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Er war ein begeisterter Hobbyläufer, aber irgendetwas lief schief: Nach unzähligen Verletzungen, Kortisonspritzen und immer neuen Hightech-Sportschuhen stand Christopher McDougall kurz davor, die Diagnose der Mediziner ein für alle Mal hinzunehmen: »Sie sind einfach nicht zum Laufen gemacht.« Doch dann begab er sich auf eine abenteuerliche Reise zu den legendären Rarámuri, den besten Läufern der Welt, um ihr Geheimnis zu lüften. Seine Erkenntnis: In Wahrheit sind wir alle zum Laufen geboren.
Mit seinem Weltbestseller »Born to Run« etablierte Christopher McDougall den Lauftrend des Barfußlaufens - sein neuestes Buch ist ein komprimierter Guide für alle Läufer*innen - ob Jogging-Newbies oder Langstrecken-Athlet*innen: Running Fitness und das richtige Aufwärmprogramm, Ernährung vor und auf der Strecke, ein 90-Tage-Plan für das Erreichen individueller Ausdauer-Ziele, Tipps für die perfekte Ausrüstung und den motivierenden Spaß in der eigenen Running Community. Großformatig und durchgehend bebildert mit atmosphärisch-packenden Aufnahmen u.a. von den legendären Races in den Copper Canyons.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 412
Von Christopher McDougall bei Penguin Random House erschienen:
Born to Run – Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt
Handbuch des Helden – Auf der Suche nach den Geheimnissen von Kraft und Ausdauer
Seit dem Erscheinen von Born to Run habe ich Zuschriften aus aller Welt erhalten, in denen immer wieder das Gleiche zu lesen ist:
»Danke, Chris! Du hast mein Leben verändert.«
Darauf antworte ich: »Ich weiß genau, was du meinst.«
Weil ich in den gleichen Fußstapfen stehe. Ich stehe immer noch in den gleichen Fußstapfen wie meine Leser:innen. Born to Run mag wie eine irre Abenteuerstory rüberkommen, denn – seien wir ehrlich – es ist schon abenteuerlich, wenn ein mysteriöser Einzelgänger namens Caballo Blanco, »Weißes Pferd«, einen 80 km langen Wettlauf gegen einen legendären indigenen Stamm veranstaltet, und zwar genau vor der Nase zweier mörderischer Drogenkartelle.
Aber im Kern ist Born to Run eine ganz andere Geschichte. Es ist die Geschichte einer Verwandlung, eines Aufstiegs vom Scheitern zur Hoffnung und schließlich zur Kraft. Zu einer echten, lebensverändernden Kraft. Zu der Kraft, rauszugehen und die Welt auf eigenen Füßen zu erkunden und zu laufen: wo man will, so lange man will, wann immer man Lust hat.
Was für eine Superkraft das Laufen ist, begreift man vor allem dann, wenn man sie entweder zum ersten Mal kennenlernt oder auf einmal verliert. Von diesen Leuten höre ich am meisten: von Ex-Läufer:innen, die überglücklich sind, dass sie eine neue Chance bekommen, und von Anfänger:innen, die die nötige Inspiration erhalten haben, um endlich loszulegen.
Mit seiner eigentümlichen Wildheit zeigt Born to Run auch: Egal wie alt oder wie unfit du bist, egal welche Verletzungen und Misserfolge dich ausgebremst haben, deine besten Lauftage liegen vor dir. »Man hört nicht mit dem Laufen auf, weil man alt wird«, sagte Jack Kirk, der 94-jährige Trail runner namens Dipsea Demon, gerne. »Man wird alt, weil man mit dem Laufen aufhört.«
Aber niemand wird von selbst zum 94-jährigen Läuferdämon. Laufen ist ein Tanz, und man braucht eine Weile, um die Schritte zu lernen. Deshalb enden viele der Dankesbriefe, die ich erhalte, mit einer Bitte:
»Ich kann es kaum erwarten zu laufen. Aber wie fange ich an?«
Darauf hatte ich keine Antwort. Jahrelang war ich mir über die nächsten Schritte nicht im Klaren, weil ich selber gerade dabei war, sie herauszufinden. Ich fühlte mich, als hätte ich im Lotto gewonnen, konnte aber nicht glauben, dass das Geld wirklich mir gehörte. Zu diesem Zeitpunkt war es mehr als ein Jahrzehnt her, dass Eric Orton mich für mein mexikanisches Laufabenteuer trainiert hatte, aus dem dann mein erstes Buch Born to Run wurde. Das Buch hatte gleich drei weltweite Trends angestoßen: Barfußlaufen, Ultramarathons sowie Chiasamen als Superfood.
Ich sah das als Hinweis dafür, dass wir etwas Wichtigem auf der Spur waren. Die Leute wollten nicht nur laufen, sie wollten gerne laufen. Sie wollten die gleiche Freude erleben, die wir Mâs Locos bei unserem langen, gefährlichen Rennen unter brennender Sonne verspürt hatten.
Run free, erklärte Caballo gern, »Lauf dich frei!«. Dieser knappe Schlachtruf bringt es auf den Punkt. »Frei« bedeutet nicht dasselbe wie »wild«, auch wenn es nah dran ist. Caballo Blanco meinte damit: frei von Verletzung. Frei von Stress. Frei von überteuerten Schuhen und Ausrüstung und Startgebühren. Laufe frei wie ein Kind, das zur großen Pause aus der Schultür stürmt – oder wie ein mürrischer Einzelgänger, der die Zivilisation gegen eine winzige Hütte getauscht und bei den Rarámuri eine fremde, aber liebevolle Familie gefunden hat.
Junge Rarámuri jagen dem Rarájipari-Ball nach und verbessern so ihre Lauftechnik.
Aber ob ich selbst diese Freiheit gefunden hatte?
Ich hatte volles Vertrauen in Erics Methode: Seine Version des Run-Free-Systems hatte mich nie im Stich gelassen, Rennen um Rennen, Jahr um Jahr, Abenteuer um Abenteuer. Was ich nicht hatte, war Vertrauen in mich selbst. Im Hinterkopf hörte ich immer noch die Ärzte mit ihrer Mahnung, Laufen sei schlecht für den menschlichen Körper, besonders für einen Körper wie den meinen. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass Laufen nichts für jemanden wie mich war. Vielleicht kam ich jetzt noch damit durch, aber eines Tages würde ich den Preis zahlen.
Und dann, an einem überraschend heißen Morgen Ende September, kam die Wende. Ich war bei meinem Lieblingsrennen, dem Bird-in-Hand Half Marathon, den meine amischen Nachbarn jedes Jahr hier vor Ort veranstalten, um Geld für die Feuerwehrleute und Ersthelfer zu sammeln, die bei dem Massaker an einer amischen Schule im Jahr 2006 zur Rettung der Kinder gekommen waren.
Die Bird-in-Hand-Strecke ist atemberaubend und sehr beschaulich. Da dröhnt keine Musik, nur bei Kilometer 3 singt leise eine Mennonitenfamilie auf ihrer Veranda. An den Verpflegungsstationen vor den Farmen bieten amische Kinder Becher mit Getränken an und rufen auf Pennsylvania-Deutsch: »Vater! Vater! Vater!« Die Laufstrecke schlängelt sich durch die grünen Hänge des Valley of No Wires, das so heißt, weil keines der Häuser dort Telefon oder Strom hat.
Aber einer der Anstiege, nämlich der Red Lane Hill, ist ein ausgesprochenes Biest. Jedes Jahr weiß ich, dass er kommt, und jedes Jahr ist er schlimmer, als ich es in Erinnerung hatte. Zunächst einmal ist er einfach gemein. Er erwischt einen kurz nach Kilometer 16, wenn man sich schon auf der Zielgeraden glaubt. Und er ist tückisch. Man blickt auf lauter sanfte Biegungen, und im nächsten Moment knickt die Strecke seitwärts auf einen versteckten Feldweg ab, der durch ein Maisfeld steil himmelan führt. Außerdem ist es heiß, heiß, heiß. Kein Baum weit und breit, also die volle Vormittagssonne im Gesicht.
