würde. Krokoczinski würde es im Leben nicht hinnehmen, dass man sich über seine Anweisungen hinwegsetzte. Und noch weniger, dass man sich unnötig in Gefahr begab.
»Bleib stehen! Sei vernünftig!«, rief Wagenbach nochmals. Er wollte nicht aufgeben. Aber da war Worstedt schon an dem Betonsockel angelangt und wendete sich nochmals mit einem Blick der Verachtung zu uns: »Vernünftig? Ich bin vernünftig. Wir sind hier auf einem gottverlassenen Güterbahnhof. Was für ein Interesse sollte der IS haben, hier einen Sprengsatz hochgehen zu lassen? So etwas passiert auf Flughäfen, Bahnhöfen oder anderen belebten Plätzen, dort, wo Menschen umgebracht werden können. Aber alles, was hier umgebracht werden kann, sind ein paar altersschwache Ratten!«
Dann entfernte er zunächst das Fahrgestell, auf dem der Koffer befestigt war, und öffnete seelenruhig die Schnallen der beiden Gurte, die um den Koffer herumgespannt waren. Anschließend zog er den Reißverschluss auf, der den Deckel des Koffers verschlossen hielt. In dem Moment war die Anspannung kaum noch auszuhalten. Was würde sein, wenn sich in dem Koffer tatsächlich ein Sprengsatz befand? Oh Mann, Worstedt, du Idiot.
Als er den Reißverschluss vollständig aufgezogen und den Deckel hochgeklappt hatte, flirrte von einem Moment auf den anderen eine Wolke von Fliegen über dem Inhalt des Koffers. Worstedt machte angewidert einen Satz nach hinten und hielt sich mit dem Ärmel seiner Jacke die Nase zu. Dann kam er zurück zu uns.
Keiner sagte ein Wort.
Worstedt sprach in die Runde: »Verständigt die Rechtsmedizin. Lindenstruth soll herkommen und eine große Tube Antihydralsalbe mitbringen. Und sagt dem LKA Bescheid, sie sollen ihren Entschärfungstrupp zurückpfeifen.«
Dann wollte er wissen, warum Mario Krumpholz noch nicht da sei.
»Er müsste jeden Moment eintreffen. Er ist längst verständigt worden«, entgegnete Seipp.
»Gut. Und was ist mit der Maritz? Ist die auch schon verständigt worden?«
»Die hat doch Urlaub«, erwiderte Wagenbach, »sie wollte nach Wien, um dort nächste Woche beim Stadtmarathon mitzulaufen.«
Weil wir wussten, dass Worstedt nicht gerne mit Oberkommissarin Regina Maritz zusammenarbeitet, dachten wir, dass er sich freuen würde, mal in einem Fall ohne sie zu ermitteln. Stattdessen aber wendete er sich mit einem ausgesprochen scharfen Ton an mich: »Und du besorgst mir jetzt eine Cohiba.«
»Eine was?«
»Eine Zigarre der Marke Cohiba. Eine Robusto, Lanceros oder Esplendidos, egal.«
»Und wo soll ich so was herkriegen?«
»Lass dir was einfallen. Vielleicht am Bahnhof, in einem Tabakwarenladen in der Stadt. Hauptsache Cohiba. Kannst du dir das merken?«
»Hauptsache Cohiba«, wiederholte ich, »alles klar. Und hier?« Ich rieb meine Finger, Geld bedeutend.
Frank Krokoczinski, EinsatzleiterPolizeipräsidium Mittelhessen, Gießen:
J etzt mal ganz ruhig«, hatte ich gesagt, »Loni, was ist passiert?«
Es war schlimm. Sie konnte nur ins Telefon heulen.
Es dauerte mehrere Minuten, bis ich heraushören konnte, dass es um Ginger ging, unseren Hund. So aufgelöst hatte ich meine Frau noch nie erlebt.
Es habe ein komisches Geräusch gegeben bei uns im Haus, hatte sie gesagt. Im Flur. Als sie nachgucken ging, lag Ginger am Fuß der Treppe, die nach oben führt. Er musste hinuntergestürzt sein, lag nur noch da, regungslos.