Und schließlich ist Red Lane Hill für uns Barfußlaufende ein Ort, der uns wieder einmal lehrt, wie viele spitze Steinchen sich in einem Feldweg verstecken. Als ich oben ankam, blieb vor mir ein älterer Typ wie angewurzelt stehen. Er schwitzte und schnaufte wie eine verreckende Lokomotive. Plötzlich schmiss er die Arme in die Luft, als hätte er gerade olympisches Gold gewonnen.
»ICH HATTE VOLLES VERTRAUEN IN ERICS METHODE: SEINE VERSION DES RUN-FREE-SYSTEMS HATTE MICH NIE IM STICH GELASSEN, RENNEN UM RENNEN, JAHR UM JAHR, ABENTEUER UM ABENTEUER.«
»Juhu!«, keuchte er. »Was für ein Glück!«
Auf der Liste meiner Wahrnehmungen in diesem Moment – Durst, Müdigkeit, Überdruss, wunde Füße – stand nichts von »Glück«. Jedenfalls nicht, bevor ich anhielt und mich umsah und verstand, was er meinte. An diesem Morgen hatten wir uns alle auf einer Wiese versammelt, um den Sonnenaufgang zu betrachten. Dann waren wir auf unseren eigenen zwei Beinen losgestürmt, um so schnell und weit und so frei zu laufen, wie wir wollten. Wir hatten aus eigener Kraft diesen Hügel erklommen und waren kurz davor, den Rausch des Hinablaufens zu erleben.
Was für ein erstaunliches Geschenk! Was für eine Superkraft! Das war es, was mir Eric angeboten hatte, als wir uns das erste Mal in einem Park mitten in Denver trafen. Es hatte viele Meilen gedauert, bis meine Zweifel verstummt waren, aber als ich oben auf dem Red Lane Hill stand, kapierte ich endlich. Eric hatte mich nie für irgendein Rennen trainieren wollen. Er trainierte mich für das Leben.
Anfangs war ich ein durchschnittlicher Jogger, der so oft verletzt war, dass mir ärztlicherseits mehrfach gesagt wurde, ich könnte mich auf schicke Knieprothesen freuen, wenn ich weiter laufen würde.
Als ich in die Barrancas del Cobre reiste, hatte ich es aufgegeben, nach neuen Lösungen für ein altes Problem zu suchen. Ich war ohnehin nie ein großer Läufer gewesen. Ab und an versuchte ich, meine täglichen paar Meilen in Richtung Halbmarathon zu steigern, aber schaffte kein halbes Jahr ohne Verletzung. Als ich einen führenden Sportmediziner fragte, warum ich ständig verletzt sei, blickte er mich an, als wäre ich hirntot. »Haben wir das nicht besprochen?«, fragte er, während er mir zum dritten Mal in diesem Jahr Kortison in den Fuß spritzte. Die Stoßbelastung sei schlecht für den Körper, vor allem für einen Körper wie den von Shrek, sagte er für den Fall, dass ich vergessen hatte, dass ich 1,93 Meter groß und 110 Kilo schwer war.
Aber was sollte ich machen? Man soll laufen, um in Form zu kommen. Außer wenn man nicht in Form ist, dann soll man nicht laufen. Und so geht es nicht nur mir, sondern uns allen. Die Verletzungsquote unter Läufern ist irrsinnig hoch, irgendwo bei über 70 Prozent pro Jahr, und das schon seit Jahrzehnten. Ständig kommen neue Schuhmodelle auf den Markt, und kein einziges hat jemals nachweisbar Verletzungen reduziert.
Ironischerweise schrieb ich damals für die Runner’s World, da mangelte es mir keineswegs an Expertenwissen zur Verletzungsprävention und zum Training. Ich hatte jeden Tipp ausprobiert, den die Laufzeitschrift zu bieten hatte: Stretching, Cross-Training, thermisch angepasste Einlegesohlen, Eisbäder, alle vier Monate ein neues Paar 150-Dollar-Schuhe. Aber egal was ich tat, es war nur eine Frage von Monaten, bis aus meinen Fersen, Oberschenkeln oder Achillessehnen wieder feurige Stiche schossen. Das Einzige, was ich noch nicht versucht hatte, war, meine Lauftechnik zu ändern, denn warum sollte ich das tun? Ich war ja nicht verrückt.
An der Technik soll man nie herumfrickeln. Nie nie nie. Laufexperten sind sich über kaum etwas einig, aber bei dieser Frage sind sie der reinste Kirchenchor. »Jeder Mensch hat einen einzigartigen Laufstil«, behauptet Dr. Reed Ferber, Leiter der Klinik für Laufverletzungen an der University of Calgary. »Es gibt weder eine richtige Art zu laufen noch eine falsche.« Die Autoren des sehr beliebten Handbuchs Advanced Marathoning Guide stimmen ihm zu: »Da jeder Mensch eine einzigartige Anatomie hat, gibt es keine ideale oder perfekte Lauftechnik.« Amby Burfoot, der langjährige Redakteur und Kolumnist von Runner’s World, wiederholt gern ein Zitat von Dr. George Sheehan, einem anderen Laufsportwissenschaftler: »Jeder Mensch ist ein Experiment mit nur einem Teilnehmer.«
Aber steht das nicht im Widerspruch zur Wissenschaft? Nach diesem Denken wäre das Laufen als einzige Aktivität nicht den Gesetzen der Physik unterworfen. Tanzen, Schwimmen, Tennis, Gitarre klimpern, mit Stäbchen essen – jede andere Bewegung, die der Körper ausführen kann, hat verschiedene Stile, die man durch Übung verbessern kann.
Aber Laufen nicht. Die Laufindustrie möchte uns einreden, dass es kein Richtig oder Falsch gibt – außer beim Schuhwerk, ihrem Allheilmittel mit 130 Milliarden Dollar Jahresumsatz. Denn die Schuhe sind es, die wir angeblich ändern sollen. Nicht unsere Technik, nur unsere Schuhe. Also: Nicht lernen, kaufen!
Christopher McDougall und Iman Wilkerson beim Hopserlauf, einer Lieblingsübung von Coach Eric.
Dann öffnete mir ein Einsiedler die Augen. Wenn du Born to Run gelesen hast, erinnerst du dich bestimmt an meine lange Suche in den mexikanischen Barrancas del Cobre (»Kupfer-Canyons«) und an den Moment, als ich endlich den argwöhnischen, hungrigen, sonnenverbrannten Herumtreiber namens Caballo Blanco stellte. Er bot einen seltsamen Anblick, ganz staubig vom Laufen. Er trug ausgelatschte Sandalen und einen Cowboyhut aus Stroh, aber bei näherer Betrachtung hatten wir mehr gemeinsam, als ich dachte. Caballo war so groß und alt wie ich und hatte die gleiche Schuhgröße, als er genau wie ich zum ersten Mal nach Mexiko aufbrach, um das Geheimnis der legendären Rarámuri-Langstreckenläufer zu lüften.
Caballo hatte Mitte der 1990er-Jahre in Leadville, Colorado, miterlebt, wie eine Gruppe von Rarámuri am Start des Leadville Trail 100 – einem 100-Meilen-Rennen über die Gipfel der Rockies – auftauchten, das Feld hinter sich ließen und acht der ersten zehn Plätze ergatterten. Im folgenden Jahr wiederholten die Rarámuri ihre erstaunliche Leistung, verschwanden dann wieder in ihren Schluchten und kehrten nie wieder.
Caballo folgte ihnen, um zu erfahren, wie die Rarámuri nur mit einfachsten Sandalen und bis ins hohe Alter Langstrecken laufen konnten, ohne all die Verletzungen, Entmutigungen und Verschleißerscheinungen zu erleiden, die uns plagten. Wenn Laufen schlecht für die Knie ist, fragte er sich, warum war es dann nicht schlecht für ihre Knie? Wieso brauchten die Rarámuri keine teuren Schuhe und Einlagen?
Ich glaubte, die Antwort auf diese Frage bereits zu erahnen, wollte aber, dass Caballo meine Ahnung bestätigte. Als ich ihn fand, lebte er schon seit mehr als einem Jahrzehnt in den Barrancas. Die kleine Hütte, die er dort bewohnte, hatte er selbst aus Steinen gebaut, die er mit bloßen Händen aus dem Fluss getragen hatte.
Er hörte mich an und schüttelte dann den Kopf.
Ich würde nie die richtige Antwort bekommen, sagte er, weil ich die falsche Frage stellte. Ich solle nicht fragen, warum die Rarámuri so anders sind als wir, erklärte er, sondern lieber, warum sie einander so ähnlich sind.
Das war der Moment, in dem ich das, was ich gesehen hatte, endlich verstand. Ein paar Tage zuvor hatte ich eine Gruppe von Rarámuri-Kindern beobachtet, die auf einem Feldweg hin und her rannten und sich mit der Sandalenspitze gegenseitig einen Holzball zukickten. Mir war ein merkwürdiges Detail aufgefallen:
»DIE BIRD-IN-HAND-STRECKE IST ATEMBERAUBEND UND SEHR BESCHAULICH. DA DRÖHNT KEINE MUSIK, NUR BEI KILOMETER 3 SINGT LEISE EINE MENNONITENFAMILIE AUF IHRER VERANDA.«
Micah True alias Caballo Blanco, das streunende weiße Pferd der Sierra Tarahumara.
Die Kinder liefen alle gleich.
Manche waren schneller, andere langsamer, aber in Sachen Lauftechnik waren die Rarámuri-Kinder fast identisch. Wer meint, das sei keine große Sache, sollte sich mal den nächstbesten Volkslauf anschauen. Von hundert vorbeiströmenden Läufer:innen bekommt man garantiert hundert verschiedene Ausdruckstänze zu sehen: Manche Läufer landen auf den Fersen, andere auf den Zehen, viele laufen nach vorne gebeugt, manche kerzengerade, und alle Arme, Beine und Köpfe schaukeln in einem ganz eigenen Rhythmus. Wer lauter Experimente mit nur einem Teilnehmer sehen möchte, findet sie beim durchschnittlichen Stadtmarathon.
»Vielleicht machen diese Kinder irgendwas richtig«, dachte ich mir, als ich ihnen beim Laufen zusah. Meine Vermutung bestätigte sich später an diesem Vormittag, als erwachsene Rarámuri auf dem Pfad auftauchten, alle mit dem gleichen leichtfüßigen, kniebetonten Laufstil wie die Kinder.
Das war das Geheimnis, das Caballo angelockt hatte. »Willst du’s lernen?«, grunzte er schließlich. »Ich zeig’s dir.«
Als der nächste Morgen dämmerte, führte Caballo mich zu einem Pfad, der sich in den Kiefernwald schlängelte. Während ich hinter ihm herlief, sprach er die sieben Worte, die mein Leben auf den Kopf stellen sollten:
»Bleib dran. Mach es so wie ich.«
Er verfiel in einen Trab. Ich fiel ein paar Meter zurück.
»Näher«, befahl er.
Ich holte so dicht auf, dass seine Fersen fast gegen meine Knie traten.
»Genau so«, sagte er.
Für einen großen Mann war sein Schritt seltsam kurz und fast federnd, irgendwie hüpfend. Er setzte so sanft wie ein Tänzer auf, was auch nötig war, denn statt gepolsterter Laufschuhe trug er abgelatschte Teva-Sandalen.
»Jetzt denk dir ›locker‹«, rief Caballo nach hinten. »Mit ›locker‹ fängst du an, denn wenn das alles ist, was du schaffst, ist das gar nicht übel. Dann versuchst du es mit ›leicht‹. Lass es mühelos sein, als wäre es dir scheißegal, wie hoch der Anstieg ist oder wie weit du noch laufen musst. Wenn du das so lange geübt hast, dass du gar nicht mehr merkst, dass du übst, dann mach es ganz ›sanft‹. Aber darum kümmerst du dich jetzt noch nicht. Übe die drei Wörter, und du wirst schnell.«
Ich behielt Caballo im Auge und versuchte, seine Trippelschritte nachzuahmen, seinen geraden Rücken, seine treibenden Knie. Ich beobachtete ihn so aufmerksam, dass ich gar nicht merkte, wie wir den Wald verließen.
»Wow!«, rief ich aus.
Die Sonne ging gerade über den Sierras auf. Weit vor uns ragten riesige Findlinge aus dem Boden der Hochebene wie die Statuen der Osterinsel. Im Hintergrund standen schneebedeckte Berge. »Wie weit sind wir gelaufen?«, fragte ich atemlos, aber verzückt.
»Ungefähr vier Meilen.«
Das konnte ich nicht glauben.
»Wirklich? Es war so …«
»Leicht?«
»Ja, genau.«
»Hab ich doch gesagt«, grinste Caballo.
Wie finden wir also zurück zum Gefühl des freien Laufens? Zum Glück ist es einfacher, schneller und spaßiger, als du denkst. Du musst dazu nicht den Caballo machen und am Grund einer Schlucht von Bohnen und Chia leben. Du musst nicht einmal mit Sandalen laufen. Aber wie bei jedem anderen Rätsel bekommt man erst dann den Durchblick, wenn man sich den Überblick verschafft hat. Wenn man nicht weiß, wohin, muss man genau darauf achten, wie.
»Von den 28 Millionen Läuferinnen und Läufern in den USA laufen 27 Komma soundso einfach irgendwie«, sagt Eric. Wir alle setzen gerne auf unsere Stärken und ignorieren unsere Schwächen. Einige Körperteile werden stärker, dadurch werden die schwächeren Teile stärker belastet.
Bis …
»Komm her!«, ruft Eric. »Schnell.«
Ich eile dorthin, wo Challis Popkey unter Erics Anleitung eine einbeinige Kniebeuge an der Wand ausführt. Eric und ich haben ein Dutzend Läufer:innen – darunter auch Abenteuerhündin Batman – an einem Freitagnachmittag im November 2021 in einem Park im kalifornischen Colton versammelt. Wir haben vor, ein paar Lauffotos zu machen. Aber unser Plan ändert sich schnell, als wir sehen, was vor sich geht.
Challis ist das Inbild einer perfekten Athletin. Sie ist stark und schnell und erreicht mit ihren 29 Jahren gerade erst ihre Leistungsspitze. Kürzlich hat sie ein 100-km-Bergrennen komplett zerstört, indem sie den Mann auf dem zweiten Platz um atemberaubende 90 Minuten schlug. Challis hat eine großartige Einstellung, einen großartigen Trainer und ein außergewöhnliches Talent.
Aber momentan hat sie die Hand auf der Hüfte.
»Siehst du das?«, fragt Eric.
Challis nimmt schnell die Hand weg. »Ist das so schlimm?« Eric lässt sie die Übung wiederholen. Challis stemmt die rechte Hand gegen die Wand und hebt den rechten Fuß vom Boden. Als sie mit dem linken Bein in die Kniebeuge geht, flitzt ihre linke Hand sofort zurück zur Hüfte.
»Wow«, sage ich.
»Mache ich was falsch?«, fragt Challis.
»Jep«, sagt Eric. »Aber das ist gut. Wenn du es falsch machst, machst du es richtig.«
Das Lustige an diesen Übungen ist, wie einfach sie zu erlernen sind. Das Erstaunliche daran ist, was sie alles offenbaren. Nehmen wir Challis als Beispiel: Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass sie ohne Schwitzen 50 dieser Kniebeugen schafft. Und das schafft sie auch – nur dass ihre Hand dabei immer wieder hochkommt, um die Hüfte zu stützen. Ein paar Minuten zuvor beim Beinheben seitwärts: Iman und Jenna plaudern entspannt, während direkt neben ihnen Emmanuel – den ich so hoch wie ein Autodach springen gesehen habe – vor Schmerzen das Gesicht verzieht. Drei gleich fitte Sportler:innen, eine einfache Übung – zwei völlig unterschiedliche Reaktionen.