Ich habe mich sofort losgemacht. Als ich zu Hause ankam, hatte er die Augen zwar wieder offen gehabt, aber vor seinem Maul stand Schaum, und er kam nicht auf die Beine. Sosehr wir ihm auch dabei halfen. Es wollte nicht gehen. Immer wieder knickte er zusammen. Und dann brach auf einmal im hohen Bogen ein Blutschwall aus ihm heraus. Ein schrecklicher Anblick. Zum Glück waren die Kinder noch in der Schule und mussten das nicht miterleben.
Wir haben ihn dann ins Auto verfrachtet und sind in die Veterinärmedizin gefahren. Ich hatte mich mit ihm auf die Rückbank gesetzt, meine Frau hinters Steuer. Von unterwegs haben wir in der Klinik angerufen, dass wir jeden Moment dort ankämen. Ginger hatte so starke Schmerzen, dass er mich ein paar mal in den Arm gebissen hat. Der arme Kerl.
Als wir ankamen, haben sie uns sofort in ein Behandlungszimmer geführt. Ginger wurde auf einen Tisch gelegt und bekam eine Beruhigungsspritze. Danach ging es ihm erst einmal besser. Er schlief ein.
Die Ärztin, eine gewisse Frau Dr. Siebenroth, hatte gemeint, es sei besser, ihn in der Klinik zu lassen. Sie wolle Ginger eingehend untersuchen, wenn wir nichts dagegen hätten. Wir waren einverstanden, natürlich.
Loni ist dann in der Klinik geblieben, und ich bin zurück ins Präsidium gefahren. Anderthalb Stunden später kam dann der Anruf: So, wie es aussah, hatte Ginger etwas gefressen, das vergiftet war. Es gab keine Rettung mehr für ihn. Frau Dr. Siebenroth hat ihn eingeschläfert.
Ginger war zu uns gekommen, als er zehn Wochen alt war. Ein tapsiger, kuscheliger Welpe war das, der bei jedem von uns im Bett schlafen durfte. In den acht Jahren, die das jetzt her war, war er zu einem festen Mitglied unserer Familie geworden. Er war ein ausgesprochen hübscher Labrador. Dunkelbraunes Fell mit einem roten Halsband.
Unmittelbar nach dem Anruf aus der Veterinärmedizin kam dann die Nachricht, dass jemand einen herrenlosen Koffer auf dem Gelände des Güterbahnhofs gefunden hätte. Stulli von der Bereitschaft hatte mich auf meinem Handy angerufen, weil er mich an meinem Festnetz nicht erreichen konnte.
Da war ich gerade unterwegs nach Hause. Ich musste mich um unsere Kinder kümmern, die jeden Augenblick aus der Schule heimkommen würden. Wie sollte ich ihnen nur beibringen, was mit Ginger passiert war, warum er nicht da war?
Ich musste mir die Nachricht von dem herrenlosen Koffer erst zweimal wiederholen lassen, weil ich nicht in der Lage war, so einfach umzuschalten. Zu tief saß mir der Schmerz über unseren armen Hund. Ich dachte, wie es wohl meiner Frau gehen würde, die nach wie vor in der Klinik bei ihm war. Es war alles nur fürchterlich. Und dann auch noch diese nervige Fragerei, was denn nun unternommen werden solle wegen dieses herrenlosen Koffers.
Am liebsten hätte ich gesagt, steckt ihn euch doch wohin, diesen verdammten Koffer. Aber das ging natürlich nicht. Schließlich war ich Einsatzleiter des Polizeipräsidiums Mittelhessen und würde eine Entscheidung treffen müssen. Als Stulli dann meinte, ob er vielleicht einen Entschärfungstrupp vom LKA anfordern solle, sagte ich kurz entschlossen: »Gute Idee, mach das.«
Und als er dann noch wissen wollte, wer denn den Einsatz vor Ort leiten solle, meinte ich, dass es am besten sei, wenn Roman das übernimmt. Ich dachte mir, dass die nächste Ansiedlung schließlich die Margaretenhütte sei. Weshalb Roman der richtige Mann sei, weil er ja im Präsidium ob seiner manischen Wurzeln gewissermaßen unser Mann für Fälle mit manischer Einbindung ist.