»Wo du was spürst«, sagt Eric, »da brauchst du was.«
Und jeder hier braucht irgendetwas, außer vielleicht Hündin Batman, die mit einer Selbstverständlichkeit zu laufen versteht, wie wir sie nur in unseren Träumen erreichen. Aber wir anderen entdecken verborgene Schwachstellen, von denen wir nie vermutet hätten, dass wir sie haben.
Marcus Rentie und sein Adoptivtier, Abenteuerhündin Batman.
Eric ist der Einzige, der nicht überrascht ist. Er beobachtet seit Jahren, wie dieser Schreck des Entdeckens über die Gesichter von Sportler:innen jeden Alters und jeder Leistungsstufe huscht. »Stärken machen Spaß«, erklärt er. »Sie fühlen sich gut an und können lange Zeit alle schwachen Glieder unserer Kette kompensieren. Aber in der Sekunde, in der so eine heimliche Schwäche überlastet wird, reißt – zack! – die ganze Kette auseinander.«
Margot Watters war sich ziemlich sicher, dass ihre Kette zu 100 Prozent aus Adamantium bestand. Nachdem sie sich im College als Feldhockey- und Lacrosse-Spielerin hervorgetan hatte, wandte sie sich vom Sport ab, als sie heiratete und das erste ihrer fünf Kinder bekam. Sie war ziemlich glücklich mit ihrem Leben – bis sie es plötzlich und auf gefährliche Weise nicht mehr war. Margot versank in eine derart schwere Wochenbettdepression, dass ihr ärztlicherseits zu sofortiger Medikation geraten wurde. Margot entschied sich für einen anderen Weg.
»Wumms!«, sagt sie. »Ich fing an zu laufen, und das hat mich gerettet.« Da Margot immer ein Ziel braucht, verschrieb sie sich der Wohltätigkeit und machte beispielsweise Spendenläufe für den an Leukämie erkrankten Sohn einer Freundin. So eskalierte sie schnell von der gelegentlichen Joggerin zur Ironwoman mit Mission. Selbst in ihren Vierzigern blieb Margot auf Asphalt eine schnelle Wettkämpferin, gewann 10-km-Rennen in ihrer Altersklasse und bestieg bei Triathlons das Siegertreppchen. Aber gleich bei den ersten Geländeläufen schlug ihre Achillessehne Alarm. Trotz ärztlicher Hilfe wurden die Schmerzen über zwei Jahre immer schlimmer.
Schließlich entdeckte Eric etwas, das die Ärzte übersehen hatten.
»Eric ließ mich auf einem Balancetrainer stehen und sah, wie ich mit dem Gleichgewicht kämpfte«, erzählt mir Margot. »Er sagte: ›Ich glaube nicht, dass es deine Achillessehne ist. Ich glaube, es ist weiter unten in der Kette.‹« Nun ergab ein gezieltes MRT, dass in Margots Fußgelenk immer noch Bänderrisse von einer Verletzung vorlagen, die sie sich zwanzig Jahre zuvor beim Hockey zugezogen hatte.
Die Bänder wurden operativ wieder befestigt, und dann übernahm Eric das Steuer. »Sie trug zwei Monate lang einen Gips, das war eine Chance, bei null anzufangen«, sagt er. Weil Margot normalerweise nicht zu bremsen ist, nutzte Eric ihre Genesungszeit für einen kompletten Neustart nach Run-Free-Prinzipien. Statt auf lange Strecken setzten sie auf Feinjustierungen. Unser Karate Kid musste jetzt erst mal Zäune streichen.
»STATT AUF LANGE STRECKEN SETZTEN SIE AUF FEIN JUSTIERUNGEN. UNSER KARATE KID MUSSTE JETZT ERST MAL ZÄUNE STREICHEN.«
»Vor Eric trug ich die typischen dicksohligen Laufschuhe mit Einlagen«, sagt Margot. »Aber weil alles Vorherige nicht funktioniert hat, habe ich ihm vertraut.«
Eric überzeugte Margot, nicht mehr daran zu denken, wie viel und wie schnell sie laufen konnte, sondern nur daran, wie gut sie lief.
Wie leicht war die Landung?
Wie ausbalanciert war ihr Körper?
Wie rhythmisch war ihre Kadenz?
Weg mit der Farbrolle und her mit dem Pinsel! Laufen war jetzt Kalligrafie, eine Reihe präziser und feiner Pinselstriche.
Schön und gut – solange man nichts dagegen hat, die Letzte zu sein. Aber Margot war an Medaillen gewöhnt und konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass Erics ästhetischer Ansatz sie zwar gut aussehen, aber schlecht abschneiden lassen würde. Dennoch trat sie innerhalb von sechs Monaten, nachdem ihr Gips abgenommen worden war, bei den Triathlon-Weltmeisterschaften für die USA an.
»Wir konnten alle möglichen Dysbalancen beheben und ihre Lauftechnik auf echte Kraft und Effizienz umstellen«, sagt Eric. »Die ganzen lahmgelegten Muskeln, die sie ignoriert hatte, waren jetzt in Bewegung.«
Und Margots Kopf auch.
Ihr wackliges Fußgelenk war für Margot der Aha-Moment, den ich in den Barrancas del Cobre hatte. Jahrelang hatte sie nur Gas gegeben und nichts davon gemerkt. Sie hatte immer geglaubt, sie würde nicht hart genug trainieren, dabei bestand das eigentliche Problem darin, dass ihr Schritt wegen der lange verdrängten Schwachstelle wackelig war.
»Ich bin damit lange durchgekommen, weil Straßen so glatt und fest sind«, erklärt Margot. »Aber sobald ich ins Gelände kam, geriet mein Fußgelenk völlig durcheinander.«
»Sie hatte überhaupt keine seitliche Stabilität«, stimmt Eric zu. »Es war, als würde sie auf einem Bein laufen.« Seit Margots Neustart sind zehn Jahre vergangen. Seitdem hat sich viel verändert. Sie ist Großmutter geworden. Sie hat sieben Ironman-Triathlons absolviert und an zwei Weltmeisterschaften teilgenommen. Und auf den Trails, die ihr so zu schaffen machten, verbreitet sie inzwischen Angst und Schrecken. Bei über 300 km langen Ultra-Ultramarathons hat sie Läufer:innen überholt, die halb so alt waren wie sie.
Unvorstellbar: Margot schafft jetzt mehr als sieben Marathons am Stück, einen nach dem anderen, auf wackelfreien Beinen, die einfach nicht alt werden.
»Nichts geht über starke Füße«, sagt Margot.
Mit Wacklern ist es so: Sie kommen nicht immer aus den Füßen. Oder aus den Beinen. Oder überhaupt aus dem Körper.
Wackler müssen nicht gleich als Verletzung auftauchen – noch nicht. Aber sie sind damit verwandt. Sie verstricken Läuferinnen in einen Kreislauf aus latenter Frustration und quälenden Schmerzen und hindern sie daran, ihre Gesundheits- und Leistungsziele zu erreichen. Wenn die Füße morgens beim Aufstehen schmerzen, wenn der Rücken wehtut, wenn sich jeder Lauf wie eine Plackerei anfühlt und man nie fitter oder schneller zu werden scheint, weiß man, was Sache ist:
Man hat einen Wackler.
Wackler sind schwer zu erkennen, da sie von überallher kommen können. Die Schuhe können schuld sein oder das Essen oder die Art und Weise, wie man den Laufkinderwagen schiebt, den Hund führt oder mit anderen zusammen läuft. Wackler sind wie Meisterdiebe, denn solange man nicht weiß, wonach man suchen muss, bleiben sie unsichtbar. Das macht sie so tückisch.
Aber zum Glück hinterlassen Wackler immer eine Spur. Meine hat Caballo Blanco gefunden und mir gleich bei unserem ersten gemeinsamen Lauf eingebläut: Dein Laufstil sollte sich locker, leicht,sanft und an schnellen Tagen schnell anfühlen.
Und wenn es nicht so ist, muss man unter die Motorhaube schauen.
Eric muss nicht einmal nach dem nächsten Wackler suchen. Dieses Mal springt er ihm ins Auge.
Das Seltsame ist, dass Eric und ich unsere zwölf Läufer:innen gar nicht deshalb in diesem Park versammelt haben, weil wir glaubten, sie hätten Probleme. Wir haben sie rekrutiert, weil wir eine wirklich diverse Gruppe haben wollten, einen Regenbogen aus Körpertypen und Herkünften. Aber es stellte sich heraus, dass nicht nur das Laufen der gemeinsame Nenner ist, sondern auch das Wackeln.
Die »Originalbesetzung« des Buchs. Oben: Luis Escobar. Mittlere Reihe v. l. n. r.: Eric Orton, Zach Friedley, Karma Park, Jenna Crawford, Christopher McDougall, Marcus Rentie. Vorne v. l. n. r.: Patrick Sweeney, Alejandra Santos, Iman Wilkerson, Challis Popkey, Emmanuel Runes. Quer: Batman der Abenteuerhund.
»Das musst du sehen«, ruft Eric und winkt mich erneut zu sich. Er steht neben Jenna Crawford, einer 30-jährigen Marathon- und Geländeläuferin, die mehr als 3000 Trainingskilometer pro Jahr zurücklegt. Jenna ist so fit, dass sie schon für Nike, New Balance und Asics gemodelt hat, und so schnell, dass sie keine zwei Monate nach unserem Treffen im Park einen Halbmarathon in Pasadena gewinnen wird.
»Sie ist wahrscheinlich die stabilste Läuferin hier«, bemerkt Eric. »Guter Fußaufsatz, gute Beinstreckung, wirklich entspannt mit guter Armarbeit. Sehr gut abgestimmt auf alles, das belegen auch die Entwicklung ihrer Rennleistung und die Steigerung der Distanzen.«
Aber als sie in die gleiche Kniebeuge geht, mit der schon Challis zu kämpfen hatte, zittert Jennas linker Gesäßmuskel auf einmal wie ein Farbmischer.
»WENN DU AN EINEM SOMMERTAG KNACKIGE 10 KM BEWÄLTIGEN KANNST, DANN BIST DU EINE TÖDLICHE BEDROHUNG FÜR DAS TIERREICH.«
»Das ist kein Kraftmangel«, erklärt Eric. »Das ist neuromuskulär, eine unterbrochene Verbindung zwischen Gehirn und Körper. Jenna hat viel Kraft, aber die wird nicht abgerufen. Dieses Zucken ist übrigens ein gutes Zeichen. Es zeigt, dass die Muskelfasern jetzt anfangen zu feuern.«
Eric arbeitet sich weiter durch die Gruppe, und nach und nach entdecken alle Läufer:innen ihre Einschränkungen. Niemand ist immun: nicht Zach Friedley, der wegen seiner Beinprothese extrem auf Gleichgewicht und Technik achtet. Auch nicht Karma Park, die seit sieben Jahren jeden Tag ausschließlich in Sandalen nach Rarámuri-Art läuft. Oder Marcus Rentie, ein ehemaliger Rollerblade-Stuntman, der mit seiner Hündin Batman durch die Wälder tollt.
»Was ist mit Batman?«, frage ich. »Wie macht sich das Hündchen ?«
»Batman ist so was von eingestellt«, stellt Eric mit ebenso viel Neid wie Bewunderung fest. »Dank ihres perfekten Pfotenaufsatzes kann sie ihr natürliches elastisches Energie- und Spannungssystem nutzen. Vorder- und Hinterbeine arbeiten wunderbar im Einklang, sodass ihr ganzer Körper eine Einheit bilden kann …«
»Moment mal«, werfe ich ein. »Wie kommt es, dass sie hier die Einzige ohne Wackler ist?«
Klar, Batman ist eine Hündin. Aber biologisch gesehen sind Menschen doch auch Tiere. Wenn wir alle biomechanische Probleme haben, warum nicht auch sie? Wir Menschen haben uns evolutionär nicht nur dazu entwickelt, mit Hunden zu laufen, sondern dazu, besser als sie zu laufen. Menschen sind die besten Langstreckenläufer der Erde. Wir haben zwei besondere Eigenschaften, mit denen kein anderes Säugetier konkurrieren kann, kein Hund, kein Pferd, kein Gepard:
Wir sind nackt, und wir schwitzen.
Menschen geben Wärme durch Schwitzen ab, nicht durch Atmung. Wir müssen nicht hecheln, um uns abzukühlen. An heißen Tagen können wir daher atmen und unsere Temperatur niedrig halten. Wenn Batman an einem Augustnachmittag versucht, mit Marcus Schritt zu halten, muss sie Pausen machen, um überschüssige Körperwärme auszuatmen, sonst kippt sie um.
Wenn ich also frage, was an Batman so besonders ist, lege ich die Messlatte nicht zu hoch an. Eher zu tief. Genetisch stehen wir unseren wilden Vorfahren genauso nahe wie Batman den ihren. Wir stammen von Läufer:innen ab, die mehr als nur gut zu Fuß waren: Sie waren unschlagbar.
Es gibt allerlei Sagen, in denen der Held oder die Heldin ein Tier im Lauf erjagt. Aber so sagenhaft ist das gar nicht. Solche Legenden tauchen in allen Kulturen der Welt auf, in den Märchen der amerikanischen Ureinwohner:innen, in nordischen Mythen, bei den Hadza in Tansania, in der griechischen Götterwelt und in der Traumzeit der australischen Aborigines. Das ist kein Zufall. Es ist unsere gemeinsame Geschichte.
Allerdings lief kein einsamer Held, sondern die gesamte Sippe: Männer und Frauen, Alt und Jung schwärmten gemeinsam als Jagdrudel aus, und alle brachten ihre individuellen Fähigkeiten ein – eifrige Jugendliche führten die Jagd an, erfahrene Alte prüften die Hufspuren, und die stärksten Erwachsenen hielten sich bereit. Zusammen trieben sie ihre Beute durch die Savanne, bis diese irgendwann überhitzt zusammenbrach.
Und das dauerte gar nicht so lange.
Die San, eine indigene Ethnie, beheimatet im südlichen Afrika, betreiben noch heute Ausdauerjagden. An warmen Vormittagen traben sie hinter ihrer Beute her und bleiben gerade dicht genug dran, um sie in Bewegung zu halten. Nach 10 bis 15 km ununterbrochenen Laufens wird der Kudu erst langsamer, dann taumelt er und … kollabiert. Das heißt: Wenn du an einem Sommertag knackige 10 km bewältigen kannst, dann bist du – ja, du – eine tödliche Bedrohung für das Tierreich.
»Wenn wir also zum Laufen geboren sind«, frage ich, »warum sind wir dann so schlecht darin?«
Adressat dieser Frage ist der weltweit qualifizierteste Mensch, um sie zu beantworten: Dr. Dennis Bramble, jener Biologe an der University of Utah, der zusammen mit seinem jungen Kollegen Dr. David Carrier entdeckt hat, dass unsere Lauffähigkeit der wichtigste Faktor in der menschlichen Evolution war. Lange bevor wir Schusswaffen entwickelten, überlebten wir, indem wir mithilfe unserer außergewöhnlichen Ausdauer unsere Beutetiere bis zur Erschöpfung und Überhitzung jagten.
Was ist seitdem schiefgelaufen?
»Sie und ich wissen, wie gut sich Laufen anfühlt, weil wir es uns angewöhnt haben«, antwortet Dr. Bramble. Aber wenn man es sich abgewöhnt hat, wird der uralte Überlebensinstinkt, der uns Menschen zur Entspannung anhält, zur lautesten Stimme im inneren Ohr. Das ist die bittere Ironie: Ausdauer verschaffte unserem Gehirn die Nahrung, die es brauchte, um fantastische Technologien zu entwickeln, aber jetzt untergraben diese Technologien unsere Ausdauer.