Also habe ich ihn auf seinem Handy angerufen. Ich hatte irgendwie den Eindruck, dass ich ihm nicht gelegen kam. Aber wem kommt so ein Anruf schon gelegen, dachte ich. Er faselte was von »gerade beim Friseur« und ob ich nicht jemand anderen schicken könne. Schließlich sei er doch mittlerweile nur noch für Tötungsdelikte zuständig. Natürlich hatte er recht. Das habe ich ihm auch gesagt. Aber ich habe auch gesagt, dass es sich um einen Notfall handele, dass er für mich einspringen solle, um mir schlichtweg einen Gefallen zu tun.
Als er dann aber noch anfing, ich könne doch erst mal die Maritz hinschicken, ging mir endgültig die Hutschnur hoch. Ich erinnerte ihn daran, wie oft ich ihm schon aus der Patsche geholfen und meinen Kopf für ihn hingehalten hatte.
Das Telefonat endete damit, dass ich sagen musste: »Beweg deinen Arsch zum Güterbahnhof. Und zwar sofort!«
Lars Schieferstein,Polizeikommissar im Streifendienst, Gießen:
Na, was haben sie denn mit dir angestellt, dass du mit so einem Ding rumlaufen musst?«, hatte Worstedt zu Bob gesagt wegen dessen Plastiktrichter über dem Kopf. Weil gleichzeitig aber Dr. Lindenstruth eintraf, hat er die Antworten von Ingrid und Maren nicht abgewartet und den Rechtsmediziner begrüßt.
»Kerle, Kerle«, sagte der, als er Worstedt hinter der Absperrung entdeckte, »was ist denn mit Ihren Haaren passiert? Haben Sie Ihrem Ballefusser die Moss getschurt, dass er sich gerächt hat? Oder wollen Sie auf Ihre alten Tage noch mal auf Punker machen.«
»Ich war gerade beim Friseur«, entgegnete Roman, »als Krokoczinski mich angerufen hat. Ich sollte sofort hierherkommen.«
»Sozusagen Ballefussi interrupti«, stichelte der Rechtsmediziner, »gibt Ihnen was Verwegenes.«
»Danke«, sagte Worstedt und ging voraus in Richtung des Koffers, »wir haben es mit einem herrenlosen Koffer zu tun«, versuchte er das Gespräch zurück auf eine sachliche Ebene zu heben, »mit einem Torso darin.«
»Einem Torso?«
»Ja. Ich habe nur einen kurzen Blick hineinwerfen können. Aber soweit das zu erkennen war: keine Arme, keine Beine, kein Kopf.«
Ein Journalist, der den beiden in ein paar Metern Abstand gefolgt war, rekapitulierte für seinen Notizblock: »Keine Arme, keine Beine, kein Kopf. Ist das richtig?«
Anstatt zu antworten, rief Worstedt: »Lutz!«, und bedeutete Wagenbach mit einer entsprechenden Geste, den vorlauten Pressevertreter hinter die Absperrung zu verweisen. Wagenbach kam der Aufforderung nach und gab dem Mann zu verstehen, sich bis zu einer Erklärung der Pressestelle zu gedulden.
»Haben Sie Antihydralsalbe mitgebracht?«, fragte Worstedt.
»Nein, aber Wick Vaporub«, antwortete Lindenstruth, »das ist genauso gut.«
Während er sich sodann aus einer kleinen Dose jeweils eine Fingerspitze der Salbe unter jedes Nasenloch streifte, steckte Roman sich die Zigarre an, die ich ihm für 13,40 Euro am Bahnhof besorgt hatte.
Die Verkäuferin hatte gleich spitzgekriegt, dass ich keine Ahnung hatte von Zigarren. Sie hatte mich gefragt, ob ich einen Cutter hätte. Weil ich nicht wusste, was damit gemeint war, musste ich erst noch mal mit Worstedt Rücksprache nehmen. So habe ich erfahren, dass das Mundstück der Zigarre erst mit einem speziellen Schneidewerkzeug, einem sogenannten Cutter, gekappt werden muss, bevor man sie anstecken kann. Die Verkäuferin hat das dann freundlicherweise gleich übernommen.
»Was ist denn das für ein Kraut?«, hat der Rechtsmediziner gefragt, als der Rauch ihn erreichte.