»DEIN LAUFSTIL SOLLTE SICH LOCKER, LEICHT, SANFT UND AN SCHNELLEN TAGEN SCHNELL ANFÜHLEN.«
»Wir leben in einer Kultur, die extreme Anstrengung für verrückt hält«, sagt Dr. Bramble, »denn unser Gehirn sagt uns: ›Wozu die Maschine anwerfen, wenn es nicht sein muss?‹«
Batmans Gehirn dagegen ist mehr als bereit, Batmans Maschine zu starten. Hunde sind die lebende Widerlegung von Abraham Lincolns Aussage, dass er, hätte er sechs Stunden Zeit, einen Baum zu fällen, die ersten vier Stunden mit dem Schärfen der Axt verbringen würde. Unser Gehirn ist ständig fieberhaft auf der Suche nach energiesparenden Abkürzungen. So sind wir verdrahtet. Ein Hund würde noch eben pinkeln und dann einfach draufloshacken.
Batman käme nicht auf die Idee, spätabends auf einen Bildschirm zu starren, statt einzuschlafen, oder den ganzen Nachmittag lang anderen beim Spielen zuzusehen, statt selber mitzumischen. Steckte man Batmans Pfoten in gepolsterte Schuhe, um sie zu schonen, würde sie sich daraus ihr Mittagessen bereiten.
Es ist nicht ganz klar, welche Wörter Batman versteht, aber »Mal halblang« und »Heute Ruhetag« gehören definitiv nicht dazu. Wirft man einen Stock, dann erklärt sie dir nicht, warum Cardio laut dem und dem Podcast schädlich ist. Batmans Gehirn ist im Gegensatz zu unserem nicht in die moderne Zeit vorausgerast, bevor ihr Körper aufholen konnte. Wenn du das nächste Mal einen Hund durch den Park flitzen siehst, dann denke daran:
Alles, was man über das Laufen wissen muss, wurde vor 10 000 Jahren entdeckt. Und der Weg dorthin zurück ist viel kürzer, als man denkt.
Spaß beim Warm-up vor dem Lauf.
Das Einfachste am gesamten Run-Free-Programm ist ausgerechnet das, worüber sich die Leute am meisten Sorgen machen: Veränderung.
Wir sind darauf konditioniert zu glauben, dass das Ändern von Gewohnheiten so schmerzhaft und mühsam ist wie das Wiedererlernen des Gehens nach einem Beinbruch. Aber mit dem Laufen ist es so: Wenn es jemals schwierig und kompliziert gewesen wäre, wären wir längst ausgestorben. Als überlebensnotwendige Fähigkeit musste das Laufen für Kleinkinder erlernbar und für Senioren praktikabel sein. Beim Laufen musste man so viel Freude und Befreiung empfinden wie ein Fisch, der wieder ins Wasser gelassen wird.
Wenn du also glaubst, dass es schwer wird, dann hab Mut. Für deinen Neustart in den Fußstapfen von Caballo Blanco musst du nur drei Dinge ändern:
Sohle minimieren
Kadenz beschleunigen
Freund:in finden
Klingt nach einem Trick? Du findest, das kann nicht so einfach sein? Dann lege los und probier’s aus. Als Vorgeschmack auf das, was dir noch bevorsteht, sollst du nun erfahren, wie schwer es ist, die Run-Free-Lauftechnik zu erlernen. Zuerst musst du deinen Terminkalender freiräumen, denn es erfordert einen Zeitaufwand von ungefähr … zehn Minuten.
So gehst du vor:
Such dir »Rock Lobster« von den B-52s raus.
Stell dich mit einem Schritt Abstand rücklings vor eine Wand.
Spiel das Lied bei voller Lautstärke!
Lauf im Takt auf der Stelle.
Das ist alles. Mehr ist nicht nötig, um die perfekte Lauftechnik zu erlernen. Beim Auf-der-Stelle-Laufen kannst du nicht mit der Ferse aufsetzen oder zu weite Schritte machen. Solange du mit dem Rücken zur Wand stehst, kannst du nicht nach hinten treten oder das Gleichgewicht verlieren. Und dank der B-52s musst du nicht raten, wie viele Schritte pro Minute du machst.
Körperhaltung, Fußaufsatz, Kadenz: Das sind die drei Zutaten der perfekten Lauftechnik. Leicht zu lernen und kaum falsch zu machen.
Sie zu meistern, ist eine andere Sache, macht aber erst recht Spaß. Jedes Mal, wenn du rausgehst, spürst du sofort die Freude darüber, dass du es genau richtig machst. Wenn präzise Dreipunktwürfe oder druckvolle Rückhandschläge einfach wären, blieben die Basketball- und Tennisplätze leer. Was uns dorthin zieht, ist die Herausforderung und die Möglichkeit, Träume zu verwirklichen und unsere Bewegungen mit unseren Vorstellungen in Einklang zu bringen.
Das erfordert Übung, denn Übung ist das, woraus wahres Können besteht. Aber das Lernen? Das ist der einfache Teil.
Selbst jetzt, nach über einem Jahrzehnt, bin ich immer noch ein wenig verblüfft davon, wie schnell Eric Orton mich verwandelte und nicht nur meine Geschwindigkeit und Laufleistung, sondern auch mein Selbstvertrauen aufbaute. Innerhalb weniger Wochen nach meinem ersten Run-Free-Training schickte mich Eric auf zweistündige Lauftouren, die so weit über meine gefühlten Grenzen hinausgingen, dass ich mich wie auf einer bemannten Marsmission fühlte. Ein paar Monate später saß ich neben Caballo Blanco und dem Rest der Más-Loco-Truppe im hinteren Teil eines Busses und fuhr zum Rennen meines Lebens auf dem Grund eines Canyons.
Mir ist klar geworden, dass Erics Methode deshalb so gut funktionierte, weil zwei ihrer Hauptzutaten sie idiotensicher machen.
Zutat Nr. 1 ist Fühlen:
Eric bringt einem nicht bei, was man machen muss, sondern er lehrt, wie es sich anfühlen sollte. Das ist das Schöne an der zehnminütigen Lauftechnik-Übung mit »Rock Lobster«. Man muss sich nicht selbst filmen. Man muss keine You-Tube-Videos studieren und sich keinen Fitness-Tracker besorgen. Nach fünf Minuten New-Wave-Rock erkennt man sofort den Unterschied zwischen guter und schlechter Lauftechnik.
Bei jedem anderen Element des Run-Free-Programms, egal ob Ernährung oder Fitness, ist es genauso: Man lernt, den eigenen Körper zu lesen. Man lernt, Ernährung, Technik, allgemeine Fitness und optimale Trittfrequenz ohne Brustgurt oder Fitbit einzustellen. Man wird zum Feinmechaniker des eigenen Körpers. Wenn dann ein Wackler auftritt, weiß man, wie man ihn behebt und vermeidet.
Zutat Nr. 2 ist The Free Seven: die sieben Urpfeiler lebenslanger Sportlichkeit.
Laufen war früher eine Alltagstätigkeit. Heute ist es eine Freizeitbeschäftigung. Statt es in alle Bestandteile unseres Lebens einzuweben, quetschen wir es in ein Stündchen Fitness. Das ist auch absolut sinnvoll, weil wir unsere Zeit nicht mehr damit verbringen, buchstäblich um unser Leben zu rennen.
Nur … hat das niemand unserem Körper gesagt.
Unser Körper glaubt, er steckt immer noch tief in der afrikanischen Savanne, muss dort dem Abendessen hinterherrennen, bevor es am Horizont verschwindet, und gleichzeitig aufpassen, dass die Kinder auch Schritt halten. Unser Körper glaubt immer noch, er muss jeden Tag laufen, um Partner oder Partnerin, frisches Wasser oder ein sicheres Versteck für die Familie zu finden, bevor leuchtende Augen aus der Dunkelheit auftauchen. Und weil es beim Laufen oft um Leben und Tod ging, konnte man sich nicht auf nur einen Motor verlassen. Man musste mehrere Brennstoffzellen haben, die dafür sorgten, dass der Körper jederzeit genug Energie hatte, um starten zu können. Was man isst, mit wem man sich anfreundet, was einem ein Lächeln aufs Gesicht zaubert – all diese Urelemente der Existenz sind auch Energiequellen:
Trennt man diese Urelemente voneinander ab, wird das gesamte System geschwächt. Kombiniert man sie dagegen mit den Free Seven, dann wird der Laufstil locker, leicht, sanft und schnell.
FREE SEVEN
1. Ernährung: Der Lauf beginnt auf dem Löffel
Du kannst einer schlechten Ernährung nicht davonlaufen. Egal wie viele Kilometer du runterreißt, du wirst weiterhin Körperfett speichern, solange du mit Essen deinen Blutzucker in die Höhe treibst. Aus diesem Grund besteht Schritt Nr. 1 beim Run-Free-Neustart darin, deinen Ernährungsansatz umzustellen – nicht um Pfunde wegzuhungern, sondern um deinen Appetit einzuhegen und die Energie pro Bissen zu maximieren.
2. Fitness: Grobmotorik und Feinmechanik
Die urzeitliche Notwendigkeit, auf den eigenen Beinen überleben zu können, hat uns die außergewöhnliche Fähigkeit beschert, uns von Haltungsfehlern zu erholen. Du wirst lernen, strukturelle Schwächen einzuschätzen – so wie Challis und Jenna gelernt haben, ihre lahmgelegten Gesäßmuskeln zu reaktivieren. Dann behebst du diese Schwächen durch kräftigende Übungen, die so einfach sind, dass du sie morgens in der Küche beim Kaffeekochen hinkriegst.
3. Technik: Die Kunst der Leichtigkeit
Zu viele Läufer:innen glauben irrigerweise, dass sie ihre durch weiche Sohlen ruinierte Lauftechnik mit minimalistischem Schuhwerk reparieren können. Aber der Schuhwechsel allein ändert nichts, davon zeugen bald die verspannten Waden und schmerzenden Fersen.
Was funktioniert, ist ein Viererpack unglaublich einfacher Übungen. Sobald du diese mit auf die Straße nimmst, wirst du spüren, wie die jahrzehntealte schlechte Technik aus deinen Füßen verschwindet.
4. Tempo: Schneller, weiter, immer
»Hör auf deinen Körper« ist vielleicht der einzige Fitnessratschlag, der noch nutzloser ist als »Wir sind alle ein Experiment mit einem Teilnehmer«. Du und dein Körper sprecht nicht dieselbe Sprache. Ihr habt keine Ahnung, was der andere sagt. Vergiss nicht, deine Instinkte wurden in einer Zeit geprägt, als Nahrung knapp war, als körperliche Energie um jeden Preis gespart werden musste und als mieses Wetter dich nicht nur nervte, sondern möglicherweise zum Fossil machte. Alle natürlichen, ererbten Impulse halten dich von jeder Bewegung ab, die nicht dein Überleben sichert.
Verloren haben wir auch die Fähigkeit, zwischen schwer und leicht, schnell und langsam umzuschalten. Anstatt alle unsere Gänge zu nutzen, wursteln wir meistens in der Mitte vor uns hin und versauen uns dadurch das Getriebe. Glücklicherweise haben die Soldaten des antiken Roms einen einfachen Trick herausgefunden, mit dem du das ideale Tempo für jede Aufgabe findest. So ist dein großer, starker Run-FreeMotor immer im richtigen Gang.
5. Schuhwerk: Lieber minimalinvasiv
Laufschuhe verbessern deine Technik nicht, aber sie können sie erheblich verschlechtern. Je mehr Schaumgummi unter den Füßen, desto weniger spürt man den Boden. Dämpfung ist ein Narkotikum, ein Betäubungsmittel. Die Füße werden gegenüber den Empfindungen abgedämpft, die sie besser und gesünder laufen lassen. Stell dir vor, du betäubst deine Hand und haust dann mit dem Hammer darauf. So ähnlich ist es, wenn du auf weichen Sohlen läufst. Und wenn du glaubst, dass irgendeine »Laufanalyse« Abhilfe schafft, dann irrst du dich: Studien zufolge haben Läuferinnen, die anhand einer Laufanalyse ihre Schuhe aussuchen, ein bis zu fünfmal höheres Verletzungsrisiko.
6. Spaß: Wenn es Mühe macht, machst du dir zu viel Mühe
»Ich interessiere mich nicht für die Grenzen des Ertragbaren«, sagt mir mein Laufkumpel Barefoot Ted auf die Frage, wie er mit nur 40 Trainingskilometern pro Woche 100-Meilen-Rennen schafft. »Ich will an die Grenzen des Vergnüglichen.«
Wissenschaftlich gesehen ergibt Barefoot Teds Lustprinzip absolut Sinn. Die Evolution belohnt Schmerz nicht, sie belohnt Freude. Leiden mindert das Erlebnis, anstatt es zu bereichern. Es erzeugt Tunnelblick, Dissoziation, Selbstbezogenheit und Fehler. Der Kopf ist gesenkt, das Gehirn hungert nach Sauerstoff, der Stresslevel ist hoch. Jede Zelle im Körper meldet, dass das alles nicht gut sein kann. Man blendet es aus, drückt es weg.
Freude fördert hingegen die Aufmerksamkeit, das Selbstvertrauen, den Stressabbau und die Kompetenz. Wer Spaß hat, ist konzentriert. Wieso? Weil der Körper mehr zulässt und mehr will. Der Kopf ist erhoben, die Atmung ist tief, Sichtfeld und Bewegungsradius sind maximiert. Das Urhirn lässt den Korken einer Magnumflasche Endorphine knallen und macht Mut zum Weitermachen. Man ist im Flow-Zustand.
»FREUDE FÖRDERT DIE AUFMERKSAMKEIT, DAS SELBSTVERTRAUEN, DEN STRESSABBAU UND DIE KOMPETENZ.«
7. Familie: Gemeinsam schwitzen, gemeinsam schweben
Wir sind evolutionär dazu gemacht, uns gegenseitig zu ermutigen und zu unterstützen, denn der gemeinsamen Erfolg des Rudels entschied über Leben oder Sterben. Je vielfältiger die mentalen und körperlichen Fähigkeiten, desto größer die Erfolgsaussichten. Laufen in Gemeinschaft bietet mit die besten Chancen auf Verbesserung, denn wir sind soziale Tiere, und viele unserer unsichtbaren Mechanismen laufen synchron: Ohne dass ein Wort gesprochen wird, können Laufpartner:innen den Herzschlag zentrieren, die Trittfrequenz straffen und die Technik präzisieren.
Und als Bonus:
Verletzungen: Pannenhilfe
Es gibt fast keine Funktionsstörung, die nicht mit etwas mehr Funktion behoben werden kann. Wer mit Plantarfasziitis, Sehnenentzündungen, schmerzenden Iliotibialbändern oder störrischen Hüftbeugern zu kämpfen hat, lernt in diesem Buch Mobilitäts- und Kräftigungsübungen, die solche Blockaden beseitigen und neue Bewegungsmuster eintrainieren.
Betrachte die Free Seven als komplette Mahlzeit, nicht als Büfett. Da jeder einzelne Punkt mit den anderen verknüpft ist, solltest du der Versuchung widerstehen, dir einzelne herauszupicken und die anderen wegzulassen. Zusammen bieten sie alles, was du brauchst, um deine Wackler zu lokalisieren, sie zu korrigieren und an Kraft und Geschmeidigkeit zu gewinnen. Dazu durchläufst du am besten das 90-tägige Run-Free-Programm am Ende des Buches.
In den folgenden Kapiteln erfährst du, wie die Free Seven funktionieren und warum sie voneinander abhängen. Du lernst neue Methoden wie die Movement Snacks, den 2-Wochen-Test und die 100 Up. Du entdeckst einen 2000 Jahre alten Trick zur Einschätzung der Herzfrequenzzone und erfährst, wie man die richtigen Laufschuhe auswählt (Spoiler: Es hat nichts mit »Laufanalyse« oder »Stabilität« zu tun).