»Das ist kein Kraut, das ist eine Cohiba Exquisitos.«
»Hört sich gut an. Ist das nicht die Marke, die Orson Welles bevorzugt geraucht hat?«
»Nein, Orson Welles war zeitlebens auf die Montecristo-A geeicht. Auf alle Fälle bis zur kubanischen Revolution und der Verstaatlichung von Partagas.«
»Partagas?«
»Ja, das ist die Tabakmanufaktur gleich hinter dem Kapitol in Havanna.«
»Respekt. Sie kennen sich ja richtig aus.«
Als wir bei dem Koffer angelangt waren, stieg mir ein abscheulicher Gestank in die Nase. Dr. Lindenstruth reichte das Wick Vaporub weiter an jeden, der ebenfalls seine Atemwege vor dem Geruch schützen wollte. Einige um uns herum mussten damit kämpfen, dass es ihnen nicht hochkam. Andere hatten schon das Weite gesucht und waren in ihre Fahrzeuge geflüchtet oder hinderten Schaulustige und Pressevertreter daran, dem Tatort zu nahe zu kommen.
»Na, was haben wir denn da?«, begrüßte Dr. Lindenstruth das Innere des geöffneten Koffers.
Worstedt wollte sich dem sarkastischen Unterton des Rechtsmediziners nicht anschließen. »Offenbar den Rumpf eines Menschen«, bemerkte er sachlich.
»Ja, so sieht es aus«, betrachtete Dr. Lindenstruth den vor ihm in dem Koffer liegenden Fleischkloß, »wie der Rumpf eines Menschen, eines männlichen Menschen, wie es aussieht.«
Tatsächlich hatte man dem Mann die Genitalien drangelassen, was ihm aber offensichtlich nichts geholfen hat. Aus den Öffnungen der abgetrennten Glieder waberten Tausende von Maden. Kein schöner Anblick. Beileibe nicht. Ich musste auch damit kämpfen, dass mein Frühstück in mir blieb.
»Was meinen Sie, Doc«, fragte Worstedt, »können wir diesmal Selbstmord ausschließen oder müssen wir wieder erst das Ergebnis Ihrer Obduktion abwarten?«
Dr. Lindenstruth gab einen unverständlichen Laut von sich, den man bei wohlwollender Interpretation bestenfalls als bärbeißige Verneinung auslegen konnte.
Als er sich daranmachen wollte, den Torso aus dem Koffer zu hieven, erklang die Stimme von Mario Krumpholz, der gerade mit seinem Team der Spurensicherung eingetroffen war.
»Stop! Nichts verändern! Nicht, bevor wir unsere Fotos gemacht haben«, schimpfte er schon von Weitem, während er in einen weißen Spusi-Overall stieg, »immer dasselbe. Keine Achtung vor der Arbeit der anderen.«
Dr. Lindenstruth nuschelte etwas, das wie »schon gut« klang. Dann fragte er Worstedt nach Regina Maritz.
»Wo ist Ihre junge, hübsche Kollegin?«, fragte er.
Der nahm erst noch einmal einen kräftigen Zug aus seiner Zigarre, bevor er antwortete: »Im Urlaub.«
»Na, dann haben Sie ja endlich mal wieder freie Bahn, was?«
»Was meinen Sie damit?«
»Nun ja, es wurde ja schon bisweilen gemunkelt, dass Sie beide nicht gerade als Dreamteam durchgehen.«
Worstedt war es offensichtlich nicht angenehm, darauf einzugehen, denn mit einem Fingerzeig auf die äußere Fläche des Koffers fragte er: »Was ist das für ein Muster?«
Rundherum Achselzucken.
»Schade, Worstedt. Ich bin mir sicher, dass die Kollegin Maritz das gewusst hätte. Frauen verfügen in der Regel über ein grenzenloses Wissen, wenn es um die Zuordnung von schmückenden Accessoires geht.«
Schließlich mischte Krumpholz sich ein. Er fotografierte den Deckel des Koffers mit seinem Smartphone und gab das Ergebnis in eine App zur Analyse von Mustern ein.
»Louis Vuitton«, vermeldete er gleich darauf, »das ist ein Louis-Vuitton-Koffer.«
»Ach, die machen auch Koffer«, kommentierte Seipp, »ich dachte, die segeln nur mit beim Americaʼs Cup.«
»Nicht gerade billig, so ein Teil. Eine echte Edelmarke«, führte Krumpholz seine Rede weiter, »aber der hier scheint schon ein paar Jahre runter zu haben. Ein Modell, das zuletzt vor zwanzig Jahren in der Kollektion vertreten war.«
»Was würdet ihr nur machen ohne euer Internet bei jeder Gelegenheit«, kommentierte Dr. Lindenstruth die Recherche von Mario Krumpholz, »kann ich mich jetzt endlich um den Torso kümmern?«
»Bitte«, überließ Krumpholz ihm das Feld.
Dr. Lindenstruth hatte offenbar das Gewicht des Fleischklumpens unterschätzt, als er ihn aus dem Koffer wuchten wollte. Deshalb bat er Worstedt, sich ebenfalls Gummihandschuhe überzustreifen und ihm behilflich zu sein. Gemeinsam brachten sie den Leichnam – beziehungsweise den vorhandenen Rest davon – auf einer Kunststoffmatte neben dem Betonsockel zum Liegen. Dabei wurde auf dem rechten hinteren Schulterblatt eine eher lieblos gestochene Tätowierung sichtbar:Negerdörfl-Fotzn.
Mario Krumpholz, SpurensichererPolizeipräsidium Mittelhessen, Gießen:
Lindenstruth hatte recht gehabt. Was für ein Aufwand wäre früher nötig gewesen, um all die Informationen zusammenzutragen, die wir heute über das Internet innerhalb kürzester Zeit recherchieren können.
Nachdem ich Negerdörfl gegoogelt hatte, wurde mir eröffnet, dass es sich dabei um eine ehemalige Armensiedlung im 16. Wiener Bezirk Ottakring handelt. Die Siedlung bestand aus sogenannten Notstandsbauten, die im Jahr 1911 errichtet wurden. Das Geld dafür kam durch Sammlungen und Benefiz-Veranstaltungen zusammen. Die Stadt Wien hatte das Grundstück zur Verfügung gestellt. Es waren acht einstöckige Holzbaracken mit insgesamt einhundertachtundzwanzig Wohneinheiten. Die Außenwände waren pattschockiert, das heißt, mit Mörtel angeworfen, um den Eindruck zu vermitteln, dass es sich um Häuser aus Stein handelte. Gelegen war diese Siedlung als Karree zwischen Goblanzer Gasse, Zagorskigasse, Herbststraße und Pfenniggeldgasse. Die Bewohner waren kinderreiche Familien, deren Ernährer bevorzugt ambulantem Gewerbe nachgingen oder sich als Schausteller auf dem Wiener Prater verdingten.
Mittlerweile gibt es das Negerdörfl nicht mehr. In den Jahren 1952/53 hat die Stadt Wien die Bauten abgerissen und auf dem Gelände eine Siedlung errichtet, die als Franz-Novy-Hof nach dem ehemaligen Wiener Wohnbaustadtrat benannt wurde.
Des Weiteren konnte in Erfahrung gebracht werden, dass der Begriff Negerdörfl in Wien nicht unbedingt rassistisch abwertend verwendet wird. Vielmehr hat neger die Bedeutung von arm bzw. abgebrannt. Bereits Beethoven soll seinem Bruder Kaspar Karl in einem Brief von 1793 mitgeteilt haben, dass er mal wieder neger sei. Und ebenfalls würde der Begriff Negerant in Wien auch als Synonym für Habenichts oder Schnorrer verwand.
So viel mal zu Negerdörfl. Was Fotzn anging, so bezeichnet dieser Begriff neben der Vulgärversion des weiblichen Geschlechtsorgans im alpenländischen Raum auch eine der sogenannten Dreifaltigkeiten dörflicher Züchtigung neben Schelln und Watschn. Womit jeweils ein Schlag ins Gesicht gemeint ist.
Bei dem Tattoo auf unserem Torso waren wir uns aber einig, dass es sich um eine im Gefängnis zugefügte Markierung gehandelt hat, die dem Toten offenbar zur Stigmatisierung sexueller Willfährigkeit verpasst wurde.
Der Koffer, das konnte ich ebenfalls in Erfahrung bringen, war, obwohl es sich nicht um das neueste Modell handelte, vorneweg noch zwölfhundert Euro wert.
Wir hatten einiges am Hals: Wer war der Tote? Wo waren seine anderen, abgetrennten Gliedmaße? Und warum und von wem war er so fürchterlich zugerichtet worden?
Alles offene Fragen, die es zu beantworten galt.