All das kannst du nebenbei einüben. Mach dich mit den Methoden vertraut, damit du sie einsetzen kannst, wenn du mit dem Run-Free-Programm beginnst. Wenn du damit fertig bist, werden deine alten Gewohnheiten verschwunden sein, und die neuen werden sich festigen. Du wirst bereit sein, für jedes Rennen zu trainieren – oder einfach aus purer Lust und Laune loszulaufen, so weit du willst, wann immer du willst, für den Rest deines Lebens.
»Ich habe so ein Feuer in mir gespürt, so eine Wut«, erinnert sich Jordan Marie Brings Three White Horses Daniel. Das Feuer brachte den Entschluss. »Ich nahm die rote Schminke und ließ meine Finger sprechen.«
Bis dahin drehte sich Jordans Karriere als Profiläuferin darum, wie sie lief. Jetzt ging es nur noch darum, warum.
Sorgfältig malte sie sich einen blutroten Handabdruck aufs Gesicht: ein Daumen auf der einen Wange, die Finger auf der anderen, die Handfläche über den Lippen. Auf schrecklich lebensechte Art stellte sie damit dar, wie so viele indianische Frauen gestorben sind – eine Hand auf den Mund gepresst, um sie zum Schweigen zu bringen.
Jordan steckte sich ihre Startnummer an und nahm ihren Spitzenplatz an der Startlinie des Boston Marathons von 2019 ein. Sie hielt den Blick nach vorn gerichtet, obwohl einige Zuschauer auf sie zeigten und sie anstarrten. »HEY, HÜBSCHER HANDABDRUCK«, rief jemand. Wie herzlos muss man sein, fragte sie sich, um zu glauben, dass eine blutrote Hand auf dem Mund einer Frau ein Witz war?
»Aber die Indigenen, die mich sahen, haben es verstanden«, sagt Jordan. »Sie wissen von unseren Mädchen.« Unter den Frauen der amerikanischen Ureinwohner ist Mord eine Epidemie. Sie sterben mit zehnfacher Wahrscheinlichkeit durch Gewalt als andere Amerikaner:innen. Sie fallen einer dermaßen grassierenden Brutalität zum Opfer, dass Ermittler von Amnesty International zum Handeln aufgerufen haben. Doch obwohl fast 6000 indigene Frauen als vermisst gelten, sind kaum mehr als hundert in der Datenbank des Justizministeriums dokumentiert. Wer spricht für sie? Warum folgt auf das Verschwinden einer blonden jungen Frau ein landesweiter Aufschrei, während sich für die Gefährdung indigener Frauen nicht einmal das FBI interessiert?
»JORDAN STAMMT AUS EINER LAUFDYNASTIE IN SOUTH DAKOTA. IHR GROSSVATER WAR FREUND UND RIVALE DES LEGENDÄREN OLYMPIONIKEN BILLY MILLS, DER IHR MENTOR WURDE.«
Die Gefahr bekam Jordan zu spüren, als ihre Mutter sich der Suche nach einer jungen Frau anschloss, die in der Nähe ihres Wohnorts auf Stammesland in South Dakota verschwunden war. Die Leiche der Frau wurde in der Gegend entdeckt, in der Jordan als Heranwachsende oft mit ihrem Großvater gelaufen war. Sie selbst hätte betroffen sein können, dachte Jordan – bis ihr klar wurde, dass sie betroffen war. Zweimal war sie bereits Opfer von Beziehungsgewalt geworden. Als sie ins College-Alter kam, hatte sie bereits mehr als ein Dutzend Beerdigungen von Verwandten und Freundinnen erlebt, die auf tragische Weise ums Leben gekommen waren.
Jordan hatte Glück gehabt. Ihre Beine gaben ihr eine Chance, die andere Frauen nicht hatten. Jordan stammt aus einer Laufdynastie in South Dakota. Ihr Großvater war Freund und Rivale des legendären Olympioniken Billy Mills, der ihr Mentor wurde. Jordans Mutter hatte als Sprinterin die Olympischen Spiele 1988 angestrebt, bekam aber stattdessen Jordan. Jordan selbst glänzte im Laufteam der University of Maine, bevor sie ihre Profikarriere für New Balance und Altra startete.
»Das Laufen war für mich immer eine Superkraft«, sagt sie. Aber eine Superkraft, die nicht für das Gute kämpft, ist nutzlos. Sie muss verwendet, vollzogen und als Kraft der Veränderung eingesetzt werden. All die Rennen, die Jordan bis dahin absolviert hatte, all ihre Siege und Medaillen und Sponsorengelder stauten nur ihre Superkraft. Es war Zeit, sie einzusetzen.
Vor dem Startschuss in Boston malte sich Jordan noch vier rote Buchstaben auf die Beine: »MMNW« für Missing and Murdered Native Women – »Vermisste und ermordete indigene Frauen«. Auf jeder Meile wollte sie für eine Frau beten, und es war erschreckend einfach gewesen, auf 26 Namen für die 26 Meilen des Marathons zu kommen. »Ich wollte diesen Lauf unseren gestohlenen Schwestern widmen«, sagt Jordan. »Das war meine Art, diesen Frauen eine Plattform zu geben, damit sie gesehen, gehört und erinnert werden.«
Mit ihrem Gebetslauf über die Straßen von Massachusetts wurde Jordan zu einem Blitzableiter, zu einem Energiekanal, der eine mächtige Tradition aus der Vergangenheit in die Gegenwart leitete und einem höheren Zweck zuführte. Seit diesem Tag versteht sie sich als Anwältin der Ureinwohner, und das verschafft ihr ein Sendungsbewusstsein, das sie nie zuvor verspürt hat.
»NUN SAH ER DAS LAUFEN AUF EINE WEISE, WIE ER ES BISHER NICHT GESEHEN HATTE. NICHT ALS HOBBY ODER SPORT, SONDERN ALS KRAFT. ALS SUPERKRAFT.«
»Ich wollte das Laufen immer für mich behalten, für meinen eigenen Ehrgeiz«, sagt sie. »Weil es meine Identität war, wollte ich keinen Druck von außen hineinbringen. Aber mir wurde klar, dass ich das alles nicht länger trennen konnte. Ich habe so viele andere Minderheiten gesehen, die das Laufen als eine Form der Meinungsäußerung verwenden, und das zu erleben, ist erstaunlich.«
Micah True erlebte eine ähnliche Wiedergeburt, als er zu Caballo Blanco wurde.
Von Haus aus war er ein formidabler Medaillenjäger und solider Ultraläufer, aber Technik war nie seine Stärke gewesen. Er stürmte mit roher Kraft voran und prallte immer wieder frontal gegen eine Mauer aus Überlastungsverletzungen. Tief in den Barrancas del Cobre fand er Umkehr. Jahrelang befasster er sich intensiv mit dem Wie des Laufens. Er lernte, die Serpentinen an den Steilhängen ziegengleich hinunterzutrippeln, und verwandelte seinen ausgreifenden Galoppschritt in die doppelt schnelle Kadenz, die er den flinken Rarámuri-Alten abgeschaut hatte.
Mit Mitte 50 hatte er das Alter erreicht, in dem sich viele Läufer:innen aus seinem früheren Umkreis über schmerzende Knie und knarrende Lendenwirbel beschwerten und das Laufen für immer aufgaben – aber Caballo fing gerade erst an. »Seine Reichweite war riesig«, hat mir Luis Escobar erzählt. Escobar ist selbst ein legendärer Geländeläufer, hat die berühmten Fotos von Caballos erstem Copper-CanyonUltramarathon geschossen und blieb seitdem eng mit ihm vertraut. »Wenn ihm danach war, konnte er aus zwölf Meilen dreißig machen.«
Caballo Blanco führte ein gemütliches Einsiedlerleben. Seine Tage verbrachte er damit, über die Mesas zu streifen, und abends saß er vor seiner kleinen Steinhütte oberhalb des Flusses Batopilas und betrachtete den Sonnenuntergang. Wahrscheinlich hätte er den Rest seiner Jahre so verbracht.