Hinzu kam, dass von »Spuren suchen« am Tatort keine Rede sein konnte. Das Gelände des Güterbahnhofs umfasste fünftausend Quadratmeter und war voll mit Spuren. Schon der Unrat und die illegalen Müllentsorgungen hätten uns auf Monate hinaus beschäftigen können, wenn nicht gar für Jahre. Unsere Hauptarbeit bestand deshalb darin, aus dem Meer an Spuren diejenigen zu selektieren, die auf welche Art auch immer verwertbar sein konnten.
Frank Krokoczinski, EinsatzleiterPolizeipräsidium Mittelhessen, Gießen:
Hatten Sie vielleicht in letzter Zeit in Ihrem Garten Rattengift ausgelegt?«, wollte Frau Dr. Siebenroth wissen, und ich war mir hundertprozentig sicher, dass wir solches nicht getan hatten.
»Und Ihr Nachbar, hatte der das vielleicht getan?«
Unser Nachbar ging mir seit einiger Zeit zwar aus dem Weg, aber das hatte einen anderen Grund. Bei ihm war eingebrochen und einiges an Inventar gestohlen worden: Fernseher, Stereo-Anlage und so.
Als wir der Sache auf den Grund gegangen waren, hatte sich allerdings herausgestellt, dass es sich um eine Bande gehandelt hat, die ihn da abgetschurt hatte. Während er im ersten Stock seinen Spaß mit einer Nacktputzerin hatte, sind deren Komplizen in aller Seelenruhe im Erdgeschoss eingestiegen und haben mitgenommen, was abzugreifen war. Als er mich daraufhin gebeten hat, über die peinlichen Hintergründe Stillschweigen zu bewahren, habe ich ihm das zugesichert und mich auch daran gehalten. Dass er in seinem Garten Rattengift ausgelegt haben könnte? Nein, das war abwegig. Ganz abgesehen davon, dass Ginger sich nie bei ihm im Garten aufhielt.
Die Tierärztin führte ihre Befragung weiter: »Und dass er, also Ginger, beim Gassigehen mal irgendwo länger geschnuffelt und vielleicht auch was gefressen hätte?«
Mein Gott, Ginger war ein Wirbelwind. Wo der alles stehen blieb und geschnuffelt hat? Ich konnte nichts auch nur annähernd Verwertbares beitragen.
»Oder könnte es sein, dass jemand persönlich etwas gegen Sie hat und sich für etwas rächen wollte?«
Meine Fresse, dachte ich und sagte: »Wenn ich die Menschen aufzählen müsste, die was gegen mich haben, wäre ich morgen noch damit beschäftigt, nur die Namen derer aufzuzählen, die mich schon umbringen wollten.«
Es sah nicht gut aus, um demjenigen auf die Spur zu kommen, der Ginger auf dem Gewissen hatte.
Frau Dr. Siebenroth bot uns an, Gingers Leichnam so lange in der Kühlung der Veterinärmedizin zu belassen, bis wir wussten, was mit ihm geschehen sollte.
Dann fuhren Loni und ich zum Schwanenteich, weil ich dort am Abend zuvor mit Ginger spazieren war. Wir gingen den Weg so gut ab, wie ich mich erinnern konnte. Um den Schwanenteich herum und durch den neuen Stadtpark Wieseckaue.
Als wir an der Strandbar an dem neuen Teich ankamen, erzählte ich Loni, dass ich mir dort am Abend zuvor die Getränkekarte angeschaut hatte. Die Getränkekarte und die Menschen, die in Unterhaltungen vertieft und zufrieden ihr Dasein genossen. Ich hatte mir in dem Moment so sehr gewünscht, ein Teil von ihnen zu sein.
»Dann lass uns das doch machen«, sagte Loni.
Und so taten wir es. Wir setzten uns in Liegestühle und genehmigten uns exotische Drinks. Ich einen Mojito und sie einen Daiquiri.
Wir tranken auf unseren armen, toten Hund, und ich zitierte Hemingway, der während der Niederschrift seines Romans For whom the bell tolls im Hotel Ambos Mundos in Havanna den Spruch kreiert haben soll: »My Mojito in La Bodeguita, my Daiquiri in El Floridita.«
Lutz Wagenbach, KriminaloberkommissarPolizeipräsidium Mittelhessen, Gießen:
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